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1. Auflage 2018

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: iStock.com/tiero, shutterstock.com/speedphoto, Mint Fox

ePub by Konvertus

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0155-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0154-0

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Inhalt

Prolog

Abfahrt

Tag 1 – Deine Frau war nur erschrocken

Tag 2 – Fragen, Fragen, Fragen

Tag 3 – Wie eine Maschine ohne Augen, ohne Gefühle

Tag 4 – Er kennt dich

Tag 5 – Ja, ich bin’s

Tag 6 – Ich kann mich nicht erinnern

Tag 7 – Merkel gleich Verkel

Tag 8 – Ich will nicht zurück nach Turkmenistan

Tag 9 – Stille Nacht, Heilige Nacht

Tag 10 – Wir haben kein eigenes Land

Tag 11 – Ist der blöd?

Tag 12 – Wo ist Turkmeni?

Tag 13 – Ich wische das Blut weg

Tag 14 – Du bist alt

Tag 15 – Hamadan, habe ich nicht Hühnchen gerochen?

Tag 16 – 89 Liegestütze

Tag 17 – Deportation

Tag 18 – Natürlich habe ich Schwestern

Tag 19 – Wi, ich kann nicht mehr

Tag 20 – Du bist nur eine beschissene Nummer

Tag 21 – Weiteres Korsett

Tag 22 – Wer hat die Seelen der alten Jungs so kaputt gemacht?

Tag 23 – Vor Gericht

Tag 24 – Ihr seid Touristen, vergesst das nicht

Schlussgedanken

Dankesworte

Anmerkungen

Für Deniz Yücel und alle unschuldig in der Türkei Inhaftierten, welche keinen bekannten Namen haben.

Prolog

Schon immer war Reisen eine der großen Leidenschaften meiner Frau Gi (Gisela) und mir. Auf unterschiedlichsten Touren konnten wir diese Leidenschaft über viele Jahre hinweg ausleben. Dafür sind wir sehr dankbar.

Begonnen hatte unsere Reisebegeisterung vor sehr vielen Jahren mit kürzeren Touren. Damals waren wir noch mit unseren beiden Söhnen unterwegs. Erst später, als die Söhne ihren eigenen Wegen folgten, unternahmen wir längere Touren, erfüllten uns unsere lang gehegten Reiseträume.

Auch wenn wir nie als Pauschaltouristen unterwegs waren beziehunsweise sind, kosten natürlich speziell die längeren Reiseträume Geld. Wenn wir Multimediavorträge über unsere Reisen der etwas anderen Art in Deutschland zeigen, ist immer eine der wichtigsten Fragen: Wie finanziert ihr das? Da Reisen unsere große Leidenschaft ist, spart man natürlich auf seine Leidenschaft. Wir besitzen kein Haus, kein teures Auto und unterliegen auch nicht dem Werbedruck, ständig etwas Neues zu konsumieren. Vor den längeren Jahrestouren verkaufen wir alles, was wir nicht mehr brauchen, lösen unseren Hausstand auf, deponieren die wenigen wichtigen Sachen bei meiner Mutter. Unterwegs leben wir recht einfach, schlafen viel im Zelt, kochen oft auf offenen Lagerfeuern und versuchen, den angesparten Betrag für uns sinnvoll einzusetzen. Ein Spareffekt ist natürlich auch, die eigenen Kräfte für die Fortbewegung zu benutzen, somit nach Möglichkeit kein teures Benzin zu verbrauchen. Sind wir dann in Deutschland zurück, arbeiten wir, sparen erneut und wenn die Kasse wieder angefüllt ist, erfüllen wir uns den nächsten Reisetraum der besonderen Art.

Eine längere Fahrradtour führte uns zum Beispiel von 2007 bis 2011 für vier Jahre über 48 000 Kilometer um die Welt. Die letzte längere Tour starteten wir im Frühjahr 2014 von unserer Heimatstadt aus zu einer Langzeitwanderung über 5740 Kilometer durch elf Länder bis in den Oman. Selbstredend haben wir während dieser Reisen einen unglaublich großen Schatz an Erfahrungen gesammelt. 99,9 Prozent davon waren sehr gute Erfahrungen.

Nicht nur während dieser zwei längeren Touren, sondern auch in anderen Zusammenhängen waren wir immer wieder viele Wochen, gar Monate in der Türkei unterwegs. Wir erradelten und erwanderten dieses schöne Land oder befuhren es mit Campern. Unsere Gefühle für die Türkei waren während all der Touren nur positiver Natur. Wir lieben die Türkei.

In dem Wort Reise-Leidenschaft ist auch das Wort Leiden enthalten. Natürlich begibt man sich nicht auf große Reisen, um irgendwelche Leiden zu erleben. Und doch gehörten solche manchmal, genau wie bei anderen Reiselustigen, auch zu unserem Reiseleben – wenn auch sehr selten.

Während unserer Weltradeltour wurden wir in Ostafrika von vier jungen Männern mit Macheten überfallen. Nicht erst ab diesem Moment war uns klar, dass es auch schlimme Erlebnisse beim Reisen geben kann. Diebstahl, Unfall, Überfall oder auch Krankheit können – müssen aber nicht – dazugehören. Schon vor unseren längeren Touren hatten wir uns, wenn auch immer nur sehr am Rande, mit dieser Thematik beschäftigt. Man trifft Vorkehrungen, informiert sich und redet auch darüber: Wie sollte, wie muss man sich verhalten, wenn etwas Negatives geschieht? Was haben wir aus der Erfahrung gelernt? Man kann sich darauf gedanklich vorbereiten, man kann auch Vorkehrungen treffen, man kann sich informieren, jedoch ist das tatsächliche Erleben, wenn solch ein Ernstfall eintritt, in der Regel ein ganz anderes wie vorher gedacht oder besprochen.

Die sehr wenigen negativen Erfahrungen haben uns nicht davon abgehalten, weitere Touren zu planen und diese auch umzusetzen, denn die sehr vielen positiven Erlebnisse drängten die wenigen negativen sehr weit ins Abseits. Hinzu kam, dass wir aus den negativen Erfahrungen auch immer etwas gelernt haben. Und uns war immer bewusst: Probleme unterwegs können auch Probleme in der Heimat sein. Diebstahl, Unfall, Überfall oder auch Krankheiten machen an Landesgrenzen niemals Halt. Unangenehmes kann einem auch zu Hause ereilen.

Über einen eventuellen Gefängnisaufenthalt hatten wir nie nachgedacht, nie darüber geredet. Warum auch? So weit ging unsere vorbereitende Fantasie nie.

Da wir zum Abschluss unserer zweijährigen Tour wieder einmal die Türkei bereisen wollten, schaute ich zur Vorbereitung noch in Äthiopien kurz auf die Webseiten des Auswärtigen Amtes für die Türkei. Ich wollte mich vergewissern, ob die geplante Autotour durch die Türkei ohne große Probleme machbar sein würde, ob wir Vorkehrungen treffen müssten oder ob ich würde umplanen müssen. Auf den Seiten des Auswärtigen Amtes war Mitte März 2016 zur Türkei sinngemäß zu lesen: In Großstädten Menschenansammlungen meiden. In den Kurdengebieten sowie an den grenznahen Gebieten zu Syrien und Irak ist mit vermehrten Kontrollen zu rechnen. Den Weisungen der Sicherheitskräfte sollte man Folge leisten.

Ich war zufrieden, denn die Mitteilungen waren nicht unbedingt beunruhigend für mich. Wir wussten schon vorher, speziell was die Osttürkei betrifft, von Problemen in der Türkei und hatten diese auch als Randerscheinungen des Öfteren mitbekommen. Um auf Nummer sicher zu gehen, war für uns immer wichtig, vor Ort die Polizei und die Menschen nach eventuellen Problemen in bestimmten Regionen zu befragen, denn diese kennen sich ja aus. Damit sind wir, übrigens nicht nur in der Türkei, immer sehr gut gefahren. Nie gab es Probleme. Auch diesmal sahen wir kein Problem, einmal mehr eines unserer Lieblingsländer zu bereisen.

Abfahrt

Gute zwei Wochen später, als wir Anfang April in Antalya das Auto für die längere Tour durch die Türkei anmieten, fragt mich der Vermieter:

»Wo wollt ihr eigentlich hin?«

»Der Küste entlang, dann rauf zum Nemrut Dag, danach rüber zum Schwarzen Meer, da wo es halt schön ist. Wir haben ja sechs Wochen Zeit. Wir wollen uns einfach treiben lassen.«

»Gut so! Fahrt aber bitte nicht nach Diyarbakir, denn dort ist es momentan wirklich gefährlich. Da gibt es täglich Probleme, Bomben und so.« Diyarbakir kennen wir von früheren Touren. Mit dem Camper und auch mit den Fahrrädern waren wir schon dort. Die Stadt ist auch als die »heimliche Kurdenhauptstadt« bekannt. Da meine Reiseplanung sie nicht beinhaltet, sage ich wahrheitsgemäß: »Nach Diyarbakir fahren wir nicht. Wir waren schon mal dort. Sehr schöne Stadt. Trotzdem danke für den Hinweis.«

Für mich ist nach der kurzen Unterhaltung klar, dass meine Route kein Problem sein wird, denn in die Stadt selbst wollen wir ja nicht. Somit ist die Planung auch für Gi kein Problem, denn sie verlässt sich in dieser Hinsicht immer auf mich. Beim Abschied von dem netten Autovermieter wissen wir natürlich noch nicht, was zwei Wochen später geschehen wird.

So kaufen wir froh gelaunt in Antalya noch zwei dicke, wuschelige Decken, denn in den Bergen ist es noch kalt. Entlang der Küste wollen wir auch immer wieder in der nahen Bergwelt unterwegs sein. Unser fahrbarer Untersatz bietet dafür alles, was wir benötigen. Wir wollen im Auto oder in unserem Zelt schlafen. Wir sind aufgeregt, freuen uns unheimlich auf unsere Tour. Wir lieben die Freiheit, wir lieben die Türkei.

Die Tour beginnt wie all unsere bisherigen Touren. 15 Tage fühlen wir uns unheimlich wohl in der Türkei. Da wir Zeit haben, genießen wir die Langsamkeit. Da, wo es uns gefällt, stoppen wir, verweilen je nach Lust und Laune, grillen, lassen die Seele baumeln, unternehmen Wanderungen, besorgen Proviant, schauen für Stunden in die schönen Landschaften oder kuscheln uns am Abend für die Nachtruhe in unsere wuscheligen Decken.

Nur wenige zurückgelegte Kilometer zeigt mir der Tacho für die Strecke bis in die Region Adana. In den nördlich gelegenen Bergen von Adana übernachten wir an drei Abenden an unterschiedlichen Burgen. Fast überall in der Türkei gibt es Wehranlagen aus vergangenen Tagen, viele restauriert, andere sind nur noch Ruinen. Wir mögen die Ruhe an diesen Burg-Übernachtungsplätzen sehr. Wir fühlen uns dort immer irgendwie beschützt, geborgen.

Am vierten Tag, es ist der 18. April 2016, fahren wir im Wohlfühltempo weiter. Wie immer machen wir unterwegs recht lange Pausen, denn Picknick auf türkische Art dauert Stunden. Wir genießen diese Stunden mit den genussvollen Leckereien. Und kaum im Auto zurück, erfolgt auch gleich der nächste Stopp, denn Mohnblumenfeld folgt auf Mohnblumenfeld. Da ich sehr gern fotografiere, läuft mein Modell Gi in die Felder. Ich ahne noch nicht, dass es für die nächsten Wochen die letzten Fotos sein werden.

Nur wenige Kilometer weiter liegt die Großstadt Gaziantep, nur circa 50 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Seit 2011 tobt in Syrien ein schrecklicher Bürgerkrieg, dessen Wucht auch die benachbarten Staaten betrifft. Die Regierungstruppen des Präsidenten Baschar al-Assad kämpfen gegen den IS, den selbsternannten radikalen »Islamischen Staat« sowie gegen eine Vielzahl von Milizen und Rebellentruppen – ein Durchblicken durch die wirren Verhältnisse ist nur schwer möglich. Der Krieg ist gekennzeichnet von entsetzlicher Gewalt, die auch die Zivilisten trifft. Viele Syrer fliehen oder sind bereits geflohen, in den benachbarten Libanon oder nach Jordanien oder eben auch in die Türkei. Die Flüchtlingsströme enden dort jedoch nicht, das haben wir auf unserer Reise schon mitbekommen – im September 2015 entschloss sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, in Ungarn gestrandete Flüchtlinge, die aus der Türkei übers Mittelmeer geflohen waren, in Deutschland aufzunehmen, darunter viele Syrer. Gleichzeitig sitzen aber immer noch viele syrische Flüchtlinge in der Türkei fest, es kommen täglich neue hinzu. Oft leben sie unter schwierigen bis menschenunwürdigen Bedingungen.

Gleichzeitig gilt die Türkei als Transitland für IS-Kämpfer. Viele islamistische Fanatiker, die sich den Kämpfern in Syrien anschließen wollen, fliegen in die Türkei und überqueren dann illegal die syrische Grenze. Es gibt Hinweise, dass dies lange von der türkischen Regierung gebilligt oder zumindest geduldet wurde, denn der Sturz Assads wurde von dieser gewünscht und befördert. Hinzu kam das Engagement der YPG, des syrischen Ablegers der Kurdenpartei PKK – diese kämpft in Syrien gegen den IS und erhält viel Zustimmung und internationale Aufmerksamkeit.

Die Kurden sind eine ethnische Minderheit im Irak, Iran, Syrien und in der Türkei und kämpfen seit langem für einen eigenen Staat. Der militärische Erfolg der kurdischen Kämpfer könnte die kurdische Autonomiebewegung befördern – was gegen die türkischen Interessen ist, sodass hinter der Unterstützung des IS möglicherweise die Hoffnung steckte, IS und Kurden könnten sich gegenseitig neutralisieren. Der Konflikt mit den türkischen Kurden hat sich in den vergangenen Monaten nach einem hoffnungsvollen Friedensprozess wieder verschärft, der türkische Präsident Tayyip Recep Erdoğan hat ihn für gescheitert erklärt. Seit der Parlamentswahl im Sommer 2015 kommt es in der Türkei vermehrt zu Gewalt und Anschlägen mit Toten und Verletzten durch die radikale Kurdenpartei PKK und zu brutalen Vergeltungsmaßnahmen des Staates sowie Repressalien gegen kurdische Politiker und Aktivisten.

Die Türkei steht demnach sowohl außen- als auch innenpolitisch unter Druck. Erst im Sommer 2015 hat sich die Türkei der Anti-IS-Koalition angeschlossen, bekämpft ihn mit Luftangriffen und Artillerie. Gleichzeitig bekämpft Erdoğan jedoch weiterhin die Kurden. Ein kurdischer Staat im Süden der Türkei ist für ihn nicht denkbar. Das von Kurden beherrschte Gebiet in Syrien ist ihm ein Dorn im Auge.

Uns ist bewusst, dass wir uns nicht weit vom Grenzgebiet befinden. Sorgen deswegen mache ich mir aber nicht, denn noch kurz vor unserer abendlichen Festnahme werden wir von einer Polizeikontrolle gestoppt. Es tritt somit das ein, was ich auf den Seiten des Auswärtigen Amtes gelesen hatte. Da wir unschwer als Touristen zu erkennen sind, müssen wir aber nur kurz stoppen. Ein Polizist schaut ins Auto und winkt uns durch, wünscht uns eine gute Fahrt.

Anschließend schaue ich in meine Autokarte und sehe darauf circa fünf Kilometer südlich von Gaziantep eine weitere Burg eingezeichnet. Somit ist für mich klar, wo wir übernachten werden. Die Burg selbst finde ich jedoch nicht sofort. Sie ist nicht ausgeschildert. Deswegen fragen wir dreimal Bauern auf den Feldern nach der Burg. Jeder erklärt uns, wo es langgeht. Erst als wir den Burghügel sehen, wissen wir, hier muss es sein. Ich fahre durch ein sehr kleines Dorf zum Hügel. Auch hier fragen wir erneut nach dem Weg. Es sind keine 500 Meter mehr. Sehr schnell merken wir aber, dass nur noch der Burghügel vorhanden ist. Von der eigentlichen Burg sind nur noch wenige alte Steine übrig. Wir sind etwas enttäuscht.

Da es schon spät ist, bleiben wir aber. In der Stadt übernachten möchten wir nicht. Am nächsten Morgen wollen wir zurück in die Stadt, etwas Proviant einkaufen und dann auf direktem Weg weiter nördlich zum Nemrut Dag fahren. Schon jetzt freuen wir uns auf den von vielen Touristen geliebten Berg mit seinen uralten Monumenten; es sind keine 200 Kilometer mehr. Zweimal waren wir schon dort. Wir kennen die Region ziemlich gut.

Gerade als wir Abendbrot machen wollen, ich ein kleines Feuer für einen Kaffee entzünden will, kommt ein Gendarm auf einem Moped auf uns zugefahren.

»Ihr könnt hier nicht schlafen. Hier ist kein guter Platz«, sagt er.

»Wo ist denn ein guter Platz?«, frage ich.

Er zeigt Richtung Dorf. Dort sollen wir uns einen Platz suchen.

Warum es kein guter Platz ist, sagt er nicht. Ich frage auch nicht; da hier nur Ruinen sind, wird es eine Ausgrabungsstätte sein, denke ich mir, und die türkischen Behörden können es absolut nicht leiden, wenn sich Einheimische oder gar Touristen als Ausgräber betätigen.

Auch wenn es uns nicht behagt, räumen wir den Platz recht geschwind und suchen uns am Dorfausgang an einer Flussbrücke einen neuen Platz. Auf die Polizei sollte man ja hören. Es ist kein schöner Platz. Für eine Nacht geht es aber.

Nur eine Stunde später, es ist bereits dunkel, werden wir von schwer bewaffneten Gendarmen umstellt. Unser Auto wird sofort durchsucht. Wir müssen unsere Pässe abgeben. Zwei Autos der Gendarmerie leuchten mit ihren Scheinwerfern unseren Lagerplatz aus.

Nach zehn Minuten werden wir nachdrücklich aufgefordert, den Gendarmenautos zu folgen. Dass dies alles zum Alptraum werden wird, wissen wir noch nicht. Noch sind wir überzeugt davon, dass wir noch in der Nacht oder am nächsten Morgen weiterkönnen, denn schon zweimal haben wir während unserer Touren in der Türkei auf dem sicheren Hoheitsgebiet von Gendarmenstationen genächtigt. Man hatte uns jeweils erklärt, die Gegend sei nicht sicher, es sei besser, wir schliefen auf dem Hoheitsgebiet der Polizei. Dies war in Kurdistan schon immer eine unter Reisenden übliche Praxis. Deswegen machen wir uns keine großen Sorgen. Wir wurden bei diesen Gelegenheiten jeweils sehr gastfreundlich behandelt. Die Gastfreundschaft ist in der Türkei ein sehr hohes Gut. Wir waren sozusagen Gäste bei den Gendarmen und fühlten uns auch so. Diesmal fühlen wir uns aber von der ersten Minute an irgendwie komisch, denn man gibt uns unsere Pässe nach deren ausgiebiger Sichtung nicht sofort zurück.

Und wirklich kommt leider diesmal alles anders. Für uns beginnt ein Alptraum. Dies begreifen wir in den nächsten Stunden noch nicht, sondern erst in den nächsten Tagen und Wochen. Völlig begreifen werden wir die Ereignisse und Erlebnisse während dieser 24 Tage vermutlich niemals. In unterschiedlichsten Gefängniszellen und in drei unterschiedlichen Gefängnissen werden wir festgehalten. Die Zeit geht einher mit vielen Ängsten, Hoffnungen und Erlebnissen der unerwünschten Art.

Eigentlich wollte ich sofort nach unserer Rückkehr nach Deutschland ein Buch über alles schreiben. Ich merkte aber schnell, dass dies gar nicht so einfach ist. Noch zu tief und zu frisch waren da die vielfältigen, surrealen Erlebnisse im Kopf verankert. Ich brauchte einfach sehr viel Zeit zur Verarbeitung. Erst jetzt, Monate später, fühle ich mich dazu in der Lage. Noch immer kann ich aber, aus unterschiedlichsten Gründen, bestimmte Ereignisse nicht richtig einordnen.

In der Zwischenzeit hat sich in der Türkei einiges verändert. Nach unserer Haftentlassung verfolgten wir nur wenige Wochen später aufgeregt am heimatlichen TV den Putschversuch in der Türkei, in dessen Folge Zigtausende Menschen entlassen, schikaniert, verfolgt oder verhaftet wurden, und auch die anschließenden politischen Verwerfungen zwischen Deutschland und der Türkei. Einige während der Haftzeit gewonnenen Erkenntnisse sahen wir bestätigt. Uns war sofort klar, dass die Gülen-Bewegung nur als Vorwand benutzt wurde, um die Macht der AKP, der Regierungspartei im ganzen Land zu stärken. Von der Gülen-Bewegung wurde im Gefängnis nie geredet; ich muss sogar zugeben, eine Gülen-Bewegung in der Türkei war mir bis zum Putsch völlig unbekannt. Ich bin überzeugt, dass es auch ohne sie zu massiven politisch motivierten Massensäuberungen gekommen wäre, denn theoretische Feinde gab es genug oder konnten auf Anhieb ausgemacht werden. Der Putsch mit, durch oder ohne Gülen kam deshalb zur richtigen Zeit. Das »Großreinemachen« erfolgte in einem Aufwasch. Uns war auch sofort klar, dass allen Inhaftierten eine schlechte Zeit bevorstehen wird, denn wo sollten all die Zigtausende untergebracht werden? Inzwischen hat Präsident Erdoğan durch ein Referendum im April 2017 einen weiteren Schritt auf ein Präsidialsystem zu gemacht, das ihm fast uneingeschränkte Macht geben soll. Immer wieder gibt es Verhaftungswellen, Journalisten, Beamte, Lehrende, Intellektuelle sind weiterhin Opfer regelrechter »Säuberungen« – unbescholtene Menschen landen im Gefängnis, weil sie angeblich mit der des Putsches beschuldigten Gülen-Bewegung zu tun haben. Es ist schwer mitanzusehen, was in der von uns geliebten Türkei geschieht.

Ich werde alles so schreiben, wie es für mich war. Einige von Gis Erlebnissen werde ich einfließen lassen. Über viele Erlebnisse, Eindrücke, Ängste und auch Hoffnungen konnten wir natürlich erst nach unserer Entlassung reden. Diese Gespräche taten uns sehr gut. Wir konnten so manches vorher Unbegreifliche endlich gemeinsam, wenn es auch oft sehr verzwickt war, irgendwie zusammenbauen und verstehen. Einige Puzzles werden nie fertig werden, denn wenn zwei Menschen das gleiche Schicksal ereilt, so sind die Erlebnisse und Eindrücke nicht zwingend die gleichen. Man erlebt alles aus seiner ganz eigenen persönlichen Perspektive; Eindrücke, Gefühle und Ängste unterscheiden sich. Schon allein, weil wir die meiste Zeit im Gefängnis getrennt waren, jeweils andere Gefangene um uns hatten, somit auch andere Gespräche führten, andere Erlebnisse hatten. Im Zusammenhang mit dem Überfall in Ostafrika während unserer Weltumradlungstour stellten wir seinerzeit sogar fest, dass wir, obwohl wir das Gleiche erlebt hatten und nicht getrennt gewesen waren, die eigentliche Begebenheit recht unterschiedlich sahen. Wir benahmen uns dabei unterschiedlich und erlebten den Überfall, aus unserem jeweiligen Inneren heraus, emotional anders.

All diese Faktoren machen eine gemeinsame Aufarbeitung nicht unbedingt einfacher.

Zwangsweise haben wir während unserer Haftzeit viele Menschen kennengelernt. Um diese Menschen zu schützen, egal ob sie es aus meiner Sicht verdient haben oder nicht, habe ich mir andere Namen ausgedacht und auch teilweise Städtenamen und Heimatländer geändert. Keiner Person soll durch meine Schuld ein Nachteil entstehen.

Ein großes Problem während der Haftzeit waren für mich die Sprachbarrieren – kein Wunder bei über 20 Nationalitäten, denen ich begegnete. Gi hatte es da etwas einfacher, denn sie spricht neben Englisch auch Arabisch, und viele ihrer Zellengefährtinnen sprachen Arabisch. Viele Gespräche im Gefängnis fanden für mich in sehr schlechtem Englisch statt. Auch mein Englisch ist nicht die Wucht. Die in meinem Kopf gespeicherten Gespräche, Aussagen, Erzählungen und die damit verbundenen Gefühle, auch persönlichen Einschätzungen, werde ich jedoch nach bestem Wissen und Gewissen niederschreiben.

Tag 1

Deine Frau war nur erschrocken

Auf der Fahrt zur Gendarmerie sagt Gi: »Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl. Die sind so komisch. Sonst sind die doch viel netter!«

»Mach dir keine Sorgen, Gi. Die wollen nur unsere Pässe genauer durchsehen, denke ich. Eine Nacht bei den Gendarmen ist doch nicht übel. Da bekommen wir morgen früh ein richtig türkisches Frühstück und mit etwas Glück sind wir am Abend schon am Nemrut Dag.«

»Ja, mag sein, aber damals waren die wirklich viel netter!«

Da ich sehr langsam fahre (ich fahre bei Dunkelheit sehr ungern), betätigt der Fahrer hinter mir ständig die Lichthupe. Es nervt mich.

Vor einem großen Eisentor stoppen wir nach gefühlten 15 Minuten. Ein Rolltor wird durch einen Soldaten geöffnet. Einer der Gendarmen winkt mich hinein, läuft vor unserem Auto her und zeigt mir, wo ich parken soll. Wir steigen aus. Der Hof ist sehr dunkel.

Wir werden in einen Raum geführt. Hinter einem wuchtigen Schreibtisch sitzt ein übergewichtiger Mann in Uniform. Er lächelt breit aus seinem dicken Gesicht, gibt uns die Hand zur Begrüßung und zeigt auf zwei Stühle. Wir setzen uns.

Auf dem Schreibtisch liegen unsere Pässe. Er blättert darin herum, schüttelt dabei öfters den Kopf und stößt ab und zu komische Laute aus. Diese komischen Laute werden von Ländernamen wie Iran, Jemen, Oman und Armenien begleitet.

Ein Gendarm bringt uns Tee. Der Dicke fragt uns auf Türkisch irgendwas. Wir verstehen es nicht.

»Ich spreche Deutsch, Englisch und Arabisch«, sagt ihm Gi.

Der Dicke ruft durch die offene Tür. Ein junger Mann tritt ein. Er trägt keine Uniform, ist sehr dünn und hat ein freundliches Gesicht. Er stellt sich vor und sagt uns: »Ich soll übersetzen. Mein Englisch ist aber sehr schlecht. Entschuldigung. Ich bin der Einzige, der hier Englisch spricht. Wird schon funktionieren.«

Funktionieren wird in den nächsten Stunden fast gar nichts, denn er spricht wirklich schlecht Englisch. Der Dicke stellt die Fragen und der Dünne versucht, uns zu erklären, was er von uns will. Um die Fragerei schnell zu beenden, geben wir uns alle viel Mühe, reden sehr oft auch mit Händen und Füßen. Das Gespräch bleibt chaotisch. Es dauert alles sehr, sehr lange.

Zu Beginn ist der Dicke hauptsächlich an unseren Pässen interessiert. Die vielen Stempel und Visa scheinen ihn zu verwirren. Bei jeder Frage schreibt er sich Notizen auf ein Blatt Papier. Er will wissen, wie oft wir schon im Jemen waren, wie oft im Iran und im Oman. Dann, warum als Ausstellungsland für unsere Pässe Kairo eingetragen ist. Wir seien doch Deutsche. Wir versuchen zu erklären, dass in Ägypten unsere Pässe vollgestempelt waren, wir neue brauchten und wir uns diese in der Deutschen Botschaft in Kairo haben ausstellen lassen.

Da wir ihm auf seine vielen Fragen zu einzelnen Ländern wiederholt angeben, dass wir schon ziemlich oft im Jemen, im Iran, Oman und Ägypten unterwegs waren, bringen wir wahrscheinlich sein Weltbild total durcheinander, denn er schüttelt sehr oft den wuchtigen Kopf. Mir ist relativ schnell klar, dass er nicht begreifen wird, dass es Menschen gibt, die über Jahre unterwegs sind und daher so viele Stempel und Visa in einem einzigen Pass haben können. Dies begreifen ja oft auch andere Menschen nicht.

»Wo sind die Visa für Syrien, Malaysia und Nigeria?«, will er plötzlich völlig überraschend wissen. Wir schauen uns erstaunt an.

»Wi (Wilfried), warum fragt der nach Ländern, in denen wir nie waren?«

»Keine Ahnung! Ich kann es nur vermuten.«

»Was vermutest du?«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass der sich, außer für Armenien, nur für die muslimischen Länder in unserem Pass interessiert? Ich denke, der sucht nach einer Verbindung zwischen den Ländern. Vielleicht denkt er, wir sind Terroristen, Spione, IS-Anhänger oder etwas in der Art.«

»Was haben dann aber Nigeria oder Malaysia damit zu tun?«

»Soviel ich weiß, gibt es dort auch Fundamentalisten, irgendwelche Zusammenhänge mit all dem Mist.«

Gi sagt ihm, dass wir noch nie in Syrien, Nigeria oder Malaysia waren. Er schüttelt wieder mit dem Kopf.

In der Zwischenzeit hat man unser Auto erneut durchsucht. Man bringt dem Dicken meinen Laptop und unsere Handys. Er beauftragt zwei Gendarmen, die Geräte zu untersuchen. Scheiße, denke ich, denn allein auf dem Laptop sind circa 30 000 Bilder. Das kann dauern, wird mir schlagartig bewusst.

Es dauert auch. Irgendwann zeigt einer der Gendarmen dem Dicken all meine Ordner mit den unendlich vielen Bildern auf dem Laptop.

»Bist du Journalist?«, lässt der Dicke fragen.

»Nein. Ich bin Elektriker.«

»Warum dann die vielen Bilder?«

Ich versuche zu erklären, dass all die Bilder Erinnerungen von der jetzigen Tour und von älteren Touren sind. Ich fotografiere halt einfach sehr gerne. Es ist mein Hobby. Ich bin kein Journalist.

Wieder schüttelt er den Kopf. Hoffentlich glauben sie mir. Journalisten haben zurzeit keinen leichten Stand in der Türkei. Es hat immer wieder Verhaftungen gegeben in den letzten Monaten.

Der Dolmetscher erklärt uns, es müssten Fingerabdrücke genommen werden. Haben wir uns verhört?

»Warum Fingerabdrücke? Wir sind doch keine Verbrecher! Wir sind Touristen. Ich lass mir das nicht gefallen«, sagt Gi sehr aufgeregt zu dem durchaus sympathischen Dolmetscher. Der versucht, sie zu beruhigen.

»Gi, wenn es die Zeit hier verkürzt, warum nicht?«, versuche auch ich, sie zu bremsen.

Allein die Fingerabdruckaktion dauert mindestens eine Stunde, denn alle zehn Fingerkuppen und auch die Handflächen werden auf weißem A4 Papier verewigt. Da anscheinend einmal nicht reicht, wird alles doppelt abgeschwärzt.

Danach will der Dicke wissen, von wo aus wir mit unserem Auto aus nach Gaziantep gefahren sind. Ich hole meine Landkarte aus dem Auto. Dabei fällt mir auf, dass in all unseren Sachen herumgewühlt wurde. Im Auto sieht es wie auf einem Schlachtfeld aus.

Ich zeige dem Dicken auf der Karte unsere Übernachtungsplätze seit Antalya, auch die Burgen der Adana-Region. Ich zeige ihm auch die Burg, wo wir eigentlich schlafen wollten, wo uns der Gendarm wegschickte und uns anwies, ins Dorf zu fahren. Wie immer schüttelt der Dicke auch hier nur den Kopf. Er lässt sich eine andere Karte bringen. Darauf ist die Burg, an der wir schlafen wollten, nicht zu sehen. Der Dolmetscher versucht, mir zu erklären, dass auf neuen Karten die Burg nicht mehr eingezeichnet ist. Meine Karte ist sehr alt.

»Warum ist die nicht mehr eingezeichnet?«, frage ich.

»Die Straße entlang der Burg ist eine Flüchtlingsstraße. Die wird von vielen Flüchtlingen aus Syrien benutzt. Unter den Flüchtlingen sind auch IS-Leute und Terroristen. Deshalb.«

Komisch, denke ich, nicht einen Flüchtling haben wir an der Strecke gesehen.

Nach Mitternacht wird der Dicke endlich müde. Wir hoffen, dass wir nun endlich im Hof unser Zelt aufschlagen und morgen einfach weiterfahren können.

Es kommt aber ganz anders. Der Dolmetscher sagt: »Du kommst in eine andere Gendarmerie. Deine Frau bleibt die Nacht hier. Morgen bringt man dich dann zurück.«

Wieder denken wir, uns verhört zu haben. Gi ballert sofort wortreich auf den Dicken ein. Es hilft nichts. Über den Dolmetscher lässt er uns sagen: »Wir wissen noch nicht, ob ihr Terroristen, IS-Leute oder Spione seid. Wir wissen auch nicht, ob dein Mann Journalist ist. Wir wissen auch noch nicht, ob ihr nach Syrien wollt, in Syrien wart. Wir prüfen das alles bis morgen. Die Grenze zu Syrien ist Sperrgebiet. Die Burg und die Stadt Gaziantep gehören dazu. Hier habe ich das Sagen.«

Natürlich widersprechen wir, Sätze wie: »Wir sind weder Terroristen noch IS-Anhänger oder Spione.«, »Nach Syrien wollen wir garantiert nicht.«, »Ich bin auch kein Journalist«, hallen durch den Raum.

Besonders wurmt mich, dass wir angeblich in einem Sperrgebiet unterwegs waren, denn es gab keine Schilder oder Hinweise, und niemand hat etwas Derartiges gesagt. Ich versuche, dem Dicken zu erklären, dass es für uns kein ersichtliches Sperrgebiet gab und auch auf den Seiten des Auswärtigen Amtes nichts geschrieben stand. Nie würde ich in ein gesperrtes Gebiet fahren. Es hat keinen Sinn, der Dicke schüttelt nur mit dem Kopf.

Da der Dolmetscher unsere Aufregung bemerkt, versucht er erneut, uns zu beruhigen. »Ist doch nur die eine Nacht. Morgen wird dann alles gut für euch«, sagt er zweimal zu uns.

Wir gehen mit dem Dolmetscher auf den Hof. Die frische Luft tut mir gut. Ich atme tief durch. Zwei Gendarmen nehmen Gi in die Mitte, gehen am Haus entlang. Kurz darauf höre ich Gi schreien.

»Was ist los?«, frage ich aufgeregt den Dolmetscher.

»Du bleibst hier. Ich schaue nach«, sagt er. Damit ich nicht hinterherlaufe, hält mich einer der Gendarmen am Arm fest. Kurz darauf kommt der Dolmetscher zurück.

»Mach dir keine Sorgen. Deine Frau war nur erschrocken, weil sie in die Zelle musste. Es geht ihr jetzt wieder gut. Es ist wirklich besser, ihr macht keine Schwierigkeiten. Der Chef versteht keinen Spaß.«

»Ja. Du hast doch aber mitbekommen, wir sind garantiert keine Spione. Wir sind nur Touristen. Warum dann das alles? Ich versteh das nicht.«

»Ich glaube euch ja. Ich glaube auch, morgen könnt ihr dann gehen. Die wollen nur noch alle eure Daten überprüfen. Glaub mir, morgen wird alles gut. Ich habe es auch deiner Frau gesagt.«

Natürlich mache ich mir Sorgen um Gi. »Geht es ihr wirklich gut?«, frage ich nochmals.

»Ja, du kannst mir glauben.« Dabei lächelt er.

Mit drei Gendarmen steige ich in ein Auto. Der Dolmetscher steigt nicht mit ein. »Bist du morgen da?«, frage ich nur noch.

»Ja, ich bin da.«

Es muss weit nach Mitternacht sein. Ich habe keine Uhr. Die drei Männer sind bewaffnet. Jeder hat eine Maschinenpistole. Während der Fahrt reden wir kein Wort. Sie geben mir eine Zigarette. Ich habe selbst eine Schachtel, will ihnen eine von meinen geben. Sie lächeln aber nur.

Ich öffne das Autofenster. Ich brauche frische Luft. Meine Gedanken sind bei Gi. Ich hoffe, es geht ihr einigermaßen gut. Ich hoffe, der Dolmetscher hat mir die Wahrheit gesagt.

Die Fahrt dauert nicht lange, vielleicht fünf, vielleicht 15 Minuten. Ich bin mir nicht sicher. Meine Gedanken kreisen einfach zu sehr. Wir stoppen vor einem großen Tor. Es geht automatisch auf. Der große gepflasterte Hof ist beleuchtet. Das Tor schließt krachend, hallt durch die Nacht. Wir steigen aus.

Es ist ein Gefängnis der Gendarmerie. Ich werde durchsucht, muss meine Hosentaschen ausleeren. Meinen Hosengürtel muss ich abgeben. Die Zigaretten und das Feuerzeug nehme ich einfach zurück in meine Hosentasche. Der Gendarm will mir erklären, dass ich sie nicht behalten kann. Ich schüttele mit dem Kopf, will sie zurücklegen, doch er nickt nur. Ich darf sie doch behalten. Darüber bin ich nicht böse.

Zwei weitere Gendarmen bringen mich zu einer Eisentür. Einer schließt auf. Dahinter befinden sich auf einem langen Flur die Zellen. Alles ist mit Neonröhren hell beleuchtet. Durch die Gitterstäbe schaue ich in die einzelnen Zellen. Nur in zweien liegen auf Pritschen Menschen unter Decken.

Am Flurende wird die letzte Zelle aufgeschlossen. Nur zwei Eisenpritschen und eine Toilette sind darin. Man gibt mir zwei Decken. Die Tür wird von außen abgeschlossen.

Ich setze mich auf ein Eisenbett, greife mir die zwei Decken. Ich fühle mich plötzlich wie ein winziger Wurm. Meine Würmchengedanken eilen sofort zu Gi. Ich hoffe inständig, es möge ihr gutgehen.

Tag 2

Fragen, Fragen, Fragen …

Ich schlafe die ganze Nacht nicht. Ständig kreisen meine Gedanken um den gestrigen Tag, um die Verhaftung an der Brücke, um den Dicken mit all seinen Fragen. Ich mache mir heftigste Vorwürfe, dass ich überhaupt zu dieser Burgruine gefahren bin. Ich mache mir Vorwürfe, dass Gi irgendwo in einer Zelle sitzt, dass ich nicht weiß, wie es ihr geht.

Ich ermahne mich, meine Wut auf mich selbst zu zügeln, denn diese Wut verhindert klares Denken. Die Gedanken springen ständig hin und her, zwischen Wut und Erklärungsversuchen.

Erst als langsam Licht durch das kleine vergitterte Fenster fällt, werden meine Gedanken etwas vernünftiger. Ich, wir, sind nicht schuld, sage ich mir vor. Es gab da kein Verbotsschild. Der Gendarm bei der Kontrolle hatte uns doch noch eine gute Fahrt gewünscht. Der andere Gendarm hatte uns ins Dorf geschickt. Was soll da falsch gewesen sein? Was will der Dicke von uns?

Ich weiß, dass die Lage in der Türkei angespannt ist. Der Konflikt mit den Kurden, der IS, der Syrienkrieg, die Flüchtlinge. Die ständigen Anschläge durch IS und kurdische PKK, die Toten, die Verletzten. Hinzu kommt der Kampf Erdoğans gegen Kritiker. Oppositionspolitiker, Journalisten, Wissenschaftler bekommen immer häufiger die Staatsmacht zu spüren. Kritische Auseinandersetzung mit der Politik Erdoğans wird schnell als Terrorunterstützung beziehungsweise -propaganda ausgelegt – nach dem Motto, »wer nicht bedingungslos für mich ist, ist gegen mich«. Es werden Redaktionen gestürmt, Sender und Zeitungen werden unter staatliche Aufsicht gestellt, Journalisten entlassen oder verhaftet, wie zum Beispiel Can Dündar, der Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, der zurzeit auf seinen Prozess wartet. Er hatte über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes nach Syrien berichtet. Erdoğan verträgt keine Kritiker. Gleichzeitig behauptet er, das Land habe die freieste Presse der Welt. Er wirkt zunehmend paranoid. Kommen wir hier unter die Räder?

Das alles war mir bekannt, da ich mich für die Politik der von uns bereisten Länder interessiere und daher auch immer wieder im Internet recherchiere, auch unterwegs. Darum hatte ich mich auch auf den Seiten des Auswärtigen Amtes informiert, ob etwas gegen unsere Tour spricht. Im Land selbst ist mir auch einiges aufgefallen, durch unsere früheren Touren konnte ich gut Vergleiche ziehen. Im Gegensatz zu früher wird ein regelrechter Kult um Erdoğan aufgezogen. In jeder Stadt hängen überdimensionale Plakate von ihm. Sehr geglättet kommt er da als fürsorglicher Landesvater rüber. Da kamen bei uns sofort Erinnerungen an Stalin oder unsere Parteikader in der ehemaligen DDR hoch. Auch war weit mehr Polizei in den Städten unterwegs. Nie zuvor wurden wir bei unseren Reisen durch die Türkei so oft kontrolliert. Zu Beginn der Tour erklärte mir ein Hotelbesitzer in Antalya, dass die Urlauber ausbleiben. Ich fragte: »Warum ist das so?«

»Unser großer Führer bekommt nicht genug«, sagte er sehr leise und schaute sich dabei verstohlen um. Ich bemerkte, eigentlich war ihm schon dieser Satz unangenehm, zu gewagt, zu mutig. Schon das sagt einem viel – denn in jeder normalen freien Demokratie darf man Kritik an der Regierung üben und muss keine Angst haben, dass die falschen Menschen einen dabei hören. Auch das erinnerte mich unangenehm an die DDR: die ständige Vorsicht, wem man die eigene Meinung anvertraut, wen man Kritik hören lässt, die Angst, für ein falsches Wort mit dem Staat aneinanderzugeraten.

Auch wenn ich wusste, wen er mit dem großen Führer meinte, fragte ich nach: »Wer ist denn der große Führer?«

Er winkte ab und sagte dann in gutem Deutsch: »Über Politik konnten wir früher offen reden. Momentan rate ich dir, vermeide Diskussionen, denn Atatürk wird man bald vom Sockel stürzen.«

Ich wusste, was er mir damit sagen wollte. Atatürk war der Gründer der türkischen Republik und regierte als Präsident von 1923 bis 1938. Er reformierte das Osmanische Reich in unvorstellbarem Tempo. Er führte das Land in die Moderne, schaffte das Kalifat ab, verfügte die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau. Die christliche Zeitrechnung wurde eingeführt und das wichtigste, er trennte Staat und Religion. Speziell die Trennung von Staat und Religion wird nun durch Erdoğans Partei, die AKP, durch viele Gesetzesänderungen aufgeweicht. Es gibt sogar Rufe nach einer islamischen Republik. Schleichend vollzieht sich im Land eine Re-Islamisierung. Und Islamisierung der Türkei bedeutet: Über Politik zu reden kann gefährlich werden. Die Islamisierung geht auch einher mit der Gleichschaltung der Presse im Sinne der AKP. Unbequeme Presse wird ausgeschaltet. Die so wichtige Freiheit der Worte kommt unter die Räder.

Als Warnung habe ich die mutigen Sätze des Hotelbesitzers aber zu dieser Zeit nicht eingeordnet. Warum auch? Die Sonne in Antalya lachte wie immer und das Meer funkelte wie immer türkisblau in seinen schönsten Farben.

Nein, ermahne ich mich, heute wird alles gut! Die Sonne wird auch für uns bald wieder lachen und das Meer in der Türkei ist eh immer türkisblau. Der Dolmetscher hat es doch gesagt. Heute wird alles gut!

Mir fällt jedoch wieder mein Laptop ein, die circa 30 000 Bilder. Haben die Gendarmen sie letzte Nacht noch alle angeschaut? Unmöglich, viel zu viele. Gibt es da Bilder, die uns schaden könnten? Und was ist mit meiner Webseite? Die Bilder und meine Webseite lassen auf Journalismus schließen. Zumindest wird der Dicke das gleich vermuten. Was habe ich über die Türkei geschrieben? Gibt es Texte und Bilder, die nicht gut für uns sind? Werde ich nun selbst paranoid?

Ich überlege angestrengt. Denke an die vielen eingesperrten Schriftsteller und Journalisten in der Türkei. Mir fällt mein Buch zu unserer Weltumradlung ein. Habe ich da schlecht über die Türkei geschrieben? Was ist denn überhaupt schlecht? Bedeutet das nicht für jeden etwas Anderes? Wie definiert man schlecht? Die Auslegung der türkischen Regierung, das legen die jüngsten Geschehnisse nahe, ist ziemlich breit.

Ich bin müde. Sollte ich doch versuchen, etwas zu schlafen? Ich lege mich hin, decke mich zu, presse die Augen zusammen, denke an unsere Söhne. Ich muss mich ablenken. All die Gedanken machen mich verrückt.

Ich schlafe nicht ein. Zwei, drei Stunden später kommt plötzlich ein Gendarm in Begleitung eines Mannes vor meine Zelle. Er hat keine Uniform an, wirkt in seinem schicken Anzug wie eine Fata Morgana auf mich. Bevor ich etwas sagen kann, spricht er mich an: »Good Morning, Mister Hofmann.«

»Good Morning«, antworte ich.

»Ich möchte mit Ihnen reden«, gibt er auf Englisch zurück.

Der Gendarm geht. Wir sind alleine. Wir reden mindestens eine Stunde durch die Gitterstäbe. Dabei umfasse ich die Gitterstäbe mit meinen Fingern und sehe die schwarze Farbe von den Fingerabdrücken.

Der Herr stellt sich nicht vor, verrät mir nicht seinen Namen. Die ersten Fragen, die er stellt, sind Fangfragen. Ich merke es sofort. Wann wart ihr in Syrien? Wolltet ihr über die Grenze? Warum sind so viele arabische Visa in euren Pässen? Warum spricht deine Frau so gut Arabisch?

Arbeitet dieser Mann für den türkischen Geheimdienst?

Ich beantworte all seine Fragen mit Geduld, erkläre ihm, dass wir noch nie in Syrien waren, auch nicht hinwollen, dass wir schon viele arabische Länder mehrfach besucht haben und das Gi deshalb so gut Arabisch spricht, weil sie Sprachen liebt, weil sie andere Kulturen liebt und weil man mit Sprachkenntnissen einen ganz anderen Bezug zu bereisten Ländern bekommt.

»Was ist deine Meinung von der Türkei?«, möchte er wissen. Ich erzähle ihm, dass wir schon x-mal in der Türkei waren, dass wir sie auf voller Länge von Ost nach West mit Fahrrädern durchradelt haben, dass wir zu Fuß mit einem Wanderwagen die ganze Türkei durchquert haben.

»Wir lieben die Türkei. Wir lieben das Essen, wir lieben die Landschaft, wir lieben die Natur und wir mögen die Menschen. Nie hat uns jemand was Schlechtes getan«, sage ich ihm.

Anders als der Dicke begreift er schnell, dass wir eigentlich Weltenbummler sind. Weltenbummler sind keine Freunde von Terroristen. Unser Weltenbummlerleben scheint ihn zu interessieren. Ich merke es an seinen Fragen. Wie war es in Afrika? In Australien soll es doch viele giftige Tiere geben? Seid ihr wirklich um die Welt geradelt? Habt ihr Kinder? Wo leben die?

Fast zum Schluss unserer Unterhaltung reicht er mir eine Zigarette durchs Gitter. Er ist mir nicht unsympathisch. Er hat alles, was ich ihm gesagt habe, verstanden. Er hat mir zugehört, hat mich nicht ständig unterbrochen wie der Dicke.

»Ich muss jetzt gehen«, sagt er und drückt dabei seine Kippe auf dem Fußboden aus.

»Was wird jetzt mit uns?«

»Ich denke, es wird alles gut.« Dabei schaut er mir recht freundlich in die Augen.

»Wirklich?«

»Ja, ich denke schon.«

Er geht den langen Flur hinunter. Ich höre die Schlüssel. Die Eisentür schlägt. Ich bin etwas ruhiger. »Es wird alles gut«, hat er gesagt. Der Satz kam zur richtigen Zeit. Eine Stunde sitze ich auf dem Bett, überlege weiter, was nun wird. »Alles wird gut«, hat er gesagt, geht mir dabei ständig durch den Kopf.

Erst als wir in Deutschland zurück sind, schreibt mir Wochen später ein guter türkischer Freund, dass viele türkische Geheimdienstler in Deutschland ausgebildet werden. Es sind meist Deutschtürken, also Türken, die schon länger in Deutschland wohnen oder sogar dort geboren wurden. Sie haben den Vorteil der Sprachkenntnisse. Unsere Geheimdienstler müssen solche gewesen sein. Der Mann, der bei Gi war, sprach perfekt Deutsch, sie dachte erst, er sei Deutscher. Und meiner hatte im Englischen irgendwie einen deutschen Akzent, war mir aufgefallen. Ich wollte aber nicht fragen. Mein Freund schrieb auch, diese in Deutschland Ausgebildeten seien die besten türkischen Geheimdienstler. Ob sie sich hauptsächlich um Deutschtürken oder Deutsche in der Türkei oder in Deutschland kümmern, keine Ahnung. In Deutschland leben um die 3 Millionen Türken, darunter viele Kurden. Alleine im Großraum Alanya, an der türkischen Südküste, leben um die 50 000 Deutsche, in der ganzen Türkei einige Hunderttausend. Diese Umstände lassen vermuten, dass es für diese in Deutschland ausgebildeten, zweisprachigen Geheimdienstler eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten gibt.

Ein Gendarm schließt meine Zelle auf. Ich bekomme meine wenigen Sachen zurück. Am Auto im Hof warten drei Gendarmen. Mit dem Auto verlassen wir das Gefängnis der Gendarmerie. Nach circa 15 Minuten sind wir vor der Gendarmerie, in der alles begann. Ich freue mich auf Gi.

Das Auto biegt aber nach links ab. Der Eingang zur Gendarmerie ist rechts. Gerade als ich fragen will, stoppt das Auto. Ein Gendarm zeigt mir Handschellen. Ich verstehe nicht, was er will. Da nimmt er meine Hände und legt mir die Handschellen an. Ich bin nur noch perplex. Was soll das? Bin ich ein Verbrecher? Er schubst mich aus dem Auto, nimmt mich am Arm und läuft mit mir zu einer großen Tür.

Gleich hinter der Tür sitzen Männer, Frauen und Kinder auf Stühlen. Alle schauen auf mich, stieren auf die Handschellen. Ich fühle mich sehr unwohl. Ich bekomme einen Stuhl. Ich schaue mich um. Das muss ein Krankenhaus sein, denn manche Frauen und Männer laufen in weißen Kitteln umher. Es riecht auch stark nach Krankenhaus. Der Gendarm zerrt mich hinter einen weißen Vorhang. Am Tisch sitzt ein Mann im weißen Kittel.

»Ich bin der Arzt. Geht es dir gut?«

»Ja, mir geht es gut. Mir fehlt nichts.«

Er reicht mir einen Zettel und zeigt mir, wo ich unterschreiben soll. Auf dem Zettel ist ein menschlicher Körper abgebildet. Da es mir gut geht, muss nicht viel ausgefüllt werden. Ich unterschreibe. Auch wenn mir bewusst ist, warum ich hier bin, frage ich trotzdem.

»Warum muss ich das unterschreiben?«

Der Arzt schaut mich an und sagt: »Das ist der Beweis, dass man dich gut behandelt hat. Die Botschaften verlangen das immer.«

Genau das habe ich mir gedacht.

Wir laufen erneut an den vielen Patienten vorbei. Ich spüre ihre Blicke. Was mögen sie denken? Mörder? Vergewaltiger? Dieb? Terrorist? Was sagen sie jetzt zu ihren Kindern?

Im Auto nimmt mir der Gendarm die Handschellen ab. Der Fahrer startet das Auto und fährt die 50 Meter bis zum Tor der Gendarmerie. Man führt mich sofort in das große Zimmer des Dicken. Einige Männer sind im Zimmer. Auf dem wuchtigen Bürostuhl sitzt diesmal ein anderer Mann in Uniform. Es ist der Stellvertreter des Dicken, erklärt mir der Dolmetscher. Der Dicke hat ab heute Jahresurlaub. Gut, denke ich.

»Wo ist meine Frau?«, frage ich den Dolmetscher. Es antwortet ein anderer Mann in Zivilkleidung.

»Ich bin der neue Dolmetscher. Ich spreche aber nur Englisch. Deine Frau wird gleich kommen«, sagt er mit sehr lauter Stimme.

genau