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Brennpunkt Schule

 

Herausgegeben von

 

Fred Berger

Wilfried Schubarth

Sebastian Wachs

Markus Tiedemann (Hrsg.)

Schule, Migration und ethische Bildung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033515-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033516-5

epub:   ISBN 978-3-17-033517-2

mobi:   ISBN 978-3-17-033518-9

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort: Schule, Migration und ethische Bildung
  2. I Grundsätzliche Positionen und empirische Befunde
  3. Ethische Aspekte der Armutsmigration
  4. Julian Nida-Rümelin
  5. Kampf der Kulturen oder Verteidigung eines weichen Universalismus
  6. Markus Tiedemann
  7. 1 Der Kampf der Kulturen und die Rolle der philosophischen Bildung
  8. 2 Ein differenziertes Bild vom Kampf der Kulturen
  9. 3 Die Verteidigung eines weichen Universalismus
  10. 4 Transzendentale Toleranzerziehung
  11. Was schulden wir den Muslimen in Deutschland?
  12. Klaus Goergen
  13. 1 Was schulden wir den Muslimen als Bürgern?
  14. 2 Was schulden wir den Muslimen als Muslime?
  15. 3 Schulden wir den Muslimen einen eigenen Religionsunterricht?
  16. Umgang mit Fremdheit: Impulse aus der empirischen Forschung für die Lehrerbildung
  17. Maria Hallitzy
  18. 1 Fremdheit als Herausforderung schulischen Lernens – bildungstheoretische Verortung und begriffliche Annäherung
  19. 2 Umgang mit Fremdheit als Herausforderung professionellen Handelns
  20. 3 Orientierungen (angehender) Lehrerinnen und Lehrer und situative Konstellationen im Umgang mit Fremdheit
  21. 4 Impulse für reflexive Komponenten im Curriculum der Lehrerbildung
  22. II Didaktische Herausforderungen der ethischen Bildung
  23. Ethikunterricht für alle – das Gebot der Stunde
  24. Markus Tiedemann
  25. Wie viel Empirie benötigt die Praktische Philosophie? Grundsatzüberlegungen und didaktische Konsequenzen am Beispiel der Migrationsproblematik
  26. Bettina Bussmann
  27. 1 Das Problem
  28. 2 Erst Philosophie, dann Empirie
  29. 3 Erst Empirie, dann Philosophie
  30. 4 Philosophie zugleich mit Empirie
  31. 5 Konsequenzen für die Didaktik und die Unterrichtspraxis
  32. Zwischen Moderator und Regisseur – Die Rolle des Philosophielehrers in interkulturellen Lerngruppen
  33. Stefan Barz
  34. 1 Einführung
  35. 2 Aspekte des Philosophielehrerberufs
  36. Lehrerkompetenzen
  37. Lehrerpersönlichkeit
  38. Teacher beliefs
  39. 3 Fazit
  40. Das eigene Fremde. Überlegungen zur musealen Repräsentation von Differenz am Deutschen Auswandererhaus
  41. Christoph Bongert
  42. 1 Museologische Prinzipien und museologisches Programm des Auswanderungsteils
  43. 2 Museologisches Programm des Einwanderungsteils
  44. 3 Museologische Prinzipien des Einwanderungsteils
  45. III Unterrichtspraxis
  46. Lernbereichsplanung zum Thema Pegida in der Flüchtlingsdebatte. 8. Klasse Gymnasium
  47. Anne Marie Leiblich
  48. 1 Bedingungsanalyse/Lerngruppe
  49. 2 Methodisch-didaktische Analyse
  50. 3 Lernziele
  51. 4 Tabellarischer Unterrichtsverlauf
  52. Das Spannungsfeld zwischen Heimat und Identität in Bezug auf Migration
  53. Luise Böhnstedt, Zarah Hain, Julia Heide & Clemens Pappritz
  54. 1 Bedingungsanalyse/Kommentar
  55. 2 Lernziele
  56. 3 Tabellarischer Unterrichtsverlauf
  57. 4 Methodenverzeichnis
  58. 5 Didaktisch-methodische Analyse
  59. 6 Ausgewählte Quellen und Materialien
  60. Was ist Fremdheit? Wo beginnt sie – wo hört sie auf? Klasse: 10
  61. Anna Theresa Nickel, Carolin Seyffert, Juliane Köhler, Sophia Beyer & Lena Styrie
  62. 1 Didaktisch-methodische Analyse
  63. 2 Lernziele
  64. 3 Tabellarischer Verlauf der Lernbereichsplanung
  65. Ein Recht auf Asyl? – moralische Aspekte zu Asyl und Migration. Aufbereitung für eine 3./4. Klasse der Grundschule und für eine 11./12. Klasse des Gymnasiums
  66. Marie Hahn, Paul Petzold, Hannes Röseler & Diana Steinmüller
  67. 1 Bedingungsanalyse/Informationen zur antizipierten Lerngruppe
  68. 2 Zwei Unterrichtsentwürfe
  69. 3 Didaktisch-methodische Analyse
  70. 4 Quellen und Arbeitsmaterialien
  71. Die Autorinnen und Autoren

 

Vorwort: Schule, Migration und ethische Bildung

 

Analyse, Bewertung und Gestaltung von Migration gehören zu den zentralen Aufgaben der pluralistischen Gesellschaft. Auch Wissenschaft und Bildung sind in besonderer Weise gefordert. Es kommt darauf an, die Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen zusammenzutragen und neue Forschungsansätze zu entwickeln. Gleichzeitig bedarf es didaktisch-methodischer Konzepte, um Erfahrungen und Probleme mit Migration und kulturellem Pluralismus zu thematisieren sowie normative Diskurse zu inszenieren.

In vielen Teilen Deutschlands fällt es schwer, einen vorurteilsfreien Dialog über die Gestaltung von Migration, Asyl und Wertepluralismus zu organisieren. Progressive Ansätze wie Bürgerdialoge, kulturelle Begegnungen oder Integrationskurse können nur eine begrenzte Wirkung entfalten. Aus diesem Grund ist es von besonderer Bedeutung, möglichst viele Foren für die Kultivierung diskursiver Kontroversen anzubieten. Schule ist ein wesentlicher und wirkungsmächtiger Teil der Gesellschaft. Mit dem Ethik- und Philosophieunterricht besteht ein Bildungsangebot, das für die Thematisierung von Werten und Normen konzipiert wurde und in zahlreichen Bundesländern die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler erreicht. Zudem ist das Selbstverständnis philosophischer Erörterungen über den Vorwurf der political correctness erhaben. Ethische Urteilskraft misst sich nicht an inhaltlichen Positionen, sondern an der Konsistenz und Kohärenz ihrer Begründung sowie der Fähigkeit, auch Argumente zu würdigen, die nicht der eigenen Position entsprechen.

Der vorliegende Band will dazu ermutigen, Schule im Allgemeinen und Philosophieunterricht im Besonderen für die Erörterung normativer Fragen der Migration zu nutzen. Die Beiträge thematisieren fachphilosophische, fachdidaktische, allgemeindidaktische Fragestellungen von Migration, Universalismus, Kulturpolitik, Lehrerausbildung und Bildungsarbeit. Zudem werden Unterrichtseinheiten für unterschiedliche Klassenstufen angeboten.

Die theoretischen Beiträge diskutieren ethische und politische Aspekte der Migration (Nida-Rümelin, Tiedemann, Goergen), Fragen der Forschungsgestaltung (Bussmann), der Didaktisierung (Tiedemann, Barz) und der Lehrerausbildung (Hallitzky). Die Praxisbeiträge präsentieren Unterrichtseinheiten für verschiedene Klassenstufen, in denen normative Aspekte der Migrationsgesellschaft thematisiert werden. Es handelt sich um ausgewählte Ergebnisse eines Seminars (»Normative Fragen der Migration und ihre didaktische Aufbereitung«), das im Sommer-Semester 2016 in Kooperation der TU-Dresden mit dem Deutschen Auswanderhaus durchgeführt wurde. Auf diese Weise wird angestrebt, sowohl die Orientierung über prinzipielle konzeptionelle Fragestellungen als auch die konkrete Unterrichtspraxis zu befördern.

 

 

 

 

 

I

Grundsätzliche Positionen und empirische Befunde

 

 

 

 

 

 

Ethische Aspekte der Armutsmigration*

Julian Nida-Rümelin

Es gibt sehr unterschiedliche Motive, die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen und in andere Welt-Regionen aufzubrechen. Eine davon ist der völlig legitime Wunsch, seine sozio-ökonomische Lage zu verbessern. Wenn man Migration im weitesten Sinne als die Veränderung des Wohnortes fasst, dann fallen auch die großen Wanderungsbewegungen, die Italien im 20. Jahrhundert erlebt hat – vom Landesinneren an die Küsten, vom Land in die Städte, vom Süden in den Norden – unter (Binnen-)Migration. Im engeren Sinne wird unter Migration nur der Wohnortwechsel vom einen Land in ein anderes verstanden, also unter Überschreitung von Staatsgrenzen. Aber auch diese engere Bestimmung ist insofern unscharf, als dadurch die Zufälligkeiten der staatlichen Organisation eine allzu große Rolle spielen. So besteht die USA aus 50 Bundesstaaten, wenn man deren Grenzüberschreitungen zur Migration hinzuzählte, würde Nordamerika1 weltweit vermutlich zumindest im Anteil der Migrierenden an der Gesamtbevölkerung, möglicherweise sogar in absoluten Zahlen, die stärkste Migration aufweisen, angesichts der ungewöhnlich hohen Mobilität der US-amerikanischen Gesellschaft.

Nicht jede Migration kann als eine Flucht bezeichnet werden. In Italien wird das Phänomen, dass junge Akademikerinnen und Akademiker das Land in großen Zahlen verlassen, um ihre berufliche Zukunft im Ausland, in Deutschland, in Großbritannien, in den USA zu suchen, als cervelli in fuga (Hirne auf der Flucht) bezeichnet. Der Hintergrund sind die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit und die schlechten Job-Aussichten für Hochschul-Absolventen. Auch die Abwanderung hoch qualifizierter Ärzte aus Südamerika in die USA oder aus Afrika, auch nach Europa wird man jedenfalls nicht mehr als eine Flucht bezeichnen können, da diese in ihren Heimatländern zu den bestbezahlten Arbeitskräften zählen. Flüchtlinge, so können wir vorläufig definieren, sind folglich diejenigen Migranten, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Mehrere Millionen Deutsche flohen nach dem Zweiten Weltkrieg aus den sogenannten deutschen Ost-Gebieten, da sie dort nicht mehr geduldet wurden. Vor dem Hintergrund der Nazi-Gräueltaten im Osten eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, die die unmenschlichen Begleitumstände der Vertreibung allerdings nicht rechtfertigen kann. Das Flucht- und Vertreibungsmuster während und nach dem Zweiten Weltkrieg entspricht ähnlichen Vorgängen auf der ganzen Welt. Wenn Krieg oder Bürgerkrieg wütet, werden die jüngeren Männer im Kampf eingesetzt, ihre Familien versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Die betroffenen Regionen und Städte entvölkern, zurück bleiben die Kämpfer in ihren Stellungen und die Toten auf der Straße. Die neuen Kriege, in denen nicht Staaten gegeneinander, sondern Ethnien, Sprachgemeinschaften, örtliche Warlords gegeneinander kämpfen, erhöhen den Blut-Zoll der Zivilbevölkerung und üben oft einen über Jahre anhaltenden Vertreibungsdruck aus. Wenn das Leben an einem Ort unerträglich geworden ist, wenn die Gefahr für Leib und Leben immer größer wird, suchen Menschen Zuflucht an anderen Orten. Aber auch Hungersnöte, zum Beispiel durch anhaltende Trockenheit, können Fluchtbewegungen auslösen. Insbesondere in Regionen, in denen die Subsistenzwirtschaft dominiert, in denen also Nahrungsmittel für den eigenen Gebrauch angebaut werden, zwingen Dürreperioden dazu, das Land zu verlassen, wenn Menschen nicht durch Nahrungsmittelhilfe von außen Unterstützung erhalten. Die Ausdehnung der Wüstenregion in der Sahelzone in Afrika, vermutlich eine Folge des Klimawandels, hat zu lokalen Fluchtbewegungen beigetragen.

Das, was gelegentlich als Bottom Billion in der Debatte bezeichnet wird, also die untere Milliarde der Bevölkerung, diejenigen, die von weniger als 1,25 US-Dollar Kaufkraft am Tag leben müssen2 – auch die zweite und möglicherweise sogar noch die dritte Milliarde der Ärmsten der Welt –, kann, wenn sie ihre Heimat verlassen will, sich nicht auf den Weg in die USA, nach Kanada, Australien, ja in der Regel nicht einmal nach Europa machen. Die Kosten, die transkontinentale Migration für jede Person bedeuten, sind derart hoch, dass der ärmste Teil der Weltbevölkerung davon weitgehend ausgeschlossen ist.3 Die Armuts- und Elendsmigration bleibt daher in der Regel lokal.4 Es hat in den vergangenen Jahrzehnten massive Bevölkerungsverschiebungen auf dem afrikanischen Kontinent gegeben, die von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. In den ärmsten und trockensten Gebieten Ostafrikas dünnt die Bevölkerung aus, trotz einer hohen Fertilitäts-Rate.5

China hat, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, eine Art Apartheid-Regime eingeführt, das die Einwanderung in die chinesischen Metropolen für die Landbevölkerung reglementiert.6 In großen Teilen des Landes herrscht trotz einiger Jahrzehnte starken Wirtschaftswachstums bitterste Armut, die ohne diese staatliche Reglementierung vermutlich zur Ausbildung von größeren Slum-Regionen in den und am Rande der Metropolen, wie Shanghai, Peking usw., geführt hätte, wie man dies aus südamerikanischen und afrikanischen, auch indischen Städten gewohnt ist. Die Landbevölkerung verlässt ihre Heimat, weil sie selbst in einer Favela in Rio de Janeiro eine bessere und kontinuierliche Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Kleidung vorfindet und notfalls auch medizinische Hilfe erwarten kann. Armuts- und Elendsmigration wird durch die Vernachlässigung der ländlichen Bevölkerung und der Entwicklung der Landwirtschaft, durch klimatische Veränderungen, aber auch ethnische Konflikte, Bürgerkrieg und Krieg ausgelöst. In diesem Kapitel klammern wir allerdings die Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge aus der Betrachtung aus, hierfür ist ein eigenes Kapitel vorgesehen.

Die These, die ich im Folgenden begründen möchte, lautet: Transkontinentale Migration ist kein geeignetes Mittel, um Armut und Elend in der Welt zu bekämpfen. Auch wenn man diese These am Ende akzeptiert, sind die konkreten ethischen Implikationen für die Migrationspolitik erst noch zu klären. Wir werden sehen, dass wir dabei mit komplexen Fragen konfrontiert sind.

Aus einer kosmopolitischen Perspektive ist Armutsmigration in der Regel die schlechteste Form der globalen Armutsbekämpfung. Auch wenn die Migrierenden selbst aus den Armutsregionen des globalen Südens oder Ostens in die Reichtumsregionen Nordamerikas und Mittel- und Nordeuropas gelangen, dort Aufnahme finden und sich auf dem Arbeitsmarkt und längerfristig auch in die neue Gesellschaft integrieren, zeigen Untersuchungen doch die immensen psychischen, kulturellen und sozialen Belastungen, die damit verbunden sind.7 Die europäischen Gesellschaften, in die diese Menschen aus Afrika gelangen, sind ihnen in vieler Hinsicht fremd, die Organisation des Alltags, die Familienstrukturen, der Arbeitsmarkt, das Rechtssystem etc. Ein Land wie Italien, das einen großen Teil der Flüchtlinge aus Afrika in den letzten Jahren aufgenommen hat, kümmert sich wenig um ihre soziale und ökonomische Integration, lässt sie aber gewähren.8 Die Folge ist, dass Tausende von jungen schwarzen Männern sich in Hunderten von italienischen Städten, nicht nur den Großstädten, sondern auch Mittel- und Kleinstädten, damit verdingen, Menschen auf der Suche nach einem Parkplatz auf eine freie Lücke hinzuweisen und sich dies durch einen oder zwei Euro vergüten lassen. Andere organisieren sich und klappern die Restaurants und Bars, auch die öffentlichen Plätze der Stadt, mehrmals am Tage ab, um Rosen zu verkaufen. Ein Teil bettelt auf den Straßen,9 ein Teil – auch das gehört zur Realität – verdingt sich mit halblegalen oder illegalen Tätigkeiten ein Zubrot. Es sieht nicht danach aus, dass die italienische Ökonomie und die Zivilgesellschaft die Migranten, von denen Tausende auf dem Weg durch die Sahara und über das Mittelmeer ihr Leben lassen mussten, integrieren werden. Wenn die Kosten, die auch der italienische Staat für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge aus Afrika aufwendet, für die Armuts- und Elendsbekämpfung vor Ort eingesetzt würden, wäre dies um ein Vielfaches wirksamer.10 Die Integration wird auch deswegen erschwert, weil es sich ganz überwiegend um junge, alleinstehende Männer11 handelt, die den beschwerlichen Weg, Tausende von Kilometern durch die Sahara und oft durch das lybische Bürgerkriegsgebiet, dann eine hoch gefährliche Überfahrt mit meist nicht seetüchtigen Booten, geschafft haben. Älteren, Kindern, Frauen würde dies noch weit schwerer fallen. Die zurückgebliebenen Familien haben meist alles verfügbare Bargeld zusammengekratzt, um die Auswanderung nach Europa, die Fahrtkosten, die Schlepper etc. zu finanzieren. Sie erwarten, dass diese Mittel zurückgezahlt werden, dass weitere Familienmitglieder nachkommen können, dass am Ende die Hoffnungen, die mit der Migration verbunden sind, erfüllt werden. Dies ist aber offenbar nur in den seltensten Fällen der Fall. Die Qualifikationen, die die Immigranten mitbringen, werden auf dem europäischen Arbeitsmarkt nicht gebraucht oder in den jeweiligen Tätigkeitsfeldern, die in Frage kämen, gibt es schon heute eine hohe einheimische Arbeitslosigkeit.12 In vielen aufnehmenden Ländern wird die Aufnahme einer geregelten Arbeit sogar während des laufenden und oft langandauernden Verfahrens unterbunden.

Es ist verständlich, dass die wenigsten Immigranten die Bereitschaft aufbringen, sich in einem mühsamen Verfahren nachzuqualifizieren, etwa in Gestalt des deutschen dualen Systems, das zwischen zwei und fünf Jahren in Anspruch nimmt und mit einem geringen Einkommen verbunden ist.13 Der Arbeitsmarkt für ungelernte Hilfskräfte ist aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit von Unqualifizierten in allen europäischen Ländern gedeckt. Die Folge ist, dass bezahlte Tätigkeiten außerhalb von Mindestlohn-Regelungen und Tarifverträgen für die Eingewanderten am erfolgversprechendsten sind. Damit geraten sie in einen Interessenkonflikt zum einheimischen Prekariat, das sich zudem die Stadt-Quartiere mit Neuankömmlingen teilt. Die sozialen, politischen und kulturellen Spannungen nehmen zu, was die ökonomische Besserstellung, die nach Untersuchungen meist mit erfolgreicher transkontinentaler Migration verbunden ist, beeinträchtigt. Viele der Immigranten berichten, dass es ihnen psychisch schlecht geht, auch wenn sie die erhofften ökonomischen Vorteile erreicht haben.14

Utilitaristische Effizienz-Kriterien, also die Beurteilung einer Handlung danach, in welchem Umfange sie dazu beiträgt, Leid zu mindern und Wohlergehen zu mehren, ist immer dann zulässig, ja geboten, wenn die Erfüllung dieses Prinzips nicht im Konflikt mit anderen – gewichtigeren – Handlungsgründen gerät. Halten wir deswegen an dieser Stelle fest, dass transkontinentale Migration von Armen in reiche Regionen unter utilitaristischen Gesichtspunkten ethisch unzulässig ist, da die Integrations- und Migrationskosten pro Kopf so hoch sind, dass der Einsatz dieser Mittel zur Armutsbekämpfung bei weitem sinnvoller wäre. Die Abwehr-These, dass sich diese Alternativen nicht stellen, ist auch angesichts der jüngsten migrationspolitischen Entwicklung abwegig. So hat sich die deutsche Bundesregierung unterdessen entschieden, der Bekämpfung der Migrationsursachen hohe Priorität einzuräumen, und ist dazu bereit, viele Milliarden zu investieren.15 Auch der – unter politischen wie ethischen Gesichtspunkten hochproblematische – 2016 geschlossene Vertrag mit der Türkei16 sieht umfangreiche Zahlungen vor, die eine menschenwürdige Existenz für die Flüchtlinge in der Türkei garantieren sollen.

Auch unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Zustimmungsfähigkeit, also einer kontraktualistischen Perspektive internationaler Gerechtigkeit, schneidet die transkontinentale Migration als Methode der Armutsbekämpfung aus. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Herkunftsregionen unter der Abwanderung leiden, dass also die ohnehin schon schlecht gestellten Gruppen noch schlechter gestellt werden. Dies ist übrigens ein Begleitphänomen fast aller dokumentierter größerer Migrationsbewegungen, etwa auch die aus Europa in den USA: Diese hat den verarmten Regionen in Irland, in Süditalien, im deutschsprachigen Raum per Saldo nicht geholfen, sondern geschadet. Ein rationaler und fairer globaler Gerechtigkeitsvertrag würde sich das Rawlsche Prinzip der vorrangigen Unterstützung der Schlechtergestellten zu Eigen machen und dieses Prinzip spricht nicht für transkontinentale Migration als Antwort auf die globale Elendsproblematik.

An dieser Stelle muss ein weiteres empirisches Phänomen Berücksichtigung finden: Auch, wenn dies aus verständlichen Gründen der Wahrnehmung in den reichen Ländern des globalen Nordens nicht entspricht: Die hier Ankommenden gehören in ihren Heimatregionen in der Regel nicht zu den am meisten Hilfsbedürftigen. Wer mehrere Tausend Dollar aufbringen kann, um von Ghana nach Sizilien zu kommen, gehört mit Sicherheit nicht zur Bottom Billion der Weltpopulation. Auffällig ist, dass die jüngste transkontinentale Migration nach Europa zudem von einer starken Gender-Bias geprägt, das heißt 66 Prozent17 der Migrierenden sind Männer, die Mehrheit im Alter zwischen 14 und 34.18 Dies lässt vermuten, dass es doch in höherem Maße als man angesichts der vorgegebenen Flüchtlingsgründe annehmen könnte, auch um sozio-ökonomisch motivierte Migration und nicht nur in erster Linie um Flüchtlinge aus Bürgerkriegs- und Kriegsgebieten geht.19 Denn wie kann es sein, dass die verletzlichsten Teile der Bevölkerung, die Kinder und Älteren, auch die Frauen, zurückbleiben können, während die jungen und starken Männer zur Flucht gezwungen sind? Sicherlich ist für Männer, die aus einer Region mit Kriegs- und Bürgerkriegsgeschehen fliehen, ein wichtiger Grund, dass sie dem direkten Kampfgeschehen entkommen können.20 Eine Flucht für Frauen ist auch weitaus gefährlicher, sie sind zum Beispiel in den Flüchtlingslagern oft Gewalt ausgesetzt, und sollten sie ohne männliche Begleitung fliehen, werden ihnen innerhalb der Hierarchie im Flüchtlingscamp kaum Rechte zugesprochen.21 Trotzdem steht die hohe migrierende hohe Anzahl an Männern in einem offenkundigen Gegensatz zu den großen Flüchtlingsströmen aus der jüngeren Geschichte als Folge von Krieg und Bürgerkrieg, und lässt vermuten, dass hier sich eine wechselseitig stützende gravierende Fehl-Perzeption vorliegt.22 Auch die Migrationsbewegungen aus Afrika südlich der Sahara weisen eine ähnliche Zusammensetzung auf.23 Dies spricht auch hier dagegen, dass es sich um genuine Flucht-Bewegungen handelt, auch wenn das Motiv, die miserable ökonomische Lage von einem selbst und von seiner Familie zu verbessern, indem einzelne, besonders belastbare und arbeitsfähige, jüngere Männer sich auf den Weg nach Europa machen, sehr gut nachvollziehbar ist und keinerlei Kritik verdient.24 Für die ethische Beurteilung hat diese Beobachtung jedoch weitreichende Folgen: Wenn es nicht die am meisten Hilfsbedürftigen sind, die über die europäischen Grenzen kommen, stellt sich die Frage, ob die Fokussierung der Hilfsbereitschaft auf diejenigen, die den beschwerlichen und gefährlichen Weg zu uns genommen haben, nicht – sicher ungewollt – eine Vernachlässigung all derjenigen darstellt, denen die finanziellen und physischen Möglichkeiten dazu fehlen, die aber in weit höherem Maße unsere Unterstützung verdienen. Eine ethische Pflichtverletzung stellt eine solche Vernachlässigung jedenfalls dann dar, wenn es möglich wäre, den Zurückgebliebenen zu helfen, wir dieses aber unterlassen, weil wir gewissermaßen abwarten, wer in unser Gesichtsfeld kommt.25

Wenn man statt einer utilitaristischen oder kontraktualistischen eine Menschenrechts-Perspektive auf internationale Gerechtigkeit einnimmt, dann stellt sich die Situation ambivalenter dar. Nach einer weit verbreiteten Interpretation binden Menschenrechte Staaten und höchstens mittelbar einzelne Personen. Diese Bindung von Staaten ist zunächst eine solche gegenüber ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern und gegenüber denjenigen Menschen, die als dauerhaft oder vorübergehend sich dort aufhaltende der Jurisdiktion dieses Staates unterstehen. Darüber hinaus binden Menschenrechte Staaten im internationalen Verhältnis. So wäre es eine Verletzung des Menschenrechts auf kollektive Selbstbestimmung, wenn mächtige Staaten anderen, weniger mächtigen Staaten, die von ihnen gewünschte Regierungsform aufzwingen. Menschenrechte definieren überwiegend negative Pflichten, also Pflichten der Unterlassung, keine positiven Pflichten, keine Pflichten, etwas aktiv herbeizuführen. Die globale Armutsbekämpfung gehört von daher zunächst nicht zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen. Über den Umweg der Institutionalisierung ökonomischer, sozialer und politischer Beziehungen in der Weltgesellschaft aber gewinnen die Menschenrechte an normativer Kraft. Wenn eine bestimmte, institutionell verfestigte internationale Praxis zum unnötigen Tod oder zur unnötigen Mangelernährung, zu unnötigem Elend von Millionen von Menschen führt, dann machen sich diejenigen, die sich an dieser Praxis beteiligen, schuldig. Sie verletzen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und menschenwürdige Existenz. Vieles spricht dafür, dass jedenfalls ein Gutteil des Elends in der Welt Folge solcher Art institutionell verfestigter internationaler, ökonomischer und politischer Praxis ist, dass die Aufrechterhaltung dieser Praxis also eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Wenn aktuelle Handelsbeziehungen und ihre Regulierungen dazu führen, dass die Welthandelspreise für Grundnahrungsmittel extremen Schwankungen unterworfen sind und die lokalen Subsistenzwirtschaften ruiniert werden, dann machen sich Staaten oder auch individuelle ökonomische Akteure, die sich an dieser Praxis beteiligen, schuldig, Menschenrechte zu verletzen. Der Rückzug auf eine Politik großzügiger Aufnahme, anstatt eine Politik der Reform der Weltwirtschaft anzugehen, wäre daher in meinen Augen auch in der dritten normativen Perspektive internationaler Gerechtigkeit ein ethisches Unrecht.

Allerdings haben wir für einen Kosmopolitismus geworben, der die partikularen, die kommunitären, besonderen Bindungen integriert. Die globale Betrachtung erfasst nicht die gesamte ethische Komplexität der Armutsmigration. Denn auch wenn es wünschenswert wäre, dass effektivere Mittel eingesetzt würden, um den Ärmsten der Welt zu helfen, auch dann, wenn wir es für eine ethische Pflicht der Weltgemeinschaft, zumal der Vereinten Nationen halten, die Bedürfnisse der Bottom Billion zu priorisieren, so gibt es doch partikulare Pflichten, Hilfe gegenüber denjenigen zu leisten, die Hilfe benötigen und mit denen wir in ein unmittelbares Interaktionsverhältnis treten. Dies ist auch schon der Fall bei denjenigen, die den beschwerlichen Weg bewältigt haben und sich an den Grenzen Deutschlands befinden. Dadurch entstehen besondere Hilfspflichten gegenüber diesen Personen, die nicht mit jenen vergleichbar sind, die tausende Kilometer entfernt leben und mit denen keine vergleichbare Interaktion besteht. Ein Vergleich aus dem Nahbereich unserer Praxis kann dies verdeutlichen: Wenn wir auf dem Wege mit dem Sturz einer Person konfrontiert werden, haben wir eine unmittelbare Hilfspflicht, auch dann, wenn es vielleicht möglich wäre, mit geringerem Aufwand, zum Beispiel durch Überweisung eines kleinen Geldbetrages an eine Kinderhilfs-Organisation größeres Leid zu mildern. Mit anderen Worten: Unsere Praxis ist eingebettet in die Strukturen menschlicher Interaktion, die wir aufrechterhalten wollen, und zu denen die Verpflichtung gehört, in solchen Fällen Hilfe zu leisten. Ein anderes Beispiel: Da die Ressourcen für medizinische Versorgung nicht unbegrenzt sind, sollten diese so eingesetzt werden, dass sie möglichst viel Leid mindern. Wenn aber der behandelnde Arzt in jedem Einzelfall seinem Patienten nur den Umfang, der für ihn verfügbaren Ressourcen zur Verfügung stellte, der einem solchen Optimierungs-Kriterium entspräche, wäre das Arzt-Patienten-Verhältnis zutiefst gestört. Der Patient könnte nicht mehr davon ausgehen, dass der Arzt alles in seiner Macht Stehende täte, um sein Leid zu mildern. Die Rationierung muss, wenn sie nötig ist, auf einer höheren Ebene stattfinden, sie darf nicht unmittelbar auf das Arzt-Patienten-Verhältnis durchgreifen.

Wenn wir mit konkretem Leid konfrontiert sind, sind wir verpflichtet, unseren angemessenen Beitrag zu leisten, um dieses Leid zu mildern. Selbst wenn die Menschen, die es bis an unsere Grenzen schaffen, nicht zu den Ärmsten der Welt gehören, und auch dann, wenn der Aufwand, der für ihre Integration erforderlich ist, weit über den Summen liegt, die erforderlich wären, um größeres Leid in den Elendsregionen der Welt zu mildern, haben wir diese konkrete Verpflichtung. Die zynische Strategie, man solle doch alles unterlassen, um die in Not geratenen Migranten auf dem Mittelmeer zu retten, um entsprechende Abschreckungswirkung auf die globalen Migrationsbewegungen zu entfalten, verletzt Grundprinzipien humaner Praxis.26

Das Phänomen der Armutsmigration führt zu einem genuinen ethischen Dilemma, das sich im Konflikt zweier Gleichbehandlungs-Prinzipien äußert. Wir haben die Pflicht, die Neuankömmlinge in unserem Land gleich wie die hier Lebenden zu behandeln, außer wir haben gute rechtfertigende Gründe für eine Ungleichbehandlung hinsichtlich spezifischer Merkmale. Die von der britischen Regierung vor dem Brexit geforderte Ungleichbehandlung von Immigranten aus der EU mit den hier schon länger heimischen EU-Bürgern, ist dafür ein Beispiel. Demnach soll ein Sozialhilfe-Anspruch für Einwanderer nach Großbritannien, zum Beispiel aus den EU-Staaten (v.a. Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei) trotz Abreitnehmerfreizügigkeit erst nach einer bestimmten Aufenthaltszeit von vier Jahren entstehen.27 Die deutsche Bundesregierung hat sich, befürwortet von der Sozialministerin Andrea Nahles, dieser Praxis angeschlossen. Diese Ungleichbehandlung wird damit gerechtfertigt, dass ansonsten Anreize gesetzt werden, die man vermeiden will (»Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme«). Zugleich haben wir ein Gleichbehandlungsgebot hinsichtlich der Hilfsbedürftigen im globalen Süden zu berücksichtigen. Sofern wir die Weltgesellschaft als ein im Ganzen kooperatives System mit zahlreichen wechselseitigen Interaktionen verstehen, sollten die Strukturen dieser Ordnung Ausdruck des gleichen Respekts gegenüber jedem menschlichen Individuum sein. Das utilitaristische, kontraktualistische und menschenrechtliche – kosmopolitische – Gebot, das verbreitete Elend im globalen Süden zu lindern, verlangt nach einer Praxis, die denjenigen mehr Beachtung schenkt, die vom Elend im höheren Maße betroffen sind.28 Gleichbehandlung verlangt hier Ungleichbehandlung nach dem Maß der Bedürftigkeit. Die besondere Beachtung, die diejenigen erfahren, die sich auf den Weg nach Europa oder Nordamerika oder Australien gemacht haben, verletzt dieses Gleichbehandlungsgebot; sie werden, unabhängig von ihrer Bedürftigkeit, gegenüber den Zurückgebliebenen in den Elendsregionen, deutlich bevorzugt. Die Gleichbehandlung der Ankommenden mit den Zurückgebliebenen würde allerdings zu einer dramatischen Ungleichbehandlung der Ankommenden mit den schon Heimischen führen. Beide Gleichbehandlungsprinzipien sind simultan nicht erfüllbar. Was immer wir tun, wir verletzen eines von diesen und werden damit einem zentralen ethischen Erfordernis nicht gerecht.

Hier scheint mir ein genuines, das heißt nicht befriedigend auflösbares, ethisches Dilemma vorzuliegen. Das Dilemma würde erst verschwinden, wenn die Armutsmigration zum Erliegen käme, im günstigsten Fall dadurch, dass die ökonomische Benachteiligung im globalen Süden durch eine veränderte Weltwirtschafts- und Weltsozialpolitik beendet wird. Das Elend in den Armutsregionen ist schon rein quantitativ gegenwärtig so groß, dass eine Milderung durch transkontinentale Migration immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein wäre. Es ist schlechterdings unvorstellbar, dass zwei Milliarden Menschen ihrer extremen Armut dadurch entkommen, dass sie in die reichen Regionen der Welt auswandern, was einer Verdreifachung der dortigen Bevölkerung gleichkäme und weder wirtschaftlich noch sozial zu bewältigen wäre. Selbst wenn nur ein Viertel der Ärmsten der Welt auf diese Weise ihrer Not entkämen, wäre dies kein Beitrag zur Milderung des Elends der verbliebenen drei Viertel, im Gegenteil, es wäre eine Verschärfung der Elendssituation durch die Auswanderung der Fitteren und Qualifizierteren zu befürchten, was zu Dysbalancen in den Heimatregionen führen würde und die entstehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Aufnahmeregionen wären nicht mehr zu bewältigen. Es ist zudem anzunehmen, dass eine Migrationsentwicklung dieses Ausmaßes frühzeitig durch die Wahl rechtspopulistischer und nationalistischer Regierungen in der westlichen Welt gestoppt würde. Elendsbekämpfung durch transkontinentale Migration wäre ineffektiv, erschwert die wirtschaftliche Lage in den Heimatländern und wäre, angesichts des quantitativen Umfangs, von den potentiellen Aufnahmeländern des globalen Nordens nicht zu realisieren.

*     Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus der Monographie von Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, die 2017 in der Edition Körber-Stiftung erschienen ist.

1     Zwischen 2014 und 2015 sind 5.093.000 Personen innerhalb der USA umgezogen und haben mindestens eine Bundesstaatsgrenze überquert; während nur 1.673.000 aus den USA ins Ausland zogen. So haben 1,6 % der US-Amerikanischen Bevölkerung ihren Wohnort in einen anderen Bundesstaat verlegt. (Vgl. United States Census Bureau: Geographical Mobility. 2014–2015, online verfügbar unter: http://www.census.gov/data/tables/2015/demo/geographic-mobility/cps-2015.html (Letzter Zugriff 05.10.2016)).

2     1,2 Milliarden Menschen leben von weniger als 1,25 US$ am Tag. Mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben in mehrdimensionaler Armut. UNDP und Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Der Bericht über die menschliche Entwicklung 2014, S. 88.

3     So kostet eine Flucht von Ägypten nach Italien über das Mittelmeer um 9300 US$. Siehe dazu Gehlen, M: »9.300 Dollar für eine lebensgefährliche Überfahrt« in Zeit Online vom 16.10.2013 online verfügbar unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-10/fluechtlinge-mittelmeer-syrien-eritrea (Letzter Zugriff 08.11.2016).

4     Südlich der Sahara suchen 4,4 Millionen Menschen jenseits ihrer eigenen Landesgrenzen Zuflucht, mehr als 730.000 allein in Äthiopien. Zudem flüchten in der Region knapp 12 Millionen Menschen als Binnenvertriebene im eigenen Land. Neun von zehn Flüchtlingen suchen Zuflucht in Entwicklungsländern; d. h. 86 % der Geflüchteten befanden sich 2015 in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern. Vgl. Brot für die Welt: Menschen auf der Flucht. Zahlen und Fakten, online verfügbar unter: http://info.brot-fuer-die-welt.de/blog/menschen-auf-flucht-zahlen-fakten (Letzter Zugriff 05.10.2016).

5     Vgl. Wolf Krug/Marlene Barnard: Flucht und Migration in Afrika Ursachen, Umfang und Herausforderungen, AMEZ Argumente und Materialen der Entwicklungszusammenarbeit, Hanns-Seidel-Stiftung 2016.

6     Das Hukou-System ist ein System, welches der Wohnsitzkontrolle sowie der Ressourcenallokation und -verteilung durch den Staat dient. Seit Deng Xiaoping 1982 Reformen einleitete, wurde es manchen Bürgern möglich, inoffiziell umzuziehen. (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Hintergrund und Problemaufriss: Stadt-Land-Gefälle und Meldesystem (hukou), online verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/151283/stadt-land-gefaelle-und-meldesystem (Letzter Zugriff 04.10.2016).

7     Personen mit Migrationshintergrund leiden fast doppelt so häufig an einer psychischen Erkrankung wie Einheimische. Gründe seien vor allem Einsamkeit, Heimweh, Sprachprobleme, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildung und Wohnverhältnisse. Maryam Schouler-Ocak: Die Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund im psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitssystem, Dissertation, Freie Universität Berlin 2011, S. 11 ff. und Hanno Charisius: »Flucht macht krank« in: Süddeutsche Zeitung vom 17.03.2016.

8     2010 waren 647.000 Nordafrikaner offiziell registriert, 337.000 West- und Südafrikaner. Das sind 16 % der italienischen Bevölkerung (siehe dazu: http://demo.istat.it/str2010/index.html (Letzter Zugriff 06.10.2016). Integration-Bemühungen sind nahezu nicht vorhanden, zwar dürfen Asylsuchende in Italien nach zwei Monaten arbeiten. De facto findet aber kaum ein Asylbewerber eine legale Beschäftigung. Die einzigen Sprach- und Qualifizierungsmaßnahmen werden von den Trägern einzelner Flüchtlingsunterkünfte organisiert; es gibt keine zentrale Integrationsstelle und aufgrund der Vielzahl verschiedener Träger kein einheitliches System. Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre müssen die Schule besuchen. Da es nach Angaben des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) keine Aufsicht über die Umsetzung dieser Regel gibt, hängt der Zugang von Flüchtlingskindern zum Schulsystem sehr stark von den lokalen Schulen ab. Auch hier werden die Sprach- und Vorbereitungskurse dezentral organisiert. (Vgl. Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Italy 2015, S. 82 ff.). Mitte August 2015 kritisierte der Generalsekretär der italienischen Bischofskonferenz, Nunzio Galantino, die italienische Regierung hinsichtlich ihrer Flüchtlingspolitik. Er betonte die fehlende »positive« Integration und die verzerrte Wahrnehmung der Bevölkerung (vgl. La Stampa, Migranti, ora la Cei critica il governo: »Non pensa all'integrazione« vom 12.08.2015, online verfügbar unter: http://www.lastampa.it/2015/08/12/vaticaninsider/ita/vaticano/migranti-ora-la-cei-critica-il-governo-non-pensa-allintegrazione-lSsKIlVVUBBTB54a4BYqbO/pagina.html. (Letzter Zugriff 06.10.2016))). Aber es gibt vereinzelt auch Vorbilder in den Integrationvorhaben, so zum Beispiel die Dörfer Sutera, Sizilien und Riace, Kalabrien. Die Dörfer heißen Flüchtlinge willkommen und können so ihre Dörfer vor dem Untergang bewahren. (Vgl. Jörg Bremer.: »Warum Sizilien ein Vorbild für Deutschland ist« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.04.2016, online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/integration-von-fluechtlingen-auf-sizilien-14152157.html und Zeit Online: »Die neuen Bürger von Riace« vom 02.03.2014, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-02/fs-immigranten-riace beide (Letzter Zugriff 06.10.2016)).

9     2014 waren 58,2 % der über 50 Tausend Obdachlosen in Italien Immigranten; erfasst werden jedoch nur diejenigen, die mindestens einmal eine Einrichtung aufsuchen. Istat Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali: Le persone senza dimora, 2014 (Siehe dazu: http://www.west-info.eu/it/quanti-sono-gli-homeless-in-italia/istat-ministero-del-lavoro-e-delle-politiche-sociali-fio-psd-e-caritas-italiana-le-persone-senza-dimora-anno-2014-2/ (Letzter Zugriff 06.10.2016)).

10  Die Bundesregierung geht von 2015 bis 2020 mit einem Zuzug von 3,6 Millionen Flüchtlingen aus (vgl. Markus Dettmer/Christian Reiermann: »Jetzt klotzen!« in: Der Spiegel Nr. 9/2016 vom 27.02.2016). Die Nettozuwanderung wird für 2015 auf 60-70 % der 1,1 Million erfassten Personen geschätzt. 30-40 % der Immigranten würden demnach wieder Weiterziehen (vgl. IAB: Zuwanderungsmonitor, Januar 2016). Da man selbst für 2015 noch nichts Genaueres sagen kann, bleiben Prognosen über Migrationsströme sehr vage. Aufgrund dessen variieren auch die Schätzungen zu den staatlichen Mehrausgaben in Deutschland stark zwischen 10 Mrd. und 55 Mrd. Euro pro Jahr. So berechnet das ifw Kiel für das-Basisszenario Ausgaben in Höhe von 25 Mrd. und das für »größte« Szenario 55 Mrd. Euro (vgl. dazu https://www.ifw-kiel.de/medien/medieninformationen/2015/simulation-von-fluchtlingskosten-bis-2022-langfristig-bis-zu-55-mrd-20ac-jahrlich (Letzter Zugriff 07.10.2016)). Die Deutsche Bundesbank berechnet die Ausgaben für 2015 mit 0,5 % des BIP und prognostiziert dasselbe Niveau für die kommenden Jahre (rund 15 Mrd./Jahr) (vgl. dazu den Deutschen Bundesbank Monatsbericht, Juni 2016). Die Stiftung Marktwirtschaft in Zusammenarbeit mit dem Forschungszentrum Generationenverträge berechnet für die Jahre 2016, 2017, 2018 Ausgaben in Höhe von 17 Mrd. Euro (vgl. http://www.stiftung-marktwirtschaft.de/wirtschaft/themen/generationenbilanz.html (Letzter Zugriff 07.10.2016Der SpiegelDIW WochenberichtTowards a sustainable and fair Common European Asylum Systemhttp://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1620_en.htm