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DIETMAR GNEDT

BALKANFIEBER

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IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Tanja Kühnel, unter Verwendung
von Bildern von Nerijus Juras
© 2018 mit Genehmigung von Shutterstock.com

Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel

Lektorat: Arnold Klaffenböck

eISBN 978-3-7025-8047-6

Auch erhältlich als Hardcover mit Lesebändchen, ISBN 978-3-7025-0888-3

www.pustet.at

Gewidmet jenem Menschen, der in Belgrad lebt und dessen Lebensgeschichte wohl in jedem Kapitel des Romans zu finden ist, so gut versteckt, dass nur er sie finden kann.

Hinweis

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Ich habe mich für die serbische Originalschreibweise entschieden. Buchstaben mit Sonderzeichen werden folgendermaßen ausgesprochen:

ć ähnlich wie »tsch« in Ciao,

č als »tsch« wie in Deutschland,

Đ/đ als »Dj/dj« wie Giovanni,

š als »sch« wie Schule,

ž als stimmhaftes »sch« wie Journal.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Nachwort

1

Warum er es schließlich getan hat, weiß er selbst nicht so recht. Er ist jedenfalls eingestiegen in den Zug in Richtung Budapest mit Anschluss nach Belgrad.

Jetzt sitzt er allein in einem Abteil, äußerlich ruhig, aber alles in ihm zittert. Wien-Meidling gleitet aus dem Fensterrahmen. Noch trägt er den schwarzen Lodenmantel. Den Hut hat er vom Kopf genommen und auf den Schoß gelegt. Kein Gepäck, nur die Aktentasche aus Leder, gefertigt von einer Wiener Kürschnerei, genau nach seinen Wünschen. Er hat sie zwischen Fensterwand und seinen Körper geklemmt, hält sie mit der Linken fest. Als wolle er verhindern, dass da einer von denen, die er hat einsteigen gesehen, ihm seinen Schatz entwendet.

Seinen Schatz? Es will ihm kein anderes Wort einfallen. Klar ist, es gab eine Zeit in seinem Leben, in der er seine Frau Maddalena unter vier Augen so nannte: »Schatz!« Und jetzt, seit der unbeschreiblichen Katastrophe, hat sich dieses Wort in die Dinge hineingeschlichen, die von Maddalena in seinen Besitz gelangten – untrennbar mit ihnen verflochten!

Der Mann, der Ursache von Christophs überstürztem Aufbruch ist, heißt Lazar. Der in diesem Moment Alltägliches in Belgrad verrichtet – so Christophs Vorstellung – und keine Ahnung davon hat, was auf ihn zukommt. Allein das neuerliche Eindringen dieses verfluchten Namens in sein Bewusstsein – Lazar – löst Schweißausbrüche bei Christoph aus. Wie wird das erst sein, wenn er seinem Kontrahenten Aug in Aug gegenübersteht?

– Ich bringe ihn um! – Er erschrickt über die Explosion dieser Worte im Kopf, gezündet in der Herzgegend.

Christoph schlüpft aus dem Mantel, hängt ihn an den Haken. Er legt den Hut in die Ablage. – Bastard! – Wie Geschoße fliegen Worte durch sein Gehirn. Und immer noch ist da dieser schwarze Raum in ihm, wenn er an das Geschehene denkt. Jeden Tag, jede Nacht kreisen die Gedanken durch die Schwärze. Unaufhörlich. Das ist der Grund, warum er nach Jahren, in denen er abstinent zu sein vermochte, wieder Mühe hat, nicht zur Flasche zu greifen.

– Warum tust du dir das an? Welchen Sinn hat es? –

Neben vielen brüchigen Antworten gibt es nur eine gültige: – Maddalena! Es ist ihr Letzter Wille! – Gleichzeitig weiß er: Diese Erklärung greift zu kurz.

Die wievielte Reise nach Belgrad ist es für Christoph? Eine Stadt, die er aus freien Stücken nicht betreten hätte. Einige Jahre musste er dort leben. Als dreckig, laut und heruntergekommen hat er sie vor dem Krieg schon empfunden. Maddalena, so verrückt, wie nur sie sein konnte, liebte Belgrad. Ihretwegen hat er es ausgehalten, anfangs jedenfalls. »Die Stadt zwischen Morgen- und Abendland.« Sie kannte Belgrad aus ihrer Jugendzeit. Interrail. Auf dem Weg nach Athen in Belgrad einen Kaffee trinken. – So war sie! – Sie, die Venezianerin, und ihre Freundin Sahra aus Wien. Zwei lachende, leicht bekleidete Mädchen in einem Belgrader Straßencafé. Christoph kennt das Foto. Möglicherweise war Maddalena damals noch keine achtzehn Jahre alt, jedenfalls zeigt das Foto ihr bildhübsches Gesicht. – Wer hätte sich ihr entziehen können? – Sahra aus Wien dagegen: unscheinbar, grobschlächtig, aber mit beiden Beinen im Leben stehend. So die Interpretation von vielen. – Wahrscheinlich hätte sich Maddalena ohne Sahra in der Weltgeschichte verloren. Sie konnte so leichtgläubig und unbeschwert sein. Das hat sich auch später durch ihr Leben gezogen. Es war ihr nur schwer möglich, Gefahren zu erkennen. Und genau so ist sie mit Belgrad umgegangen. Wirklichkeitsfremd! Das war sie. Ein kritischer Geist würde meinen: naiv. – Und doch war das eine der Eigenarten, deretwegen er sie liebte.

Die platte Landschaft zieht durch Regenwolken verdunkelt vor dem Fenster des Abteils vorbei. Er hatte sich doch geschworen, keine negativen Gedanken mehr in Zusammenhang mit Maddalena zuzulassen. Diese verdammte Fahrt legt Erinnerungen frei. Hat er sich nicht geschworen, nie wieder? – Ende der Grübelei. – Jetzt spürt er, seine Reise führt zielgenau in den nächsten emotionalen Ausnahmezustand. – Nichts ist vergessen! – Alles steht ihm wieder vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Die unbeantworteten Fragen, die Fragen, die er sich nicht mehr stellen wollte, kreisen durch seinen Kopf.

Das zermürbende Nachdenken muss aufhören. Sonst weiß er nicht, wie er weiter trocken bleiben soll. Sein Arzt hat ihm damals nach der Scheidung die Rute ins Fenster gestellt: »Wenn Sie sich selbst umbringen wollen, gibt es schönere Möglichkeiten, als an einer Leberzirrhose zu sterben! Glauben Sie mir! Tun Sie etwas dagegen!« Mein Gott, dafür hätte er keine Ärzte benötigt, das wusste er selbst auch.

Aggression muss nach außen, dorthin, wo sie hingehört. Hass darf nicht nach innen dringen, zerstörerisch wie eine explodierende Splittergranate. Und heute? Er war schon immer eine Kämpfernatur, sonst wäre er in den meisten Bereichen seines Lebens nicht so weit gekommen: engster Vertrauter des Außenministers, jüngster Botschafter der Republik. Ohne Botschafter Dr. Christoph Forstner wäre die österreichische Position im Zerfall des Vielvölkerstaates Jugoslawien nicht so erfolgreich vertreten und umgesetzt worden. Das hat er selbst aus dem Mund des Vizekanzlers und Außenministers gehört. Damals war denkbar, dass ihn seine Seilschaften, seine gute Vernetzung in den Bünden, ganz nach oben hieven könnten. Eine Zeit lang galt er als geheime Hoffnung für den Generationenwechsel an der Parteispitze. Doch dann ist alles ganz anders gekommen. Rückberufung, unter offiziell ehrenhaften Gründen. – In diplomatischen Formulierungen hat ihm der Minister seine wahren Beweggründe für die Entscheidung mitgeteilt. – In den Medien aber hieß es: Er sei der Einzige, der die Beziehungen und die nötige Erfahrung für den südosteuropäischen Raum mitbringe. Niemand in der Partei sprach offen über seine Abberufung als Botschafter in Belgrad. Selbst der politische Gegner versteckte die Häme hinter wohlgedrechselten Worten. Christoph spürte bald, dass es ein Abstieg in die zweite oder dritte Reihe war. Eindimensionale Bewertungen liegen so gut wie immer falsch – auch in diesem Fall? Die wahre Ursache dieser Niederlage vermutet er inzwischen in Belgrad: Lazar Petrović.

Dieser Stein brachte die Lawine ins Rollen. Und je mehr er nachdachte seit seinem letzten Treffen mit Maddalena, desto klarer schien ihm die Beweislage. Maddalena hatte ihn eindringlich gebeten, Lazar ein dick gefülltes Kuvert zu überbringen. Man kann es nur mit ihrer Naivität erklären, sie hätte wissen müssen, wo das hinführte: Dieses Aufeinandertreffen erzwang ein Aufeinanderprallen.

– Als Maddalena diese Bitte an mich richtete, hatte da die Krankheit den Rest ihrer Intuition, ihre Vernunft längst zerstört? –

Christoph tastet über die Ledertasche. Er stellt sie auf seinen Schoß, öffnet die Verschlüsse, greift hinein und zieht zwei Kuverts hervor. Eines davon ist aufgerissen. Auf diesem Kuvert steht in der Schrift einer Todkranken: »Für Christoph«. Das zweite Kuvert, verschlossen, mit der Aufschrift: »Für Lazar«. Er hat es versprochen: Verschlossen werde er es überbringen.

Er legt das verschlossene Kuvert auf seinen Schoß, zieht aus dem anderen ein Moleskine-Notizbuch mit dunkelbraunem Einband hervor. Christoph öffnet den Buchdeckel. In der weichen, runden Schrift, die er so gut kennt, ist die erste Seite beschriftet: »12. April 2014, Brief ohne Ende an Christoph!«

Er blättert auf die erste, dicht beschriebene Seite weiter:

Dieser Tag, der zwölfte April des Jahres zweitausendvierzehn, gab den Anstoß, endlich zu tun, wozu es mich schon einige Zeit drängt. Die Diagnose, die mir heute gestellt wurde, ist so gesehen für etwas gut. Sie öffnet die Archive meines Herzens! …

Christoph sieht auf der in rasender Geschwindigkeit vorbeifliegenden Heckenreihe dieses immer noch schöne und gleichzeitig zerstörte Gesicht. Die Begegnung mit Maddalena in Bassano del Grappa, ihrem letzten Wohnort, liegt erst wenige Monate zurück. Das war kurz vor ihrem Tod. Jetzt – eine unglaubliche Vorstellung für ihn – befindet sich dieser zarte, zauberhafte Leib im Familiengrab der Todesco, wie vom Vater Maddalenas angeordnet und durchgesetzt. Christoph hat das Grab besucht, aber lange hielt er es dort nicht aus. Er wollte jegliche Begegnung mit Mitgliedern der Familie Todesco vermeiden, ihnen seine Gegenwart nicht zumuten. Das war auch der Grund, wie er sich selbst einredet, für sein Nichterscheinen beim Begräbnis in Venedig. Für den greisen Vater Maddalenas wäre er wohl nicht zu ertragen gewesen. Und Angelo, Christophs älterer Sohn – aus Amerika herübergeflogen –, meinte kurz und klar am Telefon: »Nach allem, was geschehen ist? Das glaubst du doch nicht wirklich? Niemand hat Lust darauf, dir hier zu begegnen! Ich übrigens auch nicht!«

Für sein fortgeschrittenes Alter treibt ihn diese Erinnerung unglaublich schnell hinaus auf den Gang des Waggons. Er öffnet den obersten Knopf seines Hemds. Mit geschlossenen Augen, die Stirn an die kalte, feuchte Fensterscheibe gelehnt, versucht er Balance zu finden. Nicht mehr nur innen zittrig, außen ebenso.

Als er wieder zur Besinnung kommt, spürt er, wie er das Buch mit beiden Händen auf seine Brust drückt. Er dreht sich um, sieht das andere Kuvert, das verschlossene, auf dem Abteilboden liegen. – Für Lazar! Für Lazar! –, hallt es in seinem Kopf.

Auch als er längst wieder auf seinem Platz sitzt, das Kuvert vom Boden aufgehoben, es in die Ledertasche gesteckt hat, auch da klopft sein Herz immer noch wild. Es gelingt ihm nur schwer, sich zu kontrollieren.

»Brief ohne Ende an Christoph!«, liest er.

… Mein Schweigen ist nicht allein Ursache der Diagnose, die mir heute gestellt wurde, aber ein Beitrag ist es wohl gewesen. Auch das ist ein Grund, warum ich mit diesem Tag anfange, mein Schweigen zu brechen.

– Ihr Schweigen über Lazar. –

Ich muss dir mit Worten nicht mehr wehtun. Ich fühle mich mit dir versöhnt, wenn das auch nie ausgesprochen wurde. So ist jetzt vielleicht der richtige Augenblick gekommen. Christoph, ich habe Bauchspeicheldrüsenkrebs, und ich kann und will dir schon lange nicht mehr feind sein. Darum dieser Brief, der ein Brief ohne Ende sein soll. Nicht chronologisch will ich meine, unsere Vergangenheit, wie ich sie erlebt habe, abarbeiten. Ich will Tag für Tag niederschreiben, was zum Vorschein kommt. Wasser, das durch die Zeit im Karst meiner Seele versickerte, bricht als Quelle hervor.

Dafür will ich mich bei dir entschuldigen: Zu lange habe ich geschwiegen. Ich hätte viel früher die entscheidenden Dinge ansprechen müssen. Aber es ist noch nicht zu spät!

– Zu spät. Dein Schweigen hat zuerst mich und dann dich zerstört. –

Mit sanften Bewegungen schließt er das Buch, legt die Handflächen darauf.

Der Zug hält: Hegyeshalom, Grenzstation ohne Grenzkontrolle. Nicht in dieser Richtung. Neue Grenzen, neue Zäune wachsen in Europa. Christoph war dabei gewesen, als sein Chef den Grenzzaun zu Ungarn pressewirksam gemeinsam mit dem Außenminister des Nachbarlandes durchschnitt. Auf den Fotos der Journale und Zeitungen kann man Christophs Gesicht sehen, damals noch jung und frisch.

Und heute? Schneller als sie abgebaut waren, wachsen die Zäune neu. Und seine eigene Partei plädiert dafür und beweist damit die Dummheit der Verantwortlichen. Er, Christoph, hätte ganz anders entschieden. Zwei, drei Jahre früher hätte man die Katastrophe verhindern können. In einer eleganten Form, mit der man das Gesicht gewahrt und Stimmen gewonnen hätte …

– Als in den Neunzigern Jugoslawien zerbrach, haben wir rechtzeitig reagiert. Slowenien, Kroatien … heimgeholt. Die katholischen Brüdervölker. –

»Die Grenzen, die tatsächlich existieren, sind jene in den Herzen der Menschen.« Christophs Formulierungen in einer Rede. »Wo keine Grenzen in den Herzen existieren, werden wir sie bald auch in der Landschaft nicht mehr sehen. Doch die in den Herzen der Menschen existierenden Grenzen neigen dazu, sich zu verwirklichen.«

10 Uhr 55, pünktlich! Eilende Menschen, wartende Menschen. Menschen, die den Waggongang entlang ihr Gepäck schleppen. Rollende Koffer. Anscheinend gibt Christoph nicht jenes Bild ab, das einen Neuankömmling die Abteiltüre öffnen lässt, auf der Suche nach freiem Platz.

Erst als der Zug sich schon in Bewegung setzt, nimmt ein junger Mann dem alten gegenüber Platz. Der tut, als wäre er in Arbeit versunken. Er öffnet das Buch auf der letzten Seite:

Mein Lieber, ich hoffe sehr, dass diese Zeilen dich erreichen werden. Rechtzeitig will ich dafür sorgen. Ich weiß nicht, ob du bereit bist für ein letztes Treffen in dieser Welt. Ich weiß nicht, ob du es erträgst, zu sehen, was noch geblieben ist, was bald sich lösen wird. Bevor ich den Stift weglege, bitte ich dich, mir zu verzeihen und zu tun, was mein Letzter Wille ist …

Er kennt jedes der Worte. Seine Lippen formen sie nach, während er liest – und auch, als er nicht mehr lesen kann:

… Um mehr bitte ich dich nicht! Wenn ich eines begriffen habe: Kein Mensch – auch nicht du, nicht Lazar, nicht ich – lädt absichtlich Schuld auf sich. Wir handeln destruktiv aus unseren Brüchen und Verletzungen heraus. Keiner von uns darf sich das Recht herausnehmen, zu urteilen. Sei gesegnet, so wie diese Worte für mich Bedeutung haben …

Christoph hat in seinem langen Leben als politischer Entscheidungsträger gelernt, sein Innerstes zu verbergen. Denn sonst würden, wie immer, wenn er diese Sätze liest, Tränen über seine Wangen laufen. Warum? Weil sie ihn nicht mehr verurteilt? Weil sie ihm nicht die alleinige Schuld gibt? Weil sie ihn »mein Lieber« nennt …

Gleichzeitig schreit es in ihm: – Was nützt es? Lazar Petrović soll in der Hölle braten! –

In der auf seinen letzten Besuch folgenden Nacht ist sie gestorben. Als hätte sie auf ihn gewartet.

Niemand will ihm von ihrem Sterben erzählen. Ist sie allein gewesen? Ist es schnell gegangen? Hatte sie Schmerzen? Von all dem nichts zu wissen, ist ihm unerträglich. Vor Wut weinte er, weil sie sich bis zuletzt vom Verursacher allen Übels, diesem serbischen Bastard, nicht losgesagt hat. Er wäre in ihrer Todesstunde bei ihr gewesen, hätte es diesen Menschen nicht gegeben.

Er ist ihm begegnet, 1999 in der heißen Phase des Krieges. Es hätte ihn fast das Leben gekostet. Bis zum heutigen Tag ist er davon überzeugt: Petrović wollte ihn beseitigen. Diplomatisch ausgedrückt!

– Maddalena hat nie begriffen, wer Lazar wirklich ist! –, denkt Christoph. – Sie hat sich von seinen treuherzigen, dunklen Augen beeindrucken lassen. Schon richtig, unsere Ehe war nicht lange ein Liebesnest. Aber wie konnte es geschehen, dass … –

Er wird es dem Serben heimzahlen.

Eine Zeit lang versucht Christoph gegen das Drängen anzukämpfen. Maddalena bat ihn ausdrücklich, das Kuvert an Lazar in verschlossenem Zustand zu überbringen. Und sie betonte das Wort »verschlossen«, zog dabei die Lider der großen, schwarzen Augen hoch, soweit sie es in ihrem Zustand noch vermochte. Sie lag im Krankenhaus der Stadt Bassano del Grappa. Intensivstation. Alle möglichen Kabel und Schläuche schienen die klaren Linien ihres Bettes auszufransen.

»… verschlossen!«

Christoph versucht auf andere Gedanken zu kommen. Er lenkt seine Aufmerksamkeit hin zu dem jungen Mann gegenüber. Der hat inzwischen Kopfhörer auf den Ohren und schwebt in seiner eigenen Welt. Christoph zieht das verschlossene Kuvert hervor: »Für Lazar!« Längst hat er untersucht, ob das Kuvert sich unbeschadet öffnen ließe. Und er tut, was er sich in den letzten Tagen verboten hat. Es ist ganz einfach. Die selbstklebende Lasche öffnet sich. Er zieht ein Moleskine-Notizbuch, schwarzer Einband, hervor.

Er schlägt das Buch auf: »12. April 2014, Brief ohne Ende an Lazar«.

Mit fahrigen Fingern blättert er weiter.

2

»Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Das Warten. Warten! Warten, das Albträumen Raum gibt, was in Milans Körper kaputtgegangen sein könnte!« Lazar schreit die letzten Worte geradezu ins Handy. So erregt hat ihn auch sein bester Freund Jovan nur selten erlebt. Eine Krankenschwester erscheint an einer Türe, taxiert fragend den etwas verlottert aussehenden lärmenden Mann. Sie hebt den Finger an die Lippen und bittet um Ruhe.

Jovan, am anderen Ende der Leitung, versucht seinen Freund zu beruhigen: »Denk daran, was dein Enkelsohn Milan in seinem kurzen Leben hat verkraften müssen. Er war immer schon blass und dünn, viel zu dünn. Und jetzt schreit sein Körper: So geht es nicht weiter! Dazu kommt, der Junge steht vor der Pubertät. Das allein reicht, um einen Menschen durcheinanderzubringen.«

»Du willst mich ruhigstellen, so wie alle anderen, die plötzlich mit mir über Milan reden. Ich kenne den Kleinen. Mag sein, dass er zu dünn ist, zu wenig Gewicht hat, zu viel erlebt hat in seinem kurzen Leben. Außerdem ist er ja ohnehin ständig krank. Aber glaub mir, Jovan: Das jetzt ist etwas anderes.«

Wenn Lazar so viele Worte findet, dann steht es ernst um ihn, das weiß Jovan.

»Hör zu! Das Warten hat ein Ende …«

»Ganz bestimmt sogar, irgendwann! Wenn heute nicht, dann eben morgen oder übermorgen, ganz bestimmt im nächsten Jahr, aber sicher noch, bevor die Welt untergeht! Aber dann ist Milan tot!«

»Der Arzt wird kommen! Und deine Ängste werden sich auflösen wie die Libido von uns alten Männern, wenn er dir die Ergebnisse der Untersuchungen mitteilt.«

»Der Arzt, der Arzt! Den halben Tag warte ich schon auf ihn. Wo bleibt er denn, der Arzt? Unser Gesundheitswesen sieht aus wie ein von der NATO zerschossenes Gebäude!«

»Beruhige dich, Lazar! Wenn du mir jetzt einen Herzinfarkt bekommst, dann kann ich deinen Milan aufpäppeln, das willst du ihm doch nicht antun?« Jovans Lachen klingt wie eine serbische Sackpfeife mit mottenzerfressenem Beutel. Auf Lazars Gesicht zeichnet sich ein fahles Lächeln ab.

»Wenn du fertig bist«, hört Lazar seinen Freund nach einem heiseren Hustenanfall sagen, »wirst du dann bei mir vorbeikommen?«

Ja, das wird er tun, egal, was das Gespräch mit dem Arzt ergibt – sollte es heute noch stattfinden. Und weil er die Nähe seines Freundes vermisst, holt er aus der Jackentasche ein zerdrücktes Päckchen Camel – von Jovans halbkriminellen Geschäftspartnern über die Grenze zum Kosovo geschmuggelt. Hier ist das Rauchen strengstens untersagt. Lazar öffnet das Fenster in einem der Erker und zündet sich die verbeulte Zigarette an. Seine Finger wollen nicht gehorchen, so wie im Winter, wenn es kalt ist. Aber jetzt ist schönster Frühling, die Kälte längst in den Norden abgezogen. Der Rauch kratzt in der Kehle.

Lazars Gedanken durchforsten die Vergangenheit: Wer hätte gedacht, welche Folgen die NATO-Luftangriffe auf die chemische Fabrik Petrohemija Pančevo im verfluchten Jahr 1999 nach sich ziehen würden?

Julijana, Lazars Tochter, arbeitete und lebte damals in Pančevo. Ein junges hübsches Mädchen, voller Elan, das dabei war, sich sein eigenes Leben aufzubauen. Lazar liebt Julijana heute genauso wie damals über alles. »Sie sieht dem Vater gleich!«, meinten wohlwollende Verwandte nach der Geburt Julijanas. Und das versöhnte den Vater mit dem Neugeborenen, da er sich doch sehnlichst einen Sohn gewünscht hatte. Seitdem liebt er seine Tochter ungetrübt, egal, was sie nicht alles gegen den Willen ihres Vaters im Laufe der Jahre getan hat.

Lazar lächelt, schüttelt den Kopf, saugt den Rauch tief in seinen Leib.

Am 15. April 1999, um 22 Uhr 40 fielen die Bomben der NATO. Julijana hatte Nachtschicht im Labor. Schnell zeigte sich, dass die schwarzen Rauchschwaden hochtoxische Gifte enthielten: Dioxin, Phosgen – einen ganzen Cocktail von Substanzen der höchsten Giftklassen. Der Direktor des Unternehmens informierte umgehend mittels eines Schreibens alle relevanten Stellen im In- und Ausland über die gefährlichen Auswirkungen des Angriffs. Er listete auf, welche Chemikalien in den heil gebliebenen Tanks lagerten. Die europäischen Regierungen, Parteien, Umweltverbände, Wissenschaftler und auch die NATO wussten Bescheid über die Katastrophe und die Gefährlichkeit des noch vorhandenen Gifts.

Am 18. April, um 1 Uhr 10 erfolgte die Reaktion: der zweite Luftangriff. Gezielt bombardierte man die restlichen, bis dahin intakten Tanks. Die Behörden evakuierten das Gelände, kurzzeitig die ganze Stadt Pančevo. Tagelang trieb ein Teppich toter Fische auf der Donau.

Julijana stand plötzlich vor der Türe ihrer Eltern. Mit brennenden Augen, ausgedörrtem Hals und hämmernden Kopfschmerzen stand sie da – mitten in der Nacht. Keine Frage, die Eltern nahmen sie in ihrer kleinen Wohnung im Belgrader Stadtteil Karaburma auf.

Eigentlich hätte Julijana als Chemielaborantin wissen müssen, was die Kontamination durch die freigesetzten Gifte bedeuten musste. Sie ließ sich nichts anmerken. Und ihr Vater Lazar und Slavica, ihre Mutter, hatten keine Ahnung, glaubten, was man ihnen im Fernsehen erklärte. Sie waren erleichtert, dass ihre Tochter dem Horror offensichtlich unbeschadet entkommen war.

– Unbeschadet! –, denkt Lazar, während er raucht und seinen Enkelsohn Milan vor sich sieht. – Unbeschadet! –

Er drückt die Kippe am Fensterbrett aus und wirft sie hinunter auf die Straße. Vor wenigen Monaten erst erzählte ein Freund, die verantwortlichen Politiker des Westens hätten kurz nach dem Angriff auf die serbische Chemiefabrik Gerüchte in Umlauf gebracht. Man habe befürchten müssen, Milošević sei dabei, Giftgasgranaten zu bauen. Der Westen habe keine andere Wahl gehabt, als dies zu verhindern. – Die feinen Herren auf allen Seiten erzählen den Menschen Märchen, damit sie gut schlummern. –

2001, zwei Jahre später, war Julijana schwanger.

– Ein überhasteter Neubeginn Julijanas, die den Erinnerungen an die Schrecken des Krieges, dem Tod ihrer Mutter wenige Tage nach ihrem Einzug in die elterliche Wohnung, der Depression ihres Vaters ein Gegengewicht setzen wollte. Darum hat sie sich von einem Mann schwängern lassen, von dem sie danach nie wieder etwas gehört hat.

Zwei Jahre nach dem Angriff auf die Chemiefabrik wuchs ein kleines Leben in Julijanas Bauch heran. Das Gift, das sich in ihrem Erbgut angereichert hatte, ist die Ursache für Milans kränkliche Art, davon ist sein Großvater überzeugt. Ob irgendeiner, der damals bei der NATO die Befehle erteilte oder eines der Flugzeuge flog, heute Gedanken daran verschwendet? An die Folgen seines Tuns? An die durch sein Handeln freigesetzten Gifte? Gifte, die seitdem nicht einfach verschwunden sind, keineswegs! Sie liegen im Ackerboden, sickern ins Grundwasser und sammeln sich in den Zellen aller Lebewesen in ihrer Nähe.

– Wäre Milan ihr Enkelsohn, was würden sie denken und fühlen? –

Lazar spürt den Schmerz in seinem Herzen. Nur nicht zu viel denken. Er muss funktionieren. Gerade jetzt. Vielleicht macht er sich ja tatsächlich zu viele Sorgen um die, die er liebt? Vielleicht geht die Türe auf, der Arzt kommt heraus und sagt: »Die Hormone spielen verrückt! Das dauert ein, zwei Jahre, dann ist es vorbei. Es ist kein leichter Weg über die Brücke zwischen den Ufern Kind und Mann. Keine Sorge! Es geht vorbei! Sie können ihn gleich mit nach Hause nehmen.«

Lazar sieht dunkle Ringe unter schwarzen Augen in einem weißen Gesicht. Jeder Krankheitskeim findet bei Milan willkommene Aufnahme. Schule, Lernen? Unter diesen Umständen ist daran nicht zu denken. Ein normales Bubenleben zeichnete sich bei Milan nicht ab. Alles »Normale« führte zu Krankheit.

Lazar spürt sein schlechtes Gewissen, auch er hat Julijana alle möglichen Vorwürfe gemacht: »Du musst ihn zwingen zu essen, egal was, Hauptsache, er isst. Dieses amerikanische Zeug, das es neuerdings auch hier gibt, das, worauf die Jungen so abfahren, wenn Milan es isst? Lass ihn doch!«, hört er sich sagen. Traurig macht ihn, wie ungeschickt er Julijanas Sorgen vergrößert hat. Aber sie weiß, er meint es doch nur gut. Sonst hätte sie ihn heute nicht gebeten, bei ihrem Sohn zu bleiben, solange sie verhindert ist.

Und er nützt die Gelegenheit, um ein Gespräch mit dem zuständigen Arzt zu verlangen. Und darauf wird er warten, und wenn es den ganzen Tag und die ganze Nacht dauert. – Ich habe den längeren Atem. –

Er beschäftigt sich mit Kaffee und Zeitung. Und während er so tut, als würde er lesen, fällt ihm wieder ein, was ein Freund, der das Personenstandsregister Belgrads betreut, erzählte: »Jemand schnüffelt nach dir! Nein, niemand aus Belgrad, auch nicht aus Serbien. Die Anfrage kam aus Österreich!«

»Wer sollte nach mir fragen?«

Mit gezielt sachlicher Stimme meinte der Freund: »Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe dafür gesorgt, dass du nicht zu finden bist. In diesen Zeiten kann man nie wissen, warum jemand Informationen sammelt. Vor allem, wenn dieser Jemand zu den Kriegsgewinnern zu zählen ist. Kennst du jemanden in Österreich?«

»Ich? … Nein! … Eigentlich ja, aber das ist lange her.«

»Denk darüber nach!«

»Das werde ich.«

Die Angelegenheit mit Milan hat das Nachdenken über diese Sache bis jetzt verhindert. Einen fahlen Nachgeschmack hat die Erinnerung an das Gespräch mit seinem Freund vom Personenstandsregister.

Muss er sich wirklich damit beschäftigen? Es kann sich nur um einen Irrtum handeln. Erinnerungen kriechen hoch, ob er will oder nicht.

Zwei Menschen kannte er, die Österreicher waren. Eine leuchtende Figur und eine Figur, die er gerne im Dunklen belassen würde. Es gab nur eine Begegnung mit jenem Menschen, mit dem er sich nie wieder beschäftigen wollte: Dr. Christoph Forstner. Hätte der Grund dafür, nach all den Jahren nach ihm zu suchen? Das hätte er, wenn er, nach dem Vorfall im Jahr der Umbrüche 1999, noch lebte.

Lazar sucht nach Zusammenhängen in seiner Erinnerung: Julijana zog bei ihren Eltern in Karaburma ein. »Nur für ein paar Tage!« Daraus wurde unbeschränkte Zeit, denn das Bombardement der NATO sollte im April des Jahres 1999 erst so richtig losgehen.

Jede Nacht Bombenalarm. Feuer über der Stadt. Sirenen. Das hässliche Heulen und Zischen der Raketen. Die klirrenden Fensterscheiben bei jedem Einschlag, selbst hier in Karaburma, eine halbe Stunde Busfahrt entfernt vom Zentrum. Lazar begleitete seinen Freund Jovan manche Nacht auf die Brankov-Brücke über die Save, wo Menschen sich versammelten, die gegen das Bombardement genauso protestierten wie gegen das politische Regime im Land. Die beiden setzten sich hin und spielten ihre Musik und die Protestierenden mochten es. Eines Nachts, es war der 29. April 1999, stand ein fremder Mann vor ihm, wie sich herausstellen sollte, der Ehemann Maddalena Forstners. Mit ihrem Mädchennamen, Maddalena Todesco, ist sie ihm viel mehr in Erinnerung geblieben. Er kannte sie, lange bevor sie heiratete. Eigentlich ist sie nur der Heirat wegen Österreicherin geworden. Sie hat ihre italienische Staatsbürgerschaft nach der Heirat behalten …

Nein, Lazar möchte sich nicht erinnern. Auch wenn nun die dramatischen Ereignisse jener Nacht auf der Brankov-Brücke wie Lichtsplitter vor seinen Augen stehen.

– Könnte Dr. Christoph Forstner jenen Tag überlebt haben? Man hätte davon gehört, wenn die Leiche eines ausländischen Botschafters gefunden worden wäre. Ach was, der Mann ist tot! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! –

Lazar öffnet das Fenster erneut und zündet sich eine weitere Zigarette an. Die Menschen am Gang tun so, als würden sie die Übertretung der Hausordnung nicht bemerken.

Vom Arzt keine Spur.

Man hat Lazar vor Stunden vertröstet, der Arzt sei in einem der Operationssäle festgehalten. Es sei unmöglich, ihn dort herauszubekommen. Unmöglich! Ob er nicht an den folgenden Tagen wiederkommen wolle? Nein, er will heute mit dem Doktor sprechen. Heute!

Wie der Zigarettenrauch, verfliegen auch die Bilder von Dr. Christoph Forstner.

– Und Maddalena? Sollte sie nach all den Jahren wieder einmal Sehnsucht nach mir haben? – Es wäre nicht das erste Mal. Genauso hat sich ihre Beziehung abgespielt, durch die Jahrzehnte hindurch. Aber daran erinnert er sich gerne. Wie Perlen sitzen fast alle Begegnungen mit Maddalena auf seiner Lebenszeitschnur.

Würde er sie gerne wiedertreffen? Jetzt, wo er ein alter Mann ist? Alles Leidenschaftliche ist längst verflogen.

Tatsächlich? Das Bild dieser schönen Frau weckt Gefühle in ihm, die er vergessen glaubte. Vielleicht schlafen seine Hormone nur. Wie Jovans räudiger Straßenköter, der unter dem Küchentisch schläft, sobald aber jemand an der Türe klopft, kläfft er los, und von nichts auf alles hüpft er herum, als wäre er ein bulliger Bluthund. Lazar lächelt.

Er sieht sich herumhüpfen, den Bauch einziehen, die Brust herausdrücken, weil Maddalena an seiner Türe steht. Das Lächeln entwickelt sich zu einem leisen Lachen. Ja, das würde er tun. So wie jedes Mal, wenn Maddalena ihren Weg zu ihm gefunden hatte. Auf der Stelle würde er seinen Schwur vergessen, nie wieder etwas mit ihr zu tun haben zu wollen. Er würde sich angesichts der Schönen fühlen, als hätte es diesen Schwur niemals gegeben.

Wie mag sie heute aussehen? Und wäre ihr Aussehen wichtig? Maddalenas Augen, mit denen sie jedem Mann den Kopf verdrehte, ohne das zu beabsichtigen. Diese großen, schwarzen Augen umlagern jetzt vielleicht kleine Fältchen, aber was macht das schon? Bei Maddalena gab es die seltene Begegnung von äußerer und innerer Schönheit. Lazar weiß nicht, was er damals mehr geliebt hat: Ihr Äußeres? Ihr Inneres? Er hat nicht oft in seinem Leben geliebt. Slavica hat ihn geliebt, und das hat er geliebt. Und darum ist er auf ihr Drängen eingegangen, sie zu heiraten. Eine leidenschaftliche Liebe war das für ihn nie. Am Anfang auf Slavicas Seite schon. Und das kann einen Mann beeindrucken, wenn eine Frau leidenschaftlich liebt.

Maddalena? Hat er Maddalena geliebt? Kann man bei einer derart seltsamen Beziehung von Liebe sprechen? Jedenfalls war es keine Alltagsliebe.

Lange Zeit war es … was war es? Offene Freundschaft? Platonische Liebe? Es gibt keine Bezeichnung dafür. Inselliebe fällt ihm ein. Etwas, das aus dem Alltagsmeer herausragt. Miteinander geschlafen haben sie über diese vielen Jahre hinweg jedenfalls nicht, wenn es auch ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Sie haben in Ehebetten nebeneinander geschlafen und sind nicht übereinander hergefallen, wie man vermuten könnte. Eine Liebe, bevor Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hat?

Ordentlich geknistert hat es zwischen der Schönen und ihm. Aber hat er sich vor Jahrzehnten nicht verboten, jemals wieder darüber nachzudenken?

Und heute? Was würde geschehen, stünde sie plötzlich vor ihm?

Er sieht sich Maddalena in den Arm nehmen und an sich drücken. Wie immer könnte er kein Wort sagen. Sie hingegen: »Ich habe dich vermisst, Straßenmusiker!« Oder besser: »Warum versteckst du dich jahrelang vor mir? Immer muss ich mich auf die Suche nach dir machen!« Aber das sei doch nie so gewesen, würde er antworten. Und wortlos würde er ihren vielen Worten lauschen. Er würde überlegen, wo derzeit in Belgrad der beste italienische Kaffee zu finden sei. Und ja, natürlich, das weiß er schon: Den besten italienischen Kaffee gibt es in Venedig! Das darf man nicht infrage stellen.

Er ist dort gewesen. In Venedig. Es war unglaublich. Er hat mit Maddalenas Vater über Literatur debattiert und ist im Elternhaus Maddalenas den bedeutendsten Künstlern des Landes begegnet. Und alle waren aus der Nähe betrachtet ganz normale Menschen. Menschen mit Süchten, Menschen mit Bauchschmerzen, Menschen mit geschmackloser Kleidung, Menschen mit Haarausfall. Damals hatte der junge Lazar sein Germanistikstudium in Belgrad eben erst abgeschlossen. Etwas Erfahrung mit der Sprache hatte er in der DDR gesammelt. Und dann sollte er im Wohnzimmer der Todesco mit einem der großen Schriftsteller Deutschlands, der gerade einmal so vorbeigekommen war, bedeutsame Dialoge führen. Der Unterschied zwischen der jugoslawischen Gegenwartsliteratur und jener des deutschsprachigen Westens. Erst hat er geschwitzt, dann hat er bemerkt, dass das, was er sagte, ernsthafte Beachtung fand. Schließlich saßen die anderen im großen Kreis um die beiden ins Gespräch Vertieften und hörten aufmerksam zu.

Maddalenas Vater, Luciano Todesco, mochte Lazar vom ersten Augenblick an. Und Lazar mochte Luciano. Die Eigenartigkeit der Beziehung zu Maddalena ermöglichte es nicht oft, diesen Mann von Welt zu treffen.

Am Ende des ersten Besuchs in Venedig sagte Luciano zum Abschied: »Beim nächsten Mal, wenn du kommst, werde ich dich über dein Leben ausfragen. Und dann findest du dich wieder in einem meiner Romane.« Als Lazar ihn erschrocken ansah, setzte er lächelnd hinzu: »Keine Sorge, mein Freund, nicht einmal deine eigene Mutter würde dich in meinem Buch erkennen. Das Geheimnis literarischer Figuren ist: Sie sind wahr, aber nicht real!« Luciano umarmte ihn: »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!«

Ja! Er würde sich freuen, stünde Maddalena plötzlich vor seiner Türe.

Jemand klopft ihm auf die Schulter. Der Arzt steht hinter ihm: »Sie wissen aber schon, dass Sie hier nicht rauchen dürfen?« Man sieht es in seinen Augen, er meint die Ermahnung nicht wirklich ernst.

»Kommen Sie mit. Ich weiß da einen Ort, wo wir rauchen können.«

Lazar trottet hinter dem jungen Mann her und fühlt sich schrecklich. Als ginge es zur Urteilsverkündung. Unendlich lang geht es die Stiegen hinunter. Welches Urteil wird gesprochen? Welche Wahrheit hat der Arzt zu verkünden? Lazar sieht das hilflose Gesichtchen Milans. Als hätte er den Kampf aufgegeben. Lasst mich in Ruhe, schreien die matten Augen. Die Gifte aus Pančevo? … Hormone, die den kleinen Körper überfluten? … Was?

Der Arzt öffnet eine Türe neben den Wirtschaftsräumen des Krankenhauses. Er neigt den Kopf in Lazars Richtung, weist mit der Rechten in den Raum.

»Wir Ärzte sollten es ja eigentlich wissen, aber welches Vergnügen bleibt uns noch, wenn wir alles Gesundheitsschädigende eliminieren aus unserem Leben? Lieber sechzig Jahre lustvoll gelebt als hundert freudlos!«

»Nein, nein, Doktor! Sie hätten so gesehen das Leben noch vor sich. Ich aber sollte dann in zwei Jahren gehen. Nein! Lange leben und lustvoll leben, so muss es sein.«

Die beiden zünden sich ihre Zigaretten an. Erst jetzt bemerkt Lazar die Befundkarteikarte unter dem Arm des Arztes, der sie jetzt auf den Tisch legt.

»Wie heißen Sie?«, fragt Lazar.

»Milan, wie Ihr Enkelsohn. Ein lieber Kerl!«

»So, so, Milan! Hören Sie, Doktor Mihalović, Sie müssen mich nicht schonen mit dem, was Sie mir zu sagen haben. Ich will alles ungeschminkt hören. Alles! Keine scheinheiligen Beschwichtigungen!«

»Das verspreche ich Ihnen. Verbringt Milan viel Zeit mit seinem Großvater?«

»Das tut er. Seine Mutter muss arbeiten, um Geld heranzuschaffen. Eine Großmutter hat der Kleine nie kennengelernt. Also bin nur ich geblieben. Wenn auch, Sie wissen, wie das ist, meine Zeit eingeschränkt ist durch unterschiedliche Angelegenheiten. Ich arbeite in verschiedenen schlecht bezahlten Jobs, und Erholung benötigt man in meinem Alter auch.«

»Ich bin froh, dass Milan jemanden hat. Seine Mutter, Ihre Tochter, habe ich ja bereits kennengelernt. Eine reizende Frau!«

»Ja, das ist Julijana. Und sie bemüht sich sehr um den Jungen!«

»Das wird er mehr und mehr benötigen!«

Lazar sieht den Doktor mit ängstlich fragenden Augen an. Er braucht zwei, drei Sekunden, um zu antworten: »Steht es so schlimm um ihn?«

»Es fällt mir nicht leicht, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Petrović. Aber es führt kein Weg daran vorbei.«

3

Mein Lieber,

ich weiß nicht, ob du es nach all den Jahren magst, wenn ich dich so anspreche: »Dragi moj, Lazare!«

Irgendwann im Laufe unserer Beziehung habe ich begonnen, dich so zu nennen. Wann habe ich damit aufgehört?

Ich sehe deine dunklen Augen, wie sie skeptisch und verwundert diese Schrift als die meine erkennen. Nach allem, was geschehen ist zwischen uns und über unsere Köpfe hinweg?

Du fragst dich, von welcher Verrücktheit Maddalena sich nun wieder treiben lässt. Jahrzehnte sind vergangen. Und plötzlich nimmt sie den Stift in die Hand, um das Wort an dich zu richten? Das Wort, das sie dir damals entzogen hat? Du kennst mich gut und wirst mein Tun als Maddalenas typische Spontaneität bewerten.

Es wäre ja nicht das erste Mal.

Du hast recht, es ist ein spontaner Entschluss. Ich habe nicht lange nachgedacht, ob ich es tun soll und welchen Sinn mein Handeln haben könnte. Das war nicht nötig, denn du wohntest all die Jahre in meiner Seele. Überrascht dich das? Oft genug habe ich überlegt, ob ich dir schreiben soll. Es bedurfte eines besonderen Ereignisses, das mich bewog, es jetzt zu tun.

Absätze verdeutlichen Sekunden, Minuten oder Stunden, die vergangen sind. Keine Tage, denn es fehlt mir an Tagen.

Der Sinn dieser Kontaktaufnahme? Intuitiv in Worte gefasst: Es fehlt eine Farbe in unserem Bild. Ich war es, die deiner Betrachtung diese Farbe vorenthalten hat. Jetzt will ich versuchen, unser Bild zu vervollständigen. Du sollst nicht weiter auf Interpretation angewiesen sein, sondern ein vollendetes Bild sehen.

Wenn du das nicht willst, musst du jetzt das Buch in den Altpapiercontainer werfen!

Du hast es nicht weggeworfen, wagst ein weiteres Mal, meine Annäherung zu ertragen. Du hättest allen Grund dafür, mir nicht mehr zu vertrauen. Ich verspreche, diese Zeilen werden dich nicht unglücklich, nicht traurig machen. Ich weiß, deine Erfahrungen mit mir lassen Gegenteiliges befürchten.

Hör mir einfach zu. Es liegt in deiner Hand, jederzeit das Fenster zu meinen Worten zu schließen. Was also hast du zu befürchten?

Und solltest du nichts anderes gehört haben aus diesem Buch, dann zumindest das: Was du durch mich erlitten hast, bitte ich zu vergeben.

Heftig klappt Christoph das Buch zu und wirft es auf das Fenstertischchen. Der junge Mann gegenüber zieht die Kopfhörer von den Ohren und sieht seinen Mitreisenden vorsichtig abschätzend an.

– Nur ein Hornochse von einem wenn auch geschiedenen Ehemann bringt den Liebesbrief seiner Frau deren Liebhaber! –

Seine Gedanken gleiten in die Weite der ungarischen Tiefebene. Er hasst das flache Land, so wie er in diesem Augenblick die ganze Welt hasst.

Er muss sich zusammennehmen, darf nicht hineinfallen in die alten Muster. Gerade jetzt! Vor welche Alternative hat er nach der Scheidung seinen Arzt gestellt? »Wäre es Ihnen lieber, wenn das Munitionslager in meinem Inneren hochgeht? Ist es nicht besser, es gefahrlos in einem Meer von Alkohol zu ertränken?«

Kurz überlegte der Arzt, bevor er antwortete: »Wenn Sie das Munitionslager nicht trockenlegen, wartet der Entschärfungsdienst umsonst auf seinen Einsatz. Haben Sie das schon gesehen? Die nehmen den Zünder aus den alten Bomben und schaffen sie gefahrlos weg.«

»Okay, falsche Metapher. Ich selbst bin die Bombe. Und wenn Ihre Experten – wer sollte das übrigens sein – den Zünder entfernen, hört mein Herz auf zu schlagen. Ich bin dann keine Gefahr mehr für mich selbst und für meine Umgebung, allerdings tot!«

»Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie sich mit einer Metapher belügen wollen. Sie könnten sich aber auch entscheiden, mit dem Trinken aufzuhören und sich der Realität stellen. Niemand anderer als Sie selbst bringt Sie um, Herr Botschafter!«

»Mischen Sie sich nicht in etwas ein, wovon Sie keine Ahnung haben! Dafür sind Sie noch zu jung.«

Wie kann ein Entzug erfolgreich sein – dachte er damals – nach einem Leben, in dem Macht, Besitz, Liebe … einfach alles kaputtgegangen ist?

Auf Macht, die er besaß – als er noch für die geheime große Hoffnung der Partei gehalten wurde –, ließ sich verzichten. Besitz? Es war genug geblieben, um ein privilegiertes Leben zu führen. Liebe? … Liebe!

Was er eben in Maddalenas Endlosbrief an Lazar gelesen hat, öffnet Schleusen, hinter denen sich die schönen und die schrecklichen Liebesereignisse mischen. Niemand darf sie sehen, die Angst vor geöffneten Schleusentoren, die Dr. Christoph Forstner verspürt.

Ruckartig wendet er sich von der trostlosen Weite der Landschaft ab und nimmt das Moleskine-Notizbuch mit dem braunen Einband aus der Tasche: »Brief ohne Ende für Christoph!«

Er blättert, sucht einen Eintrag:

Glaubtest du wirklich, unsere Liebe wäre nicht das Wichtigste auf der Welt für mich gewesen? Erinnere dich an die Zeit rund um unsere Hochzeit. Ich habe dich aus Liebe geheiratet. Deinetwegen habe ich mein Venedig verlassen. Aus Liebe habe ich ein Leben geführt, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Von dir habe ich zwei Söhne bekommen. Es war eine konkurrenzlose, große Liebe.

Ich muss dich heute nicht mehr dafür verurteilen, wie unsere Ehe endete.

– Du hast einen anderen geliebt, Maddalena. –

Der junge Mann gegenüber hat sich wieder in sein Klangimperium zurückgezogen. So muss der alte Mann keine übermäßigen Anstrengungen aufbringen, um seine Erschütterung zu verbergen.

Der Herr Botschafter steckt beide Notizbücher in seine Tasche, hängt sich den Leinengurt über die Schulter und erhebt sich. Durch den schaukelnden Gang geht er in Richtung Speisewagen. Dort angekommen, nimmt er einen Fensterplatz und bestellt Kaffee.

– Keinen Wein, nein, keinen Wein. –

Leider gebe es nur Instantkaffee, die Espressomaschine habe den Dienst aufgegeben, erklärt man ihm.

Scheußlich, der erste Schluck.

Christoph nimmt den Brief ohne Ende an Lazar aus der Tasche, öffnet das Buch dort, wo er aufgehört hat zu lesen:

Als ich mich in Belgrad verliebte, war ich siebzehn Jahre alt. Deine Stadt hat mich auf dich vorbereitet wie eine raffinierte Kupplerin.

Mein Vater wollte mir die Reise per Interrail nicht erlauben, wäre da nicht Sahra gewesen, die Tochter seines jüdischen Freundes in Wien. Alle hielten Sahra für vernünftiger und reifer als mich. Bis zum heutigen Tag kann ich dieser Bewertung nur wenig abgewinnen. Ohne meine Intuition, meine Spontaneität, wären wir genauso wenig weit gekommen wie ohne die rationale Sahra. Was Sahra lange überlegen musste, hatte ich längst intuitiv erfasst. Wo meine Intuition uns ins Abseits zu manövrieren drohte, bewahrte Sahras Vernunft den Überblick.

Wir kamen 1973 mit dem übervollen Städteexpress Wien–Athen an einem Nachmittag im Hauptbahnhof Beograd an. Eigentlich wollten wir mit diesem Zug bis Athen durchfahren.

Als der Waggon mit einem letzten Ruck direkt vor dem Bahnsteigschild Beograd hielt, erhob ich mich: »Komm, wir steigen aus!« Wenig später standen wir auf dem überfüllten Bahnsteig in der heißen Sonne, die Trekkingrucksäcke geschultert.

»Was sollen wir hier?« Sahra drängte darauf, wieder in den Zug zu steigen. »Du wolltest doch zum Meer! Hier gibt es weit und breit kein Meer! Nur Schmutz, Gestank und Hitze!«, rief sie mir hinterher.