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Monika Sznajderman

Die Pfefferfälscher

Geschichte einer Familie

Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Martin Pollack

Jüdischer Verlag

Inhalt

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Pension der Erinnerung

Das Buch von Radom

Die fernste Grenze

»Wir haben uns alle gerettet, sie sind alle umgekommen«

Als schon keiner mehr lebte

 

Danksagung

Martin Pollack Reden ist doch Gold

 

Zitatnachweise

Zur Aussprache der polnischen Namen

Bildnachweise

 

 Die Pfefferfälscher

 

 

 

Für Papa – statt eines Vorworts

Meinen Kindern schon jetzt

Meinen Enkeln, wenn sie heranwachsen

***

Meine früheste Erinnerung aus der Kindheit betrifft die Küche, oder eigentlich den Küchentisch. Das Fenster ging auf den Lichthof eines innerstädtischen Mietshauses in der ulica Okólnik in Warschau. Der Tisch stand unter dem Fenster, und seit ich mich erinnern kann, saßen wir an ihm in unveränderter Ordnung: auf der linken Seite mein Vater, daneben ich, am oberen Ende des Tisches Mama, rechts vom Fenster Mamas Mutter, also Großmutter Maria, und neben ihr – abhängig vom jeweiligen Tag – Großvater, eine Cousine oder Tante aus meiner zahlreichen polnischen Familie. Auf dem Tisch lag ein Wachstuch mit buntem Blumenmuster. In der Küche war es dunkel, und es brannte immer Licht, weil keine Sonne in den Lichthof fiel, und über dem Tisch hing eine selbst für ein Kind spürbare reglose Spannung. Vater sprach wenig, in der Regel schwieg er, in der Unterhaltung dominierte Großmutter. Schon bei ihren ersten Worten sprühten Funken durch die Luft, und es kam zu kleinen elektrischen Entladungen. Mama linderte die Auseinandersetzungen.

Die hitzigste – und sich stets wiederholende – drehte sich ums Essen. Dank der gesellschaftlichen Kontakte Großmutters ins Ausland bekamen wir viele Pakete von ihren zahllosen Freundinnen, Angehörigen der weißen russischen Emigration in Frankreich und England. Ich war eine schlechte Esserin, und auf unserem Tisch erschienen Speisen, von denen man in Gomułkas Polen noch nie gehört hatte. Ich erinnere mich nur an die verhasstesten, über denen ich die längste Zeit in Qualen zubrachte: Rotbarschfilet mit Kapern in Béchamelsauce, Hirn in Kokillen, gebratene Bananen (während das Kind von frischen träumte, deren Kauf an ein Wunder grenzte), irgendwelche raffinierten Aufläufe mit Spargel und Chicorée (Großmutter nannte sie »gratin«), alles unter einem schrecklichen Béchamel begraben, und dazu ölige und fade Oliven. Ich war überzeugt, dass man in allen Häusern so aß. Als ich daher zum ersten Mal in ein Ferienlager nach Świder fuhr, bat ich die verblüffte Erzieherin, mir solche Speisen unter keinen Umständen vorzusetzen.

Wenn ich über einem Teller, gefüllt mit diesem oder jenem Auflauf, saß, meine Tränen hinunterschluckte und auf den Moment wartete, da ich die Reste des Essens auf dem Balkon, in dem Topf mit dem Zitronenbäumchen vergraben konnte (ach, warum kann ich nicht wie andere Kinder Fleisch mit Fett, Karotten mit Erbsen und Kartoffeln mit Soße in der Schulkantine essen, wo es verführerisch nach Malzkaffee und feuchten Putzlappen duftet?), mischte sich mein Vater ein, und es folgte die einzige erzieherische Lektion, die er mir jemals erteilt hat. Ich weiß noch, wie er damals sagte: »Als ich ein Kind war und etwas zum Frühstück nicht essen wollte, bekam ich es zum Mittagessen, und wenn ich es auch zu Mittag nicht aß, dann zum Abendessen.« Nach dieser Ansprache verließ er jedes Mal die Küche. Ich habe mir die Worte gemerkt, denn schon als kleines Kind spürte ich die unbegreifliche Dissonanz zwischen ihrer – wie mir damals schien – Rücksichtslosigkeit und der alltäglichen außerordentlichen Milde meines Vaters.

Erst viele Jahre später begriff ich, wie stark die Erinnerung an diesen Grundsatz in seinem Denken verbunden war mit seinem Elternhaus und der Gestalt seiner Mutter und mit dem Glauben, dass es eben ihre Lektion war, die ihm ermöglichte, den Hunger in den verschiedenen Lagern zu überstehen. Im Gespräch mit Barbara Engelking sagte er: »Sie war sehr konsequent und bestimmt. Sie schaute darauf, dass alles aufgegessen wurde, was auf den Teller kam. Wenn ich darauf bestand, etwas nicht zu essen, bekam ich ständig dasselbe Gericht vorgesetzt. Das dauerte manchmal sogar ein paar Tage – bis einer von uns nachgab. Damals lernte ich, alles zu essen – was mir später, in Zeiten des Hungers, zugutekam.«

Nein, damals habe ich nichts begriffen.

Es gab Momente, in denen mein Papa auflebte. Das war dann, wenn sich unser Haus mit ausländischen Düften füllte: von Zigaretten, Waschpulver und Parfüms, wenn scheinbar polnische, aber mit einem unbekannten, harten Akzent ausgesprochene Wörter durch die Luft zu fliegen begannen, wenn das Wort »Juden« und verschiedene fremde Vornamen auftauchten – Fela, Frania, Stefa, Rózia, Stach … Auch der Name Korczak wurde genannt, und zwar nicht im einzigen mir damals bekannten Zusammenhang des ungeliebten »König Maciuś der Erste«. Denn der Cousin meines Papas, Stanley Robe (im vorigen Leben, vor der Ausreise aus Polen, Stach Rozenberg), war Vorsitzender eines australischen Komitees, das Korczaks Namen trug. Wir gingen mit ihnen in Hotels abendessen – in den Himbeersaal im Grand Hotel, und in späteren Jahren ins Forum (die Küche war nicht so gut, wie man sagte, und die Kellner waren arrogant), und nach ihrer Abreise musste ich mit kindlicher Ungeduld zahllose Postkarten an die »liebe Stefa«, die »liebe Fela« und den »lieben Stach« unterschreiben. Als Antwort trafen in Paketen mit bunten Briefmarken diverse Koalabären und Kängurus in allen erdenklichen Formen bei uns ein: Als Plüschspielzeug, als dreidimensionale Postkarten, als Aschenbecher, als Schlüsselanhänger und Glasuntersätze. In meiner frühen Kindheit war ich offenbar der Meinung, dass Australien, wo unsere Verwandten wohnten, ein Teil Polens war, eine ferne Überseekolonie.

Daher fragte ich gar nicht danach, wie es kam, dass sie sich dort befanden, dass sie Anfang der zwanziger Jahre gemeinsam ein Schiff bestiegen hatten und nach Australien gefahren waren. Lange Zeit verband ich das auch nicht mit der Tatsache, dass sie als Einzige den Krieg überlebt hatten und wie Geister aus einer verschwundenen Welt, mit ihren Vornamen, ihren Erzählungen und ihrem seltsamen Akzent, unsere Küche in der ulica Okólnik besuchen konnten. In der Kindheit erschien mir das alles völlig natürlich. Ich wusste, dass dein Großvater Selim einen Bruder namens Józef gehabt hatte, der im Jahre 1896 in der ulica Świętojerska 30 in Warschau gewohnt hatte und nach Auskunft des Illustrierten Kalenders von Józef Unger für das Schaltjahr 1896 Assistent eines Rechtsanwalts gewesen war. Dass dieser Józef einen Sohn namens Adolf und Enkelkinder hatte: Stach und Irena. Dass diese wiederum mehrere Kinder hatten. Dass die Schwester deines Großvaters, Salomea, einen Leon Czapnik geheiratet und mit ihm drei Töchter und einen Sohn gehabt hatte: Fela, Rózia, Stefa und Zygmunt. Dass diese Kinder ebenfalls geheiratet und viele Kinder hatten und dass daher meine kindliche Vorstellung, wonach in Australien Polen wohnten (wenn auch etwas andere als die hier in Polen), in einem gewissen Sinn durchaus berechtigt war. Ich stellte mir vor, dass diese seltsamen Polen, die eigentlich keine waren, im Busch mit Kängurus und Koalabären wohnten, und ich wusste, dass sie Juden hießen. Diese exotische Anhäufung von Begriffen und Bildern – Australien, Juden, Busch, Kängurus und Koalabären – sollte mich durch meine gesamte Kindheit begleiten.