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Der Autor:

 

Cord Benecke, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Studium der Psychologie an der Universität des Saarlandes; 1994–2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der dortigen Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie. 2002/2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bremen am Institut für Theoretische und Angewandte Psychoanalyse, Fellow am Hanse Wissenschaftskolleg. 2003–2010 Institut für Psychologie der Universität Innsbruck, Bereich Klinische Psychologie. Seit Oktober 2010 Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie der Universität Kassel. 2009–2017 Leiter der Forschungskommission der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Seit 2016 Leiter des Arbeitskreises Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). Forschungsschwerpunkte: Klinische Emotionsforschung; Psychotherapieforschung.

Cord Benecke

Negative Affekte in der Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2017 gehalten hat. Video- oder Audioaufzeichnungen der Vorlesungen wurden nicht angefertigt.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035138-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-035139-4

epub:   ISBN 978-3-17-035140-0

mobi:   ISBN 978-3-17-035141-7

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. 1. Vorlesung Motive, Affekte und ein Schichtenmodell
  3. Motive und Affekte
  4. Psychische Schichten
  5. 2. Vorlesung Emotionsdiagnostik und Behandlungsimplikationen
  6. Diagnostik der Emotionsdynamik
  7. Was heißt das für die Behandlung?
  8. Besonderheiten bei strukturellen Störungen
  9. Besonderheiten bei Posttraumatischen Belastungsstörungen
  10. 3. Vorlesung Frau A.: »Analyse ist die Hölle«
  11. 4. Vorlesung Frau D. und das »namenlose Mädchen«
  12. 5. Vorlesung Reflexion der Fälle, Forschungsbefunde und ein Fazit
  13. Kurze Reflexion der beiden Fallbeispiele
  14. Was sagt die Psychotherapieforschung?
  15. Fazit
  16. Literatur
  17. Stichwortverzeichnis
  18. Personenverzeichnis

Einleitung

 

 

Scham, Schuld, Angst, Verzweiflung, Trauer, Hilflosigkeit, Wut, Hass, Neid, Eifersucht …: Psychische Störungen sind eng mit negativen Affekten verknüpft. Entsprechend spielen negative Affekte – sowohl auf Seiten der Patienten wie auch der Therapeuten – und der Umgang damit eine besondere Rolle in jeder Psychotherapie.

Der Text vermittelt ein integratives Rahmenmodell zum Verständnis psychischer Störungen, in dessen Kern emotionsdynamische Regulierungsprozesse in Verbindung mit emotionalen Beziehungsgestaltungen zu sehen sind (image 1. Vorlesung). Ausgehend davon werden typische Manifestationen negativer Affekte in der Psychotherapie, deren »Diagnostik« sowie der Umgang damit in der Psychodynamischen Therapie erläutert (image 2. Vorlesung). In der 3. und der 4. Vorlesung wird jeweils ein Fallbeispiel dargestellt, um den Umgang mit negativen Affekten zu illustrieren. Den Abschluss (image 5. Vorlesung) bildet ein Blick in die Psychotherapieprozessforschung, der die Bedeutung der Arbeit an (negativen) Affekten hervorhebt, sowie ein Fazit, in dem versucht wird, die Arbeit mit und an Affekten als Brücke zwischen unterschiedlichen Behandlungsansätzen zu skizzieren.

 

1.   Vorlesung
Motive, Affekte und ein Schichtenmodell

 

 

Emotionen und Prozessen der Emotionsregulation wird eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen zugeschrieben1. Entsprechend finden diese Prozesse mittlerweile in allen Psychotherapie-Verfahren besondere Beachtung2. Emotionale Prozesse hängen auf das Engste mit motivationalen Prozessen zusammen. Eine ausführliche Darstellung der psychologischen sowie der modernen psychoanalytischen Theorien zu Motivation und Emotion findet sich in Benecke und Brauner3.

Motive und Affekte

Freud betrachtete Emotionen, Affekte, Gefühle anfangs im Wesentlichen als von den Trieben abgeleitete Größen (»Triebabkömmlinge«). Später gestand er den Affekten, insbesondere der Angst, einen von den Trieben unabhängigen Status zu4: Die Angst dient dem Ich nun als Signal zur Mobilisierung von Abwehrmechanismen. Aus dieser Konzeption wurde das sogenannte Konflikt-Dreieck abgeleitet:

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Abb. 1: Konflikt-Dreieck

Hier haben die Affekte bedeutsame Funktionen innerhalb der unbewussten Dynamik. Entsprechend spielten unbewusste »Gefühle« (z. B. unbewusste Schuldgefühle, unbewusste Aggression, unbewusster Neid usw.) von je her eine große Rolle in den psychoanalytisch-psychodynamischen Störungstheorien und Behandlungskonzepten.

Die psychodynamische Perspektive geht davon aus, dass auch ein Großteil der Emotionsregulierungsprozesse unbewusst abläuft, indem mit der Aktivierung unbewusster Affekte automatisch Abwehrprozesse einsetzen5.

Weder unter psychologischer noch unter psychoanalytischer Perspektive sind emotionale Prozesse ohne Rekurs auf eine Motivationstheorie zu verstehen6. Die engen Verbindungen zwischen Motiven und Emotionen findet sich z. B. dergestalt, dass:

1.  Motive im Kern aus bestimmten emotionalen Zielzuständen bestehen;

2.  bei einer Diskrepanz zwischen aktueller Situationsbewertung und aktuell vorherrschendem Motiv andere, meist negative Emotionen ausgelöst werden;

3.  Emotionen zu bestimmten Handlungen motivieren, Emotionen gewissermaßen »Handlungsempfehlungen« geben;

4.  Emotionen durch (motiv-dienliche) Handlungen reguliert werden können.

Es besteht kein abschließender Konsens darüber, welche basalen Motivsysteme beim Menschen anzunehmen sind. Die verschiedenen Motiv-Listen7 zeigen zwar Überschneidungen, aber eben auch Unterschiede. Zu den basalen Motiven oder Grundbedürfnissen können aber wohl folgende gezählt werden8:

•  Bedürfnis nach Bindung: eine primäre objektsuchende Motivation, Suche nach Bezogenheit der Liebe und Bindung9

•  Bedürfnis nach Sicherheit: Das Sicherheitsprinzip wird von Sandler10 als wesentlich erachtet, es stehe über dem Lustprinzip und sorge dafür, dass als gefährlich erachtete Triebimpulse unter Kontrolle gebracht werden.

•  Das Streben nach Autonomie bzw. Individuation wird ebenfalls als ein zentrales Motiv angenommen11.

•  Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration12.

•  Bedürfnis nach sinnlichem Vergnügen und sexueller Erregung13.

•  Kohut14 stellte den Selbstwert bzw. dessen Regulation ins Zentrum seiner Theorie15.

•  Dem Streben nach Bildung einer Identität wird eine starke, spezifisch menschliche motivationale Komponente zugesprochen16.

Aus einer neurobiologischen Perspektive postuliert Panksepp sieben sogenannte affektive Instinktsysteme17:

1.  SEEKING: aufregende, euphorische Antizipation beim objektlosen Streben,

2.  RAGE: durch Frustration ausgelöste Zustände von Wut/Hass oder Eifersucht,

3.  FEAR: automatische »Fight, flight, freeze«-Reaktionen auf bedrohlichen Stimulus,

4.  PANIC/GRIEF: durch Zurückweisung/Einsamkeit ausgelöster psychischer Schmerz

5.  LUST: physisch-sexuelles Begehren,

6.  CARE: Fürsorge-Verhalten, besonders gegenüber eigenem Nachwuchs,

7.  PLAY: angeborenes Bedürfnis nach »Raufen und Balgen«, aber auch Lachen.

Eine systematische Integration unterschiedlicher Ansätze zur Beschreibung basaler menschlicher Motiv-Systeme und deren Verbindung zu affektiven Prozessen steht bisher aus18.

Im Kern gehen psychoanalytische Modelle davon aus, dass sich auf der Basis (meist früher) Beziehungserfahrungen sogenannte Repräsentanzen bilden. Diese Repräsentanzen vom Selbst (Selbstrepräsentanzen) und von bedeutsamen Anderen (Objektrepräsentanzen) sowie die zwischen Selbst und Objekt erwartbaren affektiven Interaktionen stellen Verdichtungen der frühen affektiven Erfahrungen dar, spiegeln aber nicht notwendigerweise die vergangenen Realerfahrungen wider, da sie im psychoanalytischen Verständnis schon unter dem Einfluss von Abwehrprozessen gebildet werden19. Die psychischen Repräsentanzen sind also schon durch psychische Prozesse veränderte Niederschläge realer Erfahrungen. Gleichwohl fungieren sie als eine Art unbewusster Schablonen, die in Alltagssituationen aktiviert werden.

Im Idealfall macht ein Mensch im Laufe seines Lebens die unterschiedlichsten emotionalen Erfahrungen, auch negative: Erfahrungen von Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Scham, Schuld, die aber gleichzeitig mit der Erfahrung verbunden sind, dass diese Zustände auch reguliert werden können (anfangs mit Hilfe der Betreuungsperson, später zunehmend durch eigene psychische Regulierungsfähigkeiten). Das wäre die Voraussetzung dafür, dass von diesen Emotionszuständen, auch den sehr negativen, eine bewusste psychische Repräsentanz entwickelt werden kann und diese Zustände nicht abgewehrt werden müssen. Sind diese Emotionszustände aber wiederholt mit der Erfahrung verbunden, dass sie nicht reguliert werden können, dass es keine Möglichkeit gibt, aus Zuständen von Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit usw. wieder herauszukommen, dann entwickeln wir über kurz oder lang Strategien, um ja nicht mehr in diese Zustände zu geraten, Strategien, diese Zustände zu vermeiden, um jeden Preis. Diese als unbewältigbar erlebten Affektzustände sind wiederum üblicherweise mit spezifischen Selbst- und Objektrepräsentanzen verknüpft, deren Aktivierung ebenfalls vermieden werden muss. Dies wird in dem Begriff der Emotionsdynamik20 deutlich: Emotionen sind die eigentlichen »Beweger« im psychischen System. Ein Großteil psychischer Aktivität dient der Regulierung von (im Wesentlichen unbewussten) Affekten, die den Kern der meist früh entstandenen Repräsentanzen ausmachen.

Aktivierungen der Repräsentanzen aktivieren damit verknüpfte Affekte, welche wiederum Regulierungsprozesse in Gang setzen. Im Kern der Persönlichkeit finden sich also Repräsentanzen und damit verknüpfte Motive bzw. Motiv-Konflikte und (häufig bedrohliche) Affekte (vereinfacht dargestellt in image Abb. 2). Diese Persönlichkeitskerne sind nicht beobachtbar, allenfalls die durch Abwehrprozesse veränderten »Abkömmlinge«.

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Abb. 2: Affekte und Repräsentanzen als Kern der Persönlichkeit (aus Benecke 2014, S. 233)

Psychische Schichten

Viele Konzepte postulieren eine Art »Schichten-Modell«21. In Erweiterung der Unterscheidung zwischen Vergangenheitsunbewusstem, Gegenwartsunbewusstem und Bewusstem von Sandler und Sandler22 haben wir jüngst ein Modell mit fünf Schichten vorgestellt23:

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Abb. 3: Psychodynamisches Integrationsmodell der Motivation und Emotion (aus Benecke & Brauner 2017, S. 180)

Die Schichten aus Abbildung 3 sollen hier kurz erläutert werden:

•  Auf der phylogenetischen Ebene findet man biologisch präformierte Antriebssysteme, z. B. basale physiologische Bedürfnisse; angeborene Basismotive24 bzw. »affektive Instinkte«25, aber auch die sogenannten Basisaffekte26.

•  Aus den Erfahrungen, die ein Individuum mit diesen Systemen (meist innerhalb der primären Beziehungen) macht, entwickelt sich das Vergangenheitsunbewusste: Dies enthält die oben erwähnten Repräsentanzen mit den individuell dominanten Motiven, Selbstbildern, Objektbildern, erwarteten Interaktionen und Kern-Affekte sowie früh entstandene Regulierungsprozesse.

•  Werden die Schemata/Repräsentanzen des Vergangenheitsunbewussten aktiviert, werden sie üblicherweise in eine »erwachsene Form« gebracht: Das Gegenwartsunbewusste stellt also »erwachsene Formen infantiler Wünsche«27 dar.

•  Doch auch die Inhalte des Gegenwartsunbewussten (Phantasien, Affekte, Impulse) können üblicherweise nicht ungehindert ins Bewusstsein gelangen: Eine zweite Zensur prüft, ob diese Inhalte mit der aktuellen Situation kompatibel sind, ob sie zu Beschämungen führen könnten etc., und wandelt sie u. U. noch einmal in bewusstseinsfähige Selbst- und Objektbilder, Wünsche und Ziele, Gefühle und Handlungstendenzen um.

•  Diese bewussten Inhalte können nun noch mental »gepuffert« werden, bevor sie auf einer habituellen Ebene in Handlungen umgesetzt werden. Das resultierende Verhalten löst bei anderen relativ spezifische Reaktionen aus, die wiederum vom Vergangenheitsunbewussten »registriert« werden und meist zu einer erneuten Aktivierung der entsprechenden Repräsentanzen führen, wodurch der ganze Schichten-Zirkel mitsamt den Abwehr- und Umwandlungsprozessen erneut durchlaufen wird.

Die Abwehr- und Umwandlungsprozesse können überwiegend als prozedural-dynamische Regulierungsprozesse verstanden werden: prozedural entsprechend dem prozeduralen Gedächtnis, als neuronal gut gebahnte Abläufe; und dynamisch, in dem Sinne, dass diese Abläufe die Funktion haben, negative Affektzustände dynamisch unbewusst zu halten28.