– Felix kommt aus dem Haus, wirft sich den Rucksack über die Schulter und schnappt sich sein Skateboard. Er skatet an Marcos Pizzeria vorbei. Wobei »Pizzeria« leicht übertrieben ist: Eigentlich handelt es sich um einen besseren Foodtruck, aber die Pizza dort ist erste Sahne.

»Ciao, Felix!«, ruft ihm Giulio, der Pizzabote zu, der gerade mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt. Er sieht aus, als sei er selbst sein bester Kunde.

»Hey, Giulio!«, ruft Felix zurück, dann murmelt er: »Bereit zum Start?« Er nickt sich bestätigend zu. »Und go!«

Mit weit ausgebreiteten Armen und einem fröhlichen »Wuhuu!« saust er gut gelaunt in Richtung Stadt. Er biegt in eine Straße mit alten Häusern ein und – ein Teppich versperrt ihm den Weg. Kein fliegender, sondern einer, den zwei Möbelpacker tragen. Kein Problem für Felix, gekonnt

Perfektes Timing! Denn genau in dem Moment kommt seine beste Freundin Ella aus der Einfahrt ihres Hauses geschossen.

Sie schlagen sich ab. Wie jeden Morgen.

»Bin ich zu spät?«, fragt Felix.

»Ach was.« Ella lacht. »Wir haben Rückenwind.«

Gechillt skaten sie eine breite Straße runter. Chris und Robert aus ihrer Klasse überholen die beiden mit ihren Rädern.

»Morgen!«, ruft Chris. Und Robert zeigt einladend auf seinen Gepäckträger. »Lift gefällig?«

»Logo«, meint Ella. Sie und Felix halten sich an den Rädern fest.

Felix ruft: »Geschwader komplett!« Und ab geht’s im Affentempo Richtung Schule.

Vor dem Otto-Leonhard-Gymnasium, von den Schülern liebevoll »Otto« genannt, hält ein SUV. Mario steigt aus, der Fünfte in Felix’ Gang.

»Hey, Mario!«, ruft ihm Felix von der anderen Straßenseite aus zu.

»Hey«, kommt es zurück. Mario winkt seinen Freunden, die an ihm vorbei zum Eingang der Schule sausen, betont lässig zu, aber seine Coolness fällt von ihm ab, als der SUV weiterfährt.

 

Aber diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Der Schulgründer Otto Leonhard, dessen Geist immer noch in der Schule herumspukt, hatte Frau Schmitt-Gössenwein zur Strafe geschrumpft und ihr gezeigt, dass Kinder nichts lernen können, wenn sie Angst haben.

Frau Schmitt-Gössenwein ist inzwischen wieder groß und immer noch Direktorin der Schule, aber das Otto ist kaum wiederzuerkennen. Die Flure sind kunterbunt, überall hängen, stehen, liegen die verrücktesten Objekte, die die Schüler in den Projektwochen gebastelt, gemalt, gebaut haben. Da gibt es farbige Scheiben, die sich drehen, einen großen dreiäugigen Fisch aus Pappmaschee und ein riesiges Einhorn.

Und dann ist da noch der Lernparcours, den Otto Leonhard vor langer, langer Zeit einmal eingerichtet hatte und den Felix und seine Freunde im Keller entdeckt und wieder zum Leben erweckt haben. Und zu was für einem Leben! Da scheppert’s und klirrt’s, quietscht’s und brummt’s, wenn die Kinder auf den exotischen Instrumenten üben, die Otto Leonhard auf seinen Reisen gesammelt hat: afrikanische Trommeln, ein chinesischer Gong, indische Sitars und nicht zuletzt eine ziemliche schräge Apparatur aus Posaunen. Selten hat Musikunterricht so viel Spaß gemacht!

Auch Frau Schmitt-Gössenwein, von allen nur »Schmitti« genannt, sieht bunt und fröhlich aus. Statt wie früher ein strenges graues Kostüm trägt sie jetzt eine Bluse mit großen Punkten und eine Jacke im gleichen knalligen Rot wie ihre riesige Brille. Und Mathe unterrichtet sie heute auch nicht, stattdessen liest sie vor:

»… bin ich sehr in Eile,

hilfst du mir sofort,

hab ich Langeweile,

mach ich mit dir Sport.«

Felix und Ella, die nebeneinandersitzen, stoßen sich an und kichern. Genau wie der Rest der Klasse. Ihre Mathelehrerin dichtet! Und es geht noch weiter:

»Reiter brauchen Pferde,

Raucher Aschenbecher,

Gärtner lieben Blumenerde,

Und ich meinen …«

Die Schüler schauen sich ratlos an.

»Taschenrechner!«, ruft nun Frau Schmitt-Gössenwein begeistert. »Mein Taschenrechner ist mir sehr wichtig.«

Felix und die anderen aus seiner Klasse lachen höflich.

»Ich weiß, ich vertrete Deutsch«, spricht Schmitti weiter. »Aber das sollte ja auch nur ein Beispiel für ein Gedicht sein über etwas, das einem sehr viel bedeutet. Schließt euch bitte zu viert oder fünft zusammen und versucht auch mal, so ein Gedicht zu schreiben.«

Felix und Ella drehen sich zu Mario, Chris und Robert um. Wäre doch gelacht, wenn sie das nicht mit links hinbekämen.

»Macht ihr mit?«, fragt Felix.

Mario zieht die Augenbrauen hoch. »Bei ’nem Gedicht?«

»Is’ auf jeden besser Fall als Diktat«, sagt Chris und lacht. Was bei ihm immer wie ein Grunzen klingt.

»Also, Leute, was ist uns denn allen sehr wichtig?«, fragt Ella in die Runde.

»Weil du so oft von Schulen fliegst?«, spottet Robert. Chris grunzt schon wieder.

Felix findet das überhaupt nicht lustig. »Scherzkekse!«

»Wie wär’s mit Eltern?«, fragt Ella.

Die Jungs finden den Vorschlag nicht sehr berauschend.

»Uncool«, meint Mario.

»Aber die sind uns doch allen sehr wichtig, oder?«, widerspricht ihm Ella.

»Na ja …«, macht Mario nur.

»Kommt ganz drauf an, wie wir es machen«, meint Ella.

Robert schlägt einen Rap-Tonfall an. »Eyyyyy, Mann … wenn dich die Alten derbe stör’n, musst du sie einfach überhör’n.«

Chris grinst und nimmt den Rap auf, Ella macht Beatbox-Geräusche dazu: »Bse ktze, bse ktze …«

»Und wenn sie dann mit Strafen drohen …«, rappt Chris weiter, und Felix fällt ein: »… verstehst du wieder keinen Ton.«

Jetzt ist Robert dran: »Nehmen sie mir dann das Handy weg …«

Und wieder Felix: »… dann schert mich das ’nen feuchten …«

Auffordernd schaut er Mario an und erwartet, dass der den Rap aufnimmt.

Erstaunt schauen die Jungs Mario an. Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Nur Ella spürt, dass dahinter mehr stecken muss als bloß schlechte Laune.

»Mario hat recht«, sagt sie. »War ’ne doofe Idee.«

»War doch deine Idee«, wirft Felix ein.

»Trotzdem«, sagt Ella. »Wir finden auch was anderes.«

Felix schaut Ella verwundert an, zuckt dann aber mit den Schultern. »Okay.«

»Na gut, was gibt’s noch Wichtiges?«, fragt Chris.

»Mucke?«, schlägt Robert vor.

Und Chris fügt hinzu: »Internet?«

»Nee«, sagt Robert.

»Freundschaft!«, ruft Chris. »Freundschaft ist gut.«

Während Chris und Robert weiter Vorschläge austauschen, kritzelt Mario wütend auf einem Blatt Papier herum.

Felix hört nicht zu – er beobachtet Ella, die wiederum auf den vor sich hin brütenden Mario blickt. Da ist doch was im Busch!

 

Irgendwann ist auch diese Stunde vorbei und es klingelt zur Pause. Alles stürmt aus der Klasse.

Felix schließt zu Ella auf. »Bleibt’s bei heute Nachmittag?«

Ella blickt ihn fragend an.

Ella beißt sich auf die Lippen. »Scheiße, stimmt, hab’s vergessen, sorry …«

Mario drängt sich wortlos an ihnen vorbei und rempelt Chris an. Unabsichtlich zwar, aber er entschuldigt sich auch nicht.

»Ey!«, ruft Chris überrascht.

»Wie ist der denn drauf?«, fragt Robert.

Ella blickt Mario nach. Dann sagt sie zu Felix: »Wir sehen uns morgen, ja?«

Sie lässt Felix einfach stehen und ruft: »Mario, warte!«

Felix, Chris und Robert sehen sich verwundert an.

»Warum klettet Ella so an ihm?«, fragt Felix.

»Bist du etwa eifersüchtig?«, feixt Chris.

Felix winkt ab. »Ich? Eifersüchtig? Auf keinsten.«

»Ja, ja. ›Auf keinsten‹«, spottet Chris und rempelt Robert an.

Felix verdreht genervt die Augen.

 

Das alte Lehrerzimmer, in dem Frau Schmitt-Gössenwein vor gar nicht langer Zeit auf 15,3 cm geschrumpft wurde, ist inzwischen ein Museum. Auf Tischen, in Regalen, an der Wand: Überall hängen, liegen, sitzen, stehen Dinge, die Otto Leonhard von seinen Reisen in aller Herren Länder

Probeweise blickt sie durch das Okular eines Theodolits – eines altmodischen Winkelmessinstruments –, als Herr

Schmitti erschrickt kurz, doch dann ruft sie: »Wundervoll, ganz wundervoll, unser neues Otto-Leonhard-Museum! Glatte Eins, Herr Michalski. Mit Sternchen. Darauf müssen wir bald mal anstoßen. Mit einem Gläschen …«

Herr Michalski sieht sie erwartungsvoll an.

»… Salbeitee.«

Der Hausmeister lächelt. Er kennt Frau Schmitt-Gössenwein lange genug, um zu wissen, dass sie nichts so sehr schätzt wie Salbeitee. Er nickt. »Unbedingt!«

Die beiden schauen sich einen Moment unschlüssig an, dann räuspert sich Herr Michalski. »Ja, also … Ich mache hier noch ein bisschen klar Schiff, dann kann am Samstag der Elternbeirat kommen und …«

»… und wird uns hoffentlich das Geld für das Otto-Leonhard-Schulkonzept bewilligen«, vollendet Frau Schmitt-Gössenwein den Satz.

»Ihnen kann man doch eh nichts abschlagen, Frau Schmitt-Gössenwein«, säuselt Herr Michalski.

Schmitti lächelt etwas verlegen über diesen plumpen Flirtversuch, doch da entdeckt sie etwas auf einem der Tische.

»Ich weiß nicht, ob das hierhergehört.«

Herr Michalski ist verdutzt, dann sieht er, was die Direktorin meint.

»Das hab ich beim Aufräumen im Parcours gefunden«, sagt Herr Michalski.

Nachdenklich betrachtet Schmitti das Skelett. »Ich glaube, das sind die traurigen Überreste von Hulda Stechbarth.«

»Hulda Stechbarth?«, fragt Herr Michalski.

Schmitti wirft einen Blick auf das Porträt Otto Leonhards.

»Nachdem er sie damals geschrumpft hat«, flüstert sie.

Frau Schmitt-Gössenwein nickt. »Trotzdem, mir wäre wohler, Sie entsorgen das.«

Der Hausmeister nickt. »Ich kümmere mich drum.«

Schmitti sieht sich noch einmal anerkennend um. »Danke, Herr Michalski. Sehr gute Arbeit. Wirklich ausgezeichnet. Schönen Feierabend.«

»Danke. Ihnen auch, Frau Direktorin.«

Als Frau Schmitt-Gössenwein den Raum verlässt, blickt ihr der Hausmeister verliebt hinterher – und fegt, ohne

»Ups.« Herr Michalski versucht schnell, die Flüssigkeit aufzuwischen, und stößt eine weitere Flasche mit einer Tinktur um. »Ah, Mist!«, flucht er.

Die Lache wird größer, das kleine Skelett beginnt zu dampfen. Kurz entschlossen nimmt der Hausmeister einen großen Lappen vom Putzwagen, wischt die Flüssigkeit samt Skelett zusammen und wirft alles in einen großen blauen Müllsack. Dann sieht er sich noch einmal um und schaltet das Licht

… ist ein leises Rascheln zu hören.