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Jennifer Henkel, Norbert Neuß (Hrsg.)

Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen

Pädagogische Perspektiven für die Schule und Jugendhilfe

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032723-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032724-5

epub:    ISBN 978-3-17-032725-2

mobi:    ISBN 978-3-17-032726-9

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. Jennifer Henkel und Norbert Neuß
  3. I. Allgemeine Anforderungen an und Herausforderungen von PädagogInnen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und Schule
  4. 1 Zwischen Trauma und Resilienz – Zur Situation der Flüchtlingskinder in Deutschland
  5. Jörg Maywald
  6. 1.1 Fluchtbewegungen weltweit
  7. 1.2 Geflüchtete Kinder in Deutschland
  8. 1.3 Anspruch und Wirklichkeit: gleiche Rechte für jedes Kind
  9. 1.4 Belastungen geflüchteter Kinder
  10. 1.5 Zwischen Trauma und Resilienz
  11. 1.6 Kinder mit Fluchterfahrungen: erforderliche Maßnahmen
  12. 1.7 Der Kinderrechtsansatz in der Arbeit mit geflüchteten Kindern
  13. 1.8 Fazit
  14. Literaturverzeichnis
  15. 2 Migration – Herausforderung für die Eltern- und Familienbildung
  16. Veronika Fischer
  17. 2.1 Migration/Fluchtmigration
  18. 2.2 Heterogenität des potenziellen Adressatenkreises
  19. 2.3 Statt Ausländerpädagogik – Diversitätsbewusste Familienbildung
  20. 2.4 Ungleiche Weiterbildungsteilhabe
  21. 2.5 Teilhabe verbessern – interkulturelle Kontakte ermöglichen
  22. 2.6 Professionelle Anforderungen
  23. Literaturverzeichnis
  24. 3 Kinder mit Migrations- und Flüchtlingserfahrungen – eine Herausforderung für die Schule
  25. Thomas Bürger
  26. 3.1 Einleitung
  27. 3.2 Drei migrationspädagogische Konzepte
  28. 3.3 Irritationen im Bildungssystem
  29. Literaturverzeichnis
  30. II. Spracherwerb im Kontext von (Flucht-)Migration
  31. 4 Kinder mit Fluchterfahrung im Spracherwerb des Deutschen kompetent unterstützen
  32. Susanne van Minnen und Inge Holler-Zittlau
  33. 4.1 Hintergrund
  34. 4.2 Sprache – Erwerbsformen, Erwerbsverläufe und Einflussfaktoren
  35. 4.3 Konzepte und Methoden der Sprachförderung
  36. Literaturverzeichnis
  37. 5 Praxis-/Projektportrait: »Lesestart für Flüchtlingskinder«
  38. Melitta Göres
  39. 5.1 Für einen guten Start in Deutschland – Erzählen und Vorlesen für geflüchtete Kinder
  40. 5.2 Erste spielerische Zugänge zur deutschen Sprache schaffen
  41. 5.3 »Lesestart für Flüchtlingskinder« im Überblick
  42. 5.4 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  43. 5.5 Fazit und Ausblick
  44. Literaturverzeichnis
  45. 6 Praxis-/Projektportrait: »Bewegte Lese- und Sprachförderung für geflüchtete Kinder und deren Mütter«
  46. Julia Kristoph
  47. 6.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  48. 6.2 Umsetzungspraktiken und -methoden
  49. 6.3 Erfahrungen, Ergebnisse und Gelingensbedingungen
  50. 6.4 Praxisbeispiele
  51. 6.5 Fazit und Ausblick
  52. Literaturverzeichnis
  53. III. Interkulturelle und/oder interreligiöse Bildung im Kontext von (Flucht-)Migration
  54. 7 Gegeneinander – Nebeneinander – Miteinander? Kulturelle und religiöse Differenz in Schule und Gesellschaft als Herausforderung
  55. Ingrid Wiedenroth-Gabler
  56. 7.1 Prolog: Begegnungen mit kultureller und religiöser Pluralität
  57. 7.2 Annäherungen an den Kulturbegriff
  58. 7.3 Annäherungen an den Religionsbegriff
  59. 7.4 Schule als Ort religiöser und kultureller Heterogenität
  60. Literaturverzeichnis
  61. 8 Religion ist oft mit im Gepäck. Pluralitätsfähige Religionssensibilität, intra- und interreligiöse Bildung als religionspädagogischer Zugang in Zeiten von Fluchtmigrationsprozessen
  62. Anke Edelbrock
  63. 8.1 Der Fokus auf das Kind erfordert eine pluralitätsfähige Religionssensibilität
  64. 8.2 Kindergartenalltag in religiöser Pluralität
  65. 8.3 Religiöse Bildung als wichtiger Bestandteil eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses
  66. 8.4 Interreligiöse Bildung
  67. 8.5 Intrareligiöse Bildung
  68. 8.6 Herausforderung Schule
  69. 8.7 Und das Lichterfest?
  70. Literaturverzeichnis
  71. 9 Kultursensitive Frühpädagogik – Ansätze zum Umgang mit kultureller Vielfalt in der Frühpädagogik
  72. Bettina Lamm
  73. 9.1 Interkulturelle Kompetenz
  74. 9.2 Kulturelle Modelle und Sozialisationsstrategien
  75. 9.3 Kultur im frühpädagogischen Alltag
  76. 9.4 Fazit
  77. Literaturverzeichnis
  78. 10 Praxis-/Projektportrait: »REFUGIO: Kunstwerkstatt für Flüchtlingskinder und jugendliche Flüchtlinge«
  79. Margit Papamokos unter Mitarbeit von Verena Wilkesmann, Luzi Finck, Doris Kohlenberger, Pascal Momboisse sowie weiteren Kunstwerkstatt-MitarbeiterInnen
  80. 10.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  81. 10.2 Umsetzungspraktiken- und methoden
  82. 10.3 Konzeptionelle Bezüge zum Themengebiet (Flucht-)Migration
  83. 10.4 Erfahrungen und Ergebnisse
  84. 10.5 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  85. 10.6 Fazit und Ausblick
  86. Literaturverzeichnis
  87. 11 Praxis-/Projektportrait: Wenn Kinder eine Tür öffnen und neue Räume betreten– Kulturelle Bildung mit geflüchteten Kindern
  88. Nöck Gail
  89. 11.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  90. 11.2 Konzeptionelle Bezüge zur (Flucht-)Migration
  91. 11.3 Umsetzungspraktiken und Methoden in der Arbeit mit Geflüchteten
  92. 11.4 Erfahrungen und Ergebnisse
  93. 11.5 Erfolgsfaktoren
  94. 11.6 … und Herausforderungen
  95. Literaturverzeichnis
  96. 12 Praxis-/Projektportrait: »Weißt du, wer ich bin? – das Projekt der drei großen Religionen für friedliches Zusammenleben in Deutschland«
  97. Marc Witzenbacher
  98. 12.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  99. 12.2 Konzeptionelle Bezüge zum Themengebiet (Flucht-)Migration
  100. 12.3 Umsetzungspraktiken und -methoden
  101. 12.4 Erfahrungen und Ergebnisse
  102. 12.5 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  103. 12.6 Fazit und Ausblick
  104. Literaturverzeichnis
  105. IV. Sozialraumorientierung im Kontext von (Flucht-)Migration
  106. 13 Zusammenarbeit mit fluchterfahrenen Eltern und ihren Kindern in der Kindertageseinrichtung
  107. Daniela Kobelt Neuhaus
  108. 13.1 Zusammenarbeit mit Eltern
  109. 13.2 Familien mit Fluchterfahrung in der Kita
  110. 13.3 Der kultursensitive Blick auf Eltern und Kinder
  111. Literaturverzeichnis
  112. 14 Praxis-/Projektportrait: Einblick in die Praxis des Bundesprogramms »Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge«: Das Mainzer Bündnis für junge Flüchtlinge
  113. Renata Warzych und Judith Strohm
  114. 14.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts sowie konzeptionelle Bezüge zum Themengebiet (Flucht-)Migration
  115. 14.2 Umsetzungspraktiken und -methoden
  116. 14.3 Erfahrungen und Ergebnisse
  117. 14.4 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  118. 14.5 Take-home-message und Ausblick
  119. Literaturverzeichnis
  120. 15 Praxis-/Projektportrait: Der Verein an.ge.kommen e. V. »Kulturübergreifende Begegnungen im Sozialraum zwischen Geflüchteten, Migrierten und der Gießener Aufnahmegesellschaft«
  121. Marina Faherty
  122. 15.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  123. 15.2 Konzeptionelle Bezüge zum Thema Flucht/Migration und Umsetzungspraktiken und -methoden
  124. 15.3 Erfahrungen und Ergebnisse
  125. 15.4 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  126. 15.5 Fazit und Ausblick
  127. Literaturverzeichnis
  128. 16 Praxis-/ Projektportrait: Lern- und Integrationspatenprojekt verbindet Hilfe und Qualifikation
  129. Norbert Neuß und Marina Faherty
  130. 16.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  131. 16.2 Umsetzungspraktiken- und methoden
  132. 16.3 Erfahrungen und Ergebnisse sowie Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  133. 16.4 Fazit und Ausblick
  134. Literaturverzeichnis
  135. V. Traumatisierung im Kontext von (Flucht-)Migration
  136. 17 Traumatisierte Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen in pädagogischen Settings
  137. Jennifer Henkel
  138. 17.1 Trauma, Traumatisierung und Traumafolgestörungen – von was reden wir eigentlich wann?
  139. 17.2 Besonderheiten von Traumafolgestörungen im Kindesalter
  140. 17.3 Allgemeine und traumaspezifische Gestaltung pädagogischer Settings für Kinder (und Eltern) mit Fluchterfahrungen
  141. 17.4 Zum Verhältnis von Traumapädagogik und Traumatherapie
  142. 17.5 Fazit
  143. Literaturverzeichnis
  144. 18 Praxis-/Projektportrait: STEP-BY-STEP – Ein Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung »Michaelisdorf« in Darmstadt
  145. Nora Hettich, Nora Iranee, Marianne Leuzinger-Bohleber und Sabine Andersen
  146. 18.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  147. 18.2 Konzeptuelle Bezüge zum Themengebiet (Flucht-)Migration
  148. 18.3 Umsetzungspraktiken und Methoden
  149. 18.4 Herausforderungen, Erfahrungen und Erfolgsfaktoren – Ergebnisse
  150. 18.5 Fazit
  151. Literaturverzeichnis
  152. 19 Praxis-/Projektportrait: »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« – Ein Gruppenangebot für flüchtlings- und familienmigrierte Mütter mit Kleinkindern
  153. Claudia Burkhardt-Mußmann
  154. 19.1 Projektrahmen
  155. 19.2 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  156. 19.3 Umsetzungspraktiken und Methoden des »Jasmin«-Projekts
  157. 19.4 Erfahrungen, Ergebnisse und Herausforderungen
  158. 19.5 Fazit und Ausblick
  159. Literaturverzeichnis
  160. VI. Rechtliche Aspekte im Kontext von (Flucht-)Migration
  161. 20 Rechtliche Rahmenbedingungen für geflüchtete Familien
  162. Marion Hundt
  163. 20.1 Einleitung
  164. 20.2 Asyl- und Flüchtlingsrecht als ein besonderes System im Migrationsrecht
  165. 20.3 Das Asylverfahren
  166. 20.4 Duldung und Abschiebung bei negativem Ausgang des Asylverfahrens
  167. 20.5 Schnittstelle zwischen Pädagogik und Migrationsrecht
  168. 20.6 Verwandte Rechtsvorschriften
  169. Literaturverzeichnis
  170. 21 Zur besonderen Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge – Spannungsfelder und pädagogische Herausforderungen
  171. Irmela Wiesinger
  172. 21.1 Im Spannungsfeld zweier Rechtssysteme
  173. 21.2 Ungewisse Zukunftsperspektive versus Bedürfnis nach Sicherheit
  174. 21.3 Versäulung der Systeme versus Kooperation auf Augenhöhe
  175. 21.4 Ankunft in einem sicheren Land – Aber noch nicht an einem sicheren Ort?
  176. 21.5 Divergierende Aufträge zwischen Herkunfts- und Aufnahmesystem
  177. 21.6 Unterbrochene Identitätsentwicklung versus »Überlebensselbständigkeit«
  178. 21.7 Fremdheitserleben oder Traumatisierung?
  179. 21.8 Hilfe für junge Volljährige im SGB VIII – Eine Hilfe aus gutem Grund
  180. 21.9 Fazit – Pädagogische und fachpolitische Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe
  181. Literaturverzeichnis
  182. 22 Praxis-/Projektportrait: Do it! Transfer Plus – Ehrenamtliche Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
  183. Achim Pohlmann, Maria Shakura und Anton Mause
  184. 22.1 Ausgangssituation und Ziele des Projekts
  185. 22.2 Konzeptionelle Bezüge zum Themengebiet (Flucht-)Migration
  186. 22.3 Umsetzungspraktiken und Methoden
  187. 22.4 Erfahrungen und Ergebnisse
  188. 22.5 Erfolgsfaktoren und Herausforderungen
  189. 22.6 Fazit und Ausblick
  190. Literaturverzeichnis
  191. Zu den Autorinnen und Autoren

Einleitung

Jennifer Henkel und Norbert Neuß

 

Diese Publikation erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die sogenannte »Flüchtlingskrise in Deutschland« nicht mehr der dominante Gegenstand in den Berichterstattungen der deutschen Medienlandschaft ist. Während 2015 und 2016 über eine Millionen Menschen Asyl in Deutschland beantragten, fiel die Zahl der Asylanträge innerhalb der ersten Jahreshälfte 2017 mit 129.903 Anträgen deutlich geringer aus1.

Ist die Zahl der großen Flucht also vorbei?

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Die weltweiten Zahlen sinken nicht – im Gegenteil. Menschen fliehen aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Gewalt, Perspektivlosigkeit und Armut, Diskriminierung und Verfolgung, Rohstoffhandel und Landraub, Umweltzerstörung und Klimawandel.2 Die Europäische Union hat währenddessen seine Maßnahmen zur Grenzüberwachung ausgebaut und riegelt Fluchtrouten wie z. B. die Balkanroute ab, indem sie Abkommen mit vorgelagerten Ländern Europas schließt.

Dies erklärt die rückläufigen Zahlen der Ankommenden in Deutschland für das Jahr 2017. Doch die Fluchtwege verlagern sich und eine Lösung der Flüchtlingsfrage bleibt ungewiss. Ebenso die Frage, ob Deutschland zukünftig mit weiteren Flüchtlingswellen (ähnlich wie 2015/16) konfrontiert sein wird.

Fakt ist, dass die Themenbereiche »Migration und Flucht« seit 2015 als Gegenstand der Pädagogik »drängender« geworden sind und ihr Stellenwert wohl auch langfristig andauern wird. Einer humanistischen Verantwortung folgend, bleibt eine wissenschaftliche wie fachspezifische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex daher zwingend geboten.

 

Zum Hintergrund des Buchs

 

Erreichen Flüchtlinge das Bundesgebiet Deutschland, werden sie zur Registrierung und zur Klärung des weiteren Vorgehens auf spezielle Ankunftszentren der verschiedenen Bundesländer verteilt. Zuständig für die Erstaufnahme von Asylsuchenden in Hessen ist das Regierungspräsidium Gießen. Die zugehörige Erstaufnahmeeinrichtung befindet sich in Gießen, geographisch nur wenige Kilometer von der Justus-Liebig-Universität entfernt. Bereits im Frühjahr 2015 kamen in der Erstaufnahmeeinrichtung Gießen über 5.000 Menschen an, im November 2015 erreichte die Zahl mit über 17.000 Menschen ihren Höhepunkt3.

Sich dem Handlungsbedarf und -druck annehmend, entwickelten sich in Gießen einige studentische Initiativen (z. B. an.gekommen e.V, image Kap. 15) als auch Projekte aus Forschung und Lehre seitens der Universität. Die Abteilung »Pädagogik der Kindheit« (Professur Neuß) verantwortete in diesem Zusammenhang zwei Projekte:

Das erste Projekt umfasste die Konzeption und Organisation einer Ringvorlesung mit dem Titel »Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen: Herausforderungen an die Pädagogik«. Ziel war es, den Studierenden und allen Interessierten verschiedene fachwissenschaftliche Zugänge und Perspektiven im Zusammenhang mit Flucht und Migration zu eröffnen, die die vielfältigen pädagogischen, rechtlichen und organisatorischen Herausforderungen an die außerschulische und schulische Pädagogik verdeutlichen (Fokus: Familienpädagogik und Familienbildung).

Das zweite Projekt eröffnete Studierenden pädagogischer Studiengänge die Möglichkeit Lern- und Integrationspate oder -patin für ein Flüchtlingskind und dessen Familie zu werden und Erlebnisse im geschützten Rahmen miteinander zu teilen (image Kap. 16).

Beide Projekte ermöglichten – insbesondere in ihrer Kombination – einen intensiven Lernprozess mit wertvollen theoretischen Erfahrungen (Kennenlernen fundierter Ansätze und Konzepte) sowie praktischen Erfahrungen (persönliches Wirken im pädagogischen Feld). Viele Fragen tauchten auf, die gemeinsam diskutiert und reflektiert wurden.

Die Idee eines Buchprojekts, das sich inhaltlich zentralen Fragen der Pädagogik in Bezug auf Kinder und Familien mit Fluchterfahrung widmet und zusätzlich zu theoretischen Beiträgen auch Erfahrungen aus konkreten Projekten liefert, war geboren.

 

Die vier Kant’schen Grundfragen als Anregung zur Reflexion pädagogischen Handelns im Zusammenhang mit Migration und Flucht

 

Das Stellen grundlegender Fragen des menschlichen Lebens ist in der philosophischen Tradition verankert und zieht sich wie ein roter Faden durch ihre gesamte Geschichte. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) formulierte im Zuge seiner Reflexionen vier fundamentale Fragen an die Welt: Was kann ich wissen? (Erkenntnistheorie) Was soll ich tun? (Moral und Ethik) Was darf ich hoffen? (Religion und Gesellschaft) Was ist der Mensch? (Anthropologie).

Diese Fragen sind so grundsätzlich, dass sie bis heute ihre außerordentliche Bedeutung behalten haben. Auch im Zusammenhang mit den Fluchtbewegungen scheinen sie »topaktuell« zu sein.

Pädagogik, die – als empirische und handlungsorientierte Wissenschaft – gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen sowie zwischenmenschliche Beziehungen zum Gegenstand hat, steht ebenfalls in der Pflicht, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und sie für den eigenen Handlungs- und Verantwortungsbereich zu spezifizieren. Denn mit dem Zuzug von Menschen unterschiedlichster Länder sind die pädagogischen Fachkräfte im Rahmen ihres professionellen Wirkens mit verschiedenen Kulturen, Religionen, Weltanschauungen, Lebensweisen, Lebensgeschichten und -schicksalen konfrontiert. Es gilt, »ausgetretene Pfade« kritisch zu prüfen und diese im Zweifel zu verlassen.

Jene vier Kant’schen Fragen können dabei als Rahmung dienen, um verschiedene Blickwinkel im Hinblick auf die Arbeit mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrungen einzunehmen und konkrete fachspezifische Fragen abzuleiten:

Was kann ich wissen? (Erkenntnistheorie)

•  Welche Komponenten umfasst mein Auftrag professionellen Handelns in Bezug auf die pädagogische Arbeit mit Kindern mit Fluchterfahrungen?

•  Welches Hintergrundwissen benötige ich hierfür?

•  Gibt es rechtliche, inhaltliche oder organisatorische Besonderheiten?

•  In welchen Bereichen muss ich mein Hintergrundwissen erweitern?

•  Welche pädagogischen Ansätze und Konzepte lassen sich auf die Arbeit mit Kindern und ihren Familien mit Fluchterfahrungen adäquat übertragen?

•  Wo beginnt und endet der eigene Verantwortungsbereich und die eigene Expertise (inhaltlich/rechtlich)?

Was soll ich tun? (Moral und Ethik)

•  Welchen Beitrag kann ich im Rahmen meiner Arbeit leisten, um Kinder und ihre Familien zu integrieren?

•  Wie gehe ich mit Kindern um, die aufgrund von Traumaerlebnissen auffällige Verhaltensweisen zeigen?

•  Wie kann ich Kinder im Spracherwerb des Deutschen unterstützen?

•  Wie kann ich kultur- und religionssensibel agieren?

•  Wie gestalte ich die Zusammenarbeit mit Eltern mit Fluchterfahrungen?

•  Wie kann ich meine bestehenden Netzwerke diesbezüglich gut nutzen und welche weiteren Kooperationen sind notwendig?

•  Welche gewohnten pädagogischen Prozesse und Handlungen kann ich beibehalten, an welchen Stellen muss ich ggf. Abweichungen meiner bisherigen Handlungsweisen vornehmen?

Was darf ich hoffen? (Religion und Gesellschaft)

•  Was sind Gelingens- und Hinderungsfaktoren der Vergangenheit, der Gegenwart und auch der Zukunft, um pädagogisches Handeln in Bezug auf Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen wirksam werden zu lassen?

•  Woran erkenne ich diesbezügliche Erfolge meiner pädagogischen Arbeit?

•  Wie kann ich Kinder und Familien mit Fluchterfahrungen Helfer/-in sein, dass sie durch mein Angebot besser mit ihrer Lebenssituation umgehen können?

•  Wie gehe ich mit Widerstand und Ablehnung meines Angebots um?

•  Wie kann ich akzeptieren und aushalten, dass ich durch mein pädagogisches Handeln nur begrenzt helfen kann?

Was ist der Mensch? (Anthropologie)

•  Was muss ich bei mir beachten, um den an mich gestellten emotionalen, sozialen, kognitiven und geistigen Herausforderungen gerecht zu werden?

•  Wie gelingt es mir, einander als Menschen »auf Augenhöhe« zu begegnen?

•  Wie kann ich Kindern und ihren Familien mit Fluchterfahrung respektvoll, wertschätzend und annehmend behandeln?

•  Wie gehe ich mit kulturellen und religiösen Irritationen um?

•  Wie gelingt es mir, nicht zu bevormunden?

Mit einigen der aufgeworfenen Fragen haben sich die AutorInnen dieses Werkes intensiver beschäftigt. In ihren Beiträgen geben sie ihre Reflexionsergebnisse preis.

 

Zum inhaltlich-strukturellen Aufbau des Buchs

 

Die vorliegende Publikation »Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen – Pädagogische Perspektiven für die Schule und Jugendhilfe« fächert sich auf in verschiedene Inhaltsbereiche, die für PädagogInnen hinsichtlich der Arbeit mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung relevant werden können:

I.

Allgemeine Anforderungen an und Herausforderungen von PädagogInnen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und Schule

II.

Spracherwerb des Deutschen im Kontext von (Flucht-)Migration

III.

Interkulturelle und/oder religiöse Bildung im Kontext von (Flucht-)Migration

IV.

Sozialraumorientierung im Kontext von (Flucht-)Migration

V.

Traumatisierung im Kontext von (Flucht-)Migration

VI.

Rechtliche Aspekte im Kontext von (Flucht-)Migration

Die Aufteilung der Publikation in verschiedene Inhaltsbereiche wurde gewählt, um – im Sinne eines allgemeinen systemtheoretischen Verständnisses – den Fokus gleichermaßen auf das ›Spezifische‹ und das ›Ganze‹ zu legen (Aristoteles folgend: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«). Ziel ist es, Wissensbereiche der Pädagogik sowie weiterer sachverwandter Disziplinen miteinander zu vernetzen und Gesamtzusammenhänge nicht aus dem Blick zu verlieren als auch einzelne Wissensbereiche intensiv zu bearbeiten.

Im ersten Teil »Allgemeine Anforderungen an und Herausforderungen von PädagogInnen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und Schule« wird der inhaltliche Schwerpunkt verhältnismäßig stärker auf das ›Ganze‹ gelegt und in größere Zusammenhänge gestellt.

Im weiteren Verlauf unterteilt sich die Publikation in einzelne inhaltliche Schwerpunktbereiche (Spracherwerb des Deutschen, interkulturelle und/oder religiöse Bildung, Sozialraumorientierung, Traumatisierung und rechtliche Aspekte), die eher das ›Spezifische‹ in den Blick nehmen. Die Bereiche sind allerdings keineswegs trennscharf, sondern überlappen sich größtenteils und bedingen einander. Stattdessen verschiebt sich der Fokus für jeden der Schwerpunktbereiche etwas und einzelne Teile treten in den Vordergrund.

Die Aufteilung der einzelnen Inhaltsbereiche in theoretische Schwerpunktbeiträge und in Praxis-/Projektportraits wurde gewählt, um eine Verbindung von Überblick und exemplarischer Vertiefung zu schaffen. Hintergrund dieses Vorgehens ist, dass sich der Leser/die Leserin zunächst einen Überblick anhand der theoretischen Schwerpunktbeiträge verschaffen kann. Die exemplarische Vertiefung wird durch die Praxis-/Projektportraits eröffnet. Hier wird der konkrete Bezug zu Handlungssituationen aus der pädagogischen Praxis (›pädagogische Erziehungs- und Bildungswirklichkeit‹) hergestellt. Die Praxis-/Projektportraits dienen dazu, die alltags- und lebensweltorientierte Relevanz theoretischer Ansätze zu verdeutlichen und gleichzeitig das theoretische Wissen auf die Probe zu stellen, dessen Grenzen anzudeuten bzw. herauszuarbeiten und wegweisende Richtungen für die Weiterentwicklung des Wissens zu identifizieren.

 

Abschließende Worte

 

Dieses Werk versteht sich als Vehikel für weiterführende Reflexionen im Zusammenhang mit Flucht und Migration. Die großen Fragen nach Kant und auch die ›vergleichsweise‹ kleinen Fragen der Pädagogik werden uns auch zukünftig Antworten schuldig bleiben bzw. uns umtreiben. Indes: »Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt« (Laotse). Lassen sie uns gemeinsam beginnen und voneinander lernen!

Viel Freude beim Lesen und Philosophieren wünschen

Jennifer Henkel & Norbert Neuß

1     BAMF (2017). Aktuelle Zahlen zu Asyl. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juli-2017.pdf?__blob=publicationFile [Zugriff: 15.08.2017].

2     Medico (2017). https://www.medico.de/fluchtursachen/ [Zugriff: 15.08.2017].

3     Regierungspräsidium Gießen (2017). Entwicklung der Flüchtlingszahlen. https://rp-giessen.hessen.de/sites/rp-giessen.hessen.de/files/content-downloads/Entwicklung%20der%20Fl%C3%BCchtlingszahlen_Stand%20Aug.%202017.pdf [Zugriff: 15.08.2017].

 

 

 

I.          Allgemeine Anforderungen an und Herausforderungen von PädagogInnen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und Schule

1          Zwischen Trauma und Resilienz – Zur Situation der Flüchtlingskinder in Deutschland

Jörg Maywald

Das Schicksal der in jüngster Zeit nach Deutschland geflüchteten Kinder1 ist eng verknüpft mit den globalen Fluchtbewegungen. Um die Situation dieser Kinder hierzulande zu verstehen – ihre Belastungen ebenso wie ihre Ressourcen – ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die internationale Lage zu richten.

 

1.1       Fluchtbewegungen weltweit

 

Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR 2016) war die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, noch nie so hoch wie heute. Im Jahr 2015 mussten weltweit erstmals mehr als 60 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Unter den insgesamt 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht waren 3,2 Millionen, die Ende 2015 auf die Entscheidung ihres Asylantrags warteten, 21,3 Millionen Flüchtlinge und 40,8 Millionen so genannten Binnenvertriebene, also Menschen, die gezwungen waren, ihr Zuhause zu verlassen und die innerhalb ihres Heimatlands auf der Flucht sind. Statistisch ist jeder 113. der insgesamt 7,3 Milliarden Menschen entweder asylsuchend, binnenvertrieben oder Flüchtling. Insgesamt ist die Anzahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, etwa so groß wie Frankreich Einwohner hat.

In den vergangenen fünf Jahren haben Flucht und Vertreibung in zahlreichen Regionen der Welt stark zugenommen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk nennt dafür drei Gründe:

»Flüchtlingssituationen dauern länger an. So gibt es Konflikte in Somalia oder Afghanistan bereits seit jeweils drei, beziehungsweise vier Jahrzehnten. Zudem nehmen neue oder wieder aufflammende Konflikte zu, der größte davon ist der Syrien-Konflikt. Allein in den letzten fünf Jahren gab es eine Vielzahl weiterer Konfliktsituationen, unter anderem im Südsudan, Jemen, Burundi, der Ukraine und der Zentralafrikanischen Republik. Zudem lassen seit Ende des Kalten Krieges effektive und dauerhafte Lösungen immer länger auf sich warten. Während im Jahr 2005 durchschnittlich sechs Menschen pro Minute entwurzelt wurden, sind es heute 24 Menschen pro Minute« (UNHCR 2016).

Die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit kommt aus nur drei Ländern, darunter 4,9 Millionen aus Syrien, 2,7 Millionen aus Afghanistan und 1,1 Millionen aus Somalia. Mit 6,9 Millionen hat Kolumbien die höchste Zahl von Binnenvertriebenen, gefolgt von Syrien mit 6,6 Millionen und Irak mit 4,4 Millionen. Die meisten neuen Fluchtbewegungen innerhalb eines Landes gab es 2015 im Jemen, mit 2,5 Millionen Menschen sind dort neun Prozent der Bevölkerung als Binnenvertriebene auf der Flucht (vgl. UNHCR 2016).

Trotz stark ansteigender Zahlen sind Flüchtlinge global sehr ungleich verteilt. Reiche Länder wie Deutschland nehmen weit weniger Flüchtlinge auf als weniger reiche. Knapp neun von zehn Flüchtlingen befanden sich 2015 in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Ein Viertel aller Flüchtlinge lebte in Staaten, die auf der UN-Liste der am wenigsten entwickelten Länder zu finden sind. Mit 2,5 Millionen Flüchtlingen ist die Türkei weltweit das größte Aufnahmeland. Im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl hat der Libanon mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land, fast jeder fünfte Einwohner ist dort ein Flüchtling. Bezogen auf die Wirtschaftskraft ist die Demokratische Republik Kongo das Land mit den meisten aufgenommenen Flüchtlingen (vgl. UNHCR 2016).

Gemäß Angaben des UNHCR waren im Jahr 2015 weltweit mehr als die Hälfte der Flüchtlinge (51 Prozent) jünger als 18 Jahre und gelten daher nach der UN-Kinderrechtskonvention als Kinder. Besonders beunruhigend ist die hohe Zahl an Kindern, die allein reisten oder von ihren Eltern getrennt waren. Insgesamt wurden in dem betreffenden Jahr weltweit 98.400 Asylanträge von unbegleiteten oder von ihren Eltern getrennten Kindern registriert, der höchste Wert seit Beginn der UNHCR-Aufzeichnungen (vgl. ebenda 2016).

 

1.2       Geflüchtete Kinder in Deutschland

 

Nach Deutschland sind allein im Zeitraum von Anfang 2015 bis Mitte 2016 rund 1,5 Millionen Flüchtlinge gekommen. Besonders hoch war diese Zahl in den Monaten Juni 2015 bis Februar 2016. Seitdem hat die Zahl der Erstregistrierten mit weniger als 20.000 Flüchtlingen pro Monat wieder das quantitative Niveau von Anfang 2015 erreicht. Bei etwa 30 Prozent der Asylerstantragstellenden in diesem Zeitraum handelt es sich um Kinder und bei weiteren rund 25 Prozent um junge Volljährige zwischen 18 und 25 Jahren (vgl. Pothmann/Kopp 2016: 8 f.). Hauptherkunftsländer der nach Deutschland geflüchteten Kinder sind Syrien, Afghanistan und der Irak.

Bei den unter 18-Jährigen, für die zwischen Anfang 2015 und Mitte 2016 ein Asylerstantrag gestellt wurde, zeigen sich deutliche Unterschiede nach einzelnen Altersjahren. Mit Abstand wurden die meisten Asylerstanträge für unter einjährige Kinder gestellt, gefolgt von Anträgen für 16- und 17-Jährige (vgl. Kopp/Meiner-Teubner/Pothmann 2016: 20). Dies bedeutet, dass viele Kinder auf der Flucht oder aber kurz nach der Ankunft der Mutter in Deutschland geboren wurden.

 

1.3       Anspruch und Wirklichkeit: gleiche Rechte für jedes Kind

 

Jedes Kind ist einzigartig und unschätzbar wertvoll. Wie jeder Mensch hat es eine eigene Würde und ist als Subjekt von Beginn an Träger eigener Rechte. Zugleich sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Aufgrund der Entwicklungstatsache haben sie besondere Bedürfnisse nach Schutz, Förderung und Beteiligung. Mit der Anerkennung dieser Bedürfnisse ist die Erkenntnis verbunden, dass Kinder einen eigenen, auf ihre spezielle Situation zugeschnittenen Menschenrechtsschutz benötigen. Rund 40 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben die Vereinten Nationen daher 1989 die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet, in der die jedem Kind zustehenden Kindermenschenrechte normiert sind.

Ausgangspunkt der UN-Kinderrechtskonvention ist die Stellung des Kindes als Rechtsträger. Den Rechten der Kinder stehen Verpflichtungen der Erwachsenen gegenüber. Sowohl die Eltern als auch der Staat übernehmen Verantwortung für die Verwirklichung der Kinderrechte. Das Übereinkommen ist im Kontext des internationalen Menschenrechtssystems insofern einmalig, als es die bisher größte Bandbreite fundamentaler Menschenrechte – ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische – in einem einzigen Vertragswerk zusammenbindet. Die in den 42 Artikeln – ergänzt durch zwölf Artikel mit Verfahrensregelungen – dargelegten völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards haben zum Ziel, weltweit die Würde, das Überleben und die Entwicklung von Kindern und damit von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung sicherzustellen.

Die in dem »Gebäude der Kinderrechte« wichtigsten und vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes als Allgemeine Prinzipien (General Principles) definierten Rechte finden sich in den Artikeln 2, 3, 6 und 12. Artikel 2 enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Kein Kind darf aufgrund irgendeines Merkmals wie z. B. Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Behinderung benachteiligt werden. In Artikel 3 Abs. 1 ist der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben, demzufolge das Wohl des Kindes (best interests of the child) bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen ist. Artikel 6 sichert das grundlegende Recht jedes Kindes auf Leben, Überleben und bestmögliche Entwicklung. Gemäß Artikel 12 hat jedes Kind das Recht, in allen Angelegenheiten, die es betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden.

In der UN-Kinderrechtskonvention wird eine große Zahl weiterer Rechte von Kindern formuliert, die sich auf unterschiedliche Lebenssituationen und Lebensbereiche beziehen und nach Schutzrechten, Förderrechten und Beteiligungsrechten unterschieden werden können. Zu den Schutzrechten gehören u. a. das Recht auf Schutz der Identität, das Recht auf Schutz vor unberechtigter Trennung von den Eltern, das Recht auf Schutz der Privatsphäre, das Recht auf Schutz vor schädigenden Einflüssen durch Medien und das Recht auf Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung einschließlich des sexuellen Missbrauchs. Wichtige Förderrechte sind u. a. das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht auf Förderung von Kindern mit Behinderung, das Recht auf Gesundheitsfürsorge und auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Bildung und das Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung. Schließlich gehören zu den Beteiligungsrechten insbesondere das Recht auf Berücksichtigung der Meinung des Kindes, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie auf Informationsbeschaffung und Informationsweitergabe sowie das Recht auf Nutzung der Medien.

Neben den materiellen Rechten enthält die UN-Kinderrechtskonvention eine Reihe von Regelungen zur Umsetzung. Hierzu gehört auch, die Kinderrechte durch geeignete Maßnahmen bei Erwachsenen und auch bei Kindern und Jugendlichen allgemein bekannt zu machen. Mit dieser Verpflichtung bekennen sich die Staaten zu einer umfassenden Kinder- und Menschenrechtsbildung auf allen Ebenen, sowohl gegenüber Eltern und Fachkräften als auch gegenüber Kindern jeder Altersstufe.

Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert, zunächst allerdings mit Vorbehalten. Besonders einschränkend war der sogenannte Ausländervorbehalt, demzufolge sich Deutschland vorbehielt, »Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen« (BMFSFJ 2000: 90). Die Rechte nach der Konvention sollten demnach nicht in gleicher Weise für Kinder ohne deutschen Pass gelten, eine Diskriminierung, die Geist und Wortlaut der Kinderrechtskonvention diametral entgegenstand.

Erst 2010 hat die damalige Bundesregierung die Vorbehaltserklärung zurückgenommen, seitdem gilt die Konvention als geltendes Recht uneingeschränkt für jedes in Deutschland lebende Kind, somit auch für geflüchtete Kinder. Sie schafft subjektive Rechtspositionen und begründet innerstaatlich unmittelbar anwendbare Normen. Gerichte wie auch Regierungen und Behörden sind in vollem Umfang an sie gebunden. Gemäß Artikel 25 des Grundgesetzes nimmt die Konvention den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ein. Sie steht folglich nicht über der Verfassung. Im Falle einer Konkurrenz zwischen Grundgesetz und UN-Kinderrechtskonvention kommt dem Grundgesetz eine Vorrangstellung zu. Allerdings sind Rechtsanwender wie z. B. die Gerichte aufgefordert, das Grundgesetz so auszulegen, dass ein völkerrechtswidriges Resultat vermieden wird. Außerdem enthält die UN-Kinderrechtskonvention unmittelbar anwendbare Bestimmungen (self executing rights) – darunter besonders der in Artikel 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention niedergelegte Vorrang des Kindeswohls – der auch ohne ein entsprechendes Umsetzungsgesetz Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. Lorz 2010).

Artikel 22 der UN-Kinderrechtskonvention behandelt die Rechte von Flüchtlingskindern. Die Vertragsstaaten verpflichten sich darin, jedem Kind, »das die Rechtstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte« zu gewährleisten. Dies gilt »unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.«

Tatsächlich aber genießen geflüchtete Kinder in Deutschland nicht die gleichen Rechte wie deutsche Kinder. Beispielsweise ist ihr Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet, da ihnen in vielen Fällen lediglich eine Erst- und Notversorgung zusteht. Dies liegt daran, dass das Ausländerrecht und insbesondere das Asylbewerberleistungsgesetz keinen Vorrang des Kindeswohls enthalten und die deutsche Verfassung (Grundgesetz) bisher keinen bereichsübergreifenden Kindeswohlvorrang kennt.

 

1.4       Belastungen geflüchteter Kinder

 

Wegen der großen Entwicklungsdynamik liegen bisher kaum zuverlässige und vor allem keine repräsentativen Daten über den gesundheitlichen Status der in jüngster Zeit nach Deutschland geflüchteten Kinder vor. Viele Kinder werden nur in Notsituationen einem Arzt bzw. einer Ärztin vorgestellt. Aufgrund häufiger Ortswechsel ist eine Beobachtung von Krankheitsverläufen kaum möglich.

Gemäß einer – nicht repräsentativen – Untersuchung in einer großen bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung, die von Ärzten aus zwei Münchener Krankenhäusern (Klinikum rechts der Isar und Technische Universität München) Ende 2015 durchgeführt wurde, ergibt sich folgendes Bild: 63 Prozent der untersuchten Kinder und Jugendlichen hatten Karies, 25 Prozent Erkrankungen der Atemwege. Bei 42 Prozent fehlten Impfungen. Jedes zehnte Kind musste akut behandelt werden. Besonders gravierend ist, dass 22 Prozent der Kinder unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, 16 Prozent unter einer Anpassungsstörung. In einer die Untersuchung kommentierenden Pressemitteilung heißt es:

»Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) sieht ein hohes Risiko, dass viele der psychischen Gesundheitsprobleme zu einer langfristigen Beeinträchtigung der Kinder und Jugendlichen führen. Sowohl Kriegserfahrungen und Flucht gelten als erhebliche Risikofaktoren, wobei es auch auf deren Umstände ankommt (…). Hier wiegt es besonders schwer, dass 60 Prozent der Untersuchten länger als zehn Monate auf der Flucht waren. Diese lange Dauer stellt einen Risikofaktor zur Entwicklung einer Belastungsstörung dar (…). Rund 59 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich im Erstaufnahmelager isoliert. Neben Gewalterfahrung und Diskriminierung erhöhen insbesondere ein unklarer Aufenthaltsstatus sowie die Trennung von Bezugspersonen das Risiko der Flüchtlingskinder, anhaltend psychosozialen Belastungen ausgesetzt zu sein« (DGSPJ 2015).

Angesichts von Forschungsergebnissen in ähnlichen Kontexten ist damit zu rechnen, dass insbesondere jüngere Kinder häufig weniger durch unmittelbare Kriegs- und Fluchteinwirkungen, sondern durch den plötzlichen Verlust vertrauter Bezugspersonen traumatisiert wurden. In ihrem nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges veröffentlichten Artikel »Kriegskinder« beschreiben Anna Freud und Dorothy Burlingham die Erfahrungen mit Kindern, die aufgrund der Kriegsereignisse in London zu Beginn der 1940er Jahre von ihren Eltern zeitweise getrennt leben mussten:

»Der Krieg bedeutet der Mehrzahl der Kinder wenig, solange er nur ihre körperliche Sicherheit bedroht, ihre Lebensbedingungen verschlechtert und ihre Rationen kürzt. Er gewinnt erst einschneidende Bedeutung, wenn er den Familienverband auflöst und damit die ersten Gefühlsbindungen der Kinder an ihre nächsten Angehörigen erschüttert. Viele Kinder haben aus diesem Grunde die Aufregungen des Londoner Bombardements besser vertragen als die zu ihrem Schutz vorgenommene Evakuierung aus der Gefahrenzone« (Freud/Burlingham 1982: 29 f.).

Wie hoch der Prozentsatz der im Herkunftsland, auf der Flucht oder im Aufnahmeland traumatisierten Flüchtlingskinder ausfällt, ist schwer abzuschätzen. Belastende Lebensereignisse können sehr unterschiedliche Folgen haben und die Wirkung hängt im Einzelfall vom individuellen Zusammenspiel zwischen Ereignis-, Risiko- und Schutzfaktoren ab. Form und Intensität der Überwältigung und der Stand der körperlichen und seelischen Entwicklung spielen ebenso eine Rolle wie das Vorhandensein protektiver Faktoren (z. B. positives Selbstbild, Reflexionsfähigkeit) und eventuell vorhergehende traumatische Erfahrungen. Auch die Konstellation der traumatischen Situation – z. B. ob die Traumatisierung durch fremde oder vertraute Personen erfolgte – und postexpositionelle Einflüsse wie ein sicheres Umfeld und das Vorhandensein tröstender Personen sind von großer Bedeutung.

 

1.5       Zwischen Trauma und Resilienz

 

Dass die oft jahrelange Erfahrung von Krieg, Verfolgung und Flucht mit hohen Belastungen verbunden ist, liegt auf der Hand. Dies bedeutet aber nicht, dass der Flüchtlingsstatus an sich »automatisch« zu einer Psychopathologie führt. Obwohl ein bedeutender Teil der Flüchtlinge in Folge von Traumatisierungen behandlungsbedürftige seelische Störungen aufweist, entwickeln bei weitem nicht alle Geflüchteten schwere psychische Probleme.

Zu den Erfahrungen, die Flüchtlinge mitbringen, gehört auch, dass sie im Zusammenhang mit ihrer Flucht ein erstaunliches Maß an Leidensvermögen und Bewältigungskompetenz gezeigt haben. Allein die Tatsache, dass ein Kind – begleitet oder unbegleitet – über Wochen, Monate oder sogar Jahre durch mehrere Länder gewandert ist und dabei vielfältige Hindernisse überwunden hat, ist ein Indikator für das Vorhandensein erfolgreicher Überlebenskompetenzen. Ob allerdings die Anpassungsfähigkeiten eines geflüchteten Kindes aufgrund der erlittenen Belastungen nachhaltig destabilisiert wurden, oder ob das Kind (scheinbar) ohne psychischen Schaden, manchmal sogar gestärkt aus belastenden und traumatischen Erlebnissen hervorgeht, hängt von einer Reihe im Einzelfall zu gewichtender Faktoren ab. In jedem Fall ist zu berücksichtigen, dass kein Mensch nach großen Belastungen gänzlich traumatisiert oder im Gegenteil widerstandsfähig ist, sondern stets mehr oder weniger resilient und beeinträchtigt. Dies bedeutet, dass ein Flüchtling, der sich selbst als widerstandsfähig erlebt, zugleich unter dem Erlebten leiden kann oder dass selbst ein schwer traumatisierter Flüchtling in begrenztem Maße zu resilienten Verhaltensweisen fähig ist.

1.5.1     Trauma

Den zahlreichen Definitionen des Begriffs Trauma (Verletzung) ist gemeinsam, dass die Betroffenen eine Überflutung mit körperlichen und/oder seelischen Stressoren erleiden, die sie mit ihren vorhandenen Bewältigungsstrategien nicht verarbeiten können. Es kommt zu einer affektiven Alarmreaktion, die zum Zusammenbruch des körperlichen und/oder seelischen Gleichgewichts führt.

Die Folgen sind vielfältig und können zusammenfassend in dem Störungsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beschrieben werden. Häufige Symptome sind eine verringerte Reizschwelle, Schreckhaftigkeit (Hypervigilanz), paranoid gefärbte Stimmung, Beeinträchtigung der Affektwahrnehmung und Affektdifferenzierung, Impulssteuerungsprobleme, Regression, Selbstentfremdung und Dissoziation (Abspaltung) sowie Erinnerungsverlust und Verleugnung. Dabei muss betont werden, dass Traumafolgestörungen in erster Linie eine gesunde Reaktion des Körpers und der Seele auf eine Überwältigung von außen darstellen. Sie wirken erst dann pathologisch, wenn sie generalisiert werden und auch in Situationen auftreten, die an sich nicht bedrohlich sind.

1.5.2     Resilienz

Resilienz (Widerstandskraft) meint die Fähigkeit eines Menschen, eingetretenen Belastungen unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu widerstehen, sich davon zu erholen und diese für die Entwicklung zu nutzen. Resilienz ist als ein Interaktionsprozess zwischen Individuum und Umwelt zu verstehen, in dem der einzelne Mensch selbstregulierend auf seine Umwelt einwirkt. Widerstandsfähigkeit ist demnach keine unveränderbare und überdauernde Eigenschaft, sondern sie kann erworben und beeinträchtigt, weiterentwickelt und beschädigt werden, je nach den Erfahrungen, die neu hinzukommen.

Üblicherweise werden individuelle Schutzfaktoren (freundliches Temperament, Gesundheit, Intelligenz und Freude am Lernen, Religion bzw. Glaube an etwas Gutes), familiäre Schutzfaktoren (stabile elterliche Bezugspersonen, positives Familienklima) und soziale Schutzfaktoren (unterstützendes Netzwerk, Vorbildrolle von Personen außerhalb der Herkunftsfamilie, Bereitschaft bei Bedarf Hilfe anzunehmen) unterschieden.

Vor dem Hintergrund ihrer Fluchterfahrungen haben geflüchtete Kinder ein individuelles Wechselspiel aus Traumatisierung, Resilienz und Wachstum durchlebt. Um im aufnehmenden Land bestehen, Wunden heilen und Ressourcen nutzen zu können, müssen diese Systeme in ein neues Gleichgewicht gebracht werden. Die vorhandenen Resilienzfaktoren könnten bei diesem Prozess hilfreich sein, allerdings werden diese häufig nur unzureichend beachtet. Zumeist interessiert nicht die Geschichte der Lebensbewältigung, sondern der Flüchtlingsstatus und die Hilfsbedürftigkeit stehen im Mittelpunkt des Interesses der Aufnahmegesellschaft. Den Blick nicht allein auf Defizite, sondern von Anfang an ebenso auf die vorhandenen Fähigkeiten zu richten, würde den betroffenen Kindern besser gerecht werden.

 

1.6       Kinder mit Fluchterfahrungen: erforderliche Maßnahmen

 

Um im Einzelfall Risiken zu mindern und Ressourcen zu nutzen, sowie zur Sicherung der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte geflüchteter Kinder braucht es ein Bündel aufeinander bezogener struktureller Maßnahmen, die in den folgenden Punkten zusammengefasst werden können (vgl. Kinderkommission des Bundestages 2017; National Coalition Deutschland 2016):

Für den Bereich Flüchtlingsunterkünfte

•  Erstellung von Schutzkonzepten (einschließlich Beschwerdeverfahren) und Etablierung von kinderfreundlichen Bereichen in Flüchtlingsunterkünften

•  Betriebserlaubnis für Gemeinschaftsunterkünfte entsprechend § 45 SGB VIII

•  Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendhilfe mit Notunterkünften, Erstaufnahmen und Gemeinschaftsunterkünften (u. a. im Rahmen so genannter Brückenangebote)

•  Einführung von Beratungsangeboten in den Einrichtungen

•  Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unterkünften für den Kinderschutz (u. a. mit dem Ziel der Nutzung des Beratungsanspruchs zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung gemäß § 8b Absatz 1 SGB VIII)

Für den Bereich Asylverfahren

•  Vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention in allen aufenthalts- und asylrechtlichen Verfahrensschritten

•  Anerkennung kinderspezifischer Verfolgungsgründe im Asylverfahren

•  Anstellung pädagogischen und psychologischen Fachpersonals im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

•  Einführung bundesweit einheitlicher Standards zur Qualifizierung von Vormündern

•  Zugang zu Rechtsberatung für unbegleitete Kinder und Jugendliche

•  Prioritäre Behandlung der Asylanträge von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

•  Verzicht auf Abschiebung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe

•  Klarstellung der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für begleitete und unbegleitete Flüchtlingskinder von Anbeginn ihres Aufenthalts in Deutschland (u. a. Recht auf einen Kita-Platz ab Erstregistrierung)

•  Vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention in allen Fragen der Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge

•  Prioritäre Behandlung von Familienzusammenführungen

•  Gesetzliche Einführung und Umsetzung bundesweit einheitlicher Mindeststandards einer am Kindeswohl orientierten Alterseinschätzung einschließlich einer entsprechenden Dokumentationspflicht

•  Uneingeschränkter Anspruch für junge volljährige Flüchtlinge auf Leistungen gemäß § 41 SGB VIII

Weitere Maßnahmen

•  Uneingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen für geflüchtete Kinder

•  Einrichtung spezialisierter psychosozialer Zentren für Flüchtlinge (u. a. zur Behandlung von Traumafolgestörungen)

•  Aufnahme einer Menschen- und Kinderrechtsbildung in die Curricula der Aus- und Fortbildungen

•  Verankerung der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte von Kindern einschließlich eines bereichsübergreifenden Kindeswohlvorrangs im Grundgesetz

 

1.7       Der Kinderrechtsansatz in der Arbeit mit geflüchteten Kindern

 

In Ergänzung zu den notwendigen Verbesserungen in rechtlicher, medizinischer, psychologischer und pädagogischer Hinsicht sollten sich alle Einrichtungen und Dienste, die mit geflüchteten Kindern tätig sind, dem Kinderrechtsansatz verpflichten. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist, dass nicht nur nach den Bedürfnissen, sondern gleichermaßen nach den Rechten gefragt wird. Während Bedürfnisse subjektiv und situationsabhängig sind, handelt es sich bei den Rechten der Kinder um objektive, von einzelnen Situationen unabhängige Ansprüche.

Der Kinderrechtsansatz bildet den Rahmen zur Ausrichtung des Handelns von Personen und Organisationen an den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Damit ist er ein auf die besonderen Bedürfnisse und spezifischen Rechte von Kindern ausgerichteter Menschenrechtsansatz (vgl. International Save the Children Alliance 2002). Er beruht vor allem auf vier Prinzipien: Universalität, Unteilbarkeit, Kinder als Träger eigener Rechte sowie Erwachsene als Verantwortungsträger.

Das Prinzip der Universalität der Kinderrechte: Die Kinderrechte gelten weltweit in gleicher Weise für alle Kinder, unabhängig davon, in welcher Kultur oder Tradition sie leben, unabhängig auch davon, unter welchen Lebensumständen die Kinder aufwachsen. Alle Kinder sind hinsichtlich ihrer Rechte gleich.

Das Prinzip der Unteilbarkeit der Kinderrechte: