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DOUGLAS MURRAY
DER SELBSTMORD EUROPAS
IMMIGRATION, IDENTITÄT, ISLAM
Aus dem Englischen von Krisztina Koenen
Für Fragen und Anregungen:
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7. Auflage 2021
EDITION TICHYS EINBLICK
© 2018 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Copyright der Originalausgabe: © Douglas Murray 2017
Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Bloomsbury Continuum, einem Imprint von Bloomsbury Publishing Plc, unter dem Titel The Strange Death of Europe. Immigration, Identity, Islam.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Krisztina Koenen
Redaktion: Werner Wahls
Umschlaggestaltung: Manuela Amode
Umschlagabbildung: Muster auf Weltkugel: istock images, Umrisse Europa: shutterstock/okili77
Satz: ZeroSoft SRL, Timisoara
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-95972-105-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-179-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-180-6

INHALT

Vorwort
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Kapitel 1: Der Anfang
Kapitel 2: Wie wir süchtig nach Einwanderung wurden
Kapitel 3: Selbstrechtfertigungen
Kapitel 4: »Willkommen in Europa«
Kapitel 5: »Es gibt nichts, was wir nicht gesehen hätten«
Kapitel 6: Multikulturalismus
Kapitel 7: Sie sind da
Kapitel 8: Unerhörte Propheten
Kapitel 9: Alarmzeichen
Kapitel 10: Die Tyrannei der Schuld
Kapitel 11: Die vorgetäuschte Rückführung
Kapitel 12: Lernen, damit zu leben
Kapitel 13: Müdigkeit
Kapitel 14: Festgefahren
Kapitel 15: Die Gegenreaktion im Zaum halten
Kapitel 16: Das Gefühl, die Erzählung habe sich abgenutzt....
Kapitel 17: Das Ende
Kapitel 18: Was hätte sein können
Kapitel 19: Und was tatsächlich sein wird
Nachwort
Danksagung
Anmerkungen
Register

VORWORT

Europa begeht Selbstmord. Oder zumindest haben sich seine Führer dafür entschieden. Ob die europäischen Bürger ihnen auf diesem Weg folgen wollen, ist freilich eine andere Frage.
Wenn ich sage, dass Europa dabei sei, sich selbst auszulöschen, dann meine ich nicht, dass die Last der Regulierungen durch die Europäische Kommission unerträglich geworden sei oder dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht genug getan habe, um die Ansprüche irgendeiner Gemeinschaft zu befriedigen. Ich meine damit vielmehr, dass die Zivilisation, die wir als europäische bezeichnen, dabei ist, Selbstmord zu begehen, und weder Großbritannien noch irgendein anderes westeuropäisches Land kann diesem Schicksal entrinnen, weil wir alle unter den gleichen Krankheiten leiden. Im Ergebnis wird am Ende der Lebensdauer der meisten Menschen, die heute Europa bevölkern, Europa nicht mehr das sein, was es mal war. Wir werden den einzigen Ort auf der Welt, der unsere Heimat war, verloren haben.
Man kann freilich darauf hinweisen, dass es während der Geschichte immer schon Vorhersagen des europäischen Niedergangs gegeben habe und dass ohne diese Todesprophezeiungen Europa nicht Europa wäre. Aber der Zeitpunkt mancher Ankündigungen ist überzeugender als andere. In seinem autobiografischen Werk Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers, das 1942, kurz nach seinem Tod erschienen ist, schrieb Stefan Zweig über die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg: »Todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation.«
Eines der wenigen Dinge, die ihn etwas Hoffnung schöpfen ließen, war, dass er in den Ländern Südamerikas – wohin er schließlich geflohen war – neue Ableger seiner eigenen Kultur entdeckt hatte. In Argentinien und Brasilien erlebte er, wie eine Kultur von einem Land in ein anderes auswanderte, sodass, selbst wenn der Baum, der diese Kultur hervorgebracht hatte, gestorben war, er immer noch »neue Blüten, neue Frucht« hervorbringen konnte. Selbst wenn sich Europa zu dieser Zeit vollständig zerstört hätte, blieb Stefan Zweig noch der Trost: »Was Generationen vor uns und um uns geschaffen, es ging doch niemals ganz verloren.«1
Heute ist der europäische Baum – hauptsächlich wegen der Katastrophe, die Zweig beschrieben hat – am Ende tatsächlich verloren. Europa zeigt heute kaum noch den Wunsch, sich zu reproduzieren, für sich zu kämpfen und für sich zu streiten. Die Machthaber bilden sich ein, dass es nichts ausmachen würde, wenn die Europäer und die europäische Kultur der Welt verloren gingen. Einige unter ihnen haben sich klar dafür entschieden, das Volk aufzulösen und sich ein anderes zu wählen, wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Die Lösung« 1953 ironisch vorgeschlagen hatte. Der ehemalige liberal-konservative schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt erklärte dazu als Begründung, nur »Barbarei« stamme aus Ländern wie seinem, während alle guten Dinge von außen kämen.
Die gegenwärtige Krankheit geht nicht auf eine einzige Ursache zurück. Die aus der jüdisch-christlichen Tradition, der Kultur der alten Griechen und Römer, den Entdeckungen der Aufklärung hervorgegangene Kultur ist nicht durch eine bestimmte Ursache zum Einsturz gebracht worden. Zu diesem letzten Akt ist es durch die Verkettung zweier Umstände gekommen, die schließlich dazu geführt haben, dass sich unsere Zivilisation nicht mehr wird erholen können.
Der erste Umstand ist die Bewegung der Massen nach Europa. In allen westeuropäischen Ländern begann dieser Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf den Mangel an Arbeitskräften. Sehr schnell wurde Europa süchtig nach Einwanderung, und zwar so sehr, dass sie nicht mehr aufgehalten werden konnte, auch wenn man es gewollt hätte. Infolgedessen wurde das, was einst Europa war – die Heimat der Menschen Europas –, Schritt für Schritt zur Heimat der ganzen Welt. Die Orte, die einst Europa waren, wandelten sich zu einem »Irgendwo«. Die Orte, wo mehrheitlich pakistanische Einwanderer lebten, wurden in allem Pakistan ähnlich, bis auf den geografischen Ort selbst. Denn die Neuankömmlinge und ihre Kinder aßen die Gerichte ihres Herkunftslandes, sprachen die Sprache ihres Herkunftslandes und praktizierten die Religion ihres Herkunftslandes. Die Straßen in den kalten und verregneten nördlichen Regionen Europas bevölkerten Leute, die gekleidet waren, als lebten sie in den Gebirgsausläufern in Pakistan oder inmitten der Sandstürme Arabiens. »Das Imperium schlägt zurück«, sagten manche Beobachter mit kaum verhülltem Hohn. Doch während die europäischen Imperien längst verschwunden waren, sind diese neuen Kolonien offensichtlich für die Ewigkeit gedacht.
Während der ganzen Zeit fanden die Europäer Wege, so zu tun, als könnte das funktionieren. Indem sie – zum Beispiel – darauf bestanden, dass dieses Maß an Einwanderung normal sei. Oder dass die Integration gelingen würde, wenn auch nicht bei der ersten Generation, dann doch bei deren Kindern oder Enkeln. Oder dass es überhaupt nicht wichtig sei, ob die Neuankömmlinge sich integrieren würden oder nicht. Und die ganze Zeit wurde die Möglichkeit, dass es nicht gut gehen würde, verdrängt. Die Migrationskrise der letzten Jahre jedoch lässt diese Schlussfolgerung noch zwingender erscheinen.
Was mich zum zweiten Element der Verkettung führt. Selbst die Massenbewegung von Millionen nach Europa hätte nicht so fatale Auswirkungen, wenn nicht Europa zur gleichen Zeit – ob durch Zufall oder nicht – den Glauben an seine Überzeugungen, Traditionen und an seine eigene Legitimität verloren hätte. Zahllose Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Aber einer gehört gewiss dazu, nämlich die Art, wie die Westeuropäer »das Gespür für die tragische Seite des Lebens« verloren haben, wie Miguel de Unamuno es formuliert hat. Sie haben vergessen, was Stefan Zweig und seine Generation so schmerzhaft gelernt hatten: dass alles, was man liebt, selbst die größten und kultiviertesten Zivilisationen der Geschichte, von Menschen hinweggefegt werden können, die ihrer nicht würdig sind. Man kann diese tragische Seite des Lebens ignorieren. Eine der wenigen anderen Möglichkeiten, sie zu verdrängen, besteht darin, an den menschlichen Fortschritt zu glauben. Das ist gegenwärtig die beliebteste Vorgehensweise.
Doch während der ganzen Zeit hegen wir schreckliche, selbst erfundene Zweifel, die wir manchmal versuchen zu überspielen. Mehr denn auf jedem anderen Kontinent und jeder Kultur lasten auf Europa Schuldgefühle wegen seiner Vergangenheit. Neben diesem zur Schau gestellten Misstrauen sich selbst gegenüber gibt es auch noch die nach innen gewandte Version dieser Schuld. Denn Europa leidet auch unter einer existenziellen Müdigkeit und unter dem Gefühl, dass sich die Erzählung von Europa möglicherweise abgenutzt hat und man deshalb zulassen sollte, dass eine neue Erzählung beginnt. Die Massenmigration – das heißt die Ersetzung von großen Teilen der europäischen Bevölkerung durch Menschen aus der Fremde – ist eine Art der neuen Erzählung: Wir scheinen gedacht zu haben, Veränderung könne auch eine Erholung sein. Diese existenzielle Zivilisationsmüdigkeit ist keine europäische Besonderheit. Aber dass dieses Gefühl gerade in dem Moment eine Gesellschaft befällt, in dem sich eine neue Gesellschaft auf den Weg macht, muss zu elementaren, epochalen Veränderungen führen.
Hätte man über diese Vorgänge diskutieren können, wären Lösungen möglich gewesen. Doch selbst 2015, während die Migrationskrise hochkochte, war das, worüber man reden und denken durfte, eingeschränkt. Auf dem Höhepunkt der Krise, im September 2015, fragte Kanzlerin Merkel Facebook-Chef Mark Zuckerberg, was man tun könne, um die Bürger Europas davon abzuhalten, ihre Migrationspolitik auf Facebook zu kritisieren. »Arbeiten Sie daran?«,2 fragte sie ihn, und in der Tat, er arbeitete daran. Es hätte unbegrenzte Kritik, Gedanken- und Diskussionsfreiheit geben müssen. Im Rückblick ist es wahrlich bemerkenswert, wie weit wir unsere Diskussionsfreiheit eingeschränkt haben, während wir unsere Heimat für die Welt öffneten. Vor 1000 Jahren war die Bevölkerung von Genua und Florenz nicht so gemischt wie heute, aber sie ist in der Gegenwart immer noch erkennbar italienisch, und die Stammesunterschiede haben mit der Zeit eher ab- als zugenommen. Man scheint zu glauben, dass irgendwann in der Zukunft Eritreer und Afghanen sich ebenso mit den Europäern verschmelzen werden, wie sich Genuesen und Florentiner zu Italienern verschmolzen haben. Auch wenn die Hautfarbe der Menschen aus Eritrea und Afghanistan anders und ihre ethnische Herkunft entfernter sein mögen, aber Europa werde immer noch Europa bleiben und seine Bevölkerung werde im Geiste von Voltaire und Paulus, Dante, Goethe und Bach zu einer Einheit zusammenwachsen.
Wie an so vielen weitverbreiteten Selbsttäuschungen ist auch an dieser etwas dran. Der Charakter Europas hat sich ständig verändert, und wie das Beispiel Venedigs zeigt, hat es eine unvergleichliche Bereitschaft gezeigt, fremde Ideen und Einflüsse aufzunehmen. Angefangen mit den antiken Griechen und Römern, haben die Völker Europas Schiffe ausgesandt, um die Welt zu entdecken und über ihre Erfahrungen nach Hause zu berichten. Nur selten reagierte die Welt freundlich auf ihre Neugierde, aber trotzdem stachen die Schiffe weiter in See und kamen mit Erzählungen und Entdeckungen zurück, die den europäischen Geist bereicherten. Die Empfänglichkeit der Europäer war außerordentlich, aber sicherlich nicht grenzenlos.
Die Frage, wo die Grenzen einer Kultur liegen, ist von den Anthropologen endlos diskutiert worden, eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Aber Grenzen gibt es auf jeden Fall. Zum Beispiel war Europa nie ein islamischer Kontinent. Doch das Bewusstsein darüber, dass sich unsere Kultur fortwährend und fast unmerklich ändert, hat tiefe Wurzeln. Die antiken griechischen Philosophen haben das Rätsel verstanden und im berühmten Paradoxon des Schiffes von Theseus dargestellt. Wie Plutarch notiert, haben die Athener das Schiff des Theseus aufbewahrt und mit neuen Planken ausgebessert, wenn Teile beschädigt waren. Die Frage war: Ist das immer noch das Schiff des Theseus, wenn es nur noch Teile enthält, die nicht zum ursprünglichen Schiff gehört haben?
Wir wissen, dass die heutigen Griechen nicht das gleiche Volk wie die antiken Griechen sind. Wir wissen auch, dass die heutigen Engländer nicht dieselben sind wie vor 1000 Jahren. Das Gleiche gilt für die Franzosen. Und doch sind sie erkennbar Griechen, Engländer und Franzosen, und sie alle sind Europäer. In diesen Identitäten können wir eine kulturelle Abstammung entdecken, eine Tradition, die bestimmte – gute wie schlechte – Eigenschaften, Sitten und Verhaltensweisen hinterlassen hat. Wir können die großen Bewegungen der Normannen, Franken und der keltischen Gallier erkennen, die bedeutende Veränderungen mit sich gebracht haben. Aber wir wissen auch aus der Geschichte, dass manche Bewegungen langfristig nur zu unbedeutendem kulturellen Wandel führen, andere jedoch unwiederbringliche Veränderungen zur Folge haben. Das Problem entsteht nicht dadurch, dass der Wandel akzeptiert wird, sondern daraus, dass zu schnelle Veränderungen zu etwas völlig Verschiedenem führen und wir uns selbst in etwas verwandeln, das wir nie sein wollten.
Gleichzeitig sind wir verwirrt und fragen uns, wie das alles funktionieren soll. Während wir im Allgemeinen darüber einig sind, dass es für ein Individuum unabhängig von seiner Hautfarbe möglich ist, eine bestimmte Kultur in sich aufzunehmen (vorausgesetzt, es ist ein gewisses Maß an Begeisterung sowohl auf der Seite des Individuums als auch auf der Seite der Kultur vorhanden), wissen wir auch, dass sich Europäer nicht beliebig verändern können. Wir können nicht Inder oder Chinesen werden. Und doch erwartet man von uns, dass wir glauben, dass jeder nach Europa kommen und Europäer werden könne. Wenn Europäer zu sein, nichts mit Rasse zu tun hat – wie wir hoffen wollen –, dann geht es in allererster Linie um Werte. Das macht die Frage nach den europäischen Werten so besonders wichtig. Darüber hinaus gibt es noch eine andere Debatte, die uns sehr zu verwirren scheint.
Sind wir eigentlich Christen? Das ist die Frage. In den 2000er-Jahren spitzte sich diese Debatte zu, als es um den Wortlaut der neuen EU-Verfassung ging, in der das christliche Erbe des Kontinents nicht mal mehr erwähnt wurde. Papst Johannes Paul II. und sein Nachfolger versuchten die Weglassung zu korrigieren. Johannes Paul II. schrieb 2003: »In völliger Respektierung der Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen von der Kirche … möchte ich mich noch einmal an die Begründer der künftigen europäischen Verfassung wenden, auf dass darin ein Bezug auf das religiöse und insbesondere auf das christliche Erbe Europas deutlich werde.«3 Die Debatte spaltete Europa nicht nur geografisch und politisch, sie verwies auch auf eine unübersehbare Bestrebung, nämlich auf den Wunsch zu beweisen, dass es im Europa des 21. Jahrhunderts ein selbsttragendes System der Rechte, Gesetze und Institutionen gebe, die auch ohne die Quelle, die sie nachweislich ins Leben rief, existieren kann. Ähnlich wie Kants Taube sinnen wir darüber nach, ob wir denn in einem luftleeren Raum ohne Luftwiderstand nicht noch schneller fliegen könnten. Vom Erfolg dieses Traumes hängt vieles ab. An die Stelle der Religion trat die immer pompösere Sprache der Menschenrechte (selbst ein Begriff christlichen Ursprungs). Wir haben die Frage nicht beantwortet, ob unsere erworbenen Rechte auf einem Glauben beruhen, den der Kontinent verloren hat, oder ob sie eigenständig existieren können. Das war am Ende eine drängend ungelöste Frage, während von gewaltigen neuen Bevölkerungsgruppen erwartet wurde, dass sie sich integrierten.
Zur gleichen Zeit kam eine Frage von ähnlich großem Gewicht auf, nämlich nach der Bedeutung und dem Sinn des Nationalstaates. Seit dem Westfälischen Frieden 1648 bis ins späte 20. Jahrhundert betrachtete man den Nationalstaat in Europa im Allgemeinen nicht nur als den besten Garanten der verfassungsmäßigen Ordnung, sondern auch als den entscheidenden Garanten des Friedens. Doch auch diese Überzeugung erodierte. Eine politische Persönlichkeit Mitteleuropas, der deutsche Kanzler Helmut Kohl, erklärte 1996: »Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts kann die großen Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen.«4 Die Auflösung der europäischen Nationalstaaten sei so wichtig, behauptete Kohl, weil »die Politik der europäischen Einigung … in Wirklichkeit eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert (ist)«.5 Einige widersprachen ihm, und 20 Jahre später zeigte mehr als die Hälfte der Briten, dass sie von Kohls Argumenten nicht viel hielten. Aber unabhängig davon, welche Meinung man auch immer in dieser Frage vertritt: Sie ist zu wichtig, als dass sie in Anbetracht der großen Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung unbeantwortet bleiben dürfe.
Während wir zu Hause nicht einmal unserer selbst sicher sind, unternehmen wir große Anstrengungen, um unsere Werte im Ausland zu verbreiten. Doch wo auch immer unsere Regierungen und Armeen im Namen der »Menschenrechte« interveniert haben – im Irak 2003, in Libyen 2011 –, haben wir die Lage nur noch verschlimmert und waren am Ende im Unrecht. Als der Bürgerkrieg in Syrien begann, forderten viele in den Ländern des Westens, man möge im Namen der Menschenrechte, die tatsächlich verletzt worden sind, intervenieren. Aber niemand zeigte sich bereit, diese Rechte zu verteidigen, weil wir den Glauben an unsere Fähigkeit, sie im Ausland zu fördern, verloren hatten – egal, ob wir zu Hause an sie glaubten oder nicht. Irgendwann musste man der Möglichkeit ins Auge sehen, dass die »letzte Utopie«, das heißt, die Errichtung des ersten Universalsystems, das die Rechte des Menschen nicht vom Willen der Götter und Tyrannen abhängig macht, am Ende eine gescheiterte europäische Bestrebung sein könnte. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, so stehen die Europäer im 21. Jahrhundert ohne eine vereinigende Idee da, die die Gegenwart ordnen und in eine Zukunft weisen könnte.
Zu jeder Zeit wäre der Verlust der einigenden Erzählungen über unsere Vergangenheit sowie der Ideen zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ein schwerwiegendes Problem. Aber in einer Epoche radikaler sozialer Veränderungen und des Aufruhrs sind die Folgen fatal. Menschen aus aller Welt strömen gerade zu einer Zeit nach Europa, zu der es selbst nicht mehr weiß, was es sein soll. Und während die Einwanderung von Millionen Menschen aus anderen Kulturen in eine starke und durchsetzungsfähige Kultur hätte funktionieren können, kann die Einwanderung in eine von Schuld zermarterte, abgestumpfte, sterbende Kultur nicht gut gehen. Selbst jetzt noch reden die führenden Politiker Europas von verstärkten Anstrengungen, Millionen von Neuankömmlingen einzugliedern.
Aber diese Anstrengungen werden ergebnislos bleiben. Wenn man so viele und so verschiedene Menschen wie möglich integrieren möchte, muss man eine umfassende und einwandfreie Definition von Integration finden. Wenn Europa die Heimat der Welt werden will, muss es eine Definition für sich finden, die weit genug ist für die ganze Welt. Aber noch bevor dieser Wunsch in sich zusammenbricht, werden unsere Werte – weil zu weit gefasst – jede Bedeutung verlieren. Während die europäische Identität in der Vergangenheit auf sehr spezifischen, um nicht zu sagen, philosophisch und geschichtlich tief fundierten Werten (der Herrschaft des Rechts, einer Ethik, die aus der Geschichte des Kontinents und der Philosophie herauskristallisiert wurde) beruhte, bestehen heute Ethik und Glaube – das heißt die Identität und die Ideologie Europas – aus »Respekt«, »Toleranz« und (die höchste Stufe von Selbstverleugnung) »Diversität«. Solch flache Selbstdefinitionen können zwar noch ein paar Jahre halten. Aber sie sind nicht imstande, die tiefe Loyalität hervorzubringen, die eine Gesellschaft braucht, um für eine lange Zeit zu überleben.
Das ist nur ein Grund dafür, warum unsere europäische Kultur, die viele Jahrhunderte überdauert und die Welt mit so vielen Errungenschaften bereichert hat, nicht überleben wird. Die letzten Wahlen in Österreich und der Aufstieg der Alternative für Deutschland scheinen zu beweisen, dass die Verteidigung der eigenen Kultur weiterhin inakzeptabel ist, während die kulturelle Erosion ununterbrochen voranschreitet. Stefan Zweig hatte recht, als er diese Geisteskrankheit und das Todesurteil erkannte, das die Wiege und der Parthenon der westlichen Zivilisation über sich selbst gesprochen haben. Nur im Zeitpunkt irrte er sich. Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bevor das Urteil vollstreckt wurde – durch uns an uns selbst. In diesen Jahren des Übergangs, in denen wir uns heute befinden, haben wir beschlossen, anstelle der Heimat der Europäer »Utopia« zu errichten, im ursprünglichen griechischen Sinne des Wortes als »kein Ort«. Dieses Buch ist ein Bericht darüber, wie das geschehen konnte.
****
Für die Recherchen und das Schreiben dieses Buches war ich mehrere Jahre auf dem Kontinent unterwegs, oft in Gegenden, die ich sonst nicht besucht hätte. Ich besuchte die südöstlichsten Inseln Griechenlands und den südlichsten Vorposten Italiens, war im Herzen Nordschwedens, in zahllosen Vororten in Frankreich, Holland und Deutschland und in vielen anderen Orten unterwegs. Während ich das Buch schrieb, hatte ich Gelegenheit, mit vielen Vertretern der Öffentlichkeit zu sprechen, ebenso mit Politikern, Akteuren des politischen Lebens aller Richtungen, mit Grenzposten, Mitarbeitern von Geheimdiensten, Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen und vielen anderen, die an der vordersten Front stehen. Die Gespräche mit den Neuankömmlingen in Europa, mit Leuten, die buchstäblich einen Tag zuvor dort angekommen waren, waren in vielerlei Hinsicht am aufschlussreichsten. Auf den südeuropäischen Inseln, wo sie an Land gingen, und an den Orten auf ihrem Weg nach Norden haben sie über ihre eigenen Geschichten und Tragödien erzählt. Sie alle betrachteten Europa als den Ort, wo sie glaubten, ihr Leben am besten führen zu können.
Jene, die bereit waren, mit mir zu sprechen, haben sich selbst dazu entschieden. Manchmal, wenn ich gegen Abend außerhalb eines Camps unterwegs war, tauchten Leute auf, die sich – milde ausgedrückt – nicht im Geiste der Großzügigkeit und Dankbarkeit unserem Kontinent näherten. Aber viele andere waren ausnehmend freundlich und dankbar dafür, ihre Geschichten erzählen zu dürfen. Was auch immer meine eigenen Ansichten über die Lage, die sie hierhergebracht hatte, und über die Reaktionen unseres Kontinents sein mochten, ich habe die Unterhaltungen immer mit den einzigen Worten beendet, die ich aufrichtig und ohne Vorbehalte aussprechen konnte: »Viel Glück!«

VORWORT

ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

In diesem Buch geht es um Europa im Allgemeinen und um Deutschland im Besonderen. Die darin beschriebenen Ereignisse wurden von Deutschland angetrieben und können nur korrigiert werden, wenn sie von Deutschland vernünftig angegangen werden. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, sehe ich keinen Grund zum Optimismus, weder diesbezüglich noch sonst.
Natürlich weiß ich, dass nichts weniger willkommen ist, als wenn jemand aus einem anderen Land – aus Großbritannien vermutlich am allerwenigsten – den Deutschen sagt, was sie tun und lassen sollen. Aber dieses Buch will keine politischen Vorschläge geschweige denn Vorschriften machen oder den Menschen sagen, wie sie sich zu verhalten haben. Es versucht vielmehr, die Lage zu beschreiben, in der wir uns befinden und zu der viele unglückliche und unaussprechliche Tatsachen gehören. Es stellt die große Frage: »Sind Sie sich sicher, dass Sie damit zufrieden sind?« Wenn es einen Grund für den Erfolg dieses Buches in Großbritannien gibt, dann ist es die Bereitschaft so vieler Menschen, die Fakten vollständig kennenzulernen und die Frage – wie schon vermutet – mit »nein« zu beantworten. Wenn aber die Antwort der Mehrheit »nein« ist, dann besteht die Notwendigkeit, die bisher eingeschlagene Richtung ernsthaft und schnell zu ändern, um die Katastrophen, vor denen in den letzten Kapiteln des Buches gewarnt wird, zu vermeiden.
Zurzeit ist eine Kurskorrektur in Deutschland unwahrscheinlich. Und wenn es einen guten Grund gibt, diese Vorhersage zu wagen, dann ist es die gravierende Einschränkung und Behinderung der öffentlichen Debatte. Schon sehr lange beobachte ich die in Europa hin und her wabernden Debatten über die Einwanderung und frage mich, wie zwei Einschätzungen miteinander vereinbar sein können. Ein Teil der Öffentlichkeit (wahrscheinlich die Mehrheit) beklagt, dass man über die Einwanderung nicht reden könne. Ein anderer (zweifellos kleinerer) Teil antwortet darauf: »Warum sagen Sie so etwas? Wir reden über nichts anderes mehr als über die Einwanderung.« Normalerweise würde man sagen, beide Erklärungen können nicht gleichzeitig wahr sein. Aber diesmal schon. Es ist wahr, dass wir viel Zeit damit verbringen, über die Einwanderung zu reden. Doch was nicht stattfindet, ist die Diskussion, die sich die Menschen wünschen.
Tatsache ist, dass selbst heute – und das gilt für Deutschland mehr als für jedes andere europäische Land – die Debatten über die Einwanderung weitgehend auf der Oberfläche bleiben und so gut wie niemals zu den Fragen vordringen, die der allgemeinen Öffentlichkeit so wichtig sind. Während meiner Reisen durch den Kontinent ist mir klar geworden, dass die Öffentlichkeit nicht wissen will, ob zusätzliche 200 000 Migranten im Jahr (nur als Beispiel) eine weitere Milliarde Euro zusätzliche Steuereinnahmen bringen oder mit einer weiteren Milliarde die Sozialsysteme belasten. Natürlich interessieren sich die Leute für diese Fragen und machen sich deshalb Sorgen. Aber was die Öffentlichkeit wirklich haben will, sind Antworten auf viel tiefer gehende, brennende Fragen. Sie will zum Beispiel wissen, ob diese Menschen, die gekommen sind, für immer bleiben werden, was sie hier tun und werden wollen. Man will wissen, ob die Ankömmlinge Teil der europäischen Kultur werden oder ihre eigene Kultur unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen beibehalten wollen. Man will wissen, ob die Einwanderer Deutsche werden wollen, und wenn ja, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein. Man möchte auch wissen, warum der Rest der Welt in jede andere Kultur flüchten kann, während die Deutschen gefangen sind in ihrem Deutschsein, wo auch immer sie sich auf der Welt befinden. Im Guten wie im Schlechten.
Politiker aller Richtungen haben versucht, das Thema so zurechtzubiegen, dass es ihren eigenen politischen Ansichten dienlich ist und sie so gut wie möglich in ihren politischen Nachrufen wegkommen. Fakten kann man bis zu einem bestimmten Grad zurechtbiegen. Aber wenn sie in einem Maße bekannt werden, wie es in Deutschland zurzeit täglich passiert, dann können sie nicht mehr zurechtgebogen werden. In einigen Ländern wie Frankreich und Holland gibt es eine weitgefächerte und lebhafte Debatte. In anderen Ländern – und dazu gehört auch Großbritannien – ist die Diskussion furchtsam und fast nicht vorhanden. Deutschland scheint mir das Land zu sein, in dem diese Fragen am wenigsten diskutiert werden und in dem die Debatte am stärksten eingeschränkt und politisiert ist. Zum Teil ist das eine Spiegelung der Medien, die immer noch glauben, ihre Aufgabe sei es, zwischen der Öffentlichkeit und den Tatsachen zu vermitteln, statt die Tatsachen offenzulegen.
Aber selbst die treuesten Mainstream-Medien müssen immer noch in einem gewissen Maße über Tatsachen berichten. Denn sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Ländern kann sich die Öffentlichkeit die Fakten auch so zusammenreimen. Sie findet sie in den Kurznachrichten der Zeitungen und erkennt die Geschichten, die früher ein Aufmacher gewesen wären und jetzt auch noch unaufhaltsam durchsickern. Die Bürger glauben nicht, dass die Notwendigkeit, während der Silvesterfeiern in Berlin einen Schutzraum für Frauen zu errichten, entstanden ist, weil die Frauenfeindlichkeit unter normalen Deutschen plötzlich zugenommen hat. Auch glauben sie nicht, dass das Anwachsen der sexuellen Gewalt und der Gesetzlosigkeit einfach so über Nacht geschehen ist. Sie sind sehr gut imstande, die Zusammenhänge zu erkennen. Wenn die Bürger die Nachrichten über die Zunahme von Gewalt im Jahr 2017 lesen, wissen sie genau, wie es geschehen konnte, auch wenn alle, deren Aufgabe wäre, sie zu informieren, ihr Bestes tun, um sie davon abzuhalten.
Natürlich gibt es noch Nachhutgefechte und Versuche, die Öffentlichkeit daran zu hindern, die offenkundigen Zusammenhänge zu erkennen. Immer noch kann man sich darauf verlassen, dass Experten, die von der Regierung unterstützt und gefördert werden, Gegenargumente und Falschmeldungen verbreiten. Es gibt sogar »Experten«, die behaupten, Deutschland sei heute sicherer denn jemals zuvor. Das sind die gleichen Leute, die vermutlich auch davon überzeugt sind, dass die Migration niemals für Probleme verantwortlich, sondern vielmehr die Lösung für alle Probleme sei. Ich gehe auf diese Auffassungen in den vorderen Kapiteln dieses Buches ein. Seitdem die erste Ausgabe erschienen ist, habe ich allerdings eine Steigerung dieser Tendenz in Deutschland beobachtet, die sich kein Satiriker hätte ausdenken können, und zwar die Behauptung eines regierungstreuen Experten, dass das Problem der Gewalttätigkeit unter Migranten nur durch noch mehr Migration gelöst werden könne.
Auch wenn die Öffentlichkeit diese Behauptungen durchschaut, ist ihr nun ein neues Hindernis in den Weg gestellt worden: die immer schärfere Kontrolle der Meinungen und der Möglichkeit, sie auszudrücken. Das Netzdurchsetzungsgesetz (Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken), das unlängst in Kraft getreten ist, ist nur ein weiteres Instrument, die deutschen Bürger daran zu hindern zu sagen, was sie mit ihren eigenen Augen sehen. Aufwiegelung war bis dahin schon eine Straftat und wurde verfolgt, nun ist »Hassrede« zur Hauptlosung in einem Kampf geworden, der in Wahrheit um das Recht auf Redefreiheit geführt wird. Es geht nicht darum, dass die bestehenden Gesetze, die sich gegen Aufwiegelung richten, zu schwach wären. Jetzt wird auf Leute gezielt, die nichts anderes tun, als Ansichten zu äußern, die in scharfem Gegensatz zur gegenwärtigen Politik der deutschen Regierung stehen. Es ist eine der finstersten Entwicklungen der letzten Jahre, dass ein Zusammenschluss von Regierungsbehörden und privaten Firmen darüber entscheidet, was »Hassrede« ist. Dem kommt nur noch die – auch an Kinder – gerichtete Aufforderung gleich, Leute zu melden, die falsche Ansichten äußern.
Wollte man die dahinterstehenden Motive wohlwollend interpretieren, könnte man sagen, dass die Regierung und die mit ihr zusammenarbeitenden privaten Internetunternehmen in vorderster Front gegen eine nativistische Gegenreaktion auf die Politik der deutschen Regierung kämpfen. Tatsächlich ist der Versuch, legitimen Dissens für illegal zu erklären, der sicherste Weg, um eine solche Gegenreaktion hervorzurufen. Wenn jene, die so agieren, tatsächlich die Wiederkehr von Vergangenem verhindern wollen, dann haben sie die denkbar dümmste Vorstellung von der Vergangenheit. Wer wirklich glaubt, die Probleme der Weimarer Republik seien dadurch entstanden, dass man damals keine Gesetze gegen »Hassrede« hatte, der weiß nichts über die Weimarer Republik.
Natürlich schickten die deutschen Wähler 2017 eine eindeutige Botschaft an die Kanzlerin, die die Entgleisung und den Zusammenbruch der europäischen Einwanderungspolitik zu verantworten hat. Die Unzufriedenheit war unübersehbar, trotzdem gab es kaum Zeichen dafür, dass sie registriert worden wäre. Vielleicht hat Angela Merkel inzwischen eingesehen, dass sie einen Fehler gemacht hat. Vielleicht besteht sie deshalb darauf, die Grenzen weiterhin offen zu halten und die »Familienzusammenführung« fortzusetzen, weil man einen Fehler dieses Ausmaßes nicht zugeben kann. Doch es war nicht nur ihr Fehler. Es war ein Fehler der ganzen politischen Klasse, die sich geweigert hat, die Konsequenzen ihrer kurzfristigen Aktionen zu überdenken. Es war ein Fehler der Medien, die sich einbildeten, ihre Aufgabe sei es zu belehren, statt zu informieren. Und es war ein Fehler des ganzen Kontinents, der nun, entweder in einem Anfall von Pflichtvergessenheit oder Geistesabwesenheit, zu einer neuen Identität gelangte.
Die Wahlen 2017 in Deutschland zeigten – wie auch in Österreich – noch etwas anderes: nämlich wie man die Fehler einer ganzen Generation wieder beheben kann. In beiden Ländern gibt es jeweils eine Partei, die Antworten auf die Sorgen der mit Merkels Politik unzufriedenen Bürger sucht. In beiden Ländern werden sie als »Populisten«, »Fanatiker«, manchmal sogar als »Faschisten« und »Nazis« bezeichnet. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, wohin sich diese Parteien entwickeln werden. Vielleicht werden einige unter ihnen ihre schärfsten Kritiker bestätigen. Oder sie werden diesen Weg nicht gehen, und es wird die Zeit kommen, in der erkannt wird, dass man sich Sorgen um die Zukunft des eigenen Landes machen kann, ohne ein »Faschist« zu sein. Aber es kann auch schiefgehen. Ein Urteil ist an der gegenwärtigen Wegkreuzung nicht möglich. Wir müssen die Reaktionen auf die von Kanzlerin Merkel über unseren Kontinent gebrachte Realität im Auge behalten. Wenn wir diesen Prozess steuern wollen, müssen wir – unter anderem – unsere Warnungen »trocken halten« wie einst das Schießpulver und nicht zulassen, dass sie durch übermäßigen Gebrauch unwirksam werden. Wir müssen die Erklärungen und Aktionen dieser neuen Parteien sorgfältig prüfen, sie fair und genau beurteilen und mit ihnen wie mit jeder anderen Partei umgehen statt in der Art eines Scharfrichters, der sich schon für die Hinrichtung entschieden hat, bevor er auch nur einen Beweis gesehen hätte.
Vor allem müssen die Mainstream-Parteien des Zentrums und ihre Anhänger die Sorgen und Herausforderungen aufgreifen, die in diesem Buch beschrieben werden. Sie sollten nicht nur auf sie reagieren, sondern sie ehrlich aufnehmen und sie ansprechen. Ich hoffe, sie werden es tun. Denn wenn aus dem Zentrum keine Antworten kommen, werden die Bürger zulassen, dass sie von anderswo kommen. Die Zukunft Deutschlands und ganz Europas hängt davon ab, ob der politische Mainstream ernsthaft auf diese Fragen antwortet. Ernsthaft und bald.
Douglas Murray
5. Februar 2018

KAPITEL 1

DER ANFANG

Um Ausmaß und Geschwindigkeit der Veränderungen in Europa zu begreifen, lohnt es sich, einige Jahre zurückzugehen, in die Zeit vor der letzten Migrationskrise, in eine Ära »normaler« Migration. Und auf ein Land zu blicken, das von den jüngsten Turbulenzen einigermaßen verschont geblieben ist: Großbritannien.
Die Ergebnisse der vorletzten Volkszählung für England und Wales wurden 2002 veröffentlicht. Schaut man danach die Ergebnisse der nächsten Volkszählung 2011 an, wird es offensichtlich, wie dramatisch sich das Land innerhalb nur einer Dekade verändert hat. Stellen wir uns jetzt jemanden vor, der 2002 beschlossen hätte, die damaligen Resultate auf die nächsten zehn Jahre hochzurechnen. Seine Aussage wäre gewesen: »Weiße Briten werden am Ende des Jahrzehnts zu einer Minderheit in ihrer eigenen Hauptstadt, und die muslimische Bevölkerung wird sich in den kommenden zehn Jahren verdoppeln.«
Wie wäre das Echo auf diese Erklärung gewesen? Die Ausdrücke »alarmistisch« und »Panikmache« wären gewiss unter den Wertungen, ebenso wie »rassistisch« (obwohl sich der Ausdruck damals noch im Frühstadium seiner Entwicklung befand) und sicherlich auch »islamophob«. Mit Sicherheit jedoch kann man sagen, dass Hochrechnungen dieser Art nicht freudig begrüßt worden wären. Wer daran zweifelt, sollte sich nur an einen bezeichnenden Vorfall erinnern: 2002 hat ein Journalist der Times einige viel weniger bestürzende Bemerkungen über die wahrscheinliche Zukunft der Migration gemacht. Der damalige Innenminister David Blunkett denunzierte sie – seine parlamentarischen Sonderrechte nutzend – als »an Faschismus grenzend«.6
Doch ungeachtet der Schmähungen hätte der Verfasser einer solchen Vorhersage uneingeschränkt recht gehabt. Die nächste Volkszählung, die 2011 erhoben und 2012 veröffentlicht wurde, enthüllte genau die oben beschriebenen Fakten und noch viel mehr. Sie zeigte, dass die Zahl der Menschen, die im Ausland geboren wurden und in England und Wales lebten, allein in den zehn Jahren um drei Millionen gestiegen war. Sie zeigte auch, dass sich nur 44,9 Prozent der Einwohner Londons als »weiß, britisch« bezeichnet haben. Und es wurde auch bekannt, dass fast drei Millionen Menschen in England und Wales in Haushalten lebten, in denen nicht ein Erwachsener Englisch als Hauptsprache nutzte.
Das waren gravierende ethnische Veränderungen für ein Land, zu welchem historischen Zeitpunkt auch immer. Hinzu kamen ähnlich eklatante Erkenntnisse über die Veränderung der religiösen Verhältnisse in Großbritannien. Es zeigte sich, dass außer dem Christentum fast alle Glaubensrichtungen dabei waren zu erstarken. Nur Großbritanniens historische nationale Religion befand sich im freien Fall. Die Zahl der Menschen, die sich zum Christentum bekannten, verringerte sich von 72 auf 59 Prozent. Die Zahl der Christen in England und Wales nahm um mehr als vier Millionen ab und fiel von 37 auf 33 Millionen.
Während das Christentum diesen Einbruch verzeichnete – ein Einbruch, der sich noch dramatisch weiter verstärken wird –, führte die Masseneinwanderung fast zur Verdoppelung der muslimischen Bevölkerung. Zwischen 2001 und 2011 stieg die Zahl der Muslime in England und Wales von 1,5 auf 2,7 Millionen. Dies waren allerdings nur die offiziellen Zahlen. Denn es wurde allgemein angenommen, dass sie durch die illegale Einwanderung weit höher hätte angesetzt werden müssen. Man nahm an, dass sich mindestens eine Million Menschen illegal im Lande aufhielten und keinerlei Volkszählungsunterlagen ausgefüllt hatten. Jene Gemeinden (Tower Hamlets und Newham), die in den betreffenden Jahren am schnellsten, nämlich um 20 Prozent, gewachsen sind, waren auch jene, die die größte muslimische Einwohnerschaft im Vereinigten Königreich hatten. Hier wurden auch die wenigsten Zensus-Fragebögen zurückgesandt, jeder fünfte Haushalt schickte die Fragebögen nicht zurück. Das legt die Vermutung nahe, dass die tatsächlichen Zahlen noch höher lagen, als die schockierenden Ergebnisse der Volkszählung annehmen ließen.
Obwohl der Befund der Volkszählung schwer zu verdauen war, wurde er – nicht anders als jede flüchtige Nachricht – innerhalb von wenigen Tagen abgehandelt. Dabei war er eine Zusammenfassung der jüngsten Vergangenheit und der unmittelbaren Gegenwart des Landes und ein Blick in seine unvermeidliche Zukunft. Das Studium der Ergebnisse der Volkszählung ließ nur eine mögliche Schlussfolgerung zu, nämlich dass die Massenmigration dabei war, das Land vollständig zu verändern – oder besser gesagt, es bereits vollständig verändert hatte. Im Jahr 2011 war Großbritannien ein radikal anderer Ort, als es über viele Jahrhunderte war. Aber Fakten, wie dass in 23 von 33 Londoner Bezirken weiße Briten eine Minderheit waren, riefen eine Reaktion hervor, die mindestens so aufschlussreich war wie die Ergebnisse selbst.7 Der Sprecher des nationalen Amtes für Statistik (ONS) feierte die Ergebnisse als eine machtvolle Demonstration der »Diversität«.8
Es war schockierend, dass die Reaktion der Politik und der Medien nur eine einzige Stimme kannte. Wenn Politiker der wichtigen Parteien die Frage der Volkszählung ansprachen, begrüßten und feierten sie einhellig deren Ergebnis. Und so ging es weiter, über Jahre. 2007 sprach der damalige Oberbürgermeister von London, Ken Livingstone, stolz über die Tatsache, dass 35 Prozent der in London arbeitenden Menschen in einem fremden Land geboren wurden.9 Die Frage stand im Raum, ob es für dieses Verhältnis eine optimale Größe gibt oder nicht. Über Jahre hinweg war das Gefühl von Aufregung und Optimismus über die Veränderungen im Lande die einzige angemessene Haltung, untermauert durch die Behauptung, dass dies nichts Neues sei.
Doch während des Großteils seiner Geschichte, aber sicherlich während des letzten Jahrtausends, hatte Großbritannien eine außerordentlich stabile Bevölkerung aufzuweisen. Selbst die normannische Eroberung 1066 – vermutlich das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Insel – hat nur dazu geführt, dass nicht mehr als 5 Prozent der Bevölkerung normannisch wurden10. Die Bevölkerungsbewegungen davor und auch danach fanden ausschließlich zwischen der irischen Insel und jenen Ländern statt, die später das Vereinigte Königreich bilden sollten. In der Periode nach 1945 mussten einige spezifische Lücken auf dem Arbeitsmarkt geschlossen werden, vor allem in dem Bereich des Transports und bei dem neu gegründeten staatlichen Gesundheitswesen National Health Service, NHS. Und so begann die Epoche der Masseneinwanderung, obwohl zunächst noch verhalten. Das 1948 verabschiedete Britische Staatsbürgerschaftsgesetz, British Nationality Act, ließ die Einwanderung aus dem früheren Empire – dem heutigen Commonwealth – zu. Anfang der 50er-Jahre nahmen einige tausend Menschen diese Möglichkeit wahr. Bis zum Ende des Jahrzehnts waren mehrere zehntausend gekommen, und in den 60ern wurde die Zahl der Ankömmlinge sechsstellig. Die meisten von ihnen kamen von den Westindischen Inseln, aus Indien, Pakistan und Bangladesch, um in Fabriken zu arbeiten. Sie empfahlen wieder andere, meistens aus ihren Familien oder Klans, die ihnen dann folgten und ähnliche Arbeiten verrichteten.
Obwohl es deshalb und wegen der möglichen Folgen für das Land eine gewisse öffentliche Besorgnis gab, waren die wechselnden Regierungen, ob Labour oder Konservative, nicht in der Lage, die Bewegung aufzuhalten. Ebenso wie in den Ländern des Kontinents wie Frankreich, den Niederlanden und Deutschland gab es in Großbritannien kaum Klarheit, noch weniger Einverständnis darüber, was die Ankunft dieser Arbeiter bedeutete. Man wusste nicht einmal, ob sie bleiben würden. Erst als es offensichtlich wurde, dass sie bleiben und die Chance nutzen würden, ihre ausgedehnten Familien mitzubringen, wurden die Folgen erkannt.
Was die folgenden Jahre betrifft, so wären einige sehr spezifische Parlamentsbeschlüsse zu erwähnen, zum Beispiel jene, die die Kriminalität unter Migranten betreffen. Aber es gab nur sehr vereinzelte Versuche, den Trend umzukehren. Selbst als die Gesetzgebung versuchte, auf die wachsenden Befürchtungen der Öffentlichkeit zu reagieren, hatte dies unerwartete Folgen. Ein Beispiel ist das 1962 verabschiedete Commonwealth-Einwanderungsgesetz, das vordergründig zum Ziel hatte, die anhaltende Flut der Migranten zu begrenzen und sie davon zu überzeugen, wieder heimzukehren. Es hatte die genau entgegengesetzte Wirkung, weil es viele Migranten veranlasste, ihre Familien in das Vereinigte Königreich zu bringen, solange es noch möglich war. Da die Migranten aus dem Commonwealth nach 1962 nicht mehr nachweisen mussten, dass sie einen Job in Großbritannien hatten, schwoll der Strom weiter an. Erst 1971 wurde mit einem neuen Einwanderungsgesetz der Versuch unternommen, den daraus resultierenden Ansturm einzudämmen. Und so kam es, dass sich alle Regierungen mit den Konsequenzen einer Situation auseinandersetzen mussten, die da war, obwohl es niemals den Plan gab, die Einwanderung in diesem Maße zuzulassen.
Zu den Auswirkungen gehörten auch ernsthafte Rassenunruhen. Noch lange in Erinnerung geblieben sind die schweren Tumulte von Notting Hill 1958, eine gewalttätige Konfrontation zwischen westindischen Einwanderern und weißen Einwohnern. An diese Siedepunkte erinnert man sich gerade deshalb, weil sie die Ausnahme und nicht die Regel waren. Während Argwohn und Beunruhigung wegen der Fremden auf niedriger Stufe durchaus vorhanden waren, scheiterten alle Versuche, daraus Kapital zu schlagen, konsequent und auf allen Ebenen. Insbesondere gilt das für die Versuche von Oswald Mosley, dem ehemaligen Anführer der British Union of Fascists (BUF), später des Union Movement. Als Mosley versuchte, die Krawalle von Notting Hill zu instrumentalisieren, und bei den Parlamentswahlen von 1959 kandidierte, erreichte er nicht einmal zweistellige Ergebnisse. Die Briten erkannten zwar, dass die Einwanderung Probleme bereitete, sie wussten jedoch zugleich, dass die früher schon abgelehnten Extremisten keine Antworten darauf hatten.
Die Schwierigkeiten rührten nicht zuletzt daher, dass jene, die den Einladungen folgten und ins Land kamen, Diskriminierungen ausgesetzt waren. Eine Antwort auf diese Probleme waren die Gesetze über Rassenbeziehungen (Race Relation Acts) von 1965, 1968 und 1976, die Diskriminierung aufgrund von »Farbe, Rasse, ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit« für gesetzwidrig erklärten. Es ist kennzeichnend dafür, wie wenig durchdacht die ganze Angelegenheit war, dass solche Gesetze nicht vorausschauend entworfen, sondern erst infolge unübersehbarer Probleme verabschiedet wurden. 1948 gab es keine Gesetze über Rassenbeziehungen, weil weder die große Zahl der Emigranten noch die damit einhergehenden Probleme vorhergesehen wurden.
Während der ganzen Zeit zeigten die Ergebnisse der Meinungsumfragen, dass die britische Öffentlichkeit die Einwanderungspolitik ihrer Regierungen mehrheitlich ablehnte und die Zahl der Einwanderer für zu hoch hielt. Eine von Gallup 1968 durchgeführte Umfrage ergab, dass 75 Prozent der Briten meinten, die Kontrollen der Einwanderung seien nicht scharf genug. Bald stieg diese Zahl auf 83 Prozent.11 Das war der einzige Zeitpunkt, zu dem Einwanderung für kurze Zeit das Potenzial hatte, zu einem bedeutenden Politikum zu werden. Just zu dieser Zeit hielt der Abgeordnete und Minister des konservativen Schattenkabinetts Enoch Powell in Birmingham eine Rede vor der Konservativen Vereinigung und eröffnete damit eine Debatte, die allerdings auch schnell wieder beendet wurde. Obwohl der Wortlaut nicht ganz dem entsprach, was davon allgemein bekannt wurde, war die »Ströme aus Blut«-Rede voller prophetischer Vorhersagen über die Zukunft Großbritanniens, sollte die Einwanderung in dem Maße fortdauern. Zunächst zitierte Powell Euripides: »Wen die Götter vernichten wollen, den machen sie zuerst wahnsinnig.« Und er fuhr fort: »Wir müssen als Nation wahnsinnig sein, buchstäblich wahnsinnig, wenn wir es zulassen, dass jährlich 50 000 Familienangehörige einwandern, die zum größten Teil das Material für den künftigen Zuwachs der von den Migranten abstammenden Bevölkerung liefern. Es ist, als würde man einer Nation dabei zusehen, wie sie eifrig den Scheiterhaufen für die eigene Beerdigung errichtet.«12 Obwohl Powells Rede von Identität und der Zukunft des Landes handelte, ging es dabei auch um praktische Probleme – um die Überlastung des öffentlichen Dienstes und die Schwierigkeiten, im Krankenhaus aufgenommen zu werden oder Plätze für die Kinder in der Schule zu finden.
Powell wurde von seinem Parteiführer Edward Heath sofort seines Postens im Schattenkabinett enthoben, und er verlor jedwede politische Unterstützung durch den Mainstream, politisch war er erledigt. Die Unterstützung durch die Bevölkerung allerdings war groß. Die Meinungsumfragen zeigten, dass drei Viertel der Befragten seine Meinung teilten und 69 Prozent überzeugt waren, seine Entlassung durch Heath sei falsch.1314