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Gabriela Bunz-Schlösser

Nimm dein inneres
Kind an die Hand

Gabriela Bunz-Schlösser

Nimm dein
inneres Kind
an die Hand

Wie du deine Vergangenheit loslässt
und im Heute glücklich wirst

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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3. Auflage 2019

© 2018 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

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Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, München

Umschlagabbildung: IStock/Grandfailure

Layout und Satz: J. Echter, Landsberg am Lech

eBook by ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86882-890-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-139-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-140-1

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Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Mein eigener Weg zu meinem inneren Kind

Kapitel 2: Wer oder was ist das innere Kind?

Kapitel 3: Wann ist die Arbeit mit dem inneren Kind sinnvoll?

Kapitel 4: Wann ist von der Arbeit mit dem inneren Kind abzuraten?

Kapitel 5: Nachholen von Bedürfnissen

Kapitel 6: Die Wirkung der Arbeit mit dem inneren Kind

Kapitel 7: Mindestdauer der Arbeit mit dem inneren Kind

Kapitel 8: Allgemeine Vorgehensweise

Entspannungstext

Die sieben W’s

Rollenwechsel

Wichtige Regeln, die als Erwachsener zu beachten sind

Was tue ich, wenn …?

Was braucht Ihr inneres Kind?

Fragen, die man nicht an das innere Kind stellen sollte

Kapitel 9: Beispiele zur Protokollführung

Protokoll von Andrea (34 Jahre, verheiratet und Mutter von drei kleinen Kindern)

Drei-Wochen-Protokoll von Barbara (46 Jahre)

Vier-Wochen-Protokoll von Michael (32 Jahre)

Kapitel 10: Die Arbeit mit dem inneren Kind als Unterstützung für viele Formen von durchgeführter Psychotherapie

Kapitel 11: Anwendung dieser Arbeit mit dem inneren Kind bei Kindern und Jugendlichen

Kapitel 12: Der Lohn der Arbeit mit dem inneren Kind

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Hallo liebe Leserinnen und Leser,

die meisten von uns haben eine Menge Bedürfnisse, die in unserer Kindheit und Jugendzeit häufig nicht in genügendem Maße erfüllt worden sind, wie z.B. liebevolle Zuwendung, Geborgenheit und Sicherheit.

Dieses Buch über die Arbeit mit dem inneren Kind ermöglicht es Ihnen, all diese Bedürfnisse auf dem imaginativen Weg, d.h. mithilfe von inneren Vorstellungsbildern, nachzuholen.

Es ist eine relativ einfache Methode, die sich auch gut von Laien erlernen lässt und die sich immer wieder in ihrer Art wiederholt.

Sie ist insgesamt neun Jahre lang auf Herz und Nieren von mir und sehr vielen meiner Klienten geprüft worden! Sie hat nicht nur mir selbst wunderbare Möglichkeiten gegeben, mein Leben wesentlich freudvoller zu gestalten, sondern auch Hunderten meiner Klienten geholfen, mit sich selbst besser zurechtzukommen und von der Liebe anderer Menschen nicht mehr abhängig zu sein. Was nicht heißt, dass es nicht wunderschön ist, von einem Menschen innigst geliebt zu werden … Letzteres wünsche ich jedem von Ihnen!

Aber wie Sie sicher selbst schon oft festgestellt haben, entstehen im Leben unendlich viele Probleme allein dadurch, dass im Grunde seines Herzens jeder Mensch von allen geliebt werden möchte und dieser Wunsch „natürlich“ nicht in Erfüllung geht.

Bei der Arbeit mit dem inneren Kind eröffnen sich für Sie ganz neue Möglichkeiten, einen Weg zu sich selbst und schließlich zu Ihrem eigenen Inneren zu finden. Dadurch erhalten Sie eine neue Methode, intensiv Kraft für den Alltag zu schöpfen.

Sie werden in neuer Weise ausgeglichen, selbstbewusst, beziehungsfähig und entscheidungsfreudig. Und als „Nebeneffekt“ werden Sie im wahrsten Sinne des Wortes „sehen“ können, wie sich durch diese Arbeit Ihre zunehmende innere Schönheit auf Ihre äußere Schönheit und Jugendlichkeit auswirkt.

Erwachsen-Sein bedeutet für viele von uns, dass wir vernünftig, souverän und sachlich, dem Alltag gut angepasst und allen Situationen des Lebens gewachsen sind. Dabei übersehen wir, dass das Letztere nur dann gut gelingt, wenn wir als Erwachsene auch immer einen guten Draht zu dem Kind und dem Jugendlichen in uns haben, das/der wir einmal waren. Ein Mensch, der „nur“ erwachsen ist, ist auf Dauer unerträglich. Ein Mensch, der als Erwachsener „nur“ Kind ist, ist es mindestens ebenso.

Es gilt, einen guten Kontakt zwischen dem Erwachsenen-Anteil und dem Kind-Anteil in uns herzustellen. Dies vermag die Arbeit mit dem inneren Kind, wie ich Sie Ihnen hier vorstellen werde, zu leisten. Wenn Sie gelernt haben einen guten Kontakt zwischen diesen beiden Anteilen in sich herzustellen, können beide Anteile in Ihnen voneinander profitieren und sich wie ein gutes Paar ergänzen. Es fällt Ihnen dann viel leichter, das Leben zu meistern, als vorher.

Kapitel 1

Mein eigener Weg zu
meinem inneren Kind

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Vor ca. zehn Jahren brachte mir eine Patientin das Buch „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ von Erika J. Chopich und Margaret Paul in meine Praxis mit. Die Lektüre hat mich sehr gefesselt und mir gleichzeitig klar gemacht, dass ich mit meinem inneren Kind noch eine Menge zu tun habe. Ich hatte zwar schon zehn Jahre lang drei Zusatzausbildungen in psychotherapeutischen Therapieformen gemacht (wie das katathyme Bilderleben, das Psychodrama und die Verhaltenstherapie), aber mit meinem inneren Kind habe ich dabei noch nie gearbeitet.

Um Psychotherapeut werden zu können, muss man sich mithilfe der zu erlernenden Therapiemethode mehr oder weniger auch selbst therapieren lassen, um Probleme, die man vor allem noch aus der Kind- und Jugendzeit mit sich herumschleppt, möglichst aufzulösen. Dies ist sehr wichtig, damit einigermaßen gewährleistet ist, dass der Therapeut später nicht eigene ungelöste Probleme auf seine Patienten projiziert. Außerdem ist für den Therapeuten wichtig zu wissen, wie sich der Patient fühlt, bei dem man diese Methode anwendet.

Das oben genannte Buch hat mich zwar sehr dazu angeregt, mit meinem inneren Kind zu arbeiten, aber nach einigen Versuchen habe ich das wieder abgebrochen, weil mir systematische Anleitungen gefehlt haben. Auch in dem später von den gleichen Autorinnen erschienenen Buch „Das Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem inneren Kind“ fand ich leider nicht das, was ich benötigt hätte, um systematisch mit dem inneren Kind an mir zu arbeiten. Also habe ich versucht, aus dem Gelesenen und meinen drei erlernten Therapiemethoden verschiedene Elemente (wie Rollenwechsel, imaginatives Verfahren und z.B. das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen mithilfe innerer Vorstellungsbilder) herauszunehmen und damit eine möglichst einfache, klare und systematische Arbeit mit dem inneren Kind zu entwickeln.

Weil ich in mancher Hinsicht ein ungeduldiger Mensch bin – was in diesem Fall ausnahmsweise mal ein Segen war – und gleich herausfinden wollte, was diese Methode bewirken kann, habe ich dann gleich drei Wochen lang täglich zehn Minuten bis ca. eine halbe Stunde damit an mir gearbeitet. Der Erfolg war für mich phänomenal. Ich habe dadurch etwas verloren, das mich schon mein ganzes Leben begleitet hat und das ich trotz so vieler Therapiejahre (um selbst Therapeut werden zu können) nicht verloren hatte, nämlich das Gefühl, mutterseelenallein auf dieser Welt zu sein. Dieses Gefühl hatte mich bis dahin mein ganzes Leben lang begleitet. Es trat mal weniger und mal mehr auf. Aber so ca. alle ein bis zwei Monate hatte ich Tage, an denen ich mich völlig zurückzog, wieder einmal bis auf die Grundfeste meiner Persönlichkeit von den Menschen enttäuscht war, mich ungeliebt, nicht verstanden und eben mutterseelenallein fühlte. An diesen Tagen war meine Stimmung sehr gedrückt, sehr traurig. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken – nach dem Motto: „… und wie’s da drin aussieht, geht niemanden was an!“

Aber nach drei Wochen Arbeit mit meinem inneren Kind ist dieses Gefühl, mutterseelenallein auf dieser Welt zu sein, bis zum heutigen Tag nie wieder aufgetaucht. Und das ist nun über neun Jahre her! Falls irgendwann auch nur minimale Ansätze davon auftreten, weiß ich sofort, was ich in meiner inneren Vorstellung machen muss, um mich in wenigen Minuten wieder gut zu fühlen.

Mittlerweile habe ich in meiner psychotherapeutischen Praxis Hunderten von Patienten und Klienten diese Methode beigebracht. Alle, die damit eine Zeit lang regelmäßig gearbeitet haben, kamen zu gleichwertig guten Erfolgen für sich. Ich möchte Ihnen nun diese Methode in der Hoffnung vorstellen, dass Sie selbst Lust bekommen, diese für sich auszuprobieren – und mit der Gewissheit, dass Sie, wenn Sie mindestens drei Wochen lang täglich kurz damit arbeiten, erfolgreich sein werden. In Kapitel 9 finden Sie zwei Protokolle, die Ihnen auf eindrückliche Art zeigen, wie man mit dieser Methode arbeiten kann. Barbara hat ihre Drei-Wochen-Arbeit mit ihrem inneren Kind, die sie allein durchführte, jeweils laut ausgesprochen und auf Tonband aufgenommen. So können Sie genau mitverfolgen, wie sie mit sich selbst gearbeitet hat.

Michael hat ein Vier-Wochen-Protokoll angefertigt. Diesmal aber auf eine andere Art. Er hat kurz inhaltlich geschildert, was bei dem jeweiligen gedanklichen Zusammentreffen mit ihm als Erwachsenem und ihm als Kind passiert ist. Anschließend hat er jeweils dokumentiert, wie sich durch die Arbeit mit seinem inneren Kind innerhalb von vier Wochen seine Beziehungskrise, die er damals hatte, verändert hat.

Beide Berichte sind Anhaltspunkte dafür, wie die Arbeit mit Ihrem inneren Kind aussehen kann.

Kapitel 2

Wer oder was ist das
innere Kind?

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Das innere Kind ist kein Phantom oder Hirngespinst. Es ist ein Teil von jedem von uns. Lassen Sie es mich an einem einfachen Beispiel aus dem Alltag erklären:

Wenn man auf einen Menschen wütend ist und vorhat, ihm ordentlich die Meinung zu sagen, ist es sehr sinnvoll, sich vorher zu überlegen, dass dieser Mensch nicht nur aus dem Anteil besteht, der einem im Moment maßlos auf die Nerven geht, sondern dass er (so ist es jedenfalls meistens) durchaus auch andere Anteile in sich hat, die man mag, liebt, schätzt usw. Es ist viel sinnvoller, wenn wir ihm erst sagen, was wir an ihm mögen, und ihm anschließend das mitteilen, was uns wütend macht, als wenn wir einen Rundumschlag durchführen. Letzteres führt schon rein bildhaft dazu, dass von der Person nichts mehr übrig bleibt als etwas „undefinierbar platt Gewalztes“. Entsprechend sehen häufig die Reaktionen dieses „Restes“ der Person aus. Wenn wir dem Menschen, mit dem wir ein „Hühnchen zu rupfen“ haben, allerdings erst klarmachen, dass wir nicht ihn als Ganzes verurteilen, sondern dass uns nur von ihm ein Teil gerade sehr auf die Nerven geht, dann bleibt bei unserem Gegenüber trotz der Kritik ein großer Teil an Persönlichkeit unangefochten, die nichts mit dem zu tun hat, was uns im Moment gerade „stinkt“. Dadurch haben Sie die Chance, dass der andere Ihre Kritik akzeptieren kann und sich zumindest überlegt, ob er sein Verhalten nicht ändern sollte.

Nebenbei ist immer sehr zu empfehlen, in zwischenmenschlichen Beziehungen zueinander einen Boden zu bauen. Einen Boden, auf dem man auch noch gut steht, wenn einem etwas Unangenehmes mitgeteilt wird. Diesen Boden kann man am besten bauen, wenn man dem anderen ganz viele kleine Details, die wir gut an ihm finden, so oft wie möglich mitteilt. Wenn der Mensch einmal genug positives Feedback erhalten hat, kann er Kritik meistens nicht nur gut ertragen, sondern sie auch konstruktiv umsetzen. Und es lohnt sich auch, den Menschen, mit dem man in einer wichtigen Beziehung steht, zu bitten, die positiven Dinge, die ihm an einem selbst auffallen, mitzuteilen. Wir haben das alle nicht gelernt, aber es ist meines Erachtens die wichtigste Grundlage für unsere positive Weiterentwicklung wie auch für den Abbau von Gewalt.

Menschen, die Gewalt ausüben, sind meist Menschen, die in ihrem Herzen unsicher und ängstlich sind und sich nicht trauen, „normale“ aggressive Reaktionen zu zeigen. So kommt dann die Gewalttat wie aus „heiterem Himmel“ – ohne Vorankündigung. Wenn wir es schaffen zu lernen, den Menschen viel mehr positive Rückmeldungen zu geben, werden sie sicherer und damit weniger ängstlich. Auf diese Weise könnte in vielen Fällen Gewalt verhindert werden.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das Wichtigste für eine gute Weiterentwicklung eines jeden Menschen das Bauen dieses Bodens ist. Loben ist sehr einfach. Man kann sich gut daran gewöhnen! Man muss nur daran denken, die Menschen auch mal zu loben, und dies sollte natürlich ehrlich gemeint sein! Wenn ich jemandem dauernd sage, dass er toll sei, und mir im Stillen das Gegenteil denke, sind solche falschen Lobesworte geradezu schädlich. Sie fördern nur das eingebildete Ego des Menschen und versetzen ihn damit in eine Scheinwelt, aus der er früher oder später böse herausfallen wird.

Das Kind in Ihnen braucht auch diesen Boden, den es meistens nicht hat. Und so erscheint es nur allzu logisch, dass ein großer Teil des Heilungsprozesses darin besteht, dass Sie diesen Boden herstellen, indem Sie Ihrem inneren Kind gut zureden, Mut machen, es loben, anerkennen usw.

Kommen wir noch einmal darauf zurück, wie wichtig es ist, den Menschen in seinen verschiedenen „Anteilen“ zu sehen und zu lernen, diese auch in der jeweiligen Situation auseinander zu halten. Es könnte z.B. sein, dass Sie einen sehr liebenswerten Anteil in sich haben, einen hilflosen, einen rechthaberischen, einen überpeniblen, einen, auf den man sich 150-prozentig verlassen kann, einen schüchternen, einen starken, wenn es um Ihre Rolle im Beruf geht, usw.

Das innere Kind ist auch so ein Anteil von uns, ebenso wie es der Erwachsene in uns ist, der wir heute sind (ich gehe davon aus, dass dieses Buch in erster Linie „Erwachsene“ lesen). Ein dritter Anteil, der auf diese Ebene passt, ist der Mensch, der wir in Zukunft sein werden. Dieser „Zukunftsmensch“ weicht von dem „Erwachsenen“, der wir heute sind, nur dann ab, wenn wir uns weiterentwickeln. Aber selbst wenn wir das nicht bewusst tun, werden wir z.B. in den nächsten 20 Lebensjahren viele neue Erfahrungen machen, die uns vielleicht verändern, ohne dass wir selbst viel dazu beigetragen hätten.

Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass Sie Ihre momentane Lebenssituation anders sehen, wenn Sie diese in 20 Jahren noch einmal rückwirkend betrachten. Durch den Abstand zur heutigen Situation können Sie sie wahrscheinlich objektiver betrachten.

Der Rollenwechsel vom Erwachsenen zum Kind und umgekehrt bedeutet gleichzeitig immer, dass Sie die Szene, um die es sich gerade handelt, aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen können. Sie werden erstaunt sein, wie oft Sie Situationen aus der Kindperspektive anders betrachten und empfinden, als wenn Sie sich in der Erwachsenen-Rolle befinden und sich von dort aus in das eigene Kind „einfühlen“. Ich bin immer wieder verblüfft, dass der Rollenwechsel Perspektiven hervorbringt, an die man als Erwachsener gar nicht denkt.

So zeigt sich auch, dass wir uns in unsere eigenen Kinder immer nur bedingt einfühlen können. Um wirklich zu erahnen, was in ihnen vorgeht, ist ein gedanklicher Rollenwechsel (auch in die Körpergröße und entsprechende Perspektive zur Umwelt) notwendig und Erfolg versprechend. Und ebenso wird es Ihnen gehen, wenn Sie als der Erwachsene, der Sie heute sind, an Situationen aus Ihrer Kindheit und Jugendzeit denken. Heute sehen Sie alles mit Abstand. Damals steckten Sie mittendrin in den Freuden und Leiden des jeweiligen Alters.

Das innere Kind ist also der Anteil in Ihnen, der Sie früher einmal waren. Wenn Sie ein ängstliches Kind waren, ist es der ängstliche Anteil in Ihnen, der heute vielleicht auch noch so ab und zu plötzlich in Form von Ängsten auftaucht, die Sie eigentlich als Erwachsener in dem Maße gar nicht mehr haben müssten. Aber Sie erleben die Ängste in der entsprechenden Situation als unangemessen stark. Oder Sie waren vielleicht ein recht wildes Kind und man hatte Mühe, Sie zu bändigen. Irgendjemand hat dies aber dann vielleicht mit Brachialgewalt geschafft. Und heute sind Sie möglicherweise alles andere als wild, sondern überangepasst und zurückhaltend, und Sie wären, wenn Sie es sich selbst erlauben würden, oft gerne temperamentvoll, würden gerne Tango tanzen oder beispielsweise auf eine andere Art voller Spaß herumtoben. Aber nein: Man hat Ihnen dies mit Gewalt abgewöhnt und Sie sind bis heute in sich „eingerostet“ und müssten ordentlich „geölt“ werden, damit Sie wieder so in die Gänge kommen, wie es Ihrem eigentlichen Wesenskern entspricht. Das alles vermag die Arbeit mit dem inneren Kind.

Wir reagieren als Erwachsene in manchen Situationen noch genauso, wie wir als Kind reagiert haben, weil irgendetwas in uns noch nicht verstanden hat, dass wir in der Zwischenzeit längst erwachsen geworden sind und z.B. die böse Großmutter, die uns früher das Leben zur Hölle gemacht hat, „eigentlich“ längst nicht mehr unser Leben bestimmt. Doch irgendwie tut sie es noch immer, obwohl sie vielleicht schon vor langer Zeit gestorben ist. Sie tut natürlich gar nichts mehr, aber wir reagieren immer noch mit der Überlebensstrategie, die wir uns als Kind zurechtgelegt haben, um die Situation heil zu überstehen. Das kann so aussehen, dass wir in einer Situation, in der uns ein anderer Mensch in der heutigen Zeit das Leben zur Hölle macht, noch genauso reagieren, wie wir es als Kind taten, nämlich z.B. verängstigt, schweigend, mit Druck im Bauch usw., anstatt diesem Menschen klare Grenzen zu setzen.

Das Wort „Überlebensstrategie“ bezeichnet eine der wichtigsten Verhaltensweisen, die wir uns als Kind unbewusst zurechtgelegt haben. Wir sind immer so schnell dabei, andere Menschen für individuelle Verhaltensweisen zu verurteilen. Wenn wir lernen, die dahinter verborgene Überlebensstrategie zu erkennen, können wir solches Verhalten anders einordnen. Wenn ich verstehe, wie ein Mensch zu seinen problematischen Verhaltensweisen gekommen ist, kann ich besser damit umgehen. Ich werde sein Verhalten dann z.B. nicht sofort auf mich beziehen, sondern als Muster erkennen, wie der andere früher mit solchen Situationen fertig geworden ist. Das heißt aber nicht, dass wir ein ungutes Verhalten akzeptieren sollten. Wir können auch keinen Mord tolerieren, aber wenn wir versuchen zu verstehen, wie ein Mörder zu seiner Tat kam, werden wir vielleicht anders mit ihm umgehen können.

Das Fatale ist, dass wir oft gar nicht begriffen haben, dass wir diese Formen von Überlebensstrategien (wie z.B. völligen Rückzug) heute als erwachsene Menschen gar nicht mehr benötigen, da wir inzwischen ganz andere Möglichkeiten haben könnten, uns zu wehren. Bei der Arbeit mit dem inneren Kind können wir solche neuen Strategien aus der Rolle des Erwachsenen heraus in den Vorstellungsbildern ausprobieren, falls sie in unserem Verhaltensrepertoire noch nicht enthalten sind.

Unsere Überlebensstrategien werden uns dann zunehmend bewusst. Sie werden lernen, dass Sie diese heute nicht mehr benötigen, sondern längst in schwierigen Situationen anders handeln können, als Sie es als Kind getan haben. Ein anderes Beispiel: Wenn Sie als Kind gelernt haben, dass Sie Zuwendung der Eltern nur bekommen, wenn Sie ihnen mit lautem Geschrei pausenlos Geschirr zerschmeißen, dann werden Sie diese Überlebensstrategie (denn ohne Zuwendung können wir nicht leben) vielleicht heute noch anwenden, wenn sich jemand, den Sie mögen, Ihnen gegenüber nicht so verhält, wie sie es möchten. (Ich übertreibe immer gerne ein bisschen, aber dann versteht man oft leichter, was ich sagen will.)

Viele Verhaltensweisen, die wir als Erwachsene an den Tag legen, sind alte Überlebensstrategien aus unserer Kindheit. Und damit zerstören wir u.U. Partnerschaften, bekommen Probleme mit Arbeitskollegen, versagen im Beruf oder schaffen uns andere Probleme.

Um aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen, können wir durch die Arbeit mit dem inneren Kind aus der Rolle des Erwachsenen heraus, der wir heute sind, dem Kind, das wir einmal waren, helfen, das Leben neu zu meistern. Ebenso lernen wir durch die Arbeit mit unserem inneren Kind den Erwachsenenanteil in uns zu stärken und weiter auszubilden.

Wir können in den inneren Vorstellungsbildern dem Kind, das wir einmal waren, helfen, alte Bedürfnisse wie Geborgenheit, Geliebt-Werden, Lebendigsein-Dürfen, Sich-entwickeln-Dürfen usw. nachzuholen.

Wenn dies alles geschehen ist und ein guter Kontakt zwischen dem Erwachsenen und dem Kind, das wir früher einmal waren, in uns hergestellt ist, werden wir spüren, dass in uns etwas heil geworden ist.

In diesem neuen Zustand sind wir beziehungsfähiger als vorher. Wir fühlen uns nicht mehr so abhängig davon, ob wir von jemand anderem geliebt werden oder nicht. Wir können mit uns selbst viel mehr anfangen, sind selbstbewusster, nicht mehr so labil wie früher und spüren uns selbst auf eine neue und lebendigere Weise. Es ist uns dann meist auch ganz anders möglich, auf andere Menschen zuzugehen. Wenn ein Mensch von sich sagt, er sei nicht beziehungsfähig, heißt das lediglich, dass er zu sich selbst, d.h. zu dem Kind in sich, keine ausgewogene Beziehung hat (manchmal so gut wie gar keine!). Er ist wie vom Kind, das er einmal war, abgeschnitten. Dieser Zustand tut sehr weh, wenn man ihn als Gefühl zulässt. Also schneidet man diese Gefühle ab – mit dem Ergebnis, dass man damit nicht nur dieses, sondern auch noch eine ganze Menge anderer Gefühle abschneidet. Solche Menschen bezeichnen wir dann als „kalt“, gefühllos“ etc. Wenn Sie jedoch gelernt haben, dass diese „Kühle“ eine alte Überlebensstrategie ist, werden Sie leichter einen guten Zugang zu solch einem „abgestorbenen“ Menschen finden, als wenn Sie auf allzu große Distanz gehen. Durch Kühle strahlt ein Mensch meist etwas aus wie: „Komm mir nicht zu nahe!“ Hinter Kälte und Gefühllosigkeit steht fast immer Angst – ein ängstliches Kind im Erwachsenen. Dieses ängstliche Kind gilt es zu erkennen, zu beruhigen und aufzubauen – ganz egal ob Sie das nun mit Ihrem inneren Kind tun oder mit einem Menschen, an dem Ihnen viel liegt und der sich Ihnen gegenüber kalt und gefühllos zeigt.

Angstabbau ist neben dem Aufbauen eines gesunden Bodens m.E. das Wichtigste, das wir für uns selbst und andere Menschen tun können.

Wenn Sie sich nun in der Art, wie ich es Ihnen in den nächsten Kapiteln vorstelle, intensiv mit Ihrem inneren Kind in positiver Weise beschäftigen, werden Sie von diesem Kind in Ihnen sehr belohnt werden. Die Krönung dieser Arbeit ist nämlich, dass Ihr inneres Kind dann quasi die Pforte zu Ihrem eigenen Inneren wird. Die Mühe hat sich doppelt gelohnt. Ihr inneres Kind wird Sie reich beschenken. Denn nun brauchen wir uns nur unserem inneren Kind zuzuwenden, wenn es uns als Erwachsenem einmal nicht gut geht oder wir Entscheidungen treffen müssen, die uns schwer fallen. Wenn wir uns in solchen Situationen dem inneren Kind in uns zuwenden, werden wir sofort eine Antwort von ihm bekommen, was wir als Erwachsene tun können, damit es uns besser geht oder damit wir die für uns jeweils richtige Entscheidung treffen. Das sind dann die berühmten Entscheidungen, die aus dem „Bauch“ kommen und manchmal mit unserer Kopfentscheidung nicht übereinstimmen. Das Kind in uns wird uns keine kindischen Entscheidungen offerieren, sondern uns helfen, aus einer anderen Perspektive die Situation zu betrachten.

Wenn Sie selbst Kinder haben, haben Sie sicher schon öfter erlebt, dass eines Ihrer Kinder plötzlich etwas sagt, das in Bezug auf das Thema, worüber Sie sich als Erwachsene z.B. gerade unterhalten, genau den Nagel auf den Kopf trifft. Diese Äußerung Ihres Kindes kommt aber nicht daher, dass das Kind schon so „erwachsen“ denken kann, sondern das Gesagte ist quasi durch das Kind durchgelaufen! Das ist dann das, was aus dem eigenen Inneren kommt.

Je mehr wir als Erwachsene für das Kind in uns getan haben, desto leichter ist der Zugang zu unserem eigenen Inneren auch wiederhergestellt. Und umso leichter kann nun auch bei uns Erwachsenen etwas durchlaufen! Psychologisch ausgedrückt würde man dann sagen: eine spontane Aussage, eine schlagfertige Aussage etc.

Um zu überprüfen, welche Form von Entscheidung für Sie die richtige ist, empfehle ich Ihnen folgenden Test zu machen:

Fragen Sie bei jeder noch so kleinen Entscheidung, die Sie im Alltag treffen müssen, immer sowohl Ihren Kopf als auch Ihr eigenes Inneres (das innere Kind ist die Pforte dazu). Wenn beide dasselbe antworten, ist die Entscheidung klar. Wenn einer etwas anderes „sagt“ als der andere, probieren Sie es aus. Treffen Sie Ihre Entscheidung einmal nach der Art, wie es Ihr Kopf diktiert, und schauen Sie anschließend, ob es für Sie richtig war oder nicht. Bei einer anderen Entscheidung handeln Sie nach der Antwort des inneren Kindes und schauen im