image1
Logo

Harald Pechlaner, Elisa Innerhofer (Hrsg.)

Temporäre Konzepte

Coworking und Coliving als Perspektive für die Regionalentwicklung

Verlag W. Kohlhammer

 

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033670-4

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-033671-1

epub:  ISBN 978-3-17-033672-8

mobi:  ISBN 978-3-17-033673-5

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort: Welche Zukunft – welche Zukünfte?
  2. Jan Spurk
  3. 1. Einleitung
  4. 2. Eine neue Welt?
  5. 3. Mögliche Zukünfte
  6. 4. Entwicklung oder Kontinuität, Bruch und Entstehung?
  7. 4.1 Gegenwart
  8. 4.2 Kontinuität, Bruch und Entstehung
  9. Literatur
  10. Teil I: Arbeits- und Lebenswelten im Wandel – die Attraktivität des Temporären
  11. Die Attraktivität des Temporären und ihre Bedeutung für die Regionalentwicklung
  12. Harald Pechlaner & Elisa Innerhofer
  13. 1. Einleitung
  14. 2. Die Gesellschaft im Umbruch
  15. 3. Temporäre Konzepte
  16. 4. Die Attraktivität des Temporären – Motive und Beweggründe der Nutzer
  17. 5. Abschließende Überlegungen im Kontext der Regionalentwicklung
  18. Literatur
  19. Coworking: das Arbeitsmodell der Zukunft?
  20. Janet Merkel
  21. 1. Einleitung
  22. 2. Neue Arbeitswelt: Entgrenzt, flexibel und mobil
  23. 3. Coworking als neue Form der Arbeitsorganisation
  24. 3.1 Soziale und materielle Kuration von Coworking Spaces
  25. 3.2 Neue Werkstätten für gemeinschaftliches Lernen
  26. 3.3 Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Coworking
  27. 4. Zusammenfassung und Ausblick
  28. Literatur
  29. Arbeitswelt im Umbruch – Verbreitung neuer Arbeitsformen
  30. Christina Stecker, Clemens Zierler, Linda Müller
  31. 1. Einleitung
  32. 2. Digitalisierung und Industrie 4.0
  33. 3. Neue Arbeitsformen und Anforderungen an das Management
  34. 3.1 Click- und Crowdworking
  35. 3.2 Neue Managementkompetenzen
  36. 4. Fazit – Gestaltungserfordernisse für die neuen Arbeitsformen
  37. Literatur
  38. Open Creative Labs in Deutschland – Räumliche Konfigurationen für Temporäres Experimentieren und Arbeiten
  39. Suntje Schmidt, Oliver Ibert, Juliane Kühn, Andreas Kuebart
  40. 1. Einleitung
  41. 2. Open Creative Labs
  42. 3. Open Creative Labs in Deutschland
  43. 4. Temporalität in Open Creative Labs
  44. 5. Zusammenfassung
  45. Literatur
  46. Dritte Orte auf Zeit: Temporäre Konzepte in der Gastronomie
  47. Jan-Peter Wulf
  48. 1. Künstliche Verknappung als Pull-Faktor
  49. 2. Besonderer Ort, besonderes Angebot
  50. 3. Praxischeck und Testlabor Pop-up-Restaurant
  51. 4. Fazit und Ausblick
  52. Literatur
  53. Die Zeitlichkeit als künstlerischer Aspekt
  54. Gerhard Glüher
  55. Teil II: Temporäre Konzepte in der Stadt- und Regionalentwicklung
  56. Auf dem Wege sein … Temporäre Konzepte als Mittel schöpferischer Umweltgestaltung
  57. Thomas Schriefers
  58. 1. Temporär – dauerhaft?
  59. 2. Interventionen
  60. 3. Ein Beispiel
  61. 4. Co-Working und Co-Living
  62. 5. Huckepack wohnen
  63. 6. Wohnraumbefreiung
  64. 7. Modernes Nomadentum?
  65. Literatur
  66. Raum als Ressource für gesellschaftliche Veränderungsprozesse
  67. Rainer Rosegger
  68. 1. Einleitung
  69. 2. Schrumpfende Regionen und Leerstandsstrategien
  70. 3. Kulturelle Leerstandsnutzung in Veränderungsprozessen
  71. 4. Leerstandsnutzung durch Urban-Camping
  72. 5. Gelernte und übertragbare Ergebnisse
  73. 5. Resümee
  74. Literatur
  75. Temporäre Konzepte in der Tourismus- und Destinationsentwicklung mit Fokus auf den österreichischen Alpenraum
  76. Stefan Heinisch
  77. 1. Tourismusstrukturen, das Management und die Finanzierung von Innovation
  78. 2. Warum das Temporäre in Tourismuskonzepten Wirkung entfalten kann
  79. 3. Pop-Up Konzepte in Tourismusdestinationen. Ein Plädoyer für die Kunst als Innovationsmotor
  80. Literatur
  81. Arbeits- und Lebenskonzept Coworking – Ausgewählte Reflexionen aus diversitäts-, destinations- und marketingspezifischer Perspektive
  82. Nicolai Scherle, Markus Pillmayer, Christian Chlupsa
  83. 1. Einleitung
  84. 2. Jenseits des »homogenen Ideals«: Coworking aus diversitätsspezifischer Perspektive
  85. 3. Ein Asset im Spannungsfeld von Technology, Talent und Tolerance: Coworking aus destinationsspezifischer Perspektive
  86. 4. Im Spannungsfeld von Pragmatismus, impliziter Kommunikation und Design: Coworking aus marketingspezifischer Perspektive
  87. 5. Resümee
  88. Literatur
  89. Coworking Spaces in ländlich geprägten Räumen – Ein Instrument der Regionalentwicklung?
  90. Philipp Corradini
  91. 1. Einleitung
  92. 2. Coworking Spaces
  93. 2.1 Der Coworker: Ein multidimensionaler Begriff
  94. 2.2 Die Community: Das Herzstück der Coworking Spaces
  95. 3. Beobachtungen aus der Praxis am Beispiel Tirol und Südtirol
  96. 3.1 Ein urbanes Konzept in ländlich geprägten Räumen
  97. 3.2 Coworking Spaces im Kontext der Regionalentwicklung
  98. 4. Zusammenführung
  99. Literatur
  100. Zwischennutzungen in der Stadtentwicklung – Freiräume auf Zeit
  101. Thomas Knüvener
  102. 1. Einleitung
  103. 2. Hintergründe zum Forschungsprojekt
  104. 2.1 Besonderheiten des Grundstücksmarkts unter Schrumpfungsbedingungen
  105. 2.2 Kommunen als »Mediator« zwischen Grundstücksmarkt und Flächeneigentümern?
  106. 2.3 Definition des Begriffs »Zwischennutzung«
  107. 3. Fallbeispiele
  108. 3.1 Fallbeispiel Bielefeld
  109. 3.2 Fallbeispiel Kreativquartier Lohberg
  110. 3.3 Fallbeispiel Gelsenkirchen
  111. 4. Fazit
  112. Literatur
  113. Essay: Der Reiz des Temporären
  114. Stefanie Raab
  115. Literatur

Vorwort: Welche Zukunft – welche Zukünfte?

Jan Spurk

 

1.         Einleitung

In dem vorliegenden Band sind eine Reihe von hochinteressanten Studien zusammengestellt, die – jede auf ihre Art und anhand sehr unterschiedlicher Objekte – der Frage nach der Welt von morgen nachgehen. Wohin treibt diese Welt, unsere Welt und Gesellschaft und wir mit ihr? Wir leben in einer umfassenden Umbruchsituation, einer »Erosionskrise« (Oskar Negt), die ungleichzeitig und mit sehr unterschiedlicher Tiefe alle Bereiche des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens erfasst. Als Überwindung dieser Bruchsituation, der »Erosionskrise«, kann eine neue Gesellschaftsform entstehen. In diesem Band geht es nach Ansicht der Herausgeber nicht darum, diese Entwicklungen aufzuhalten, sondern sie zu gestalten und zu steuern.

2.         Eine neue Welt?

Zukünfte sind nie determiniert oder naturwüchsig; sie sind immer offen und zu gestalten, selbst wenn die verschiedenen möglichen Zukünfte für die Akteure nicht (immer) klar erkennbar sind. In den verschiedenen Studien zeichnen sich keine großen Mobilisierungen ab, i.S. sozialer Bewegungen, die der etablierten Ordnung ihr alternatives Gesellschaftsprojekt entgegenhalten und die versuchen, dieses Projekt zu realisieren. Es scheint, als ob die sozialen Akteure die Anpassung an eine neue Situation suchen, die sich allmählich und fragmentarisch herausbildet. Die Bedingungen verändern sich, und mit mehr oder weniger Begeisterung passen sich die Akteure daran an und versuchen das Beste daraus zu machen. Im Grunde wollen sie tun, was sie tun sollen, um Herbert Marcuse zu paraphrasieren.

Die »alte Welt« der etablierten Form des Kapitalismus stößt an ihre Grenzen, doch wir haben es beileibe nicht, wie es z. B. Emanuel Wallerstein behauptet, mit der strukturellen Endkrise des Kapitalismus zu tun. Abgesehen davon, dass es keine immanente Endkrise des Kapitalismus geben kann, entwerfen die Studien in diesem Band ein ganz anderes Bild.

Die gesellschaftlichen Strukturen sind im Umbruch. Die hier zusammengestellten Studien entwickeln viele Brüche in den etablierten Lebens- und Arbeitsformen, in den etablierten Werten, Erfahrungen und Erwartungen. Der Umbruch betrifft nicht nur die Lebensstile und -formen, sondern auch die Verhaltensmuster. Es werden signifikante Phänomene und »exemplarische Fälle« (Kracauer) dieser Bruchsituation analysiert, die zu einer »sharing economy« und einer »green economy« führen können. Die analysierten Phänomene sind Versuchsfelder des zukünftigen Zusammenlebens und -arbeitens. Im Zentrum stehen temporäre Konzepte, Teilen und neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens: Carsharing, Desksharing, diverse Tauschbörsen, Teilen von Wohnungen und andern Gütern usw.

Die seit langem in der Soziologie thematisierte »Entgrenzung der Arbeit« ist nur ein Aspekt der umfassenden Entgrenzung innerhalb der etablierten Ordnung: die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Arbeit und Tätigkeit, zwischen Betrieb und Privatsphäre, zwischen Arbeitsort und Wohnort, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit etc. Die neue Konstellation resultiert aus der radikalen und umfassenden Mobilisierung der Subjektivität für eine Zukunft, die nur unklar und nur fragmentarisch entworfen ist. Man ist in Bewegung, aber niemand weiß wohin. Selbst wenn die radikale und umfassende Individualisierung der letzten Jahrzehnte nicht, wie in der Soziologie lange behauptet wurde, von der Fremd- zur Selbstbestimmung führte (sie führte von einer Fremdbestimmung zu einer anderen Fremdbestimmung), sie hat schon in der Vergangenheit traditionelle gesellschaftliche Grundmuster untergraben (z. B. die traditionelle Kleinfamilie) und neue Arbeits- und Lebensformen hervorgebracht.

Die Realisierung von temporären Konzepten (teilen und in Anspruch nehmen oder existieren, solange wie nötig) hat einen unbestreitbaren ökologischen Effekt: Sie ist ressourcenschonend. Sie hat auch einen anderen Aspekt: Nichts ist mehr sicher und dauerhaft. Das Ephemere und die Unsicherheit sind konstitutiv für die temporären Konzepte, aber auch für die heutige gesellschaftliche Situation im Allgemeinen. Deshalb müssen sich die Akteure immer wieder aufs Neue mobilisieren, um sie zu rekonstituieren. Die sich abzeichnende »Sharing Economy« entspricht den instrumentellen Interessen vieler Akteure: dem Interesse der Optimierung von Kosten, Zeit und Raum und der Schaffung von instrumentellen sozialen Zusammenhängen. Die Effizienz, ein Grundprinzip des Kapitalismus, ist dabei das treibende Moment. Das hier entwickelte »Wir« der temporären Kollektive basiert auf dem instrumentellen »Coworking«, »Coliving« etc. Es ist konstitutiv instrumentell, aber die betroffenen Individuen finden hier auch einen Ersatz reeller Solidarität und reeller Gemeinschaften. Die »Sharing economy« könnte also ein Teil oder vielleicht sogar der Prototyp der neuen Form des Kapitalismus sein.

3.         Mögliche Zukünfte

Die Studien in diesem Band heben sich radikal von vielen anderen ab, in denen eher eine Untergangstimmung herrscht. Die Apokalypse scheint wahrscheinlicher als eine neue Form des Kapitalismus. In diesem Band finden wir einen ganz anderen Diskurs. Selbst wenn es für die Autoren eine ausgemachte Sache ist, dass eine neue Form des Kapitalismus entsteht, die Zukunft oder die möglichen Zukünfte sind auch für sie – wie für alle – unklar, unsicher und relativ unverständlich. Der systematische Gebrauch von Anglizismen gibt dies an; er ist viel mehr als akademisches »Jargonieren«. Der Sinn der beschriebenen Phänomene ist für alle unklar und deshalb ist es unmöglich, sie in der Sprache der Betroffenen auszudrücken, denn man müsste in diesem Fall ihren Sinn benennen. Eventuell haben wir es sogar mit einer neuen (Herrschafts-)Sprache im Sinne George Orwells zu tun.

Ich bin vorsichtiger als die meisten Autoren dieses Bandes. Meines Erachtens gibt es nicht eine Zukunft, die zwar nicht ganz von alleine und naturwüchsig die Gegenwart ablöst, aber dennoch eine transhistorische Entwicklung darstellt, die nur zu steuern und zu gestalten sei. Sie würde einem Naturgesetz ähneln, wie auch der Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert oft gedacht wurde. Im Gegensatz zu dieser (heute fast politisch unkorrekten) Vorstellung des Fortschritts, die ich beileibe nicht verteidige, fehlt jeglicher normative Bezug: Ist die Zukunft wünschenswert, weil sie ein besseres Leben verspricht? Die beschriebenen Entwicklungen scheinen normativ und moralisch neutral: vollendete Tatsachen, die man eben akzeptieren muss.

Dennoch haben wir es mit Modernisierungsversuchen des Kapitalismus zu tun. Modernisierung meint hier (in der Tradition der Soziologie der 1950er und 1960er Jahre) einfach, dass der Kapitalismus eine neue Form findet, die aufgrund der veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen angebracht ist. Diese Modernisierung setzt sich allerdings nicht von alleine durch und sie nimmt auch viele in der Vergangenheit zurückgewiesene oder bekämpfte Elemente auf.

Ein Blick auf die Entstehung der gegenwärtigen Situation, die eine neue Zukunft sucht, gibt uns ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben die Entstehung des »neuen Geistes des Kapitalismus« in den 1980er und 1990er Jahren mittels ihrer Analysen von Managementstrategien erarbeitet. Dieser »Geist« ist also v. a. durch Herrschaftshandeln entstanden. Sie zeigen u. a., dass deviante oder alternative Lebens-, Denk- und Arbeitsformen in die Modernisierung investiert werden können. Deren Kreativität, d. h. ihre Kapazität, Neues zu schaffen, muss allerdings eine neue Finalität bekommen. Die auf dem Eigensinn beruhende Finalität der Autonomie alternativer Projekte und sozialer Bewegungen muss durch Finalität der Modernisierung ersetzt werden, und zumindest ein Teil der Akteure muss für dieses Projekt gewonnen werden. So wird das auf dem Eigensinn beruhende Autonomiebestreben zur Produktivkraft.

In diesem Sinn kann man leicht feststellen, dass viele »Sharing«-Praktiken seit langem betrieben werden, aber nicht um den Kapitalismus zu optimieren. In den Wohngemeinschaften der 1970/80er Jahre ging es darum, neue Lebensformen zu entwickeln, die dem Eigensinn der Zusammenwohnenden entsprechen sollten. Das »Coliving« ist die instrumentelle Umkehrung dieses Projekts. »Coliving«, »Coworking« etc. sind funktionelle Mobilisierungen der Subjektivität, die der entstehenden neuen Form des Kapitalismus entsprechen (könnten). Es gibt auch andere möglich Zukünfte, die sichtbar werden, wenn man den Eigensinn der Akteure zum Ausganspunkt der Analysen nimmt. Aber dies ist nicht das Thema dieses Bandes.

4.         Entwicklung oder Kontinuität, Bruch und Entstehung?

Gesellschaftliche Entwicklungen sind nie linear, eine Abfolge von Konstellationen oder Arrangements, die einer wie immer begründeten Gesetzlichkeit folgen. Es sind die sozialen Akteure, die ihre Geschichte machen, selbst wenn sie nicht (genau) wissen, aus welchen Gründen sie es tun (um Marx zu paraphrasieren), aber sie haben ihre Handlungsgründe, die tief in ihrer Weltanschauung verankert sind: wie ihrer Anschauung nach die Welt ist, war und sein sollte.

4.1        Gegenwart

Der Ausgangspunkt der Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen ist deshalb immer die Gegenwart und Erfahrung von Brüchen und »Inauthentizität« (Adorno), d. h. die Erfahrung, dass die Gesellschaft nicht so ist, wie sie vorgibt zu sein. Von der gegenwärtigen Periode, die man üblicherweise als »neoliberale Globalisierung« bezeichnet, möchte ich nur vier Aspekte benennen:

Zunächst ist die (unbestrittene) Generalisierung und radikale Vertiefung der Globalisierung des Kapitalismus festzuhalten. Dieser Aspekt ist zentral für das Anliegen dieses Buches. Margaret Thatcher hat zwei andere Aspekte viel treffender als die meisten Soziologen benannt: Der Kapitalismus dieser Periode ist ein wahrer »Volkskapitalismus« gewesen i. d. S., dass er fast ohne Widerspruch und oft mit Begeisterung von breiten Bevölkerungsschichten unterstützt wurde. Dies war v. a. der Fall, weil es keine konkrete Alternative zum Kapitalismus mehr gab (»There is no alternative«, TINA), denn die Versuche, Alternativen zum Kapitalismus aufzubauen und zu realisieren, waren gescheitert. Schließlich ist die Individualisierung zu benennen. Sie war eines der großen Themen (nicht nur) der Soziologie bis zu Beginn der 2000er Jahre. Das Phänomen ist unbestreitbar, aber dieser Individualismus hat nicht von der Fremdherrschaft traditioneller Gesellschaftsstrukturen zur Selbstbestimmung geführt, sondern von dieser Fremdbestimmung in die (oft gewollte) individuelle Eingliederung in die funktionellen Einheiten des Kapitalismus, die wir »seriellen Individualismus« nennen, d. h. in eine andere Form der Fremdbestimmung.

Schließlich möchte ich noch einen anderen Aspekt der heutigen Gesellschaft benennen, der in den verschiedenen Analysen dieses Bandes oft angesprochen wird. Es geht um die Erscheinung dieser Gesellschaft als eine Einheit von ephemeren Phänomenen, die einen sehr rasanten Lebensrhythmus gewonnen hat. Diese Beschleunigung, der »Speeding-up«, wie die Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse ursprünglich in der englischsprachigen Soziologie genannt wurde, ist hinlänglich bekannt. Man hat den Eindruck, es gebe nur noch Dynamik: Die Kurzlebigkeit ist sozial sehr hoch bewertet, wie es z. B. die »temporären Konzepte« oder etablierte Managementstrategien zeigen, aber auch das Konzept des »lebenslangen Lernens« oder die Bewegungen der Finanzmärkte. Das ist aber nur eine Seite dieser Gesellschaft. Auf der anderen Seite stellt man fest, dass dies nur möglich ist, weil die Gesellschaft auf einem geradezu inerten Sockel ruht: einer sozialen Welt, die ihre Eigengesetzlichkeit hat und deren Regeln von den Subjekten nicht beeinflusst werden können. Adorno hat dies u. a. in »Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien« entwickelt. Ich möchte nur ein Argument Adornos in Erinnerung rufen: Hinter dem schnellen Wandel der gesellschaftlichen Erscheinungsformen versteckt sich die Kontinuität und die gesellschaftliche Reproduktion, v. a. weil die Menschen glauben, immerzu eine neue Welt zu schaffen – natürlich eine bessere Welt –, die aber im Grunde der alten gleicht wie zwei Joghurtmarken.

In der heutigen (Um-)Bruchsituation, wie sie in den verschiedenen Beiträgen zu diesem Band beschrieben wird, zeigt sich, dass die Serialität und das »TINA« als Kontinuitäten erhalten bleiben. Sie prägen die Fragen, die an die möglichen Zukünfte gestellt werden und sie präformieren auch die möglichen Antworten.

4.2        Kontinuität, Bruch und Entstehung

Die soziale Konstitution, auf der Basis des Auseinandertretens der Erfahrungen der Subjekte und der Erwartungen einer besseren Gesellschaft, ist eine lebendige Dialektik von Kontinuitäten und Brüchen, die die zukünftige Gesellschaftsform hervorbringt. Sie produziert die Zukunft. Wer die Erfahrungen der Subjekte mit den Erwartungen einer besseren Gesellschaft zusammenbringt, beherrscht die Zukunft.

Man muss zunächst eine sehr einfache, für unsere Argumentation aber wichtige Tatsache festhalten: Der Prozess der gesellschaftlichen Konstitution ist immer durch seine Zeitlichkeit gekennzeichnet; er hat eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft, die immer offen und undeterminiert ist.

Die Gegenwart ist ein »vergangenes und überwundenes Sein« (Sartre), das sich wiederum auf die Zukunft hin überwindet. Die Zukunft ist ungewiss, es gibt immer mehrere mögliche Zukünfte, die den gesellschaftlichen Subjekten allerdings nicht als klare Alternative zur Wahl stehen. Sie müssen im gewissen Sinne eine Wette eingehen und auf eine mögliche Zukunft setzen, um diese Zukunft bewusst zu realisieren. »Der Mensch… kann nie die Welt seiner Gesten verstehen, ohne die reine Gegenwart zu überwinden und sie durch die Zukunft zu erklären« (Sartre, 1960).

Unter dem Begriff Entstehung verstehen wir eine mögliche Zukunft, die die Akteure in ihrem Handeln realisieren, aber dies ist nur eine mögliche Zukunft unter vielen. Die anderen möglichen Zukünfte sind »gescheitert«. Um die entstandene Gesellschaftsform zu analysieren und zu verstehen, muss man auch die anderen Möglichkeiten rekonstruieren, die sich zu einem »Feld des Möglichen« zusammenfügen. Wir haben es also nicht mit Determinationen, mit sich blind durchsetzenden Logiken oder irgendeiner Form von Schicksal zu tun.

Die Entstehung ist aber auch keine Kreation ex nihilo. Die Kontingenz oder die Faktizität stehen am Anfang des Handelns; sie formen das Individuum und sein Handeln, aber auch die Vorstellungen und die Theorien der Gesellschaft, ohne dass es irgendwelche Determinationen gebe. Aus diesem Grund muss man alle gesellschaftlichen Phänomene konkret und in Situationen denken.

Die theoretische Rekonstruktion einer gegebenen Situation, d. h. einer Gegenwart, zeigt zunächst den Bruch als Überwindung der Vergangenheit, aber auch die Kontinuitäten, die diese Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Kontinuitäten sind Elemente oder Fragmente der überwundenen Situation, die die Subjekte in die Konstitution ihrer Zukunft »investieren«.

Die Brüche sind in der Regel sehr langfristige und diskontinuierliche Bewegungen. Außerdem sind sie durch variable Rhythmen charakterisiert, wie z. B. die Geschichte der Sklaverei, die Christianisierung in Europa oder die Industrialisierung zeigen. In diesen Bruchphasen entsteht »das Auseinanderreißen von zwei Welten, von denen die eine nicht sterben kann und die andere nicht entstehen kann« (Le Breton, 2000). Unsere Gesellschaft ist seit langem in dieser Situation. In diesen Bruchsituationen entsteht auch ein großes Freiheitspotential, das viele Akteure verunsichert und zutiefst verängstigt, denn sie erfahren, dass die Zukunft und die Geschichte nicht vorbestimmt sind. Aus diesem Grund orientieren sie sich oft an deterministischen Argumenten, wie z. B. der ökonomischen oder technologischen Notwendigkeit, oder an autoritären Strategien, die ihnen eine vermeintliche Sicherheit geben.

Es ist fast Allgemeinwissen geworden, festzustellen, dass die Geschichte sich macht, ohne sich zu kennen. Dies ist sicherlich richtig, doch wichtiger für unser Thema ist, dass niemand außerhalb der Geschichte steht. Wir sind Teil dieser Geschichte. Die Sedimente der Geschichte, die Traditionen und die Objektivationen machen das Leben und, in fine, die Geschichte inert: Sie ist »vorgeformt« (Merleau-Ponty) oder »vorfabriziert« (Sartre). Die Menschen handeln zwar immer frei aber auch immer in einer gegebenen Situation, in einer Kontingenz, die das Ergebnis vergangener Aktionen i. d. R. anderer Akteure ist. Jede gesellschaftliche Situation ist zunächst von anderen geschaffen worden, aber jeder gestaltet seine Situation mit, eben mit den Anderen. Sie »machen« ihre Situation und sich selbst und sind auf diese Art am »Machen« der Geschichte beteiligt.

Der Bruch ist keine Art Apokalypse, er ist nie total und er kann es auch nicht sein, weil die mögliche Zukunft immer nur in Bezug auf eine gegebene Situation und auf der Basis einer schon existierenden Situation denkbar ist. Deshalb gibt es Kontinuitäten in der Geschichte. Die Entstehung ist die Realisation einer neuen gesellschaftlichen Situation, die zunächst als mögliche Zukunft anvisiert und dann in den Aktionen der Subjekte geschaffen wurde. Allerdings entspricht die entstandene Situation in aller Regel nicht vollkommen, oft sogar sehr wenig, der anvisierten möglichen Zukunft. Man müsste an dieser Stelle das Problem der Gegenfinalitäten betrachten, aber ich will einen anderen Aspekt anreißen: die Erfahrung, die Erwartung, den Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont, wie Reinhart Koselleck sagt.

Die Begriffe Kosellecks sind hinlänglich bekannt. Ich möchte nur kurz in Erinnerung rufen, dass Erfahrung und Erwartung sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Dimension haben und dass sie sich seit der Neuzeit auf die Welt und schließlich auf die Gesellschaft richten. In diesem Sinn ist Erfahrung »…gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können« (Koselleck, 1979). Die Erwartung dagegen ist die »vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das Noch-Nicht, auf das nicht-Erfahrene, auf das nur Erschließbare« (Koselleck, 1979). Die Menschen teilen zwar denselben Erfahrungsraum, aber sie teilen nicht unbedingt dieselbe Interpretation dieser Erfahrungen. Die Erwartung nimmt die Form eines »Erwartungshorizonts« (Koselleck) an, hinter dem sich ein neuer Erfahrungsraum öffnet, den allerdings niemand kennt. Anders gesagt: er öffnet der Existenz die möglichen Zukünfte. Im Laufe der Neuzeit traten Erfahrung und Erwartung auseinander, sie haben verschiedene Rythmen und Temporalitäten. Dennoch: man kann zumindest versuchen, eine bessere Welt zu schaffen, seine Erwartungen zu realisieren. Dazu muss man sich aber der Erfahrungen bewusst sein, um Erwartungen zu formulieren, die noch nicht existieren. Auf diese Art konstituiert sich die Kontinuität in der sozialen Dynamik als in die Konstitution der neuen Situation reinvestierte Erfahrung. Wenn die Erfahrungen allerdings nur wenig zur Formulierung der Erwartungen beitragen können, wird es zu tiefgreifenden Brüchen kommen. »Je geringer der Erfahrungsgehalt, desto grösser die Erwartung, die sich daran anschließt« (Koselleck, 1979).

Allerdings sollte man nie die Bedeutung der Objektivationen und der gesellschaftlichen Inertie vergessen, die wir vorher mit Bezug auf Adorno und Merleau-Ponty angesprochen haben. Diese Objektivationen sind der Alltagserfahrung nicht zugänglich; sie sind nur theoretisch zu erklären.

Mittels der Begriffe »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« kann man die Begriffe »Kontinuitäten«, »Brüche« und »Entstehungen« präzisieren, weil sie uns, der großen Bewegungen der Gesellschaft als auch dem Platz der Individuen in diesen Bewegungen, einen allgemeinen Rahmen bereitstellen.

Abschließend will ich deshalb noch auf einige individuelle Aspekte eingehen. Die Individuen sind vereinigt durch die Objektivationen (Serialität) z. B. im Produktionsprozess, in den Stadtteilen, in der Schullaufbahn usw. Aber auch, aber nicht zwangsläufig, in ihren Projekten, um eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Sie sind aber auch getrennt, vereinzelt und einsam. Als Einsame sind sie situiert und mittels ihrer Situation existieren die Beziehungen mit den Anderen. Sie existieren mit den Anderen, für die Anderen und durch die Anderen. Indem das Individuum seine Situation »macht«, »macht« es sich selbst. Der Begriff der Kontingenz gewinnt dadurch eine zentrale Position, sowohl für das Handeln als auch für das handelnde Individuum. Das Dasein ist ohne Legitimation, denn a priori gibt es keinen Grund, dass etwas existiert statt des Nichts, weder ich noch der Rest der Welt. Die Existenz ist nicht gerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen. Dennoch gibt es immer eine mögliche Überwindung: das Projekt, d.h; die Möglichkeit, nicht mehr das zu sein, was man ist. Deshalb ist die Zukunft nie sicher, es gibt immer mehrere Zukünfte. Das schafft die tiefen Ängste, die unsere heutige Gesellschaft charakterisieren.

Literatur

Adorno, Th. W. (1995) Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien. In Adorno, Th. W., Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main.

Koselleck, R. (1979). Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag, S. 354-355.

Le Breton, D. (2000). Théâtre du monde. L’Internationale de l’Imaginaire, nouvelle série, 12, 2000, S. 139-152.

Sartre, J.-P. (1960). Critique de la Raison Dialectique, Paris: Gallimard.

 

 

 

 

 

Teil I:   Arbeits- und Lebenswelten im Wandel – die Attraktivität des Temporären

Die Attraktivität des Temporären und ihre Bedeutung für die Regionalentwicklung

Harald Pechlaner & Elisa Innerhofer

1.         Einleitung

Wohin bewegen sich die gesellschaftlichen Verhaltensweisen, Prinzipien und Werte, die das Leben, Arbeiten und Wirtschaften der Gesellschaften in den Industrieländern seit der Mitte des letzten Jahrhunderts geprägt haben?

Gesellschaftlicher Wandel und Veränderungen vollziehen sich in den verschiedensten Teilbereichen der Gesellschaft, häufig im Verborgenen und mit unterschiedlichen Dynamiken. Diese nachhaltigen Veränderungen betreffen Teilbereiche wie das Arbeitsleben, das Familienleben, die Kunst, das Bildungssystem, Strukturen des Handels, der Politik sowie der Technologie. Von einer Phase des intensiven gesellschaftlichen Wandels kann gewiss für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen werden. Dieser Wandel zeigt sich auf ökonomischer, ökologischer und sozialer Ebene z. B. durch die in den 1960er Jahren einsetzende Bildungsexpansion, durch die Studentenbewegungen und die Entstehung der »Grünen«, durch die demographische Entwicklung und die Alterung der Gesellschaft, durch die über Digitalisierung und Internet vorangetriebene kommunikative Vernetzung, durch die zunehmende Sensibilität für die Fragen des sogenannten Klimawandels und die Festigung der Europäischen Union (Schimank, 2012). Diese Veränderungen vollziehen sich gleichzeitig, stehen vielfach in komplexen Wechselwirkungen zueinander und haben eine gewisse Dynamik und Geschwindigkeit. Die gefühlt zunehmende Beschleunigung des Wandels aller Lebensbereiche und die wachsende Veränderungsgeschwindigkeit sind zu einem wesentlichen Charakteristikum der Gegenwartsgesellschaft geworden (Preyer, 2008). Diese Entwicklungen stellen breite Gesellschaftsschichten vor die Herausforderung, hierfür geeignete Konzepte und Modelle für die Art und Weise, wie die Gesellschaft in Zukunft lebt und wirtschaftet, zu entwickeln. Es geht nicht darum, diese Entwicklungen aufzuhalten, sondern zu gestalten und zu steuern (u. a. Benedikter & Siepmann, 2015). Wie also müssen Systeme und Strukturen der Politik, der Wirtschaft, sozialer Bereiche aber auch spezifischer Branchen, wie beispielsweise des Tourismus, gestaltet werden, um mit diesen Veränderungen umzugehen?

Der vorliegende Band greift temporäre Konzepte und Modelle als Gestaltungsinstrumente für veränderte Lebenswirklichkeiten und Gegenwartsbedingungen auf. Die gesellschaftlichen Veränderungen und Verschiebungen verlangen nach neuen Denkansätzen, deren Neuigkeitsgrad vor allem in ökologischen und sozialen Aspekten zu finden ist. Die Nachfrage nach ökologisch und sozial verträglichen, also fairen, gesunden und biologischen Produkten steigt. Sharing Economy oder Green Economy sind Themen der Gegenwart mit Potential für relevante Entwicklungen in nächster Zukunft und spiegeln den gesellschaftlichen Wertewandel in Teilen wieder. Temporäre Konzepte verstehen sich in diesem Kontext als ein Instrument zur Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation.

2.         Die Gesellschaft im Umbruch

Eine bedeutende Veränderung, welche die postmoderne Gegenwartsgesellschaft kennzeichnet und die Transformation aller Lebensbereiche beeinflusst, zeigt sich in der Arbeitswelt durch die Entgrenzung und Subjektivierung der Erwerbsarbeit. Neben klassischen Erwerbsbiographien mit geregelten Arbeitszeiten, fixen Arbeitsorten und »einem« lebenslangen Beruf treten neue Arbeitsrealitäten zeitlicher, räumlicher und rechtlicher Entgrenzung (Schöneberger, 2007; Moldaschl & Voß, 2003). Die zeitliche Entgrenzung bezieht sich dabei auf die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, während die räumliche Entgrenzung im Wesentlichen Arbeitsmodelle außerhalb des Büros und Betriebes, wie z. B. Heimarbeit, meint. Die rechtliche Entgrenzung verweist auf die Verbreitung befristeter Verträge. Durch die Entgrenzung verlieren beispielsweise unbefristete Beschäftigungsverhältnisse und Tarifverträge an Relevanz und immer mehr Erwerbstätige arbeiten in befristeten oder temporären Arbeitsverhältnissen (Voß, 1998). Bruch, Block & Färber (2016) konkretisieren sechs neue Arbeitsformen als die Elemente der neuen Arbeitswelt. Sie beziehen sich dabei auf die flexiblen Arbeitszeiten, das Homeoffice, das Desksharing, die individualisierte Arbeit, das virtuelle sowie das fluide Team. Über flexible Arbeitszeiten kann der Arbeitnehmer sein Arbeitspensum individuell anpassen, durch das Homeoffice können Arbeitnehmer von zuhause aus arbeiten und durch das Desksharing kann der Unternehmer Arbeitsplatzkosten reduzieren und den Ideenaustausch sowie die Teamarbeit fördern. Die individualisierte Arbeit gibt dem Arbeitnehmer mehr Handlungsspielraum und ermöglicht eine Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses zugeschnitten auf seine Bedürfnisse. Das virtuelle Team ermöglicht die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt dezentral und flexibel, während fluide Teams sich durch die wechselnde personelle Zusammensetzung auszeichnen und dadurch in einer bestimmten Zusammensetzung oft nur kurze Zeit bestehen. Die mit der Entgrenzung der Erwerbsarbeit einhergehende Subjektivierung derselben macht das Einbringen von Subjektpotentialen in den Arbeitsprozess in höherem Maße erforderlich. Die Subjektivierung von Arbeit wird insbesondere in den wissensbasierten Tätigkeitsfeldern und in den personenbezogenen Dienstleistungen erforscht, da in diesen Bereichen ein hohes Maß an Emotionsarbeit erfolgt und dies außerfachliche Fähigkeiten, wie Belastbarkeit und Gefühlsregulierung, welche auf die gesamte Person zugreifen, erfordert (Langfeldt, 2013). Individualität wird allerdings nicht nur in der Erwerbsarbeit hergestellt. Von Individualisierungsprozessen gekennzeichnet sind über die Erwerbsarbeit hinaus weitere Lebensbereiche. Individualisierung meint den Entwicklungsprozess des Individuums von der Fremd- zur Selbstbestimmung (Ewinger et al., 2016), was auch klassische gesellschaftliche Grundmuster, wie die Familie und das Zusammenleben als Kernfamilie, angreift. Der Drang zur selbstbestimmten Lebensführung sowie zu einer individuellen Identitätsfindung hat eine Pluralisierung von Lebensstilen und Identitäten zur Folge (Ewinger et al., 2016; Beck & Beck-Gernsheim, 1994).

Die durch die Individualisierung und Entgrenzung der Erwerbsarbeit (insbesondere die räumliche) entstehenden neuen Realitäten haben Einfluss auf weitere Lebensbereiche, wie z. B. auf das Wohnen. Die Haushaltsgrößen schrumpfen und es verbreiten sich, ob freiwillig oder unfreiwillig, Formen des Alleinwohnens. Die beruflich bedingte Mobilität und damit die räumliche Flexibilität, das Single-Dasein und die steigende Anzahl von Menschen mit mehreren Wohnsitzen verändern die Anforderung an Größe und Ausstattung der Wohnung. Die Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Alleinwohner verändern auch die Infrastrukturen in den Städten und Dörfern (Oberhuber, 2011) und erfordern die Weiterentwicklung der bisher bekannten klassischen Wohn- und Arbeitssituationen.

Aus der Perspektive der Stadt- und Regionalentwicklung gilt in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit einem weiteren Phänomen dieses Strukturwandels, der zunehmenden Urbanisierung. Der Strukturwandel hat Auswirkungen darauf, wie und wo Menschen in Zukunft leben, ihre Arbeit verrichten und ihre sozialen Kontakte pflegen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten und immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt.1 Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Städte der Gegenwart keine reinen Industriezentren mehr sind, sondern sich zu Lebens- und Kultur-Hotspots entwickeln, die vielfältig, vernetzt, lebenswert und auch »grüner« sind als in der Vergangenheit (Seitz & Papasabbas, 2015). Für die ländlichen und peripheren Räume führt diese Abwanderung und Landflucht zu wachsenden Entwicklungsproblemen (Innerhofer & Pechlaner, 2017). Dörfliche Siedlungsstrukturen auf dem Land stehen in enger Verbindung zu den Erwerbsarbeitsplätzen im ländlichen Raum, welche jedoch in dieser Form im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend weniger wurden. Die neuen Arbeitsplätze entstehen und entstanden in den Metropolregionen (Seitz & Papasabbas, 2015). Die oft gut ausgebildeten jungen Bevölkerungsgruppen verlassen ihre peripheren Heimatorte und ziehen in die urbanen Zentren. Dies führt zu einer Überalterung der Bevölkerung auf dem Land, zum Rückbau sozialer Strukturen und zu Problemen der Daseinsvorsorge, zum Verlust sozialer Vitalität sowie zu Leerstand (Innerhofer & Pechlaner, 2017). Notwendige Infrastruktur- und soziale Dienstleistungsangebote lassen sich bei immer weniger Menschen kaum mehr finanzieren.

Es stellt sich daher die Frage, wie neue Arbeits-, Lebens- und Wohnkonzepte aussehen müssen, welche einerseits die durch die Entgrenzung der Erwerbsarbeit sowie durch die Individualisierung der Gesellschaft veränderten Rahmenbedingungen berücksichtigen und gleichzeitig darauf ausgerichtet sind, die Menschen in der Peripherie und in den Dörfern zu halten. Während das Leben auf dem Land für junge und gut ausgebildete Gesellschaftsschichten häufig einerseits als beruflich einschränkend und durch fehlende Entwicklungsmöglichkeiten gekennzeichnet und daher als unattraktiv gilt, zeigt eine parallel laufende Entwicklung genau das Gegenteil und damit eine andere Sichtweise auf das Landleben. Die durch die Digitalisierung und den technologischen Fortschritt induzierte Entwicklung hin zur Netzwerkökonomie und Informationsgesellschaft lässt in den Menschen eine Sehnsucht wachsen, die das Landleben bedienen kann. Das Leben auf dem Land steht zunehmend auch für Nachhaltigkeit, Regionalität, regionalen Konsum, hohe Lebensqualität und Gesundheit (Seitz & Papasabbas, 2015). Zeit und Aufmerksamkeit werden zu Maßstäben der Lebensqualität (Volgger & Pechlaner, 2017). Die Wahrnehmung des Landlebens hängt demnach vom Wertesystem der Menschen bzw. des Betrachters und seiner individuellen Bedürfnisse und Erfahrungen ab. Diese gesellschaftliche Fokussierung auf veränderte Werte, kombiniert mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, Konnektivität sowie den neuen »smarten« Formen der Mobilität bergen für ländliche, periphere Räume die Chance, sich neu aufzustellen bzw. sich neu zu erfinden. Die temporären Konzepte der Lebens- und Arbeitsorganisation als Gestaltungsinstrumente lassen Potentiale vermuten.

3.         Temporäre Konzepte

Ob in der Mobilität (Carsharing), in der Arbeitswelt (Desksharing), für Kleidung (Kleidertauschringe), für Lebensmittel oder Spielwaren – die Eigentumsfixierung (»das (für immer) Besitzen müssen«) schwindet, das Leihen, Tauschen, Teilen und gebraucht Kaufen sind für breite Bevölkerungsgruppen Teil des alltäglichen Konsumverhaltens geworden. Neben verschiedenen innovativen Mobilitätslösungen, wie car2go von Daimler2 oder DriveNow von BMW3, gibt es spezielle Plattformen für das Teilen von Gütern und Wohnungen.4 Auch das Teilen von privaten Räumlichkeiten mit Gästen und Reisenden über Airbnb oder ähnlichen Plattformen hat in den letzten Jahren große Anerkennung gefunden.5 Laut dem Time Magazin sind Modelle des geteilten und gemeinsamen Konsums »eine der zehn großen Ideen, die die Welt verändern« (Walsh, 2011).

Vor dem Hintergrund der neuen Arbeitswelten und ihrer Arbeitsformen zeigen sich auch dort neue Konzepte. »Coworking Spaces« als Orte oder Arbeitsräume, in denen unabhängige Akteure (z. B. Freelancer) gemeinschaftlich arbeiten und sich die gleiche Infrastruktur teilen, gewinnen an Attraktivität. Eines der ersten Unternehmen, das Büroräume mit flexiblen Tischen auf Monatsbasis auch an Freelancer und Kleinunternehmer anbot, war das Unternehmen Boyle Software in New York, damals allerdings noch nicht unter dem Namen »Coworking« und lange bevor das Thema Popularität erlangte (Foertsch & Cagnol, 2013). Einer der ersten Coworking Spaces, der sich auch so nannte, entstand 2005 in San Francisco, seitdem hat sich diese Arbeitsorganisation zu einem globalen Trend entwickelt (Bizzari, 2014). Ein wichtiger Aspekt des Coworking ist die räumliche Nähe unabhängiger Akteure, die voneinander lernen und von den Erfahrungen anderer für die Umsetzung kreativer Ideen profitieren wollen (Merkel & Oppen, 2013).

Neben dem Aspekt des Teilens liegt diesen Konzepten und Modellen ein weiteres Merkmal zugrunde, das sich auf die zeitliche Dimension der Inanspruchnahme, der Nutzung und des Konsums bezieht. Es handelt sich dabei um Konzepte, die für einen bestimmten Zeitraum eine bestimmte Zweckwidmung haben und von einer bestimmten Person genutzt werden. Coworking Spaces sind eine temporäre Arbeitsorganisationsform, die eine Alternative zu dem regulären Büromarkt bieten (Bizzari, 2014). Weitere Beispiele, in denen zeitlich begrenzt bestimmte Infrastrukturen genutzt und Geschäftsmodelle umgesetzt werden, finden sich in spezifischen Branchen wie der Gastronomie. Als »Pop-up-Restaurants« öffnen Lokale nur für einen begrenzten Zeitraum. Pop-up-Konzepte sind seit der Jahrtausendwende zu einer Modeerscheinung in Großstädten geworden. Sie setzen auf Nachhaltigkeit und Regionalität, wie beispielsweise das Pop-up-Restaurant »Lücke« in Weimar, das aus Recyclingmaterialien gebaut wurde und wo regionale Produkte serviert werden (Euen, 2014) oder das »Pret A Diner«, das Pop-up-Restaurant eines Premium-Caterers mit Sterneköchen, das seit 2011 in verschiedenen Städten wie Berlin, London und München, unterwegs ist.6 Auch in der Hotellerie sind temporäre Konzepte zu finden, so z. B. das Pop-up-Hotel in Aachen oder das Hotel auf Zeit in Mannheim. Neben der zeitlichen Begrenzung kennzeichnen diese Konzepte die besonderen Orte, an denen sie errichtet werden. Das Pop-up-Hotel »HOTEL TOTAL« in Aachen befindet sich in einer entweihten Kirche und hat für drei Monate geöffnet. Das Hotel versteht sich darüber hinaus als kreatives und multikulturelles Zentrum mit Räumen für künstlerische und kulturelle Veranstaltungen. In der Phase des Auf- und Umbaus wurden Flüchtlinge beschäftigt.7 Das Hotel »Shabbyshabby« entstand in Mannheim als ein von einem Architektenteam kuratiertes Projekt. Das Hotel hatte nur während des zweieinhalbwöchigen Festivals »Theater der Welt« geöffnet und bestand aus 22 Zimmern, die über die ganze Stadt verteilt waren. Auch hier war die ideenreiche Nutzung von Fundsachen und Abfallstoffen Teil des Projektes (Schoof, 2014).

Gerade in urbanen Gebieten lässt sich der Trend zur Umsetzung temporärer Konzepte dieser Art beobachten. Pop-up-Konzepte ermöglichen die Zwischennutzung bestehender Immobilien: Gründerunternehmer eröffnen Pop-up-Geschäfte in leerstehenden Immobilien, die sie für einen begrenzten Zeitraum zu günstigen Konditionen mieten können und somit »zwischennutzen«. Die Stadt Berlin hat sich zu einem Anziehungspunkt für Start-up-Unternehmen aus der Digital- und Kreativwirtschaft und für junge, kreative und gut ausgebildete Arbeitskräfte entwickelt (Schimroszik, 2015; Hass, 2016). Aber auch in kleineren Städten findet die Idee des Temporären ihren Zuspruch, so z. B. in Meran. Als Teil einer Kampagne für Südtirol hat die Zeitschrift Monocle ein Pop-up-Store in Meran eröffnet, in welchem exklusive Produkte angeboten werden. Über den Aspekt des Temporären wird gleichzeitig die Exklusivität geschaffen.8 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in wie weit temporäre Konzepte auch für die Entwicklung ländlicher und peripherer Räume attraktiv sein können.

4.         Die Attraktivität des Temporären – Motive und Beweggründe der Nutzer

Was macht temporäre Konzepte attraktiv und warum greifen immer mehr Menschen auf temporäre Lösungen zurück? Die Attraktivität des Temporären lässt sich zunächst im persönlichen Nutzen, den der jeweilige Konsument aus der Inanspruchnahme zieht, vermuten. Die Menschen teilen aus pragmatischen Gründen. Die ressourcenschonenden Modelle ermöglichen eine Ersparnis an Geld, Raum und Zeit (Jungblut, 2013). Temporäre Gemeinschaften schaffen temporäre Zugehörigkeit. Die Mitglieder verfolgen eine gemeinsame Zielsetzung, z. B. die Erreichung von mehr Effizienz (Brühl, 2015).

Weitere Motive und Beweggründe stehen im Kontext des globalen Wertewandels. Die Idee des gemeinsamen und kollektiven Konsums bewegt sich mehr und mehr aus der Nische heraus. Während in den 1970er Jahren vornehmlich die Ökologiebewegung diese Praktiken proklamierte, steht zunehmend eine wachsende Bewegung dahinter (u. a. Botsman & Rogers, 2011). Der die Gesellschaftsordnung treibende Faktor »Individualität« wird durch ein aufkommendes »Wir-Gefühl ergänzt (Brühl, 2015). Dieses »Wir« zeigt sich in der zunehmenden Bedeutung von Gemeinschaft, Kooperation, Vernetzung sowie den sozialen Netzwerken und Communities. Die Sharing Economy steht für Konzepte und Modelle wie Coworking, Coliving, temporäre Kommunen9