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Brennpunkt Schule

 

Herausgegeben von

 

Fred Berger

Wilfried Schubarth

Sebastian Wachs

Kurt Edler

Islamismus als pädagogische Herausforderung

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

2. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034577-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034578-2

epub:   ISBN 978-3-17-034579-9

mobi:   ISBN 978-3-17-034580-5

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Vorwort

 

Menschenrechts- und Demokratiefeindlichkeit zeigt sich im 21. Jahrhundert in neuen Erscheinungsformen. Neue Ideologien treten mit alten in Wettstreit und gewinnen an Einfluss. Der Umbruch der Weltordnung seit den 1980er Jahren lässt neue Deutungen zu und damit auch neue (oder renovierte) politische Mythen und totalitäre Entwürfe. Alle Strömungen und Bewegungen, die zum Ziel haben, die demokratisch verfassten Ordnungen und die freiheitlichen Lebensformen der offenen Gesellschaft zu beseitigen, sind auf eines aus: Sie wollen die junge Generation für sich gewinnen. So kommen die globalen Konflikte dort an, wo diese Generation lernt, kommuniziert und lebt: in Schulen und Jugendeinrichtungen, in Gemeinden und Verbänden und ganz besonders in den sozialen Medien und im Internet.

Doch auch mehr als ein Jahrzehnt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verfügen wir erstaunlicherweise kaum über Erkenntnisse, wie sich diese Einflussnahme im Klassenzimmer, im Fußballclub oder im Facebook-Forum vollzieht. Kaum ein Schul- oder Sozialministerium in Deutschland macht sich bisher darüber schlau. Entsprechend verunsichert wirkt die pädagogische Praxis.

Der vorliegende Beitrag der Reihe Brennpunkt Schule will eine Lücke füllen, die sich für die Demokratie als fatal erweisen könnte. Anspruch ist dabei nicht, einen weiteren Beitrag zur theoretischen Diskussion über Islamismus, Salafismus oder Dschihadismus zu liefern. Aufgabe des vorliegenden Bandes soll vielmehr sein, in griffiger Form Erkenntnisse und Reflexionen, persönliche Erfahrungen und praktische Tipps zu vermitteln – für alle, die mit den pädagogischen Herausforderungen im Alltag konfrontiert sind.

Alle in diesem Band verwendeten Beispiele – ob Äußerungen, Situationen oder Biographien – sind authentisch. Sie stammen überwiegend aus Hamburg. Seit langem in Schule und Politik mit Extremismusprävention und Demokratiepädagogik befasst, stellt der Autor Erfahrungen und Erkenntnisse aus Schule, Sozialraum, Lehrerbildung und polizeilicher Aufklärung zur Verfügung. Das wäre nicht möglich gewesen ohne eine fruchtbare Zusammenarbeit mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus Schulleitung und Schulaufsicht, Religionspädagogik, interkultureller Bildung, Sozialpädagogik, Gewaltprävention, Verfassungsschutz und polizeilichem Staatsschutz. Dafür sei ihnen allen an dieser Stelle herzlich gedankt – verbunden mit der Bitte um Verständnis, dass auf die namentliche Hervorhebung Einzelner verzichtet wird.

Noch eine Bemerkung. Unser Thema ist verteufelt ernst. Ohne Humor lässt es sich gar nicht aushalten. Verschiedene Stellen dieses Bändchens sind mit einem unsichtbaren Augenzwinkern verbunden. Die Leserin, der Leser möge sie selber herausfinden. Vergessen wir nicht, dass Humorlosigkeit ein sicheres Kennzeichen von politischem und religiösem Fanatismus ist. Prinzipienfestigkeit in der Auseinandersetzung mit diesem schließt nicht aus, dass wir selbst heiter und gelassen bleiben.

Inhalt

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. 1 Islamismus: Ursprung und Grundmuster einer Ideologie
  4. 2 Dschihadismus als jugendlicher Lebensentwurf
  5. 3 Religiös gefärbte Konfliktlagen im pädagogischen Alltag
  6. 4 Pädagogische Herausforderungen
  7. 5 Grundrechtsklarheit als Kern der Prävention
  8. 6 Die Verantwortung der Institution
  9. 7 Streitbare Demokratiepädagogik
  10. 8 Häufig gestellte Fragen – und ein Versuch, sie zu beantworten
  11. Literatur
  12. Materialien
  13. I Gesprächserinnerungen
  14. Der Radikale und der Hodscha
  15. Sinnsuche auf dem Steindamm
  16. Nihal ist nicht mehr hier
  17. Eine Kämpferin
  18. Humor und Zivilität
  19. II Fallbeispiele
  20. Religiöse Kleidung im Sportunterricht
  21. Gesichtsverhüllung
  22. Musizieren und Tanzen in der Grundschule
  23. Muslime und Muslime
  24. Die Hölle
  25. Esra ist immer so still
  26. Du als Türke
  27. Was wir essen
  28. Meinungsäußerung oder Propaganda?
  29. Tragisches Ende
  30. Der junge Krieger
  31. Emanzipationshindernis
  32. III Werkzeuge
  33. Umgang mit Islamismus und konfrontativer Religionsbekundung
  34. Strategiebausteine für Schulleitungen
  35. Problemstellungen und Lösungswege

 

Einleitung

 

»Ich brauche keine Freiheit«, sagt eine Sechzehnjährige zu ihrer Lehrerin, »ich habe meinen Glauben.« Der Lehrerin verschlägt es die Sprache. Kein Wunder – sind doch Generationen von Jugendlichen an ihr vorbeigezogen, denen die persönliche Freiheit, oft bis zum Exzess gesteigert, wichtiger war als alles andere. Ist die Lehrerin gar selber in Bewegungen oder Projekten engagiert, die Freiheit und Emanzipation ganz obenan stellen, sieht sie mit der Äußerung das ihr Teuerste entwertet und bedroht. Muss sie etwa wieder bei null anfangen?

Ja, sie muss. Und ihre Schule muss es auch. Denn nicht nur in Schule und Betrieb, sondern auch in Familie, Kita und Jugendtreff steht die Pädagogik vor einer neuen, einer epochalen Herausforderung. Ursache ist eine politische Ideologie und Bewegung, die unter einem religiösen Etikett daherkommt und bei jungen Menschen auch in den westlichen Demokratien immer mehr an Einfluss gewinnt. Mit der Ausrufung eines »Islamischen Staats« (IS) in Teilen Syriens und Iraks hat dieses Phänomen nicht nur an weltpolitischer und militärischer Bedeutung gewonnen. Es kann seiner Ideologie nicht nur durch einen realen Herrschaftsraum, der einer internationalen Militärkoalition unter UN-Mandat trotzt, zur Geltung verhelfen. Sondern es hat auch die Mittel und Wege zur Verfügung, um seine Propaganda zu verbreiten und zum Kampf aufzurufen. Es ist in der Geschichte die erste internationale Bewegung gegen Demokratie und Menschenrechte, die ihre Botschaften fast ausschließlich über die digitalen Medien verbreitet und sich über diese organisiert und verstärkt. Auch in den Ländern der EU ist die Rekrutierung für den »Dschihad« in vollem Gange. Fast jeder zehnte Kämpfer des IS, so schätzen Geheimdienste, hat einen westlichen Pass.

Es geht jedoch nicht nur um Terrorismus und bewaffneten Kampf, sondern auch um die verschiedensten Erscheinungsformen von religiösem Radikalismus. Auch wenn der vorliegende Band sich auf die radikale Inanspruchnahme des Islam konzentriert, sollen Begleiterscheinungen und Folgeprobleme mit erörtert werden. Dazu gehören die Spuren einer sich ausbreitenden Islamfeindlichkeit im Erziehungswesen. Teilweise geht es aber auch – vorpolitisch – um eine konfrontative Religionsbekundung und einen Trend zur religiösen und kulturellen Intoleranz, der sich zuweilen auch noch mit ethnischen und nationalen Ressentiments ungut verbindet.

Eine demokratische Pädagogik muss alle diese Herausforderungen annehmen und darf keine von ihnen aus einer falsch verstandenen Parteilichkeit heraus ausblenden. Die folgenden Kapitel sollen dazu beitragen. In Kapitel 1 setzen wir uns mit der islamistischen Ideologie und ihren Grundmustern auseinander und versuchen eine begriffliche Abgrenzung. Dazu gibt es einen kurzen Exkurs zum Ideologievergleich mit dem Rechtsextremismus. In Kapitel 2 wird am Propaganda-Beispiel illustriert, welche Botschaften der Islamismus unter Jugendlichen verbreitet, und darüber nachgedacht, warum sie einen Reiz entfalten können. Ein kurzer Blick auf die Eigenheiten politischer Radikalisierung bei Jugendlichen und auf das typische Gefährdungsprofil folgt darauf. Beispiele für Radikalisierungsbiographien stehen im Materialteil zur Verfügung. Kapitel 3 lenkt den Blick auf Verhaltensmuster bei religiös gefärbten Konfliktlagen im pädagogischen Alltag und bietet Hilfe und Werkzeuge für den Umgang mit dem Verhalten sowohl der Lehrkraft bzw. Erziehungsperson als auch der pädagogischen Einrichtung an. Danach führt Kapitel 4 in die Kernproblematik der pädagogischen und schulischen Reaktionen ein und veranschaulicht anhand von real beobachteten Situationen das ganze Ausmaß der pädagogischen Herausforderungen. Es dient der kritischen Selbstprüfung pädagogischer Profis in der jeweiligen Konfliktsituation. In Kapitel 5 geht es um die Grundrechtsklarheit pädagogischen Handelns und um die Fähigkeit zur Verfassungsgüterabwägung, aber auch darum, Grenzen des Lehrerhandelns zu definieren und Schülerrechte auch bei schwierigen Zuspitzungen zu respektieren. Kapitel 6 nimmt die Schule als Ganzes in die Pflicht und betrachtet die systembedingten Tücken, die sich beim Umgang mit der Herausforderung durch neuartige politische Phänomene offenbaren. Kapitel 7 skizziert Handlungsmöglichkeiten einer präventionsbewussten Schulgemeinschaft. Es baut die Brücke von der (abwehrenden) Prävention zur (positiven) Demokratiepädagogik. Abschließend wendet sich Kapitel 8 einigen häufig gestellten Fragen zu.

Unter »Materialien« finden sich Werkzeuge für die demokratiepädagogische Prävention, Fallbeispiele für das Training und Gesprächserinnerungen, die als kleine Erzählungen im kollegialen Team, in der Aus- und Fortbildung und in Präventionsprojekten mit Jugendlichen einsetzbar sind.

 

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Islamismus: Ursprung und Grundmuster einer Ideologie

Islamismus ist eine totalitäre politische Ideologie, die sich einer religiösen Sprache und Rhetorik bedient und den Anspruch erhebt, die einzig konsequente Auslegung des islamischen Glaubens darzustellen (Hirschmann 2006). Er entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten und Nordafrika zu einer wirkmächtigen politischen Bewegung. Als einer seiner wichtigsten Vordenker gilt der ägyptische Intellektuelle und Theoretiker Sayyid Qutb, der Anfang der 1950er Jahre der Muslimbrüderschaft beitrat und unter Nassers Herrschaft 1966 hingerichtet wurde. Von ihm stammt eines der wichtigsten Werke des Islamismus, die »Zeichen auf dem Weg« (Qutb o. J.). Diese Schrift beginnt mit einer radikalen Abrechnung mit dem Westen und dem Kapitalismus, lässt darauf jedoch auch eine Abrechnung mit dem Sozialismus des Ostblocks folgen und verschreibt sich dann einem dritten Weg: dem Weg zum Gottesstaat. Beeinflusst von den Ideen des arabischen Nationalismus liest sich das Traktat wie ein Kampfaufruf gegen die Unterdrückung der Muslime durch die Herrschaft der Ungläubigen. Dazu rechnet Qutb nicht nur die modernen Systeme, sondern auch die traditionellen arabischen Regime.

Der Islamismus geht davon aus, dass der Islam die Lösung für alle Probleme der Gegenwart enthält. Er ist politisch und dem Diesseits zugewandt, also keine Aufforderung zum Rückzug in die reine Frömmigkeit. Dem Islamismus geht es um politische Herrschaft unter Berufung auf die Religion. In den 1962 veröffentlichten »Zeichen auf dem Weg« heißt es dazu:

»Die Zeit ist gekommen, dass die muslimische Gemeinschaft die Aufgabe, die Gott ihr für die Menschheit auferlegt hat, erfüllt. (…) Wenn der Islam die Rolle des Führers der Menschheit wieder spielen soll, dann ist es notwendig, dass die muslimische Gemeinschaft in ihrer ursprünglichen Form wieder hergestellt wird.« (Sayyid Qutb: Milestones. Dar al-Ilm, Damascus, Syria, p. 9; eigene Übersetzung nach der englischsprachigen Ausgabe)

Für Qutb geht es um die Errichtung einer Herrschaftsordnung im Namen der Religion des Islam. Ihr Geltungsanspruch legitimiert sich aus göttlicher Offenbarung und ist durch kein Naturrecht und keinen Religionspluralismus begrenzt. Die ganze Menschheit zu führen, heißt, eine Weltherrschaft zu errichten. Nach Qutb kann der Islam dies allerdings nur, wenn er back to the roots geht. Nur dann kann er die vom Islamismus beklagte »Demütigung der Muslime« durch ihre Feinde beenden. Nur dann kann er zu neuem Glanz und Ruhm gelangen.

Hier ist der Anknüpfungspunkt für das, was heute als sog. Salafismus Faszination ausübt: die Vorstellung, zum Leben der Altvorderen (arab. salaf) zu Mohammeds Zeit zurückzukehren. Inzwischen kursieren jedoch besonders in der deutschen Fachöffentlichkeit so viele Begriffsvarianten – bis hin zum »salafistischen Dschihadismus« –, dass die begriffliche Grenze zum Islamismus immer mehr verschwimmt. Einen vorzüglichen Überblick über die Genese des Begriffs Salafismus bieten die Beiträge im Theorieteil des Sammelbands von B. T. Said und H. Fouad (Said/Fouad 2014). Die islamische Salafiyya, eine fundamentalistische Rückbesinnung auf den Kern der Religion, kann politisch völlig unschuldig sein (Nedza 2014). Wir sollten sie, auch in der modernen, politisierten Variante, nicht in die Nähe radikaler und menschenverachtender Vorstellungen rücken, die – wie der Islamismus von IS, al-Qaida und anderen Formationen – auf die Errichtung einer totalen Herrschaft aus sind. Wer den Begriff »gewaltbereiter Salafismus« wählt, um den Begriff Islamismus zu vermeiden, hat nicht nur das Problem, als jemand wahrgenommen zu werden, der um den heißen Brei herumredet. Er stellt unwillkürlich auch eine Verbindung zwischen tiefer Frömmigkeit und Terrorismus her. Diesen Gefallen sollten wir der politisch motivierten Kriminalität, die sich im Dschihadismus offenbart, nicht tun.

Ausgehend von der Vorstellung einer göttlichen Sendung mit politischem Auftrag ist das Endziel der islamistischen Ideologie ein weltweiter Gottesstaat (Kalifat). Für diesen muss ein »heiliger Krieg« (Dschihad) geführt werden. Dabei wird die Menschheit eingeteilt in Gläubige, Ungläubige und solche, die die religiöse Botschaft noch nicht erreicht hat. Dass die übergroße Mehrheit der Muslime sich dem islamistischen Aufruf zum politischen Kampf nicht anschließt, betrachten die Anhänger dieser Ideologie als Zeichen für einen Dämmerzustand, in dem sich die Gemeinschaft der Muslime auf der Welt befindet. Sie selber sehen sich in der Rolle einer Elite, die dieser Gemeinschaft den Weg weisen muss. Ein politisches Erweckungsmotiv ist erkennbar. Es ist verwandt mit der demagogischen Losung vom »Erwachen«.

Wir haben es also mit dem unversöhnlichen Gegenentwurf zu einer von Menschen ausgehandelten rechtsstaatlichen Ordnung zu tun, mithin zur Demokratie. Während in dieser das Menschenrecht unabhängig von Glauben, Geschlecht und Herkunft besteht und eine Herrschaft durch demokratische Verfahren legitimiert werden muss, ist der Gottesstaat in seiner Macht unbegrenzt. Die Frage des Missbrauchs der Macht im Namen Gottes stellt sich weder für Qutb noch für die Islamisten unserer Tage. Da die politische Ordnung sich für sie direkt aus dem Koran ableiten lässt und er alles Gesetz für das Zusammenleben der Menschen bereits enthält (Scharia), gilt eine Diskussion um die richtige und vernünftige Ordnung und ihre freie Ausgestaltung oder Veränderung als »gottlos«. Die Anschläge auf Parlamente, Wahllokale, demokratische Parteien und Politiker, wie sie von militanten Islamisten immer wieder verübt werden, haben hier ihre geistige Wurzel.