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Originalausgabe

1. Auflage 2018

 

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

 

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Autor: Tim Lobinger unter Mithilfe von Brigitte von Imhof

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, München

Umschlagabbildungen: © Georg Teigl (U1), Getty Images/Ian Walton (U4)

Abbildungen im Bildteil: © Tim Lobinger, Alina Lobinger sowie Getty Images/Thomas ­Niedermueller (erstes Bild)

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN Print 978-3-7423-0566-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0121-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0120-5

 

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Inhalt

Vorwort

Krebstagebuch

Am Tag, als das Fallbeil kam

Der Wettkampf meines Lebens

Zeit für den Bruce-Willis-Look

Als Fußball mein Leben war

Zu Hause wohnt das Glück

Chemo-Runde, die dritte

Das Schlagzeilengewitter

Kleine Freuden, große Wirkung

Der Duft des Sommers

Der Countdown läuft

Ein Brief an den Krebs

Kein Zurück

Countdown rückwärts

Muss ich erst sterben, um zu leben?

Und immer wieder geht die Sonne auf

Münchner Freiheit

Papa hat kein Aua mehr

Einer will gewinnen

Danksagung

Zum Autor

Bildteil

 

 

 

 

Vorwort

von Joshua Kimmich

Ich habe Tim 2013 im Trainingslager am Walchsee kennengelernt. Damals war ich frisch zu RB Leipzig gewechselt, und Tim war der Athletiktrainer der ersten Mannschaft. Aufgrund einer Verletzung hatte ich in den ersten Monaten sportlich viel mit ihm zu tun, und es hat sich von Anfang an ein spezielles Verhältnis entwickelt. Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, mit ihm zu arbeiten.

Schon recht früh habe ich gemerkt, dass Tim über ein ganz besonderes Gespür im Umgang mit Menschen verfügt. Seine Zuverlässigkeit, aber auch die Tatsache, dass er Konflikten nicht aus dem Weg geht, sondern die Dinge offen und ehrlich anspricht, machen ihn zum perfekten Trainer, Kollegen und Trainingspartner.

Egal, in welchem Verhältnis man zu Tim steht, der Spaß kommt niemals zu kurz. Mit seinem total verrückten Humor gelingt es ihm nahezu immer, die Menschen in seinem Umfeld zum Lachen zu bringen, auch wenn ihnen eigentlich nicht zum Lachen zumute ist. Diese positive Art ist absolut ansteckend! Tim hat immer ein Lächeln im Gesicht, man spürt in jedem Moment, wie sehr ihm seine Arbeit Spaß macht. Es ist ein Leichtes für ihn, andere Menschen zu motivieren und anzutreiben.

 

Nach meinem Wechsel zu Bayern München blieb unser Kontakt weiter bestehen, und als er dann 2016 selbst nach München kam, entwickelte sich eine noch engere Freundschaft und Zusammenarbeit.

 

Den Leistungssportler Tim Lobinger habe ich leider nicht aktiv verfolgt, aber selbst als Trainer ist sein Ehrgeiz grenzenlos. Er gibt sich mit nichts zufrieden, will immer mehr, immer höher hinaus! Es ist beeindruckend, wie detailversessen, fleißig und kreativ er arbeitet. Viele Trainingsgeräte baut er selbst, und er entwickelt immer wieder neue Trainingsformen und Übungen, wodurch das Training abwechslungsreich bleibt und stets zugeschnitten ist auf das Befinden des Athleten.

 

Irgendwann zu Beginn des vergangenen Jahres ist mir während des Trainings aufgefallen, dass er nicht mehr jede Übung vor- und mitgemacht hat. Das war bis dahin noch nie vorgekommen, weshalb ich mir sofort gedacht habe, dass etwas nicht in Ordnung ist. Als ich ihn darauf ansprach, erzählte er mir, dass er sich seit Wochen schlapp und müde fühle. Sein Arzt hatte eine Blutarmut bei ihm festgestellt, konnte sich jedoch nicht erklären, wie diese zustande kam. 

Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht.

Etwa einen Monat später war die Ursache dann klar. Tim rief mich an und redete nicht lange drum herum. »Ich war heute Morgen wieder beim Arzt, und es gibt jetzt eine Diagnose. Ich habe Leukämie.«

 

Boom!

 

Das »Aber« ließ nicht lange auf sich warten: »… aber die Ärzte sagen, dass die Heilungschancen wohl ganz gut sein sollen und ich in sechs Monaten wieder raus sein kann.«

Dieses »Aber« war typisch für ihn: Sieh das Positive! Zeig keine Schwäche! Stark bleiben! Lass niemanden wissen, wie es wirklich in dir aussieht!

Mich persönlich traf die Nachricht wie ein Schlag. Ein Schlag, bei dem man nicht weiß, was gerade passiert und wie man darauf reagieren soll. Für mich war es total surreal, dass dieser Mann, mein Freund, mit dem ich nur ein paar Tage vorher noch trainiert hatte, Krebs haben sollte. Wie war das überhaupt möglich, dass ein 44-jähriger Athlet, der ein Leben lang Sport getrieben hatte, sich gesund ernährte, kaum Alkohol trank und keine Zigaretten rauchte, nun Blutkrebs hatte?

Mir war bewusst, dass sich Tims Leben nun komplett verändern würde, aber ich hatte keinen blassen Schimmer von dem, was genau auf ihn zukommen würde. Leukämie bedeutet Blutkrebs. So viel war klar – aber was nun? Was konnte ich tun, um meinem Freund zu helfen? War es überhaupt möglich zu helfen? Und was hätte ich selbst von einem Freund erwartet, wenn ich in einer solchen Situation gewesen wäre?

 

Fragen über Fragen, auf die ich selbst keine Antworten finden konnte.

 

Schon während des Telefonats mit Tim hatte ich nicht das Gefühl gehabt, dass da Angst aus ihm sprach, keine Wut, kein Selbstmitleid. Natürlich war es auch für ihn unmöglich, so schnell zu realisieren, was die Diagnose für Folgen haben würde.

 

Tim dann während der Krankheit zu erleben, war für mich beeindruckend. Es war beeindruckend, wie ein Mensch ein solches Schicksal annimmt, damit umgeht, die Krankheit wieder aus seinem Leben schaffen möchte, und zwar so schnell wie möglich.

Ich wollte ihn zu keiner Zeit drängen, mir seine Ängste und Gefühle anzuvertrauen. Aber mir war wichtig, ihm zu signalisieren, dass ich als Freund für ihn da sein würde und er mit mir über alles sprechen konnte, wenn er das wollte.

Bei unseren Treffen merkte ich, dass es ihm am meisten Freude machte, wenn ich von den Neuigkeiten in meinem Leben erzählte. Trotz seiner misslichen Lage interessierte er sich für alles, was bei mir passierte, freute sich, hakte nach, wollte alles genau wissen.

So blöd es auch klingt, aber in der Phase, in der es ihm am schlechtesten ging, hat er mir vermutlich mehr geholfen als ich ihm!

Für mich war es faszinierend, wie ein Mensch, der sich in einer solchen Lebenslage befindet, es schafft, eine solch positive Energie und Lebensfreude auszustrahlen und auf sein Gegenüber zu übertragen. Trotz all der Unterstützung war es Tim immer bewusst, dass er diesen Gegner aus eigener Kraft würde besiegen müssen. Es war ein Kampf zwischen ihm und dem Krebs, aber auch ein Kampf gegen sich selbst.

 

Schon als Leichtathlet ging es bei ihm jeden Tag darum, die eigenen Grenzen zu überwinden. Ich sehe sein »Sportler-Gen« als den Schlüssel zum Erfolg an. Er hat früh gelernt, mit Rück- und Tiefschlägen umzugehen, diese zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Er hatte schon immer diesen unheimlichen Ehrgeiz in sich, den Willen, seinen Körper zur Höchstleistung zu pushen, sich jeden Tag aufs Neue auf ein fast schon übermenschliches Level zu heben.

Als Nicht-Sportler ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, was für eine mentale Stärke und Ausdauer es braucht, um Tag für Tag, Training für Training, Wettkampf für Wettkampf immer wieder an sein körperliches Maximum zu gelangen. Man wird stets an seinen besten Leistungen gemessen, an der besten Version von sich selbst, speziell in der Leichtathletik. Erreicht man einen Rekord, besteht das neue Ziel darin, diesen Rekord zu verbessern. Es wird der eigene Anspruch, immer bei 100 Prozent zu sein, um dieses Ziel zu erreichen.

Jeder Mensch hat schlechte Tage, aber als Sportler ist ein schlechter Tag keine Ausrede. Man muss funktionieren, man will funktionieren. Man will es sich selbst beweisen. Man will den anderen Tag für Tag sein »bestes Ich« zeigen und sich weiter verbessern.

 

An dem Punkt, an dem andere aufgeben, passiert bei Tim etwas anderes. Er akzeptiert den Punkt so lange nicht, bis es ihm gelungen ist, sich darüber hinwegzuarbeiten. Aufgeben und Schwäche zeigen, das wird nie eine Option für ihn sein. Und das ist auch der Grund, warum ich niemals darüber nachgedacht habe, dass es ihm nicht gelingen könnte, diesen Kampf zu gewinnen.

Auch bei ihm selbst hatte ich nie das Gefühl, dass er daran zweifelte. Es wirkte nicht, als würde er einen Kampf gegen den Tod führen – es schien vielmehr ein Kampf darum, wieder er selbst sein und das tun zu können, was er liebt und wofür er lebt: endlich wieder unbeschwert Zeit mit seiner Familie und den Menschen und Dingen zu verbringen, die ihm wichtig sind.

 

Wenn ich Tim jetzt sehe und beobachte, dann merke ich, dass er trotz seines endlosen Perfektionismus nun eine absolute Zufriedenheit erlangt hat, die ihm für immer bleiben wird. Diese Zufriedenheit und der Stolz darüber, sein Ziel erreicht zu haben, geben ihm eine Ausgeglichenheit und innere Ruhe, die aus ihm herausstrahlen.

Er ist kein komplett neuer Mensch geworden, aber es ist spürbar, dass sich seine Ansichten und Werte geändert haben. Es fällt ihm leichter, Wichtiges von Belanglosem zu unterscheiden. Er weiß seine Probleme besser einzuordnen und die schönen Dinge noch mehr wertzuschätzen.

 

Lieber Tim, es war bewundernswert für mich zu sehen, dass du dein Leben nicht auf die Krankheit reduziert hast, dich nicht selbst bemitleidet hast, sondern stets versucht hast, die schönen Dinge des Lebens zu sehen. Du hast niemals den Mut und den Humor verloren und bist der Beweis dafür, dass es trotz der Krankheit möglich ist, glückliche Momente zu erleben. Durch dich ist mir bewusst geworden, dass man die eigene Gesundheit wertschätzen muss, da sie keine Selbstverständlichkeit ist. Das Leben kann sich vom einen auf den anderen Moment schlagartig ändern, und man hat nicht immer die Chance, diese Veränderungen zu beeinflussen.

 

Du hast mir gezeigt, dass es wichtig ist zu wissen, was für einen selbst im Leben wirklich zählt. Egal, in was für einer Situation man sich befindet, und egal, wie aussichtslos sie erscheinen mag, es lohnt sich immer, für die Dinge und Personen zu kämpfen, die einem viel bedeuten.

Im Leben wird man immer mit Aufgaben und Problemen konfrontiert, aber: »Das Glück des Lebens besteht nicht darin, wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.« (Carl Hilty)

 

Ich bin dankbar dafür, dich als meinen Freund zu haben, und ich bin unheimlich stolz auf dich.

Du bist ein Riesenvorbild für mich, und du hast es dir verdient, gesund zu sein!

 

Dein Joshua

(im Januar 2018)

 

 

 

 

 

 

Krebstagebuch

In meinem Leben habe ich mir – wie sicher die meisten Menschen – oft Gedanken gemacht über die Schockdiagnose Krebs. Über die plötzliche Konfrontation mit dem Tod. Über die lähmende Angst. Die quälende Prozedur einer Chemotherapie.

 

Die Realität geht weit über das hinaus, was man sich vorstellen kann. Als ich am 3. März 2017 um 17.35 Uhr erfuhr, dass ich Leukämie habe, blieb meine Welt stehen. Für mich als Stabhochspringer waren Fallhöhen aus sechs Metern so normal wie für andere ein Hüpfer von der Bordsteinkante. Aber als Professor Ulrich Keller das Wort Leukämie aussprach, war der Aufschlag hart. Ich fühlte mich wie ein Fallschirmspringer ohne Schirm. Es gab keinen Moment des Zweifelns, keine Sekunde des Nicht-wahrhaben-Wollens. Die Diagnose war eindeutig. Leukämie. Blutkrebs. Wie ein brutaler Einbrecher hatte sich der Krebs Eintritt in mein Leben verschafft, hatte sich meines Körpers und meines Kopfes bemächtigt – mit nur dem einen Ziel, mich zu vernichten.

 

Nach der ersten Schockphase begann ich ein Tagebuch über meine Krankheit zu führen. Ich wollte unbedingt aus der Opferrolle herauskommen, in der ich zur Passivität verdammt war. Ich musste irgendetwas tun, um ein wenig Struktur in mein Gefühlschaos zu bringen. Ich musste die Gedanken bändigen, die ohne Kontrolle durch meinen Kopf sausten. Das ­Schreiben zwang mich, die Dinge zu hinterfragen, die ich nicht verstanden hatte, meine Empfindungen zu benennen und der Realität ins Auge zu blicken. Für mich, den meisterhaften Verdränger und Weggucker, war das eine große Herausforderung.

Das Schreiben hat mir beigebracht, mich auf den Augenblick zu fokussieren, auf das Stück Weg, auf dem ich mich gerade befand. Wenn ich zu weit nach vorn in die Zukunft sah, landete mein Blick unweigerlich in der Worst-Case-Sackgasse. Sah ich zurück, blickte ich auf ein Trümmerfeld.

Das Tagebuch war meine große mentale Stütze bei diesem Höllenritt, ein Freund auf der Reise durch die Höhen und Tiefen einer sechsmonatigen Therapie.

 

 

 

 

 

Am Tag, als das Fallbeil kam

Dienstag, 25. Juli 2017

»Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb. Piep, piep, piep, guten Appetit!«

Okki lacht aus vollem Herzen, hebt seine Ärmchen und klatscht in die Hände.

Wir sitzen am Esstisch, meine Frau Alina, unser 21 Monate alter Sohn Okkert, Alinas Mama Brigitte, ihre Tante Traudl und ich. Es gibt ­Boeuf à la mode mit Semmel- und Kartoffelknödeln, das Traudl auf meinen Wunsch gekocht hat. Das letzte Abendmahl. Ich gebe mich heiter und unbefangen, dabei steckt mir schon seit dem Nachmittag ein dicker Tränenkloß im Hals.

Ich muss Abschied nehmen von meiner Familie, von meinem Zuhause für viele Wochen. Ich muss Abschied nehmen vor allem von Okki, den ich während der gesamten Zeit im Krankenhaus nicht sehen darf. Es gibt zwar kein kategorisches Besuchsverbot, aber erstens würde mein kleiner Sohn den obligatorischen Mundschutz nie und nimmer anbehalten, und zweitens würde es ihn irritieren, seinen Papi so zu sehen, nicht in den Arm genommen zu werden – wo Kuscheln doch das ganz große Thema bei uns beiden ist.

Vielleicht bilde ich mir das nur ein: Der Kleine spürt seit Tagen, dass etwas im Busch ist. Nie hat er sich so oft, so eng und so lange an mich geschmiegt. Alina, Oma, Traudl – alle waren zu Statisten degradiert. Papa, nichts als Papa. Und jetzt ist der Moment gekommen, da ich Okki meine körperliche Zuwendung, unser »Männer-Ding«, entziehen muss. Ich habe ihm in den letzten Tagen wiederholt erzählt, dass ich für eine ganze Weile fort sein werde. Dass ich ihn jetzt schon vermisse. Dass er gut auf Mama aufpassen muss. Natürlich kann er meine Erklärungen nicht rational verarbeiten. Aber ich sehe an dem liebevollen und irgendwie irritierten Blick aus seinen blauen Augen, dass er intuitiv checkt, was Sache ist.

 

Es bricht mir das Herz, und niemand soll es merken. Wir reden über dies und das. Banalitäten, die mir noch einmal das Gefühl von Normalität, von Alltag vermitteln.

Was mir ab morgen blüht, wird alles andere als normal und alltäglich sein: Ich werde für rund sechs Wochen in die Isolierstation im Klinikum rechts der Isar in München eingewiesen und auf den Showdown meines seit vier Monaten andauernden Kampfes gegen die Leukämie vorbereitet werden: die Stammzelltransplantation.

Ohne sie, und das stand seit dem Moment der Diagnose fest, gibt es für mich keine Chance. Morgen in einer Woche wird – so viel weiß ich – ein mir unbekannter junger Mann, der sich irgendwann in seinem Leben für eine Knochenmarkspende entschieden hat, in der Nähe seines Wohnorts das Spenderblut abgeben. Zu meiner Erleichterung wird meinem Spender der quälende Eingriff erspart, der vor Jahren bei einer umfangreichen Knochenmarkentnahme noch unvermeidbar gewesen wäre. Heutzutage bekommt der Spender vor der Abgabe rund eine Woche lang Spritzen in den Bauch, um die Stammzellproduktion anzukurbeln – was natürlich unangenehm ist. Das Prozedere selbst ist aber eher unspektakulär, es ähnelt einer normalen Blutspende.

Kurz nach der Entnahme werden die Stammzellen aus diesem Spenderblut, die in einer Art Schleudergang herausgefiltert werden, über den Zentralen Venenkatheter (ZVK) in meinen Körper übertragen. Der Vorgang wird nicht lange dauern, eine Stunde, vielleicht noch weniger. Es wird nicht wehtun, mit etwas Glück wird es keine Nebenwirkungen geben. Aber ab diesem Moment ist der Startschuss für den Wettlauf um mein Leben gefallen. Wird mein Körper die fremden Stammzellen annehmen? Wird mein neues Immunsystem anspringen?

Damit sich die Spenderzellen bei mir möglichst schnell zu Hause fühlen, beginnt morgen eine umfassende Behandlung zur Vorbereitung der Transplantation, die sogenannte Konditionierung. Sie startet mit einer Hochdosis-Chemo, der fünften seit meiner Diagnose. Sie soll die möglicherweise noch verbliebenen Krebszellen in meinem Körper vernichten. Die neuen Blutzellen müssen hochkomplizierte Prozesse meistern – wenn sie darüber hinaus noch gegen aggressive Krebszellen kämpfen müssten, wäre das womöglich zu viel.

Als Nächstes werde ich Infusionen mit sogenannten Immunsuppressiva bekommen, die mein Immunsystem peu à peu ausradieren – so weit, dass am Tag der Transplantation von mir nur noch ein Hauch übrig sein wird. Wie heißt es in einem Song von Falco: »Muss ich sterben, um zu leben?« Genau so ist es: Ich werde fast sterben müssen, um weiterleben zu können.

Bezeichnenderweise werden die Konditionierungstage mit Minus-Zahlen markiert. Meine morgen beginnenden Kliniktage heißen dann minus sieben, minus sechs, minus fünf und so weiter. Tag null ist Tag der Transplantation. Von da an geht es aufwärts, zumindest was die Zählerei betrifft. Ob es mit mir aufwärtsgeht, wird einzig und allein davon abhängen, wie gut die neuen Stammzellen ihrer Aufgabe gewachsen sind. Sie müssen dann allein klarkommen, den Weg ins Knochenmark finden, sich dort ansiedeln, ein neues, gesundes Immunsystem in meinem Körper aufbauen – und mir ein neues Leben schenken.

Ich weiß nicht, ob es einen Plan B gibt.

Eines dürfte aber feststehen: Es geht um alles oder nichts.

 

Nach dem Abendessen gehen wir alle eine Runde spazieren. Es hat geregnet, in den Straßen wimmelt es von Pfützen, und Okki, in seinem Matsch-Outfit, ist in seinem Element. Als es erneut zu regnen anfängt, gehen die Mädels zurück zur Wohnung. Okki und ich bleiben noch. Er furcht mit seinen Gummistiefeln durch das Wasser, quiekt vor Freude und macht seine Skippings, bei denen das Wasser nur so aufspritzt – während mir die Tränen übers Gesicht laufen.

Eine letzte Nacht, ein letztes Frühstück.

Alina hat beim Bäcker frische Semmeln und Brezen geholt. Ich kaue bedächtig, lausche andächtig dem Geräusch des Kaffeeautomaten, fülle noch einmal Wasser und Bohnen nach, leere den Kaffeesatzbehälter.

Alina steht mit dem Autoschlüssel in der Tür und schaut mich sorgenvoll an: »Timmi, wir müssen …«

Okki rollt geschäftig meinen Koffer aus dem Schlafzimmer über den Flur vor die Haustür. Ein letzter Kuss, dann übernimmt Oma.

Ich hieve den Koffer ins Auto, Alina sitzt schon am Steuer.

Als wir losfahren, schaue ich nochmals zum Schlafzimmerfenster, hinter dem Okki meist steht und mir zuwinkt, wenn ich das Haus verlasse. Aber er ist nicht da. Seine Oma will es ihm und mir nicht schwerer machen, als es eh schon ist.

Nun steht er also unmittelbar bevor, der Höhepunkt im schwersten Wettkampf meines Lebens, der am 3. März dieses Jahres begann.

Freitag, 3. März 2017

»Jetzt muss ich mich mal setzen.«

Als Professor Ulrich Keller mit diesen Worten und einem befremdlichen Klang in der Stimme das Gespräch eröffnet, wird mir sofort klar, was die Stunde geschlagen hat.

Sekunden später hat meine düstere Vorahnung einen Namen: Leukämie.

Der Tag hat mit einem Besuch beim Gastroenterologen begonnen. Ich hatte mich über einen längeren Zeitraum schlapp und antriebslos gefühlt und deshalb einen Internisten aufgesucht, der sich auf meine schlechten Blutwerte keinen Reim machen konnte. Das wiederum hatte eine Reihe von Besuchen bei verschiedenen Fachärzten zur Folge, und heute Morgen stand also die Magen-Darm-Spiegelung auf dem Programm.

Auf dem Weg in die Praxis bekam ich einen Anruf von meinem tags zuvor konsultierten Internisten. Es werde keine Spiegelung mehr geben, denn die Blutwerte hätten eine ganz andere Problematik aufgeworfen. Ich sollte den Besuch beim Gastroenterologen aber nutzen, um die Überweisung ins Klinikum rechts der Isar zu beantragen.

Hatte ich bisher meine Angst vor einer ernsten Krankheit halbwegs im Zaum halten können, erfasste mich nun die Panik. Was war es, das eine sofortige Einweisung ins Krankenhaus erforderlich machte? Warum diese Eile? War ich ein Notfall? Ohne nochmals nach Hause zu fahren und mir ein paar Sachen zu holen, machte ich mich mit dem Auto auf den Weg in die Klinik.

Ich rief meine Frau Alina an und berichtete ihr von meinem neuen Fahrplan. Ich versuchte, so unbekümmert wie möglich zu klingen. Aber ich merkte, wie sich mit jedem Wort, das ich betont munter herausbrachte, am anderen Ende der Leitung die Angst breitmachte.

Und nach einer ersten Untersuchung und quälend langer Wartezeit kam dann Professor Keller und überbrachte mir die Neuigkeiten.

 

Die Diagnose lautet Plasmazell-Leukämie, eine sehr seltene und aggressive Form der Leukämie. Wir müssten umgehend mit der Behandlung beginnen, erklärte der Professor – die Therapie umfasse eine Reihe von Chemotherapien und eine Stammzelltransplantation. Mein relativ junges Alter und meine Sportlerkonstitution sind offenbar die einzigen Pluspunkte bei diesem Krankheitsbild, in dem es vor Minuspunkten nur so wimmelt.

Die Dauer der gesamten Behandlung gibt Professor Keller mit rund sechs Monaten an.

»Heute in sechs Monaten ist mein 45. Geburtstag«, murmele ich in seine Ausführungen hinein. Als ob das wichtig wäre. Dennoch, es gibt eine Perspektive: Ich bekomme die Gelegenheit zum Kampf. Wobei sich mein Gegner nicht um die Regeln eines fairen Wettkampfs zu scheren scheint. Feige hat er sich aus dem Hinterhalt in meinen Körper geschlichen und mit seiner teuflischen Attacke begonnen. So geschickt, so subtil, so hinterhältig, dass er sich ungehindert an sein zerstörerisches Werk machen konnte, lange bevor ich beziehungsweise die Ärzte ihm auf die Schliche kommen konnten.

 

Am Montag, also in drei Tagen, steht mit der Entnahme des Knochenmarks der erste wichtige Eingriff an. Das entnommene Knochenmark wird im Labor analysiert werden, woraus sich Rückschlüsse auf die Natur der bösartigen Blutzellen ergeben sollen. Dann erst kann die Therapie individuell auf mich abgestimmt werden.

Anders als bei anderen Krebsarten lässt sich Leukämie nicht lokalisieren. Einen bösartigen Tumor beispielsweise auf der Niere kann man sich bildlich vorstellen. Doch bei Leukämie ist der Krebs überall da, wo Blut fließt. Überall. Und es ist nicht das Blut selbst, das ein Notsignal versendet, sondern ein Organ – die Niere, die Leber, die Milz –, das sich entzündet und nach Hilfe ruft. Wenn das geschieht, hatten die kranken Blutzellen schon alle Zeit der Welt, um sich zu vermehren und großen Schaden anzurichten. Oft ist es dann zu spät. Was die Zellen wohl bei mir schon angerichtet haben?

 

Die Flut der Informationen überfordert mich. Vieles kann ich nicht behalten und bin zu geschockt, um nachzuhaken. Was ich bei aller Verwirrung allerdings realisiere: Der härteste Kampf meines Lebens ist bereits voll im Gange. Meine Heilungschancen hängen von unzähligen Parametern ab. Die Krankheit kommt mir vor wie ein riesiges Lotteriespiel, und ich kann nur hoffen, dass mein Schutzengel die richtigen Zahlen zieht.

Bevor Professor Keller das Zimmer verlässt, muss ich ihm eine Frage stellen, die mir seit der ersten Sekunde unter den Nägeln brennt.

»Ist meine Krankheit vererbbar? Ich habe drei Kinder …«

Der Arzt kann mich beruhigen. Das sei nicht der Fall.

Puh, wer hätte gedacht, dass es an diesem Tag doch noch eine gute Nachricht gibt.

In der nächsten Minute überfällt mich beim Gedanken an meine Kinder Fee, Tyger und Okkert ein Weinkrampf.

 

Ich muss Alina anrufen, aber ich weiß, dass mir die Stimme bricht. Also schreibe ich ihr eine Whatsapp-Nachricht: »Ich wollte dir nie eine solche Nachricht übermitteln. Aber die Diagnose steht. Ich habe Blutkrebs und werde ab sofort behandelt. Morgen werde ich von der Inneren in die Onkologie verlegt und dann beginnt gleich die Therapie. Diese geht vermutlich sechs Monate. Heilungschancen sind gut, aber nicht super. Die Krebsform ist nicht erblich, also alles gut für Fee, Tyger und Okkert.«

Alinas Antwort lässt keine halbe Minute auf sich warten: »Ich komme sofort.«

Als sie mein Zimmer im Krankenhaus betritt, steht ihr die Angst ins Gesicht geschrieben. Sie umarmt mich stumm, dann wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie sagt, ihre Mama passt auf Okki auf. Mehr bringt auch sie zwischen den Tränen nicht heraus.

»Ich kann es nicht fassen. Wie kann das denn sein, Timmi?«, wiederholt sie immer wieder.

Wenn ich das nur wüsste. Ich kann es doch auch nicht fassen.

 

Als ich wieder allein bin, rufe ich meine Schwester Babett in Meckenheim an. Sie wohnt mit ihrer Familie direkt neben dem Haus meiner Eltern. Babett wusste nichts von meinen gesundheitlichen Problemen während der vergangenen Monate und fällt aus allen Wolken. Sie bringt nach dieser Schocknachricht nur ein Stammeln heraus. Irgendwann fasst sie sich, und allmählich kommt die analytische, patente Sportpsychologin bei ihr durch. Gemeinsam überlegen wir, wann ich es unseren Eltern und meinen Kindern sagen werde.

Heute ist auf jeden Fall der denkbar schlechteste Zeitpunkt, denn nebenan ist Papas Geburtstagsfeier im Gange. Am Morgen habe ich ihm zum 75. gratuliert, da wusste ich noch nicht, was für einen schrecklichen Ausgang der Tag nehmen würde und welche »Überraschung« ich für ihn bereithalten würde. Von den Sorgen um meine Gesundheit habe ich natürlich auch ihm gegenüber nichts erwähnt.

Wir einigen uns darauf, dass ich morgen Vormittag mit meiner Familie telefonieren werde. Babett wird zu meinem Sohn Tyger fahren, um ihn nach dem Gespräch aufzufangen.

Wir verabschieden uns. Ich bin leer und erschöpft.

»Ich habe Leukämie. Ich habe Krebs. Ich möchte noch nicht sterben«, flüstere ich allein in meinem Krankenzimmer.

Ich schließe die Augen und sehe nur Blitze. Ich spüre und höre den Puls in meinen Adern pochen.

Dann kann ich endlich einschlafen.

Samstag, 4. März 2017

Wir kennen alle diese Albträume, in denen wir uns während des Träumens wünschen, bitte, bitte aufwachen zu können. Mein Albtraum hier bringt alle Voraussetzungen mit, um daraus erwachen zu wollen. Einige Sekunden nachdem ich die Augen aufgeschlagen habe, muss ich allerdings feststellen, dass das gestern Erlebte kein Albtraum war, sondern die harte Realität.

Wie gelähmt liege ich in meinem Bett. Das ständige Kommen und Gehen der Schwestern nehme ich wie in Trance wahr. Ständig werden Fieber und Blutdruck gemessen, Blut wird mir abgenommen, Infusionsbeutel ausgewechselt. Ich fühle mich wie in einem schlechten Film.

»Das ist echt krass«, sage ich laut vor mich hin – und ernte den fragenden Blick der Frau, die gerade im Badezimmer sauber macht.

Dann rufe ich Fee an. Mein Herz ist schwer. Ich erreiche sie in ihrer Wohnung in Düsseldorf, wo sie Wirtschaftspsychologie studiert. Meine 22-jährige Tochter fängt sofort an zu weinen. Ich bemühe mich um Fassung, schildere ihr detailliert, was in den nächsten Wochen und Monaten auf mich zukommt. Ich versuche, so unbesorgt und positiv wie möglich zu klingen. Aber sie geht mir nicht auf den Leim, sie kennt mich.

»Papa, du musst gesund werden. Versprich mir das«, bringt sie schluchzend hervor.

Ich verspreche es ihr. Was denn sonst.

Tief durchatmen. Tyger anrufen.

Leider merkt auch mein 18-jähriger Sohn sofort, dass ich die Dramatik meiner Lage herunterspielen will. Ich rede beschwichtigend auf ihn ein, weil ich mich vor seiner Frage fürchte, wie groß meine Überlebenschancen sind. Mir bricht es fast das Herz, meinen sensiblen Sohn so verzweifelt zu erleben. Zumindest ist Babett bei ihm, sie hat das nötige Feingefühl, wird die richtigen Worte finden und ihn aufrichten.

Dann wähle ich die Nummer meiner Eltern. Ich habe meinen Vater am Apparat, und erneut versuche ich, meinen Zustand zu bagatellisieren, um ihn nicht in Panik zu versetzen. Aber mein Anruf löst bei meinen Eltern (der Apparat ist auf laut gestellt) lähmendes Entsetzen aus. Der Schock der Nachricht ist wahrscheinlich gepaart mit einem schrecklichen Déjà-vu: Ich dürfte 14 oder 15 Jahr alt gewesen sein, als bei meiner Mutter Lungenkrebs diagnostiziert wurde. An die Details kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass eine schreckliche, von Angst und Ohnmacht bestimmte Zeit für die Familie begann. Zum Glück konnte meine Mutter die Krankheit überwinden.

Nun ist es an mir, es ihr gleichzutun.

»Tim, wir wissen, dass du kämpfen kannst«, findet Papa endlich Worte. »Das musst du jetzt zeigen.«

Die Reaktionen meiner Familie und ihre unverhohlene Angst, mich zu verlieren, machen mir endgültig bewusst, wie ernst die Lage ist. Am meisten quält mich die Ungewissheit. Klar, ich habe Leukämie im fortgeschrittenen Stadium, so viel steht unverrückbar fest. Aber erst die weitere Analyse meines Blutes und vor allem meines Knochenmarks wird den Therapiefahrplan im Detail festlegen. Ich tappe komplett im Dunklen, was meine Zukunft betrifft – sofern ich überhaupt eine habe.

Alina kommt. Ich sehe ihr die Spuren der vergangenen Nacht an. Sie trägt Mundschutz, das ist von nun an obligatorisch für alle Besucher, da infolge der Medikamente und Infusionen mein Immunsystem bereits geschwächt ist. Eine Infektion soll unbedingt vermieden werden.

Alina hat einige unserer Freunde informiert. Sie sagt, die verstörten Reaktionen am anderen Ende der Leitung haben sie immer wieder tief getroffen und ihr vor Augen geführt, wie schlimm es mich erwischt haben muss.

Wir sprechen über Organisatorisches. Dass ihre Mutter bei ihr und Okki bleibt, solange ich im Krankenhaus bin. Dass ich meinen Kunden absagen muss, die in nächster Zeit ein Training bei mir gebucht haben. Dass sich meine Schwester um alles kümmern wird, was Arztrechnungen und Krankenversicherung betrifft.

Das ständige Kommen und Gehen der Schwestern und Pflegekräfte hält uns vom Trübsalblasen ab.

Später kommt noch mein Freund und Geschäftspartner Christian Jund. Er hat meine Whatsapp-Nachricht erhalten und sich gleich auf den Weg in die Klinik gemacht. Auch ihm ist die Erschütterung anzumerken.

»Tim, das kann doch jetzt alles nicht wahr sein!«, ruft er und rauft sich die Haare.

Schwer zu sagen, wer wen mehr aufbauen muss.

Sonntag, 5. März 2017

Ich hatte einen beängstigenden Traum. Ein Mann in einem schwarzen Mantel hat mich in die Tiefgarage verfolgt. Ich war zwar schneller als er, aber er tauchte immer und immer wieder auf. Schwer atmend lag ich wach. Und in dem Gefühl, wach zu sein, sah ich über mir einen dunkelgrauen Mantel schweben, der nicht verschwinden wollte. Ich glaube, ich schlief dann wieder ein, und als ich vom Krankenhausbetrieb endgültig geweckt wurde, war der Spuk weg.

Ich bin erleichtert. Gleichzeitig lähmt mich die Gewissheit, dass meine Krankheit Realität ist. Ich lese die E-Mails und Whatsapps von den engen Freunden und Bekannten, denen Alina Bescheid gegeben hat. Auch wenn mir niemand wirklich Trost spenden kann, so bin ich gerührt und dankbar für die große Anteilnahme.

Jeder von uns kennt dieses Gefühl von Befangenheit und Unsicherheit im Umgang mit der schweren Krankheit eines Menschen, der uns nahesteht. Viele glauben, sie sollten sich besser zurückhalten und den Betroffenen nicht mit Anrufen, E-Mails oder Ähnlichem belästigen – weil man ja ohnehin nicht viel Tröstliches, Aufbauendes zu sagen hat. Jetzt weiß ich, dass dies der falsche Weg ist. Anteilnahme ist nie peinlich, nie unangebracht, nie nervig. Es ist einfach nur wohltuend, wenn so viele Menschen ihr Mitgefühl ausdrücken. Auch meinen Trainingskunden, denen ich absagen muss, sage ich, was Sache ist. Was soll ich lange um den heißen Brei herumreden. Ich habe Krebs, es gibt bis auf Weiteres keine Termine bei mir.

Joshua Kimmich, der junge DFB-Nationalspieler, ruft mich voller Sorge an. Joshua ist 2013 als 19-Jähriger unmittelbar nach dem Abitur zu RB Leipzig gekommen, wo ich ihn als Konditionstrainer betreut habe. Er laborierte damals an einer Verletzung herum und konnte nur dosiert trainieren, weshalb wir viel Zeit miteinander verbrachten. Ich wurde so eine Art Vertrauensperson für ihn und konnte ihm durch meine positive Energie (so beschreibt er es, nicht ich) wieder auf die Beine helfen. Im Sommer 2015 wechselte er zum FC Bayern. Und als wir ein Jahr später nach München zogen, meldete er sich sofort bei mir und fragte, ob er bei mir trainieren könnte. Über die Zeit sind wir gute Freunde geworden. Nun versuche ich, Joshua zu beruhigen – darin habe ich in den vergangenen Stunden Routine entwickelt. Ich erkläre ihm, dass ich fest entschlossen bin, diesem Scheißkrebs die Stirn zu bieten.

Ansonsten herrscht weiterhin reger Berufsverkehr in meinem Zimmer. Ein ständiges Checken und Wechseln der Infusionsbeutel, ein ununterbrochenes Blutdruck- und Fiebermessen, die Fragen nach meinem Befinden, das Reinigungspersonal, das herumklappert, das ganze Programm … Meine Werte sind instabil. Ich bekomme Blutkonserven und Blutplättchen sowie jede Menge Cortison, um die hohen Entzündungswerte in meinem Körper zu reduzieren.

Endlich finde ich etwas Ruhe zum Nachdenken. Wie lange ist es wohl her, dass sich der Krebs bei mir eingenistet hat? Ich habe mich das vergangene halbe Jahr ungewöhnlich schlapp und antriebslos gefühlt. Das Training mit meinen Kunden hat mich schnell erschöpft. Auch das ständige Nasenbluten hätte mich warnen müssen. Allerdings habe ich den Gedanken, ernsthaft krank zu sein, erfolgreich verdrängt und meine Schwäche dem vielen Stress in die Schuhe geschoben, der in dem gesamten Jahr mein Leben bestimmt hat. Der Umzug von Leipzig nach München, der Aufbau des Studios, die vielen Baustellen in meinem Leben – das alles schien mir die Ursache zu sein für meine angeschlagene Form.

Mitte Oktober 2016 gab es allerdings einen Weckruf, der mich auf jeden Fall hätte alarmieren müssen. Ohnehin hatte ich in letzter Zeit häufig das Gefühl gehabt, mein Herz müsste sich wahnsinnig anstrengen, um das Blut durch meinen Körper zu pumpen, aber an diesem Tag war es besonders schlimm. Die Schmerzen in der Brust waren so heftig, dass ich nicht einschlafen konnte. Panik machte sich breit. Ich legte mein Handy auf das Kopfkissen, um den Notdienst anrufen zu können.