[1]

[2]Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung

[3]Ute Reichmann

Handbuch
Ambulante Einzelbetreuung

Methoden und Organisation
einzelfallbezogener Jugendhilfe

2., überarbeitete Auflage

Verlag Barbara Budrich

Opladen • Berlin • Toronto 2017

[5]Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Geschichte der ambulanten Einzelbetreuung

Mary Richmonds Konzept sozialer Fallarbeit

Vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bis zur Nachkriegszeit

Die Schutzaufsicht

Jugendhilfe in der sowjetisch besetzten Zone und DDR

Vom Jugendwohlfahrtsgesetz bis zum Kinder- und Jugendhilfegesetz

Erziehungsbeistandschaft und Betreuungsweisung

Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung

Die Ambulante Einzelbetreuung

Datenbasis und statistische Quellen

Wen erreicht die Hilfe?

Ambulante Einzelbetreuung – Stiefkind der Jugendhilfe

Merkmale des Angebots

Persönliche Eigenschaften, Haltungen und Kompetenzen, die Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen

Partner und Akteur: der junge Mensch

Hilfe am Limit

Handlungsorientierungen

Case Work oder Case Management?

Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung

Förderung von Autonomie oder intermediärer Auftrag?

Partizipation und Inklusion

[6]Praxis gestalten

Individuelle Arbeitsweisen

Reflexion, Kommunikation und gemeinsames Handeln

Phasenmodell des Hilfeverlaufs

Gestaltung des Falleingangs und Hilfeentscheidung

Balance von Nähe und Distanz in der Kennenlernphase

Sozialisationsaufgaben, Beziehungsarbeit und Zielorientierung in der Arbeitsphase

Exkurs: Wie können Abbrüche vermieden werden?

Die Beendigung der Maßnahme: Ablösephase und Nachbetreuung

Der kleine Methodenkoffer

Empathie und Technik

Klientzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers und gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg

Niederlagenlose Konfliktlösung nach Thomas Gordon

Krisenintervention und Handeln in gefährlichen Situationen nach Everstine & Everstine

Haim Omers Konzept elterlicher Präsenz

Biografiearbeit und narrative Gesprächsführung

Ratschläge geben nach Dominik Petko

Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung

Der „Fall Lydia“

Gesetzliche Grundlagen zum Kinderschutz

Bei Kindeswohlgefährdung intervenieren

Die Gefährdungseinschätzung

Jenseits der Parteilichkeit: Täterarbeit mit jungen Menschen

Einige Vorbemerkungen zum Thema Gewalt

Biografische Ursachen von Gewalt

Interventionsmöglichkeiten bei Gewalt

Waffenbesitz und politische oder religiöse Radikalisierung

Reflektierende Gespräche

Sozialpädagogisches Handeln in akuten Gewaltsituationen

Gewalttäterinnen

Sexuelle Übergriffe

[7]Problemkonstellationen und Interventionen

Unterschiedlichkeit der Fälle

Alltagsstrukturprobleme

Schulvermeidendes Verhalten

Erziehungsprobleme

Konflikte und Gewalt in der Familie

Adoleszenz- und Autonomiekonflikte

Aufmerksamkeitsdefizit- (ADS) bzw. Hyperaktivitätssyndrom (HKS)

Probleme mit Mediennutzung

Verhaltensauffälligkeiten als Folgen psychosozialer Traumata

Wechselnde Lebensorte und Obdachlosigkeit

Fallreflexion

Reflektierte Praxis

Systematisierung von Informationen

Blick auf Ressourcen

Entwicklung von Interventionsstrategien

Kollegiale Beratung, Teamarbeit und Supervision

Moderationsmethoden im Team und bei der kollegialen Beratung

Dokumentation und Datenschutz

Funktionen der Dokumentation

Fallnotizen und Kontaktdokumentation

Visualisierung in der Fallanalyse

Entwicklungsberichte

Datenschutz

Organisation der Hilfe

Strukturelle Qualität in der ambulanten Einzelbetreuung

Hilfeplanung

Koordination, Hintergrunddienste und Qualitätssicherung

Kombinations- und Gruppenangebote

Ausblick

Literatur

Liste der Tabellen und Grafiken

[8][9]Vorwort zur 2. Auflage

In den Text dieses Handbuchs zur Ambulanten Einzelbetreuung in der Jugendhilfe, das hiermit in die zweite Auflage geht, sind vielfältige Informationen und praktische Erfahrungen eingegangen. Dieses Handbuch verdankt neben den Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuern, deren Einsatz ich über viele Jahre hinweg begleitete, und den vielen Autorinnen und Autoren, deren Themen und Ansätze einbezogen wurden, vor allem Maja Heiner und ihren Anregungen unschätzbar viel.

In den Jahren seit Erscheinen der Erstauflage sind die Herausforderungen für die Soziale Arbeit in Mitteleuropa umfassender und anspruchsvoller geworden. Gleichzeitig sind die Beobachtungen, die zur Erstauflage dieses Handbuchs führten, immer noch aktuell: Obwohl die ambulante Einzelbetreuung junger Menschen in Form der Erziehungsbeistandschaft eine der ältesten Jugendhilfemaßnahmen darstellt, ist sie methodisch und professionell immer noch unterbestimmt. Die Notwendigkeit dieses Handbuchs hat also weiterhin Bestand. Das gilt umso mehr, als inzwischen eine weitere Zielgruppe hinzu gekommen ist: Migrantinnen und Migranten, die in den Jahren 2014 bis 2016 nach Deutschland gekommen sind, und von denen ein relevanter Anteil bei der Integration in die hiesige Zielgesellschaft durch ambulante Hilfen begleitet wird. Bei der Ausrichtung der Arbeit mit geflüchteten jungen Menschen sind die methodischen Hinweise in diesem Buch grundsätzlich bezogen auf die individuellen Problemlagen und Hintergründe anwendbar. Ich verweise zur Ergänzung auf spezialisierte Publikationen, insbesondere zur interkulturellen Pädagogik und zu den sich dynamisch verändernden rechtlichen Grundlagen. Die statistischen Angaben im Text wurden aktualisiert. In der Hoffnung, dass die Standards ambulanter Sozialer Arbeit mit Jugendlichen sich inzwischen professionalisiert haben, so dass prekäre Selbstständigkeit kaum noch vorkommt, wurde ein Kapitel zur Selbstständigkeit gestrichen. Ein Kapitel zu Gruppenmaßnahmen wurde ergänzt.

Ute Reichmann, Göttingen, 21.2.2017

[10][11]Einleitung

Meine Annäherung an die ambulante Einzelbetreuung mit jungen Menschen in der Jugendhilfe erfolgte als Sprung ins kalte Wasser: 1992 führte ich im Auftrag des Jugendamtes als Honorarkraft meine erste Erziehungsbeistandschaft mit einem zehnjährigen Jungen durch, dem ältesten Sohn einer vielköpfigen und – wie man heute sagen würde – bildungsfernen Familie. Dass der Junge und seine Familie Unterstützung brauchten, war leicht zu erkennen: Finanzielle Schwierigkeiten, Streit und Erziehungsprobleme prägten den familiären Alltag. Die Kinder wurden in Kindergarten und Schule von den anderen Kindern abgelehnt. Sie hatten Schwierigkeiten, die dortigen Bildungsansprüche zu erfüllen. Wie vermittels der Erziehungsbeistandschaft eine Verbesserung erreicht werden könnte, musste ich im Verlauf der Hilfemaßnahme selbst herausfinden. Weder gab es damals einen unterstützenden Hintergrunddienst des Jugendamtes, noch konnte ich auf Methodenliteratur für diesen speziellen Arbeitsbereich zurückgreifen.

Auf diese erste Erziehungsbeistandschaft, die für mich als unerfahrene Betreuerin wie für die von mir beratene und begleitete Familie nicht immer leicht war, folgten viele weitere Jugendhilfemaßnahmen. Die Jugendhilfe entwickelte sich weiter, ich lernte dazu: In den Jahren bis zur Jahrtausendwende etablierte sich das Hilfeplanverfahren. Bei den öffentlichen und freien Trägern verbesserten sich langsam die Rahmenbedingungen für ambulante Jugendhilfe. Der Schutzauftrag wurde gesetzlich konkretisiert und Qualität in der Jugendhilfe genauer definiert. Von der operativen Ebene wechselte ich in die Position einer Koordinatorin für ambulante Einzelbetreuung und Jugendhilfeplanerin. Auf diese Weise konnte ich sowohl bei der konkreten Fallarbeit beraten als auch Standards und Konzepte ausarbeiten. Doch auch in der Koordinierungs-, Leitungs- und Planungsrolle war die Arbeit dadurch geprägt, dass keine tätigkeitsbezogene, aktuelle Fachliteratur zur Verfügung stand. Bei der Umsetzung von Qualitätsstandards gab es kaum Vergleichsmöglichkeiten.

Bei der ambulanten Einzelbetreuung – das sind Erziehungsbeistandschaften, Betreuungshilfen auf gerichtliche Weisung und intensive sozialpädagogische Einzelbetreuungen – handelt es sich um ein Standardangebot der Jugendämter nach § 30 und § 35 SGB VIII, das entweder durch diese selbst oder durch freie Träger der Jugendhilfe durchgeführt wird. Dieses Tätigkeitsfeld dient häufig zum Einstieg in die Soziale Arbeit: Sei es schon während oder nach Beendigung eines Studiums der Sozialarbeit, sei es in Form eines Wechsels vor dem Hintergrund einer vorausgehenden anderen Ausbildung oder Berufsausübung.

Die Tätigkeit erfordert Selbstständigkeit, Verantwortung und methodische Flexibilität. Nicht immer sind die Rahmenbedingungen und die persönlichen Voraussetzungen den Anforderungen der Hilfeart angemessen. So ist die Unsicherheit von unerfahrenen Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuern groß und ihr Informationsbedarf vielfältig. Sie haben viele Fragen, zum konkreten Handeln im Einzelfall, zu den örtlichen Rahmenbedingungen und dem eigenen, manchmal schwierigen und bedrohten ökonomischen[12] Status. Doch auch für langjährig Tätige gibt es immer wieder Klärungsbedarf. Teamgespräche und Supervision sind häufig nicht genügend spezialisiert, um wirksame methodische Unterstützung zu leisten. Nicht zuletzt stehen Leitungskräfte und Träger vor der Herausforderung, einen in starkem Maße selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Arbeitsbereich effektiv so zu gestalten, dass der Schutz der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und die Umsetzung qualitativ hochwertiger und wirksamer Hilfen garantiert sind.

Im vorliegenden „Handbuch ambulante Einzelbetreuung“ sind wesentliche Informationen zusammengeführt, die man in der ambulanten einzelfallbezogenen Jugendhilfe braucht. Es bietet Praktikerinnen und Praktikern – Betreuungskräften wie Leitungspersonen – und Lehrenden wie Studierenden der Sozialen Arbeit die Möglichkeit, sich über die Rahmenbedingungen und methodischen Möglichkeiten der ambulanten Erziehungshilfen, die direkt beim jungen Menschen ansetzen, eingehend zu informieren. Gerade in der Jugendhilfe ist die Fachliteratur teilweise zu unspezifisch, die Ansätze und Handlungsvorschläge sind nicht ausreichend auf die Hilfearten zugeschnitten und beziehen die Bedingungen des alltäglichen Berufshandelns nur ungenügend ein. Kurzfristig oder langfristig angelegte Maßnahmen, beziehungsorientierte oder zielbezogene Hilfen, Jugendhilfeangebote im strukturierten Setting – wie Tagesgruppen und stationäre Einrichtungen – oder im ambulanten, alltagsnahen Setting erfordern sehr unterschiedliche Herangehensweisen und setzen den jeweiligen Fachkräften unterschiedliche Vorgaben und Grenzen. Das Studium der Sozialen Arbeit bereitet nicht überall ausreichend auf die Arbeit in einzelnen Tätigkeitsfeldern vor. Für Berufsumsteigerinnen und -umsteiger gilt, dass sie sich an keiner zentralen Stelle eingehend über die Hilfeart ambulante Einzelbetreuung – Erziehungsbeistandschaft und Betreuungshelfer – informieren und vorbereiten können.

Die Auswahl und Anordnung der Themen des Handbuchs erfolgte nach praktischen Gesichtspunkten. Der Band richtet sich an Leitungs- und Betreuungskräfte sowie an Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit mit Interesse an den spezifischen Methoden und Rahmenbedingungen der ambulanten Jugendhilfe.

Nach einem historischen Kapitel, in dem die Entwicklung der ambulanten Einzelbetreuung auf der Basis von Mary Richmonds Konzept der Case Work dargestellt wird, erfolgt ein Überblick über den aktuellen empirischen Wissensstand und den Status quo der Hilfeart. Anschließend werden die wesentlichen Spezialformen der Hilfe, die sich in Folge des Kinder- und Jugendhilfegesetzes entwickelten, vorgestellt. In den Kapiteln „Handlungsorientierungen“ und „Praxis gestalten“ werden theoretische Hintergründe, Diskussionslinien und Kontroversen mit ihren Folgen für die ambulante Einzelbetreuung dargestellt und diskutiert. Die darauf folgenden Kapitel „Phasenmodell des Hilfeverlaufs“ und „Der kleine Methodenkoffer“ liefern praktische Vorschläge zur Umsetzung. Daran schließen zwei Kapitel an, die die Begegnung mit Gewalt in der Jugendhilfe in den Fokus stellen: „Grenzsituationen der Jugendhilfe: Kindeswohlgefährdung“ und „Jenseits der Parteilichkeit: Täterarbeit mit jungen Menschen“. Das darauf folgende Kapitel zeigt auf typische Problemkonstellationen und passende Interventionsstrategien. Der Band schließt ab mit drei Kapiteln, die mit detaillierten Vorschlägen auf Möglichkeiten der Fallreflexion, auf Dokumentation und Datenschutz und die Organisation der Hilfe eingehen.

Das Handbuch verbindet jeweils theoretische Ansätze mit konkreten Handlungsvorschlägen, bietet eine Vielzahl von in der Praxis erprobten Instrumenten, Handreichungen, Formularen und Checklisten und liefert methodische Empfehlungen wie auch Hinweise zur Gestaltung der Rahmenbedingungen. Auch die Grenzen der Hilfeart werden[13] dargestellt. Anhand authentischer Fälle werden Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten diskutiert und beispielhaft vorgeführt. Das Handbuch verfolgt einen individualisierenden Ansatz, den man nach Wahl als adressatenorientiert, Diversity-, inklusiven oder als Capability-Ansatz1 bezeichnen könnte. Unabhängig von der jeweiligen, der Mode unterworfenen Bezeichnung orientiert er sich an den individuellen Voraussetzungen, Fähigkeiten, Interessen und Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten. Dass Minderjährige einen anderen Rechtsstatus haben als Erwachsene – der sich je nach Alter und Entwicklungsstand verändert – bestimmt notwendig die Rahmenbedingungen des professionellen Handelns in der ambulanten Einzelbetreuung. Da die Partizipation der jungen Menschen in der Jugendhilfe und im Hilfeplanverfahren leider immer noch nicht mit ausreichender Ernsthaftigkeit umgesetzt wird (vgl. Pluto 2005), ist die Verbesserung der Partizipation ein wichtiges Anliegen der vorgeschlagenen methodischen Hinweise.

Verwendete Abkürzungen:

AIB

Ambulante Intensive Begleitung

ASD

Allgemeiner Sozialdienst

BKiSchG

Bundeskinderschutzgesetz

BW

Betreutes Wohnen

ISE

Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung

JWG

Jugendwohlfahrtsgesetz

KICK

Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz

KJHG

Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII)

RJWG

Reichsjugendwohlfahrtsgesetz

SGB

Sozialgesetzbuch

Zum adressatenorientierten Ansatz s. Kap. „Handlungsorientierungen“. Der Diversity-Ansatz geht davon aus, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen haben, an denen man sich in der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten orientieren sollte. Der inklusive Ansatz sieht die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen als Ziel, insbesondere die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen. Der Capability-Ansatz, der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurück geht, strebt ein auf individuelle Autonomie und Befähigung ausgerichtetes sozialprofessionelles, politisches und ökonomisches Handeln an.