Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Ist Ihr Partner hochsensibel? Ihre Freundin, Ihr Bruder, Ihre Kollegin, Ihr Mitarbeiter? Dann ist dies das richtige Buch für Sie!

Wer mit Hochsensiblen zu tun hat, ist mit einigen Herausforderungen konfrontiert. Von ihm wird erwartet, dass er sich einfühlt in ein Gefühlserleben, das er nicht aus eigener Erfahrung kennt, Verständnis aufbringt für etwas, was er (verständlicherweise!) nicht nachvollziehen kann, weil es nicht seiner Denkweise entspricht. »Nimm dir das doch nicht so zu Herzen!«, »Jetzt mach kein Drama aus der Sache!«, »Was hast du jetzt schon wieder?« – so oder ähnlich kommentieren Menschen aus dem Umfeld die Reaktionen von Hochsensiblen. Damit wiederum fühlen sich Hochsensible verkannt und gekränkt, und so können aus Kleinigkeiten schnell große Probleme entstehen. Wie trotz aller Unterschiede ein erfreuliches Miteinander möglich ist, darüber informiert dieses Buch.

Ulrike Hensel ist Sachbuchlektorin, Autorin und Coach für Hochsensible. Deren Erlebniswelt kennt sie bestens aus zahlreichen Kontakten und aus eigener Anschauung. Sie behandelt das Thema Hochsensibilität sachlich und neutral und verknüpft es mit dem der Kommunikation.
http://coaching-fuer-hochsensible.de

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2018

Coverfoto: © Ulrike Hensel

Covergestaltung Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

Satz & Digitalisierung: satz&sonders GmbH, Münster

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-670-7

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-752-0 (EPUB), 978-3-95571-753-7 (MOBI), 978-3-95571-754-4 (PDF).

Einleitung

Auf die Idee zu diesem Buch kam ich nach einem telefonischen Beratungsgespräch mit einem Mann aus Berlin. Er hatte den dringenden Wunsch, seine hochsensible Frau besser zu verstehen und Hinweise zu bekommen, wie er sich in wiederkehrenden heiklen Situationen am besten verhalten kann. Mir hat das Gespräch Spaß gemacht, denn der Mann war sehr aufgeschlossen für meine Erklärungen und Empfehlungen und stellte kluge Schlussfolgerungen an. Offensichtlich war es auch hilfreich für ihn, dass ich aus meiner eigenen reflektierten Erfahrung als hochsensible Frau berichten konnte. Das Feedback, das er mir am Ende gab, war ausgesprochen positiv. Inspiriert von diesem Beratungsanlass kam mir am nächsten Morgen bei einem Waldspaziergang in den Sinn, ein Buch zu schreiben, das genau auf diesen Blickwinkel eingeht: den der ‚anderen‘. Daher die Wortwahl im Titel Hochsensible Mitmenschen besser verstehen. Ich zögerte nicht, dem Verlag meine Idee zu präsentieren, und bekam bald darauf grünes Licht für das Buchprojekt. Das Ergebnis halten Sie in Händen!

Schon des Öfteren wurde mir von Hochsensiblen berichtet, dass sie aus dem Wunsch heraus, besser verstanden zu werden, mein Buch Mit viel Feingefühl wichtigen Menschen in ihrem persönlichen Umfeld zum Lesen gegeben haben. Teilweise mit Erfolg. Teilweise auch nicht. Letzteres kann viele Gründe haben. Nicht jeder ist lesefreudig, und wer gedrängt wird, sich mit etwas zu beschäftigen, geht leicht in die Abwehrhaltung. Ein entscheidender Punkt ist meiner Meinung nach aber auch, dass Mit viel Feingefühl, wie alle mir bekannten Bücher über Hochsensibilität bei Erwachsenen, in erster Linie für die hochsensiblen Menschen selbst geschrieben ist. Das ist im vorliegenden Buch anders. Hier adressiere ich Leser, die den Blick von außen haben, die mit einer hochsensiblen Person zu tun haben, die mit ihr häufiger zusammenkommen, mit ihr zusammenleben oder zusammenarbeiten. Was davon trifft auf Sie zu?

Ich hoffe, es gelingt mir, Ihre Erwartungen an dieses Buch zu erfüllen, sei es, dass es Ihnen gegeben bzw. empfohlen worden ist oder dass Sie es auf der Suche nach entsprechender Lektüre selbst gefunden haben. Mein Ziel ist, Ihnen das Phänomen Hochsensibilität in umfassender Weise näherzubringen und Ihnen damit ein besseres Verständnis für die hochsensible Person, derentwegen Sie dieses Buch in die Hand genommen haben, zu ermöglichen sowie Anregungen zu liefern, wie Sie noch besser mit ihr auskommen können. Ich beziehe mich ausschließlich auf erwachsene hochsensible Personen. Was Kinder und Jugendliche angeht, verweise ich auf entsprechende andere Literatur.

Hinweise zum Sprachgebrauch in diesem Buch

HSP nutze ich als gängige Abkürzung für ‚Highly Sensitive Person‘ bzw. ‚Hochsensible Person‘ – in der Einzahl und in der Mehrzahl. Dabei ist ‚die HSP‘ zugleich die hochsensible Frau und der hochsensible Mann. Im Unterschied zu HSP spreche ich von Nicht-HSP, nicht von ‚Normalsensiblen‘ oder ‚Normalos‘ (was ist schon ‚normal‘?). Im Übrigen verwende ich der Sprachkonvention folgend durchweg die grammatisch männliche oder weibliche Form (je nach Wort) für beiderlei Geschlecht, solange nicht ausdrücklich in einer Aussage das Geschlecht eine Rolle spielt.

Ich sehe im Hochsensibelsein ganz klar ein Minderheitenthema. HSP haben in Bezug auf die Ausprägung ihrer Sensibilität einen Minderheitenstatus, wobei sie zunächst meist nicht einmal wissen, dass sie in ihrem Sosein nicht allein sind, sondern einer Minderheit von circa 20 Prozent – was ja gar nicht mal so wenig ist – angehören. Ebenso wenig weiß die nichthochsensible Mehrheit üblicherweise von der Existenz dieser Minderheit.

Für HSP sind Selbsterkenntnis, Selbstfindung und Selbstmanagement zweifellos von größter Bedeutung. Wenn es jedoch um einen langfristigen Zugewinn an Lebenszufriedenheit geht, ist der adäquate Umgang mit sich selbst nur die halbe Miete. Die andere Hälfte betrifft das Miteinander – die soziale Kompetenz. Was nützt es, wenn ich besser weiß, wer ich bin und was ich brauche, dies aber den Menschen um mich herum nicht erfolgreich zu vermitteln vermag? Mit erfolgreich meine ich: in einer Weise, die sozial verträglich ist und die die Erfüllung meiner Bedürfnisse wahrscheinlich macht.

Beim Thema Kommunikation kommt dann auch der Kommunikationspartner der hochsensiblen Person mit ins Spiel. Sie! Gleich vorab möchte ich betonen, dass ich nicht etwa die Verantwortung für eine gelingende Kommunikation und ein gutes Verhältnis zur HSP ganz zu Ihnen hinschieben möchte. Bemühen, Einsicht, Dazulernen, Sich-weiter-Entwickeln braucht es zweifelsohne auf beiden Seiten. Wie schön, dass Sie Ihren Teil beitragen! In welcher Beziehung auch immer Sie zu der HSP, an die Sie denken, stehen: Sie tun einen wichtigen Schritt und setzen ein positives Signal, indem Sie sich Zeit für dieses Buch nehmen. Es können sich aus der Lektüre (vielleicht der gemeinsamen Lektüre) klärende, Nähe erzeugende Gespräche ergeben. Ich sehe sogar die Chance, dass die Beziehung, zumal wenn sie zuweilen schwierig ist, aufgrund neuer Erkenntnisse und Einsichten auf neue Füße gestellt werden kann.

Ich werbe um ein besseres Verständnis für Ihr hochsensibles Gegenüber, habe und bekunde aber auch Verständnis für Sie. Ich weiß durchaus, dass man es mit HSP wahrlich nicht immer leicht hat. Ich sehe mich nicht zuvorderst als Fürsprecher der HSP, sondern als Mittler zwischen den ‚Welten‘.

Durch Gespräche, die ich mit Nicht-HSP über die Herausforderungen im Miteinander mit einer HSP geführt habe, ist mir noch mal so richtig bewusst geworden: Die HSP wünscht sich Einfühlung und Verständnis von der Nicht-HSP in einem Maße, das für gewöhnlich beim besten Willen nicht in deren Möglichkeiten liegt. Die Nicht-HSP soll sich einfühlen in ein Gefühlserleben, das sie nicht aus eigener Anschauung kennt, sie soll Verständnis aufbringen für etwas, was sie (verständlicherweise!) einfach nicht versteht, weil es außerhalb ihrer Erfahrungswelt liegt. Genau genommen beruht das Unverständnis ja auf Gegenseitigkeit. Das heißt, die HSP kann sich im Grunde genauso wenig in die Nicht-HSP hineinversetzen. Machen wir uns klar: Jemanden zu verstehen, der so anders ‚tickt‘ – wie herum auch immer –, kann immer nur ansatzweise gelingen. Niemand kann sich wirklich vorstellen, wie es ist, ein anderer zu sein. Das gilt es, als Fakt anzuerkennen.

Um eine solide Basis für wechselseitige Akzeptanz zu schaffen, bin ich um eine neutrale, sachliche und differenzierte Sichtweise bemüht. Und Sie lade ich zu einer ebensolchen ein, weil darin die beste Voraussetzung für ein konstruktives und erfreuliches Miteinander liegt.

Jede einseitige Beurteilung von Hochsensibilität bleibt unvollständig und unpassend, ob Hochsensibilität nun vor allem problematisiert oder vor allem hochgelobt wird. Insbesondere liegt es mir fern, HSP zu einer Elite zu erklären. Das veranlagungsbedingte Wesensmerkmal Hochsensibilität ist ein Gesamtpaket mit Licht- und Schattenseiten (wobei ich von einem Dramatisieren durch Formulierungen wie „Fluch und Segen“ absehe). Es ist an sich weder gut noch schlecht, hochsensibel zu sein, Hochsensibilität ist sowohl Bereicherung als auch Einschränkung, kann sich als nützlich oder hinderlich erweisen – je nach Lebenslage, aktueller Anforderung, konkretem Vorhaben und persönlicher Zielsetzung. Zudem kann jede einzelne Charakteristik des Hochsensibelseins für sich genommen von Vor- oder Nachteil sein; es kommt einfach darauf an, was gerade gefragt ist und inwieweit es dem Einzelnen gelingt, sich darauf einzustellen und das Beste daraus zu machen.

Was macht mich zur Expertin für Hochsensibilität? Ich bin selbst hochsensibel – und lebe damit seit etwas über 60 Jahren. Dass man das, wie ich bin, ‚hochsensibel‘ nennt, weiß ich nun seit etwa zwölf Jahren; es macht vieles leichter und handhabbarer, was früher reichlich schwierig war. Seitdem setze ich mich intensiv mit dem Thema auseinander, zumal mich Psychologisches schon immer sehr interessiert hat. Durch die Arbeit an meinen Artikeln und Büchern über Hochsensibilität habe ich das Thema tief durchdrungen und Querverbindungen hergestellt zu all dem, was ich mir sonst noch aus unzähligen Quellen (Büchern, Vorträgen, Seminaren, Weiterbildungen) an Wissen, Lebensweisheit und Expertise erworben habe.

Mein Basisbuch Mit viel Feingefühl. Hochsensibilität verstehen und wertschätzen (Junfermann, 2013) informiert grundlegend und umfassend, lässt Hochsensible zu Wort kommen, enthält längere Passagen, in denen ich Persönliches von mir erzähle, und behandelt ausführlich das Hochsensibelsein in den verschiedenen Lebensbereichen. Mein zweites Buch Hochsensible Menschen im Coaching. Was sie ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt (Junfermann, 2015) ist ein Fachbuch, das sich an die Zielgruppe Coaches richtet. Das E-Book Hochsensibel das Leben meistern (myMonk.de, 2016), inhaltlich abgeleitet aus dem Junfermann-Fachbuch, gibt Hochsensiblen nützliche Bewältigungsstrategien an die Hand.

Seit 2010 arbeite ich als Coach für Hochsensible – neben meiner schon länger bestehenden selbstständigen Tätigkeit als Lektorin und Textcoach. Außer in Einzelcoachings erlebe ich HSP in Workshops, in Gesprächskreisen, in Facebook-Gruppen sowie im Austausch via Mail und Chat und bin mittlerweile mit einigen HSP, die ich so kennenlernte, gut befreundet. Durch all diese Begegnungen habe ich mir ein gutes Bild davon machen können, was HSP ausmacht, was sie brauchen und was sie bewegt.

Meine Interviewpartner, von denen Sie im Verlauf des Buchs im jeweiligen Kontext relevante Statements lesen werden, rekrutieren sich aus Teilnehmern des Gesprächskreises für HSP, den ich in Böblingen leite, und aus Workshops für HSP, die ich bei mir zu Hause in Aidlingen gebe. Mir ist bewusst, dass HSP, die in den Gesprächskreis und in die Workshops kommen, nicht vollständig repräsentativ für die Gesamtheit der HSP sind. Sie sind insofern anders, als sie aktiv Unterstützung, Orientierung sowie Austausch und Rückhalt in einer Gruppe ‚Gleichgesinnter‘ suchen. Ich denke aber nicht, dass sie unbedingt viel mehr oder ganz andere Probleme haben als andere HSP. Die Zitate sind Auszüge aus schriftlichen Antworten auf Fragen, die ich kapitelweise an den Kreis der Interviewpartner per Mail verschickt habe.

An dieser Stelle danke ich ganz herzlich allen, die so engagiert mitgemacht und dieses Buch mit ihren persönlichen Aussagen belebt haben. Ohne sie wäre das Buch nicht das, was es ist! (Hinweis: Die mit Sternchen gekennzeichneten Namen sind geänderte Namen.)

Vielleicht kommen Sie im Lauf der Lektüre darauf, dass Sie selbst ebenfalls zur Gruppe der HSP gehören – nur vielleicht in einem anderen Maße und in einer etwas anderen Ausprägung als die HSP, mit der Sie zu tun haben. Ist der eine weniger hochsensibel als der andere oder geht er ganz anders mit seiner Hochsensibilität um, sind die Herausforderungen in der Beziehung ähnlich denen zwischen einer Nicht-HSP und einer HSP.

Wenn Sie Aufschluss gewinnen wollen, ob Sie hochsensibel sind, verweise ich auf den umfangreichen, untergliederten Fragenkatalog, den ich für das Fachbuch erarbeitet habe (siehe am Ende dieses Buchs).

Unter denen, die zur Gruppe der HSP gehören, gibt es trotz ihrer Mannigfaltigkeit so viele Gemeinsamkeiten, dass sinnvoll ‚Typisches‘ beschrieben werden kann. Dennoch sind natürlich Pauschalisierungen im Grunde immer fragwürdig, und es bedarf der Einschränkung. Daher baue ich an vielen Stellen die Wörter ‚häufig‘, ‚meist‘, ‚in der Regel‘ usw. ein. Wo derartige Relativierungen um einer griffigeren Formulierung willen fehlen, denken Sie sich diese bitte hinzu.

Um einem Schubladendenken und allzu klischeehaften Vorstellungen schon eingangs entgegenzuwirken noch folgende Überlegung: Niemand ist mit dem Merkmal Hochsensibilität auch nur annähernd vollständig charakterisiert, und niemand sollte darauf reduziert werden. Wenngleich Hochsensibilität ein grundlegendes Wesensmerkmal ist, ist es dennoch nur eine von vielen Charaktereigenschaften, die die Individualität ausmachen. Jede HSP ist in erster Linie eine einzigartige Persönlichkeit.

Ich wünsche Ihnen eine erhellende und hilfreiche Lektüre!

 

Ulrike Hensel

1. Was genau ist eigentlich Hochsensibilität?

Schon zu allen Zeiten hat es diese Minderheit in der Bevölkerung gegeben, die deutlich sensibler ist als die Mehrheit, nur gab es dafür bis zum Ende des letzten Jahrtausends keinen Fachausdruck und kein Erklärungsmodell. Wahrscheinlich war eine gesteigerte Sensibilität auch zu keiner anderen Zeit ein so brisantes Thema wie in unserer modernen, leistungsbezogenen, konkurrenzorientierten, schnelllebigen, eng getakteten, multimedialen und reizerfüllten Welt.

Heute haben wir den Terminus Hochsensibilität und eine neurowissenschaftliche Erklärung. Beides erweist sich als sehr hilfreich – für die Hochsensiblen selbst sowie für die Menschen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, die mit ihnen in engerem Kontakt sind. Über das Phänomen Hochsensibilität gut Bescheid zu wissen ist meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung dafür, hochsensible Mitmenschen in ihrem Wesen und in ihrem Verhalten besser zu verstehen.

1.1 Sensibilität und Hochsensibilität

Sind wir nicht alle ein bisschen sensibel? Diesen Satz formuliere ich gern mit einem Schmunzeln in Anlehnung an den Werbeslogan „Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?“ aus dem Jahr 1995. Im Ernst: Bevor ich auf Hoch-Sensibilität eingehe, will ich zunächst mit Ihnen auf die Sensibilität schauen, also bei einer Gemeinsamkeit zwischen allen Menschen beginnen.

Sensibilität bezeichnet sowohl die physische als auch die psychische Sensibilität; und ziemlich sicher hängt das eine mit dem anderen zusammen. In der psychologischen Bedeutung meint Sensibilität sowohl die emotionale Verletzlichkeit, die Kränkbarkeit, als auch die soziale Fähigkeit, anderen empathisch und feinfühlig zu begegnen. In der physiologischen Bedeutung ist Sensibilität die Fähigkeit des Körpers, mithilfe von Sinneszellen unterschiedliche Reize (Informationen über die Umwelt und den eigenen Organismus) aufzunehmen, zu verarbeiten und auszuwerten und daraufhin entsprechende lebensdienliche Reflexe und Reaktionen auszulösen.

Damit Informationen überhaupt empfangen werden können, bedarf es der Sensibilität, der Reizbarkeit, der Irritabilität des Nervensystems. Sensibilität ermöglicht es jedem mit einem Nervensystem ausgestatteten Lebewesen, sich auf Gegebenheiten und Geschehnisse in der Umwelt einzustellen, sich von Gefahren fernzuhalten bzw. sie abzuwehren und Nützlichem entgegenzustreben. Im Lauf der Evolution scheint es sich für den Erhalt einer Art bewährt zu haben, dass ein kleiner Teil (circa ein Fünftel) der Gesamtpopulation eine überdurchschnittlich hohe Sensibilität aufweist. Das ist bei Menschen so, und Forscher haben das auch bei zahlreichen Tierarten festgestellt.

Natürlich sind im einen wie im anderen Wortsinn alle Menschen sensibel, nur sind es die einen mehr, die anderen weniger. Eine Minderheit ist deutlich sensibler als die Mehrheit: die hochsensiblen Personen (HSP). Bei ihnen liegt genetisch bedingt eine außergewöhnlich hohe generelle Sensibilität vor (was nicht bedeutet, dass alle HSP in ihrer Kommunikation durchweg sensibel im Sinne von rücksichtsvoll, taktvoll und unaufdringlich sind).

Aufgrund seiner besonderen Eigenschaften ist das Nervensystem von HSP sehr leicht erregbar, das heißt, bei derselben Reizzufuhr ist bei ihnen das nervliche Erregungsniveau deutlich höher. Sie sprechen einerseits schon auf schwache Reize an, die für Nicht-HSP noch unter der Wahrnehmungsschwelle bzw. unter der Grenze für ein Störgefühl liegen, und erreichen andererseits bei anhaltenden und/oder starken Reizen deutlich eher als andere den Punkt, an dem sie überreizt sind – und oft auch sichtlich ‚gereizt‘ reagieren. Entsprechend länger dauert es bei ihnen dann, bis nach dem Wegfall des auslösenden Ereignisses die nervliche Erregung wieder abgeklungen ist und sie sich wieder beruhigt haben.

Den HSP eine überdurchschnittliche Sensibilität zuzuschreiben darf keinesfalls heißen, den Nicht-HSP Sensibilität überhaupt abzusprechen – was seitens der HSP gelegentlich geschieht, weil ihnen aus ihrem Blickwinkel eine geringere Sensibilität als ‚unsensibel‘ vorkommt. In meinen Coachings und Workshops für HSP betone ich deshalb immer, dass HSP die Eigenschaft Sensibilität nicht für sich ‚gepachtet‘ haben und sich auch nicht dazu verleiten lassen sollten, sich diesbezüglich in überheblicher Weise überlegen zu fühlen. Umgekehrt ist es natürlich unangebracht, jemandem sein hochsensibles Naturell zum Vorwurf zu machen. Viel passender ist es, wenn beide Seiten die Unterschiede wertneutral betrachten und sich um einen vernünftigen Umgang mit den Auswirkungen bemühen.

1.2 Das Konzept ‚High Sensitivity‘

Das Konzept der Hochsensibilität, auf das sich alle Experten und Autoren heute beziehen, geht zurück auf Dr. Elaine N. Aron, eine US-amerikanische klinische Psychologin, Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin in eigener Praxis (heute im Ruhestand, aber noch aktiv als Botschafterin für HSP). Ursprünglich gehörte sie zusammen mit ihrem Mann Dr. Arthur Aron (ebenfalls Psychologieprofessor) zu den führenden Wissenschaftlern, die sich mit der Psychologie der Liebe und enger Beziehungen beschäftigten. Anfang der 1990er-Jahre begann sie dann, sich eingehend mit dem angeborenen Wesenszug hoher Sensibilität auseinanderzusetzen.

In ihrem ersten Buch schreibt sie, wie bedeutsam es sei, dass sie aus eigener Anschauung die besondere Eigenschaft einschließlich der Vorzüge und Herausforderungen kenne. Sie erzählt von sich, sie habe über Jahre hinweg diverse Probleme ihrer Kindheit aufgearbeitet, wobei sich ihre Sensibilität zum zentralen Thema entwickelte: „Da war mein Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein. […] Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage, ins Leben zurückzukehren.“ (Aus Sind Sie hochsensibel?)

Aron führte selbst umfangreiche wissenschaftliche Studien durch und wertete zudem zahlreiche Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler aus, die sich ihrer Auffassung nach auf das Persönlichkeitsmerkmal ‚hohe Sensibilität‘ bezogen, wenn auch mit einem anderen Verständnis der Zusammenhänge und anderen Bezeichnungen (wie zum Beispiel ‚Hochreaktivität‘ bei Jerome Kagan).

Dabei kristallisierte sich durchgängig eine Minderheitsgruppe von 15 bis 20 Prozent der Menschen heraus – zu der gleichermaßen Jungen/Männer und Mädchen/Frauen gehören –, die eine deutlich höhere Sensibilität aufweist als die Mehrheit. Für den ‚Trait‘ (angeborenen, unveränderlichen Wesenszug) der hohen Sensibilität prägte Elaine Aron den allgemeinsprachlichen Begriff ‚High Sensitivity‘ (Hochsensibilität) bzw. den präziseren wissenschaftlichen Terminus ‚Sensory Processing Sensitivity‘ (SPS, Reizverarbeitungssensibilität), der von Aron und anderen Forschern auf diesem Gebiet bis heute verwendet wird. Die Abkürzung HSP steht im Englischen für Highly Sensitive Person, im Deutschen für Hochsensible Person(en). Im deutschen Sprachraum findet man gelegentlich auch die Abkürzung HSM für Hochsensibler Mensch.

Aron war es sehr wichtig, eine neutrale Bezeichnung für das Phänomen zu finden, die zum Ausdruck bringt, dass hier eine Normvariante in der Ausprägung des Nervensystems vorliegt (die einhergeht mit einer größeren Empfänglichkeit gegenüber Reizen aller Art), nicht aber eine Anomalie oder eine krankhafte Störung. Ihr Anliegen war und ist es, dass Hochsensibilität nicht länger falsch verstanden und verwechselt wird mit Gehemmtheit, Schüchternheit, Ängstlichkeit oder gar einer Sozialphobie, auch nicht mit Introvertiertheit und Neurotizismus. Aron wollte aufräumen mit der negativen Voreingenommenheit gegenüber HSP und diesen Aspekt der Persönlichkeit in einem positiveren Licht erscheinen lassen. Aron: „Am besten betrachtet man diesen Wesenszug als neutral. Er wird erst dann zum Vor- oder Nachteil, wenn man in ganz bestimmte Situationen gerät.“ (Aus Sind Sie hochsensibel?)

Bis heute gibt es keine einheitliche, klar gefasste und allgemein anerkannte Definition des Phänomens Hochsensibilität. In deutschsprachigen medizinischen und psychologischen Lexika sucht man den Begriff Hochsensibilität bislang vergeblich. Nach Arons Kurzdefinition hat eine HSP ein empfindliches Nervensystem, bemerkt Feinheiten in ihrem Umfeld und ist leichter überflutet von einer stark stimulierenden Umgebung.

Elaine Arons Wirken ist es zu verdanken, dass die Erkenntnisse über Hochsensibilität Beachtung in Wissenschaftskreisen gefunden haben. Der erste wissenschaftliche Artikel, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Arthur Aron schrieb, erschien 1997 im renommierten Journal of Personality and Social Psychology. Weitere folgten. (Bei Interesse finden Sie eine Liste wissenschaftlicher Arbeiten von Aron und anderen unter http://hsperson.com/research.)

Neben wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte Elaine Aron eine ganze Reihe populärer Bücher. Das erste und bekannteste The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You kam in den USA 1996 heraus, ist mittlerweile über 100.000-mal gedruckt und in 18 Sprachen übersetzt worden. In deutscher Sprache erschien es im Jahr 2005 unter dem Titel Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (bei nachfolgenden Nennungen nur noch mit dem Haupttitel benannt).

Elaine Aron hat einen Test mit 27 Fragen ausgearbeitet, der von Forschern und Psychologen zur Erfassung der Hochsensibilität genutzt wird (die sogenannte HSP-Skala). Eine vereinfachte Version davon – ohne Abstufungen – findet man als Selbsttest „Are you Highly Sensitive?“ auf Arons Website (http://hsperson.com/test/highly-sensitive-test).

In ihren Veröffentlichungen seit 2012 nennt Elaine Aron vier Indikatoren zur Feststellung von Hochsensibilität: Verarbeitungstiefe (Depth of Processing), Übererregbarkeit (Overarousability), Emotionale Intensität (Emotional Intensity) und Sinnessensibilität (Sensory Sensitivity). Damit sei Hochsensibilität einfach beschrieben und in den wesentlichen Facetten dargestellt. Diese vier Indikatoren seien geeignet als Kriterien für ein Erkennen von Hochsensibilität bei sich selbst und auch bei anderen.

1.3 ‚Hochsensibel‘ oder ‚hochsensitiv‘?

Die Mehrzahl derer, die sich seit der Begründung des Konzepts ‚High Sensitivity‘ durch Elaine Aron im deutschsprachigen Raum seriös mit dem Thema befasst haben, verwendet den Begriff ‚Hochsensibilität‘ – so auch der Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e. V., was auch die korrekte Übersetzung ist.

Ich möchte dennoch kurz auf den Begriff ‚Hochsensitivität‘ zu sprechen kommen, auf den man in der deutschsprachigen Hochsensiblen-‚Szene‘ bisweilen stößt. Teilweise wird er als die ‚richtigere‘ Übersetzung ausgegeben. Hier widerspreche ich und verweise darauf, dass gleichklingende Wörter in zwei Sprachen bekanntermaßen nicht immer die gleiche Bedeutung tragen. Man nennt so etwas ‚Falsche Freunde‘. False Friends sind „sprachliche Ausdrücke, Wendungen, Wörter unterschiedlicher Sprachen, die sich scheinbar entsprechen oder ähneln, aber unterschiedliche Bedeutung haben.“ (Aus: Kleines linguistisches Wörterbuch, http://www.mediensprache.net)

Anderenteils soll mit der Verwendung des Begriffs ‚Hochsensitivität‘ die Empfindsamkeit als Begabung, mit allen Sinnen nuanciert wahrzunehmen, betont werden. ‚Hochsensitive‘ Menschen hätten, so heißt es in mancher Literatur, einen ‚sechsten‘ oder ‚siebten‘ Sinn, sie seien das, was man ‚hellsichtig‘ oder ‚hellfühlig‘ nennt, außerdem so extrem empathisch, dass sie regelrecht ‚medial‘ seien, sie hätten ‚Ahnungen‘ oder andere Empfindungen aus der ‚nicht-alltäglichen Wirklichkeit‘. Ich stimme dieser Auslegung nicht zu, denke aber, dass Sie wissen sollten, was manche HSP an vermeintlichen Sachinformationen aufgenommen haben, weil sie sich womöglich darauf beziehen.

Nicht alle HSP, die sich als ‚hochsensitiv‘ bezeichnen, wählen diesen Ausdruck bewusst, manche aber schon. Mein Eindruck ist, dass einige HSP ‚hochsensitiv‘ sehr gern für sich aufgreifen, weil ihnen dieses Wort im Gegensatz zu ‚hochsensibel‘ unvorbelastet und positiv erscheint. Vielleicht sind sie in der Vergangenheit als ‚Sensibelchen‘ verunglimpft worden und bekamen allzu oft Abwertungen in der Art von „du bist (viel) zu sensibel“ zu hören, sodass sie ‚(hoch-)sensibel‘ mit einer Kränkung assoziieren. Wichtiger als mit der HSP in eine kontroverse Diskussion über den ‚richtigen‘ Begriff einzusteigen, scheint mir, sich dafür zu interessieren, was Ihr Gegenüber mit der Wortwahl verbindet.

Für mich ist eindeutig: Gerade im Unterschied zum Begriff ‚Hypersensibilität‘, bei dem von einer akzeptierten Norm bezüglich des Sensibilitätsgrads ausgegangen und alles darüber Hinausgehende in den Bereich des Krankhaften gerückt wird, kann ‚Hochsensibilität‘ sehr gut als eine angemessene, wertneutrale Bezeichnung (die Vorsilbe ‚hoch-‘ statt ‚über-‘ macht den Unterschied!) und als passende Entsprechung zum englischen ‚High Sensitivity‘ gelten.

Zur Diskussion, ob bei HSP denn nun (nur) eine hohe Empfindsamkeit – sprich Sensitivität – oder (auch) eine hohe Empfindlichkeit – sprich Sensibilität – vorliegt, biete ich folgende Überlegung an. Nach meiner Logik bedingt eine höhere Empfindsamkeit unweigerlich auch eine höhere Empfindlichkeit. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Ein Beispiel: Wenn ich ‚dünnhäutig‘ bin, empfinde ich einen Wollpullover oder ein T-Shirt-Etikett auf der Haut als kratzig. Zugleich finde ich das unerträglich, bin also empfindlich. Ebenso bin im übertragenen Sinne dünnhäutig, sprich leicht verletzlich, wenn jemand in rauem Ton mit mir spricht. Wieder bin ich nicht nur empfindsam, sondern auch empfindlich. (Auf einem anderen Blatt steht, wie der Einzelne mit seiner höheren Empfindlichkeit umgeht und was er an Reaktionen nach außen trägt.)

1.4 Wissenschaftliche Erklärung

Auf die Frage „Ist das Ganze wissenschaftlich anerkannt?“ findet man auf der Website des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität e. V. (IFHS, http://www.hochsensibel.org) unter dem Menüpunkt „Regelmäßig gestellte Fragen“ eine interessante Antwort, die ich hier gerne zitieren möchte: „Dieser Frage liegt die Vorstellung zugrunde, es ließe sich klar beantworten, was ‚wissenschaftlich anerkannt‘ ist, so als gäbe es eine Art zentraler Institution, die darüber entscheidet und abschließend befindet. Wissenschaft ‚funktioniert‘ aber anders: Neue Ideen und Theorien werden zunächst von Einzelnen in der Fachpresse veröffentlicht. Im Laufe der Zeit – dies kann sehr lange dauern – werden die neuen Thesen durch weitere Forschungen bestätigt, widerlegt oder verfeinert. Bis eine Position ‚herrschende Meinung‘ […] wird, ist es aber meist ein weiter Weg.“ Schauen wir uns nach dieser Vorüberlegung an, was an wissenschaftlicher Erklärung gegeben werden kann.

Sinnesorgane sind komplexe Strukturen zur Wahrnehmung von Reizen von außerhalb und von innerhalb des Körpers. Die Sinne fungieren wie Antennen, über die wir in vielschichtiger Weise unsere Umwelt und uns selbst erfahren. Die Sinnesorgane enthalten als wichtigstes Element Sinneszellen, spezialisierte Zellen, die als Rezeptoren für die betreffenden Reize fungieren.

Neben den fünf Hauptsinnen, dem Sehen, dem Tasten, dem Hören, dem Riechen und dem Schmecken, gibt es eine Reihe weiterer Sinne zur Wahrnehmung der Außenwelt (Druck, Vibration, Temperatur etc.) und zur Eigenwahrnehmung (Schmerz, Stellung des Körpers im Raum, Bewegung, Kraft etc.).

Die von den Sinneszellen der Sinnesorgane aufgenommenen sensorischen Informationen werden über Nervenfasern an die zuständigen Bereiche des Gehirns (sensorische Areale) weitergeleitet. Im Gehirn werden sämtliche eingehenden Informationen miteinander verbunden und verarbeitet. Das Einordnen und Bewerten geschieht größtenteils unbewusst durch den Abgleich der Sinnesempfindungen mit abgespeicherten Informationen. Einzelinformationen werden dabei zu sinnvollen Gesamteindrücken zusammengeführt und Sinngebung erreicht. Erst mit dieser Leistung der Hirnzentren werden die Sinne umgesetzt.

Den vorliegenden Erkenntnissen zufolge liegt die Reizempfindlichkeit bei HSP nicht in den Strukturen der Sinnesorgane selbst begründet, sondern in der Art der neuronalen Verarbeitung der Sinneseindrücke.

In einem Interview in PSYCHOLOGIE HEUTE vom April 2012 (Artikelüberschrift „Von Natur aus dünnhäutig“) berichtete Elaine Aron von Forschungsarbeiten, die ihr Mann Arthur Aron betreut hat. Man habe mit bildgebenden Verfahren festgestellt, dass bei HSP durch Sinnesreize andere Hirnregionen aktiviert werden und dass sich auch zeitliche Abläufe im Gehirn von denen der Bevölkerungsmehrheit unterscheiden. Hochsensibilität gehe also nachweislich mit Unterschieden in den Hirnstrukturen und -prozessen einher.

Was in unser Bewusstsein vordringt, ist das Ergebnis eines Auswahlvorgangs. Wahrnehmung ist immer gefiltert und damit selektiv. Die Filterung dient der automatischen Unterscheidung von relevanten und irrelevanten Reizen. Unerhebliches wird ausgeblendet, damit das Bewusstsein, das im Vergleich zum Unbewussten eine wesentlich geringere Verarbeitungskapazität hat, funktionsfähig bleibt und nicht überlastet wird.

‚Neurologische Filter‘ sind die Filter, die durch das Nervensystem vorgegeben sind. Diese Filter sind es, von denen im Zusammenhang mit Hochsensibilität immer wieder die Rede ist. In manchen Artikeln über Hochsensibilität in populären Medien findet sich die Aussage, HSP würden über keine Filter verfügen („Leben ohne Filter“!). Mir ist wichtig, diese Übertreibung zu korrigieren. Selbstverständlich verfügen auch HSP über neurologische Filter, nur sind diese bildlich gesprochen durchlässiger als jene von Nicht-HSP.

Einem aktuellen neurowissenschaftlichen Erklärungsansatz zufolge laufen die Reizverarbeitungsvorgänge im Gehirn bei HSP insofern anders, als mehr Reize als wichtig eingestuft, an die Großhirnrinde weitergeleitet und damit bewusst werden. Untersuchungsreihen mithilfe der Magnetresonanztomografie liefern Hinweise darauf, dass bei HSP eine erhöhte Aktivität im Zwischenhirn vorliegt, was man mit der Rolle des Thalamus in Verbindung bringt. Der Thalamus, der den größten Teil des Zwischenhirns bildet, enthält Umschaltzentren für Informationen auf dem Weg von den Sinnesorganen, aus dem Körper und vom gefühlsmäßigen Empfinden zur Großhirnrinde. Der Thalamus entscheidet, welche Informationen aktuell so relevant sind, dass sie über die Weiterleitung an die Großhirnrinde bewusst werden sollen; daher wird er auch ‚Tor zum Bewusstsein‘ genannt. Es werden bei HSP also nicht mehr Informationen über die Sinnesorgane aufgenommen, sondern weniger Informationen aus der Wahrnehmung als irrelevant herausgefiltert. Man kann sagen, dass bei HSP die Wahrnehmungsbeschränkung, die vor Reizüberflutung schützen soll, weniger gut funktioniert.

Während es Nicht-HSP relativ gut gelingt, Störreize – z. B. Gespräche oder Radio im Hintergrund – nur zu Beginn bewusst wahrzunehmen und anschließend weitgehend auszublenden, bleiben HSP permanent aufmerksam für derartige Reize aus ihrer Umgebung und sind weit weniger fähig, diese als unbedeutend abzuhaken und anschließend zu ignorieren, besonders dann nicht, wenn sie Sprachinformationen beinhalten.

1.5 Hochsensibilität und psychische Erkrankungen

Ich vermeide es, von ‚Betroffenen‘ zu sprechen oder zu sagen, jemand ‚hat HS‘, auch mit dem Wort ‚Diagnose‘ bin ich vorsichtig, weil sich das alles so anhört, als sei Hochsensibilität eine Krankheit oder eine psychische Störung – was es nicht ist. Es handelt sich bei Hochsensibilität um nichts Behandlungsbedürftiges, um nichts, was es zu überwinden bzw. ‚wegzutherapieren‘ gilt. Vielmehr geht es nur (schwierig genug!) darum, die Hochsensibilität zu akzeptieren und einen geeigneten Umgang damit zu finden.

Eine häufig gestellte Frage ist die, ob HSP mit höherer Wahrscheinlichkeit psychisch erkranken als Nicht-HSP. Sie kann aus Sicht von Elaine Aron wie folgt beantwortet werden: HSP mit einer unbeschwerten Kindheit leiden nicht vermehrt an psychischen Krankheiten. Es scheint sogar so zu sein, dass sie durch ihr stärkeres Reagieren auf Reize aller Art mehr noch als Nicht-HSP von günstigen Bedingungen und einem unterstützenden Umfeld profitieren. Wachsen HSP hingegen unter seelisch belastenden Bedingungen auf und/oder machen sie einschneidende negative oder gar traumatische Erfahrungen und/oder sind sie sehr bedrückenden Lebensumständen ausgesetzt, ist ihr Risiko, psychisch zu erkranken, erhöht. Elaine Aron macht aber deutlich: „HSP, die in der Kindheit oder im Erwachsenenalter Tragisches erlebt haben, scheinen stärker zu Angststörungen und Depressionen zu neigen als der Durchschnitt. […] Die Neigung einiger darf nicht zum Etikett aller werden.“ (Aus: Sind Sie hochsensibel? Das Arbeitsbuch)

Wer sich vertieft mit den Zusammenhängen zwischen Hochsensibilität und psychischen Krankheiten beschäftigen möchte, dem sei das Buch Hochsensible Menschen in der Psychotherapie von Elaine Aron (Junfermann, 2014) zur Lektüre empfohlen.

Solange HSP noch nichts von ihrem Wesenszug wissen, halten sie sich mitunter selbst irrtümlich für krank. Und nicht selten werden sie – mehr oder weniger ernst gemeint – von anderen als ‚krank‘ bezeichnet („Das ist doch nicht mehr normal“). Vor allem Zustände der Übererregung, in die HSP bei Überlastung und Reizüberflutung leicht geraten, und/oder die anhaltende Erschöpfung, unter der sie leiden, wenn sie einen für sie ungeeigneten Lebensstil pflegen, und/oder die hohe emotionale Reaktivität scheinen hierfür Indizien (‚Symptome‘) zu sein.

Mir fällt in den Begegnungen mit HSP auf, dass sie sich in vielen Fällen auch nach dem Kennenlernen des Begriffs Hochsensibilität noch als ‚hypersensibel‘ beschreiben. Daran sieht man, wie tief mitunter die Selbsteinschätzung, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist, verankert ist.

Eine Sonderstellung unter den möglichen Erkrankungen nimmt meines Erachtens der ‚Burn-out‘ ein, die körperliche, emotionale und geistige Erschöpfung aufgrund beruflicher oder anderweitiger Überlastung bei der Lebensbewältigung (auch als Erschöpfungsdepression bezeichnet). Ein Ausbrennen droht denen, deren Arbeitseinsatz das verträgliche Maß überschreitet, die die Balance zwischen Arbeit und Erholung nicht mehr herzustellen vermögen, die ständig in Anspannung sind und nicht mehr abschalten können. Ich wage zu behaupten, dass HSP aufgrund ihrer Übererregbarkeit sowie dem hohen Anspruch, den sie an sich haben in puncto Verantwortung, Pflichtbewusstsein, Perfektion u. a. m., überdurchschnittlich burn-out-gefährdet sind, besonders dann, wenn sie längerfristig einer Reihe von Stressfaktoren ausgesetzt sind.

Eine Unterscheidung ist noch erwähnenswert: Es gibt auch eine hohe Empfindlichkeit, die sich erst im Lauf des Lebens einstellt – mit teilweise ähnlichen Kennzeichen (Kränkbarkeit, Alarmbereitschaft, Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit …) wie die veranlagungsbedingte Hochsensibilität. Ursachen für eine erworbene hohe Empfindlichkeit – ich sage hier absichtlich nicht ‚Hochsensibilität‘ – können körperliche oder psychische Krankheiten, organische Funktionsstörungen, Vergiftungen oder Umweltbelastungen sowie traumatische Erlebnisse sein, die ihre Spuren im Nervensystem hinterlassen.

Ein Unterschied zwischen erworbener hoher Empfindlichkeit und anlagebedingter Hochsensibilität ist darin zu sehen, dass bei Ersterer die typischen Ressourcen des Gesamtpakets Hochsensibilität fehlen, wie zum Beispiel die Gabe der generell feineren Wahrnehmung, das vernetzte Denken, das ausgeprägte Einfühlungsvermögen, die Fülle und Tiefe des emotionalen Empfindens bei jeglichem Erleben. Es sei noch hinzugefügt, dass sich eine vorhandene veranlagungsbedingte Hochsensibilität durch stark belastende Faktoren noch steigern kann.

Ein wichtiger Hinweis an dieser Stelle: Natürlich sollte bei anhaltenden schwerwiegenden psychischen Problemen abgeklärt werden, ob eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt, bei der professionelle therapeutische Hilfe angezeigt ist.

1.6 Worin sich Hochsensibilität zeigt

Grundlegende Kennzeichen von Hochsensibilität liegen in der Art und Weise wahrzunehmen, zu denken und zu fühlen. Diese drei Faktoren finden ihren Niederschlag in typischen Verhaltensweisen, mit denen Sie im Umgang mit einer HSP konfrontiert sind. Darauf, was das für den Kontakt zwischen Ihnen und der HSP bedeutet, werde ich in den folgenden Kapiteln näher eingehen. Hier sollen nur schon mal die drei genannten Komponenten – das Wahrnehmen, das Denken und das Fühlen – für Sie skizziert werden. Bitte bedenken Sie, dass nicht alles gleichermaßen auf jede einzelne HSP zutrifft. Vorrang hat immer die individuelle Persönlichkeit, die gesehen, erkannt und gewürdigt sein will.

1.6.1 Die Art wahrzunehmen – die sensorische Komponente