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Diana Raufelder Frances Hoferichter

Prüfungsangst und Stress

Ursachen, Wirkung und Hilfe

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029390-8

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-029391-5

epub:  ISBN 978-3-17-029392-2

mobi:  ISBN 978-3-17-029393-9

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. Stress
  3. 1 Stressforschung
  4. 1.1 Eine Annäherung an den Stressbegriff
  5. 1.2 Historischer Überblick zur Stressforschung
  6. 2 Stressoren
  7. 3 Stressmodelle und -theorien
  8. 3.1 Transaktionales Stressmodell nach Lazarus
  9. 3.2 Ressourcentheorien
  10. 3.2.1 Theorie der Ressourcenerhaltung
  11. 4 Risiko- und Schutzfaktoren bei Stress
  12. 5 Bewältigungsstrategien (coping)
  13. 6 Soziale Unterstützung als Copingstrategie
  14. 7 Stress und Kultur
  15. Prüfungsangst
  16. 8 Prüfungsangstforschung
  17. 9 Komponenten und Messinstrumente der Prüfungsangst – von den Ursprüngen bis heute
  18. 10 Modelle zur Entstehung von Prüfungsangst
  19. 10.1 Habit-Interferenz-Modell
  20. 10.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Modell
  21. 10.3 Das Transaktionale Stressmodell in Prüfungssituationen
  22. 11 Negativer Einfluss von Prüfungsangst
  23. 12 Diagnostik von Prüfungsangst in der Schule
  24. 13 Die Rolle von Eltern, Lehrern und Mitschülern bei Prüfungsangst
  25. 13.1 Die Rolle der Eltern
  26. 13.2 Die Rolle von Lehrern
  27. 13.3 Die Rolle von Mitschülern
  28. 14 Geschlechtsspezifische Besonderheiten
  29. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu Stress und Angst
  30. 15 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse
  31. 16 Die Stress- und Angstzentren im Gehirn: Neuroendokrine Prozesse
  32. 17 Neurobiologische Folgen von Angst und chronischem Stress
  33. Wie die Gesundheit durch chronischen Stress und Prüfungsangst gefährdet wird
  34. 18 Chronischer Stress und Prüfungsangst machen krank
  35. 19 Ursachen und Symptome – von den ersten Warnzeichen bis zu psychopathologischen Auffälligkeiten
  36. 19.1 Stresssymptome
  37. 19.2 Prüfungsangst-Symptome
  38. 20 Stress und Angst in Kindheit und Jugend
  39. 20.1 Symptome von Stress in der Kindheit
  40. 21 Stress, Schule und Prüfungsangst
  41. Prävention und Intervention – der erfolgreiche Umgang mit Stress und Prüfungsangst
  42. 22 Individueller Umgang mit Stress und Prüfungsangst. Wie kann ich mir selbst helfen?
  43. 22.1 Der Weg der Ernährung
  44. 22.2 Der Weg der Bewegung
  45. 22.3 Der Weg der inneren Einkehr
  46. 22.4 Der Weg des Gleichgewichts
  47. 22.4.1 Biofeedback
  48. 22.4.2 Autogenes Training
  49. 22.4.3 Selbst-Hypnose (Autohypnose)
  50. 22.5 Der Weg der täglichen Routinen
  51. 22.6 Die »Tensing and Differential Relaxation Method«
  52. 22.7 Die Palming-Methode
  53. 22.8 Tiefes Atmen
  54. 23 Schulpraktische Implikationen
  55. Schlusswort
  56. Literatur
  57. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Wer kennt nicht das Gefühl, dass einem die Dinge über den Kopf wachsen, Termine über Termine unseren Alltag bestimmen und Prüfungen nicht mit der nötigen Gelassenheit bestritten werden, die zum Erfolg führt, selbst wenn man sich gut vorbereitet hat? In einer Gesellschaft, in der das lebenslange Lernen als zentrale Aufgabe für jeden Einzelnen deklariert wird, nehmen Prüfungen und Leistungskontrollen eine wachsende Bedeutung ein: Angefangen in der Schule, Ausbildung, im Studium und später im Berufsleben. Mit anderen Worten, sie begleiten uns ein Leben lang und bereiten manch einem Stress und Angst. Prüfungen können uns nervös, schlaflos und zweifelnd machen, nicht selten gehen sie mit unangenehmen Erscheinungen wie einem flauen Gefühl im Magen, roten Flecken am Hals, erhöhtem Puls und Herzschlag und vermehrtem Schwitzen einher. Lösen die Prüfungen das wirklich in uns aus, oder ist es ein bedingter Reflex, der durch die Prüfungssituation abgerufen wird? Wieso können manche Menschen den Herausforderungen des Alltags inklusive der Prüfungssituationen nicht gelassen und entspannt entgegentreten? Sind wir heute mehr gestresst und ängstlich, als es unsere Vorfahren vor 100 Jahren waren? Und inwiefern hängen diese Angst- und Stressmechanismen mit neuronalen Prozessen in unserem Gehirn zusammen?

Diese und andere zentrale Fragen über unser Stresserleben und Gefühle der Prüfungsangst will das vorliegende Buch unter Bezugnahme psychologischer, pädagogischer und neurowissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse beantworten. Dabei gilt es in Kapitel 1 zunächst einen allgemeinen und historischen Überblick zur Stressforschung zu geben. Des Weiteren werden in Kapitel 2 und 3 führende Stressmodelle- und -theorien aufgegriffen. In den Kapiteln 4 bis 6 beschreiben wir Risiko- und Schutzfaktoren und leiten unter anderem Bewältigungsstrategien (coping) im Umgang mit Stress ab. Kapitel 7 ermöglicht einen Blick über unseren Kulturkreis hinaus, denn nicht zuletzt spielt die kulturell geprägte individuelle Wahrnehmung und Bewertung einer Situation, die als stressig gilt, eine entscheidende Rolle.

In den Kapiteln 8 bis 15 widmen wir uns dem Thema Prüfungsangst als einer spezifischen Form von Stress. Prüfungsangst ist meist Teil eines Teufelskreises: Prüfungsangst geht oft einher mit Denkblockaden, Besorgtheit und physischen Begleiterscheinungen, die wiederum dazu führen, dass sich der Schüler1 während des Tests nur schlecht konzentrieren kann und möglicherweise auch eine schlechte Note erhält, welche die Leistung nicht richtig widerspiegelt. Diese schlechte Note verstärkt wiederum die Angst vor weiteren Prüfungen und somit manifestiert sich ein Teufelskreis, aus dem man mit fortlaufender Dauer immer schwieriger ausbrechen kann mit teilweise gravierenden Folgen, die bis zum vorzeitigen Schulabbruch führen können. Zwar können bestimmte Persönlichkeitsmerkmale Prüfungsangst begünstigen, aber auch hier spielt die Umgebung eine entscheidende Rolle, wenn es um die Entstehung oder Prävention von Prüfungsangst geht – beispielsweise kommt hier Eltern, Lehrern und Mitschülern eine essenzielle Funktion zu (image Kap. 13).

In den Kapiteln 15 bis 17 werden wir die neuronalen Prozesse im Gehirn beschreiben, die uns das Gefühl von Stress und Angst letztlich erleben lassen. Dabei haben jüngste Erkenntnisse auf dem Gebiet der Neurowissenschaften gezeigt, dass chronischer Stress und Angst langfristig das Entstehen von neuropsychiatrischen Störungen hervorrufen können. Das ist besonders in Kindheit und Jugend kritisch, wenn sich das Gehirn noch grundlegend entwickelt, worauf wir in Kapitel 20 näher eingehen. In den Kapiteln 18 und 19 werden weitere mögliche stressinduzierte Langzeitfolgen und Warnsignale sowie psychopathologische Auffälligkeiten ausführlich thematisiert. Nachdem wir individuelle Methoden zum praktischen Umgang mit Stress und Prüfungsangst angeführt haben (image Kap. 22), schließen wir mit schulpraktischen Implikationen im Kapitel 23.

1     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet.

 

 

 

 

Stress

1          Stressforschung

 

 

 

1.1        Eine Annäherung an den Stressbegriff

Wenn man sich mit dem Stressbegriff und dahinterstehenden Theorien, Statistiken und Herausforderungen beschäftigt, bekommt man den Eindruck, Stress sei eine Zivilisationskrankheit bzw. der Auslöser zahlreicher psychosomatischer Symptome bei Menschen der industriellen Welt. Die durch Dauerstress verursachten Symptome reichen von Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche über Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen bis hin zu Verzweiflung, Depression und Angstzuständen. Oft führt eine Kombination dieser Symptome beim Betroffenen zum Burnout, was im Regelfall eine ärztliche Unterstützung unablässig macht. Die Zahl derjenigen in Deutschland, die unter Stress leiden, ist in den vergangenen Jahrzehnten enorm angestiegen und beschäftigt nicht nur die Betroffenen, sondern zusehends Familien, Therapeuten, die Arbeitswelt, Wirtschaft und Wissenschaft. Laut einer TK-Studie (2013) fühlt sich jeder zweite Deutsche gestresst. Die damit einhergehende Berufsunfähigkeit ist seit 1994 um 120% gestiegen (Busch, 2012), so dass mittlerweile jeder 22. Erwerbstätige aufgrund von psychischen Einschränkungen seinem Arbeitsplatz fernbleibt. Im Jahr 2012 wurden 37% aller Frühverrentungen auf psychische Leiden zurückgeführt (Deutsche Rentenversicherung, 2014) und ein weiterer Anstieg der Menschen vorhergesagt, die unter Stress leiden (Jackson, 2013). Mittlerweile sind es jedoch nicht nur Erwachsene, die sich durch Termin- und Erfolgsdruck, Existenzangst, sozialen Vergleich etc. überfordert fühlen, sondern auch Jugendliche und Kinder, die zusehends »im Stress« sind bzw. in stressgeprägten Umfeldern aufwachsen. Laut einer Studie, die 11 000 Schulkinder befragte, fühlt sich fast ein Viertel aller Kinder regelmäßig gestresst. Davon geben 4% an »sehr oft«, 18% »oft« und 40% »manchmal« gestresst zu sein (Beisenkamp, Klöckner, Hallmann & Preißner, 2009). Dabei ist die Schule der meist genannte Stressfaktor noch weit vor dem Druck der Eltern und der Freunde, was dazu geführt hat, dass sich jedes sechste Kind in der Schule unwohl fühlt. Auch wenn die genannten Stressfaktoren sicherlich miteinander zusammenhängen, zeigt die Studie, dass der größte Teil des Stressempfindens auf die Schule projiziert wird.

Laut Einschätzung der Kinder bietet die Schule zu wenige Phasen der Erholung, zum Spielen oder für das individuelle Lernen. Je älter die Kinder werden, desto gestresster fühlen sie sich. Weitere Untersuchungen zeigen, dass 76% der befragten Jugendlichen vor allem die hohen Leistungsanforderungen für ihren Stress verantwortlich machen, wovon sich über ein Drittel der Schüler chronisch überlastet fühlt (Oertel, 2010).

Nach einer aktuellen DAK-Gesundheitsstudie (2017), die 7 000 Fünft- bis Zehntklässler in Deutschland befragte, leiden 43% aller befragten Schüler unter Stress und berichten in diesem Zusammenhang von Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafproblemen. Darüber hinaus hat der überdurchschnittlich hohe Anstieg von Stress unter Jugendlichen dazu geführt, dass Schüler vor und während der Schulzeit Energydrinks zu sich nehmen, die Koffein und synthetische Zusatzstoffe beinhalten. Bereits in der fünften Klasse kommen die Schüler nach eigenen Angaben mit den »Wachmachern« in Kontakt, wobei diese insbesondere unter Jungen der neunten und zehnten Klasse weit verbreitet sind. In diesem Sinne gab jeder fünfte Junge an, jede Woche oder öfter Energydrinks zu trinken. Als Schlussfolgerung der Studie hat die DAK die Einführung eines Schulfaches »Gesundheit« empfohlen. Fraglich ist jedoch, ob ein Schulfach stressreduzierend wirken kann und nicht nur ein weiterer Versuch ist, die Symptome zu behandeln, anstatt das Problem an der Wurzel zu packen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu überdenken.

Suggerieren diese Statistiken, dass Stress eine Zivilisationskrankheit sei? Ist das Phänomen Dauerstress und Erschöpfung die Errungenschaft oder ein Kollateralschaden der zivilisierten Gesellschaft? Laut Definition zeichnet sich eine zivilisierte Gesellschaft zum Beispiel durch die Achtung der Grund- und Menschenrechte, gegenseitige Rücksichtnahme auf Basis moralischer und wertorientierter Verhaltensstrukturen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt, Staatenbildung u. a. aus.

Zumindest beschreibt der Psychologe George Beards in seinen Arbeiten zum Ende des 19. Jahrhunderts, ein Zeitphänomen, nämlich die Neurasthenie, dessen Erscheinung er vor allem der zivilisierten und privilegierten Schicht einer Gesellschaft zuschreibt. Laut Beards waren es vor allem Kaufmänner, Anwälte, Politiker und andere zu der Zeit angesehene Schichten, die unter Verdauungs- und Schlafstörungen, Kopfschmerzen, generellem Unwohlsein und eingeschränkter Fortpflanzungsfähigkeit litten. Als Auslöser der Neurasthenie, welche in der Symptomatik dem heutigen Burnout ähnlich ist, wurde die Überforderung des Nervenkostüms durch die modernen Lebensumstände, wie eine rasche Technologisierung von Produktion, Transport und Kommunikation, verantwortlich gemacht. Sind wir auch heute im 21. Jahrhundert überfordert durch immer neue Kommunikationsmittel und -wege, durch wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt, also durch gerade das, was eine zivilisierte Gesellschaft ausmacht? Diese mit Absicht pauschal gestellte Frage ist nicht a priori mit »ja« zu beantworten, sondern eher mit »nein«. Denn Stress entsteht zunächst einmal, wenn sich Individuen durch einen Stressor überfordert fühlen und ihre Ressourcen als nicht ausreichend einstufen, um einer Situation erfolgreich zu begegnen. Demnach ist Stress nicht per se auf den Grad der Technologisierung einer Gesellschaft zurückzuführen, sondern vielmehr auf die spezifische Umgebung, in der sich das Individuum aufhält und auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Bewältigung einer stressauslösenden Situation als auch die Fähigkeit, fehlertolerante Lösungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen bzw. insgesamt Herausforderungen als Chance zu sehen. Es ist wohl eher die Selbstoptimierung, Flexibilisierung und Beschleunigung, wie sie Kury in seinem Buch »Der überforderte Mensch« (2012) betitelt, die bereits in der Schule gelebt und als Notwendigkeit zelebriert werden. Wenn also schon Kinder lernen, besser, schneller, höher hinaus zu müssen, ohne ihnen gleichzeitig Zuversicht in ihre eigene Fähigkeit zu vermitteln, sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Prozesse mitzugestalten, ist Dauerstress und in diesem Zuge ein hoher Krankenstand einer Gesellschaft vorprogrammiert. Dass Stress kein zwingendes Nebenprodukt der Zivilisationsgesellschaft ist, zeigen Länder wie Dänemark, Finnland, die Niederlande und Schweden, deren Bürger den höchsten Zufriedenheitsgrad aller OECD-Länder aufweisen (OECD, 2015). Und es sind gerade die Länder, deren Bürger angeben, ihren Mitmenschen zu vertrauen, die Länder mit hohen Bildungsausgaben und einem vorbildlichen Bildungssystem, einem öffentlich gut aufgestellten Gesundheitssystem und hoher Beteiligung am Arbeitsmarkt. Tatsächlich hält die World Health Organization (WHO, 1993) in ihrem Positionspapier zum Stressmanagement fest, dass immer mehr Menschen unter Stress leiden, bei gleichzeitiger Abnahme sozialer Unterstützung durch soziale Netzwerke und Hilfe aus dem Gesundheits- und Sozialsystem. Aufgrund der einschneidenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ermutigt die WHO Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen ein besonderes Augenmerk auf die Ursachen und die Prävention von Stress zu legen.

Um die Frage nach einer zivilisierten Gesellschaft aufzugreifen, fragen wir konkret: Haben wir in Deutschland etwa den Punkt überschritten, uns eine zivilisierte Gesellschaft nennen zu dürfen? Sind wir über das Ziel hinausgeschossen? Ist die Volkskrankheit Stress womöglich die Folge von nicht zivilisierten Erscheinungen in einer (über-)zivilisierten Gesellschaft? Also einer Gesellschaft, die den Menschen zusehends als (Human-)Kapital versteht und diesen auf Funktionen wie »Produzent« und »Kunde« reduziert, ungeachtet seines gesamten Potenzials, Wohlbefindens, seiner Bedürfnisse nach Sicherheit, Familie und Selbstverwirklichung? Menschliches Zusammenleben wird durch die Über-Priorisierung von individualistischen Sichtweisen in direktem Sinne des Wortes »de-naturiert«.

Der Sozialwissenschaftler Fukuyama (1999) charakterisiert die Entwicklung in der westlichen Welt als kritisch, da soziale Beziehungen zunehmend als unverbindlich empfunden werden und gerade diese Unverbindlichkeit dazu führt, dass gemeinsame Werte, die eine Gemeinschaft zusammenhalten und ihr Stabilität geben, immer weniger gelebt werden. Das Individuum hat sich seinen Platz vor dem Wohl der Gemeinschaft ergattert, was das soziale Wesen Mensch mit seinem Grundbedürfnis nach Eingebundenheit in eine Gemeinschaft in ein Dilemma katapultiert hat. Stefan Drewes vom Berufsverband Deutscher Psychologen beschreibt die aktuelle Entwicklung wie folgt:

»Es herrscht heute ein hoher Druck, sich möglichst individuell darzustellen. In den Medien wird suggeriert, dass jeder ein Zuckerberg werden kann, wenn er nur die richtige Idee hat. Wer nichts Besonderes vorweisen kann, fühlt sich schnell als Versager.« (zitiert in die Welt, Szewczyk, 2012)

Bereits 1973 wurde Stress als »die wachsende Seuche« deklariert, das »Zeitalter des Stresses« ausgerufen (Jackson, 2013) und le stress, lo stress, el stress, o stress fand kulturübergreifend Einzug in die Alltagssprache der industriellen Welt (Selye, 1978). Der Begriff leitet sich vom englischen Wort stress ab, was übersetzt Druck, Anspannung, Beanspruchung bedeutet. Es gibt jedoch bislang keine einheitliche Definition von Stress. Selye sprach 1956 in seinem Buch »The Stress of Life« von einem mysteriösen Zustand, den Menschen, Tiere und sogar Zellen unter bestimmten Umständen miteinander teilen und beschreibt den Zustand als »too much of everything«. Lazarus (1966) deklariert Stress als eine Rubrik von verschiedenen Variablen und Prozessen und distanzierte sich somit von dem Gedanken, Stress sei eine alleinige Variable. Bezugnehmend auf bisherige Definitionen halten Grant und Kollegen (Grant, Compas, Stuhlmacher, Thrum, McMahon & Halpert, 2003) fest, dass es zwar verschiedene Ansätze in der Forschung gebe, Stress zu definieren, kritisieren jedoch den ungenauen, allgemeinen und zu schwierig zu operationalisierenden Charakter dieser Definitionen, was daran liegen kann, dass Stress von unterschiedlichen Disziplinen untersucht wird (z. B. Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie). Im Folgenden möchten wir einige Definitionen von Stress anführen:

»Im allgemeinen Sprachgebrauch ist »S. eine subjektiv unangenehm empfundene Situation, von der eine Person negativ beeinflusst wird (Disstress), i. Ggs. zum anregenden positiven S. (Eustress). […] S. kann allg. als intensiver, unangenehmer Spannungszustand in einer stark aversiven Situation verstanden werden, dessen Vermeidung als subjektiv wünschenswert erlebt wird.« (Dorsch, Lexikon der Psychologie, 2014, https://portal.hogrefe.com/dorsch/stress/)

»[…] Muster spezifischer und unspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Reizereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeiten zur Bewältigung strapazieren oder überschreiten.« (Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 798).

»Latentes Konstrukt, das zusammenhängende zentralnervöse Aktivierung auf affektiver, kognitiver, neuronal-endokriner und motorischer Ebene anzeigt.« (Siegrist, 2005, S. 303 ff.)

»Psychologischer Stress bezieht sich auf eine Beziehung mit der Umwelt, die vom Individuum in Hinblick auf sein Wohlergehen als bedeutsam bewertet wird, aber zugleich Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder überfordern.« (Lazarus & Folkmann, 1986, zit. nach Petermann & Hampel, 1998, S. 2)

»[Stress ist das Resultat] aus einem tatsächlichen oder wahrgenommenen Ungleichgewicht zwischen den aus einer Situation resultierenden Anforderungen bzw. Belastungen und der Einschätzung, diese mit den verfügbaren Ressourcen nicht bewältigen zu können.« (Ulich, 2011, S. 487).

Auch wenn es keine einheitliche Stressdefinition in der Literatur gibt, fokussieren die meisten Forschungsbefunde das Zusammenwirken von Organismus und Umwelt und sehen das Erleben und Verhalten des Individuums in stressauslösenden Situationen und somit die Anpassung des Individuums an seine Umwelt im Zentrum des Geschehens.

1.2        Historischer Überblick zur Stressforschung

In der Psychologie wurde Stress bereits implizit im Rahmen der Forschungsarbeiten von Freud aufgegriffen, dessen Interesse der Untersuchung von Angst galt. Demnach gilt die Realangst als Signal einer Gefahr, löst Abwehrmechanismen aus und erhöht die Anpassungsfähigkeit des Individuums.

Diesem Ansatz folgend galt das Interesse des Physiologen Walter Bradford Cannon, der auch als Pionier der Stressforschung bezeichnet wird (Quick & Spielberger, 1994), der Erforschung von Emotionen und dem biologischen Gleichgewicht des Menschen. Er prägte den Begriff der Homöostase, welche die Wirkungsweise des Sympathikus und des Parasympathikus einschließt; zweier Gegenspieler des vegetativen Nervensystems. Letzteres ist auch als autonomes Nervensystem bekannt, da lebensnotwendige Funktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Verdauung und Atmung unbewusst und somit automatisch reguliert werden. Der Sympathikus wird aktiviert, sobald eine Situation als stressig wahrgenommen wird und bereitet das Individuum auf Kampf oder Flucht vor (fight-or-flight) (Cannon, 1915), indem Hormone wie Adrenalin oder Noradrenalin ausgeschüttet werden. Diese physiologische unspezifische Reaktion des Körpers bringt denselben aus dem Gleichgewicht, so dass der sogenannte »Ruhenerv« Parasympathikus seine Funktion aufnimmt, um den Körper durch die Regulierung der inneren Organe und des Blutkreislaufes zurück in die Homöostase zu bringen. Somit wirkt der Sympathikus aktivierend und der Parasympathikus ausgleichend auf äußere und innere Reize (Cannon, 1935). Nach Cannon werden durch die Stressreaktion des Körpers Widerstandskräfte mobilisiert, die das Individuum vom Ungleichgewicht (Heterostase) wieder in das Gleichgewicht bringen. Somit ist Stress nicht allein als negativ zu betrachten, sondern gleichermaßen positiv. Wenn Stress zeitlich überschaubar ist und als Herausforderung interpretiert wird, kann Stress das Immunsystem aktivieren, um Infektionen abzuwenden oder Wunden zu heilen (Segerstrom & Miller, 2004).

Während Cannon davon ausging, dass die Stressreaktion eines Individuums aus allein einer Reaktion besteht, die über kurze oder lange Zeit andauert, beschreibt der zu dem Thema wohl meist zitierte Stressforscher Hans Selye die menschliche Reaktion auf Stress als einen Prozess. Von der behavioristischen Forschung seiner Zeit geprägt, etablierte Selye das Modell eines Allgemeinen Adaptationssyndroms (AAS) (Selye, 1956, 1974; image Abb. 1). Letzteres teilt die Stressreaktion in drei Phasen, bestehend aus einer Alarmphase (Phase 1), in der das Individuum durch Einfluss eines Reizes physisch alarmiert wird, gefolgt von einer Widerstandsphase (Phase 2), in der es zu einer Adaptation an den Reiz kommt. Ist das Individuum jedoch nicht in der Lage, sich an die Situation anzupassen, kann es zur Erschöpfung (Phase 3) und somit zur Schädigung des Organismus kommen.

Ähnlich wie Cannon geht auch Selye davon aus, dass Stress Energien mobilisiert, um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. In der kurzen Alarmphase, in welcher der Organismus mit einer kritischen Situation konfrontiert wird, kommt es zu einer Art Schockzustand des Individuums, welcher sogleich die Leistungssteigerung des Organismus zur Folge hat. Durch eine Reihe von körperlichen Reaktionen wird das sympathische Nervensystem aktiviert und infolgedessen eine Adaption des Organismus angestrebt. Die Experimente von Selye und Kollegen zeigen, dass kontinuierlich geringe Dosen von induziertem Stress zur Resistenz des Organismus beitragen, wohingegen langanhaltender induzierter Stress zu Erschöpfungszuständen des Organismus führen kann und ähnliche körperliche Reaktionen wie in der Alarmphase zu beobachten sind (Selye, 1936). Nach Selye ist die Stressreaktion von Individuen nicht nur universell, sondern auch unspezifisch,

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Abb. 1: Allgemeines Adaptationssyndrom (AAS) nach Selye, 1956

d. h., verschiedenartige stressauslösende Reize (schwere Erkrankungen, Unfall, Erkältung etc.) rufen die gleiche Abfolge der von Selye postulierten Stressreaktion hervor. In diesem Sinne ist die Wahrnehmung von Stress subjektiv und bedingt die Intensität des Stresserlebens. Somit kann es zu einer kurzfristigen Heterostase kommen oder zu einem langanhaltenden Ungleichgewicht, welches Energiereserven aufbraucht, zur Erschöpfung führt und somit zum Risikofaktor für Krankheiten wird (Selye, 1983). Das Individuum ist folglich in seiner Stressbewältigung und Funktion eingeschränkt, was sich unter anderem durch depressive Zustände, Angst, eine verringerte Wachstums- und Fortpflanzungsaktivität, eine Einschränkung des Immunsystems und durch somatische Krankheiten zeigt (Selye, 1984, 1936). Nach Selye können eingeschränkte Körperfunktionen nicht nur als Folge von Langzeitstress auftreten, sondern es kann bereits während der Anpassungsphase zu somatischen Krankheiten wie beispielsweise Asthma und Hypertonie kommen (1983).

Selye definiert Stress demnach als eine unspezifische Reaktion des Organismus auf Anforderungen aus der Umwelt (Selye, 1936). Weiterhin unterscheidet der Endokrinologe einen positiv wirkenden Stress, Eustress, welcher Körper und Geist mobilisiert und aktiviert (z. B. Vorfreude), und Disstress, welcher vom Individuum als Belastung wahrgenommen wird (z. B. Tod des Ehepartners).

Den Forschungen von Cannon und Selye zufolge wird Stress als biologische Reaktion (response) des Körpers auf seine Umwelt (stimulus) betrachtet, indem der Körper aktiviert wird, auf den stressauslösenden Reiz mit Kampf oder Flucht zu reagieren. Stimulusdefinitionen, wie die von Cannon und Selye, beziehen sich zumeist auf Stressoren wie Umwelteinflüsse (Naturkatastrophen, Krankheit, Tod eines Angehörigen etc.) und folgen der Annahme, dass bestimmte Stimuli normativ stressauslösend sind, wobei interindividuelle Unterschiede keine Beachtung finden. Dieser reaktionsgeleitete Ansatz spiegelt die damalige biologische und medizinische Forschung wieder, welche den Stresszustand selbst und die damit verbundene physiologische Reaktion des Organismus fokussiert.

In einigen Experimenten konnte das Allgemeine Adaptationssyndrom jedoch nicht nachgewiesen werden (Mason, 1975). Diese Erkenntnis führte zu der Annahme, dass Stress bei Menschen das Resultat eines kognitiven Prozesses sein müsse (vgl. Arnold, 1960; Janis, 1958; Lazarus, 1966). Außerdem müsse den reiz-reaktionsgeleiteten Ansätzen zufolge jeder Reiz eine Stressreaktion hervorrufen, was die Stressforscher Lazarus und Folkmann (1984) in Frage stellen und Stress als einen Transaktionalen Prozess verstehen und mit diesem Ansatz die Stressforschung bis heute dominieren (image Kap. 3.1). Das Transaktionale Stressmodell stellt einen Gegensatz zu den reaktionsorientierten Stresskonzepten dar. Letztere haben sich im Humanbereich als weniger brauchbar erwiesen, da interindividuelle Unterschiede vernachlässigt werden, insofern die reaktionsorientierten Stresskonzepte ein uniformes Reaktionsmuster zugrunde legen.

Die Verwendung des Stressbegriffes in der psychologischen Forschung wurde vor allem durch den Zweiten Weltkrieg und den Vietnamkrieg mobilisiert (Grinker & Spiegel, 1945). In diesem Rahmen galt es, Soldaten zu selektieren, die weniger stressanfällig waren oder diese einem Trainingsprogramm zu unterziehen, um die Soldaten unter Stress zu effektiven Handlungsstrategien zu befähigen und somit deren Potenzial zu steigern. Seit den 1960er Jahren galt das Interesse der Forschungsgemeinschaft zunehmend den Bewältigungsstrategien (coping) und individuellen Unterschieden beim Stresserleben und somit dem Zusammenhang möglicher Mediatoren und Moderatoren. Je nach Fachrichtung, finden sich in der Literatur Modelle mit je unterschiedlichen Schwerpunkten zur Erklärung von Stress, die an dieser Stelle nur benannt, aber nicht ausführlich behandelt werden.

Exkurs

Im Bereich der Organisations- und Arbeitspsychologie gibt es beispielsweise Stressmodelle, die einen Fokus auf Belastung, Beanspruchung und Kontrolle am Arbeitsplatz legen und dabei psychische Belastungen, Entscheidungsspielraum und Kommunikationsanforderungen entsprechend berücksichtigen (vgl. Anforderungs-Kontroll-Modell; Modell der beruflichen Gratifikationskrisen; Konzept der Anforderung – Belastung; Konzept der Vollständigen Tätigkeit; Konzept Psychischer Stress am Arbeitsplatz).

In der Soziologie hat vor allem der Medizinsoziologe Leonhard I. Pearlin die Stressforschung maßgeblich vorangetrieben. Pearlin versteht Stress als einen sozialen Zustand, der durch gesellschaftliche und sozialkulturelle Gegebenheiten ausgelöst wird (z. B. sozioökonomischer Status, Geschlecht, Beruf, Alter) und beispielsweise durch soziale Unterstützung abgepuffert werden kann (image Kap. 6). Folglich wird Stress im soziologischen Sinne im lebensweltlichen Kontext platziert und Individuen in ihrer sozialen Rolle verstanden.

2          Stressoren

 

 

 

Als Stressoren gelten prinzipiell innere und äußere Reize, die das Individuum dazu veranlassen Ressourcen aufzuwenden, um das innere Gleichgewicht beizubehalten bzw. herzustellen. Somit können Stressoren ein Stressempfinden auslösen, welches das Individuum dazu veranlasst, zwischen Anforderung und dem eigenen Wohlbefinden zu mediieren. Dabei kommt es auf die Anpassungsfähigkeit und somit auf die dem Individuum zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien an, ob der Stressor tatsächlich stressauslösend wirkt. In der Literatur werden Stressoren auf Grundlage ihres Wirkungsgrades und Ursprungs klassifiziert. Beispielsweise werden traumatische Ereignisse als Stressoren bezeichnet, wenn ein kurz- oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmaß vorliegt und im Individuum tiefgreifende Verzweiflung auslöst (ICD-10, Dilling, Mombour & Schmidt, 1991). In diesem Sinne erfüllen erlebte Traumata sowohl ein Ereigniskriterium als auch ein subjektives Kriterium. Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV, 1994) werden beispielsweise lebensbedrohliche Ereignisse wie Folter, Gefangenschaft, gewalttätige Überfälle, unangemessene sexuelle Erfahrungen, Naturkatastrophen und schwere Unfälle als Ereigniskriterium verstanden. Das subjektive Kriterium wird hingegen erfüllt, wenn Individuen durch das Ereignis Furcht, Hilflosigkeit und/oder Entsetzen empfinden. Beispielsweise litten drei Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 insbesondere Bewohner aus New York City an Symptomen wie Schlaflosigkeit und depressiven Verstimmungen, als Folge des traumatischen Ereignisses (Cohen Silver, Poulin, Holman, McIntosh, Gil-Rivas & Pizarro, 2004). Nach dem Hurricane Katrina verdreifachten sich die Selbstmorde in New Orleans kurzzeitig (Saulny, 2006).

Des Weiteren wird chronischer Stress als Stressor klassifiziert, der über längere Zeit andauert und als wiederkehrende Belastung erlebt wird. In diesem Sinne sind es vor allem die modernen Lebensverhältnisse, die chronischen Stress verursachen können. Laut Laireiter und Kollegen (2001) manifestiert sich chronischer Stress sowohl in unterschiedlichen langanhaltenden Ereignissen wie beispielsweise in belastenden Arbeitsbedingungen, anhaltenden Schwierigkeiten und Problemen in unterschiedlichen Lebenskontexten (z. B. finanzielle Probleme, Familienkonflikte) als auch in Lebensbelastungen durch Lebensereignisse wie Tod des Ehepartners oder Krankheit. Kurzum, chronischer Stress manifestiert sich in überdauernden Problemen ökologischer, sozialer oder psychologischer Natur. Für Kinder und Jugendliche kann chronischer Stress insbesondere aus Armut, einer chronischen Krankheit der eigenen Person oder eines Elternteils und/oder durch Misshandlung resultieren (Grant et al., 2003). Im schulischen Kontext kann der Ausschluss aus der Gemeinschaft oder/und das Gemobbtwerden Stress auslösen und sowohl zu psychischen als auch physiologischen Beeinträchtigungen führen (Ott & Bowi, 2010).

Weiterhin kann eine bestimmte Rassenzugehörigkeit und eine daraus resultierende Diskriminierung oder ein niedriger sozioökonomischer Status zu chronischem Stress führen (Adler et al., 1994; Clark, Anderson, Clark & Williams, 1999). Kritische Lebensereignisse erfordern nach Filipp (1990) die Veränderung oder den Abbau habitualisierter Handlungsabläufe, was wiederum als stressig empfunden werden kann. Die kritischen Ereignisse sind raumzeitlich begrenzt und umfassen sowohl normative, d. h. vorhersehbare Ereignisse, wie das Einsetzen der Pubertät, als auch non-normative Geschehnisse, wie den unvorhergesehenen Verlust des Arbeitsplatzes. Dabei sind es nicht nur die unangenehmen Lebensveränderungen, wie z. B. das Sitzenbleiben in der Schule und damit verbunden ein Klassen- oder Schulwechsel, sondern auch schöne Ereignisse, wie z. B. die Einschulung oder das Entgegennehmen des Abiturzeugnisses als Auszeichnung, welche die Ressourcen des Individuums herausfordern und eine Neuordnung der Person-Umwelt-Beziehung erforderlich machen (Filipp, 1990). Es sind besonders die Übergangs- und Unsicherheitsphasen, die bei jungen Erwachsenen Stress auslösen können. Wie Studien zeigen, sinkt mit höherem Alter das empfundene Stresslevel (Aldwin, 1990; Newport & Pelham, 2009), da die Art der Belastung und der Umgang mit Stress sich über die Lebensspanne verändern (Aldwin, Sutton, Chiara & Spiro, 1996; Folkman, Lazarus, Pimley & Novacek, 1987). Alltagsbelastungen (daily hassles) umfassen eine Bandbreite von Ereignissen, deren stressauslösendes Potenzial wie auch bei anderen Stressoren je nach Individuum variiert. Somit reichen Alltagsbelastungen, die auch als Mikrostressoren bezeichnet werden, vom frustrierenden Ereignis, einen Parkschein zu erhalten, in Hundekot zu treten, bis hin zu der Situation, als letzter in eine Mannschaft gewählt zu werden (Grant et al., 2003). Man spricht im Allgemeinen von Alltagsbelastungen, wenn das Individuum sich bedroht, gekränkt oder frustriert fühlt, somit das Wohlbefinden eingeschränkt wird und das Individuum aufgefordert ist, sich für eine eher begrenzte Zeit der Situation anzupassen (Lazarus & Folkman, 1984). Dabei handelt es sich nicht um eine Routinehandlung, sondern zum Teil um eine recht hohe Wiederanpassungsleistung (Laireiter et al., 2001).

3          Stressmodelle und -theorien

 

 

 

3.1        Transaktionales Stressmodell nach Lazarus