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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Daniel Passow

Detlef Schläfke

Delinquenz und Sucht

Eine Einführung in die forensisch-psychiatrische Praxis

Mit einem Beitrag von Oliver Bilke-Hentsch

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030067-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030068-2

epub:   ISBN 978-3-17-030069-9

mobi:   ISBN 978-3-17-030070-5

 

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

 

Track 1:  

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:  

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:  

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

 

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Im Bereich der Kriminalität, Delinquenz und forensischen Psychiatrie spielten und spielen Suchtmittelgebrauch und Suchterkrankungen eine wichtige Rolle. Die Erfassung derartiger Problematiken in einem eigenen Strafrechtsparagraphen (§64 StGB) im deutschen Strafrecht unterstreicht hier die auch gesellschaftlich anerkannte Bedeutung. Im vorliegenden Band wird von langjährig in der Forensischen Psychiatrie erfahrenen Autoren die Thematik umfassend, nachvollziehbar und stets am konkreten Handeln orientiert dargestellt. Nicht nur für forensische Fachpersonen im engeren Sinne, sondern auch für Suchtberatungsstellen, Juristinnen und Juristen und Kriminologen ist dieser Band hilfreich. Ein exemplarisches Fallbeispiel erleichtert den praktischen Zugang zu dieser komplexen Thematik.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

 

Inhalt

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 1.1 Sucht – Drogen – psychotrope Substanzen
  4. 1.2 Devianz – Delinquenz – Kriminalität – Kriminalisierung – Sozialkontrolle
  5. 1.3 Zusammenhang von Sucht und Delinquenz
  6. 1.4 Erkenntnismöglichkeiten
  7. 1.5 Rechtsbereiche und rechtliche Rahmenbedingungen
  8. 2 Fallvignette
  9. 3 Allgemeine und klinische Epidemiologie
  10. 3.1 Konsum psychotroper Substanzen und Sucht in der Allgemeinbevölkerung
  11. 3.2 Dunkel- und Hellfeldkriminalität in der Allgemeinbevölkerung
  12. 3.3 Suchtstörungen in bestimmten Straftäterstichproben und Straftaten bei Süchtigen
  13. 3.4 Strafjustizielle Reaktionen bei Straftätern mit Suchtstörungen
  14. 4 Klinik, Verlauf, Prognose, Komorbiditäten
  15. 4.1 Darstellung klinischer Störungen durch Substanzgebrauch
  16. 4.2 Verläufe von Sucht und Kriminalität
  17. 5 Ätiologie
  18. 5.1 Überblick zur Ätiologie delinquenten Verhaltens
  19. 5.2 Überblick zur Ätiologie von Sucht
  20. 5.3 Zusammenfassende Überlegungen
  21. 6 Diagnostisches Prozedere im forensischen Kontext
  22. 6.1 Forensisch-psychiatrische Begutachtung im Strafrecht
  23. 6.2 Zivil- und sozialrechtliche Gutachtenfragen
  24. 6.3 Spezielle Begutachtungsfragen
  25. 7 Interventionsplanung, interdisziplinäre Ansätze
  26. 7.1 Allgemeine Grundlagen
  27. 7.2 Spezifische forensische Interventionen
  28. 8 Präventive Ansätze
  29. 8.1 Allgemeine Begriffe und Grundlagen
  30. 8.2 Spezielle Ansätze bei Sucht und Delinquenz
  31. 9 Kinder- und jugendpsychiatrische Aspekte
  32. von Oliver Bilke-Hentsch
  33. 9.1 Symptomatologie
  34. 9.2 Teilleistungsstörungen im Jugendalter
  35. 9.3 Intelligenzprofil als Prädiktor für Integrationsleistungen
  36. 9.4 Forensische Aspekte im Jugendalter
  37. 9.5 Besonderheiten forensisch untergebrachter Jugendlicher
  38. 9.6 Therapieplanung
  39. 9.7 Therapieschritte nach den Leitlinien
  40. 9.8 Nachsorge und Case Management
  41. 10 Ausblick
  42. Literatur
  43. Anhang: Ausfilterung im Strafverfahren 2013
  44. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

1

Einleitung

 

Die Forensische Psychiatrie ist in vielerlei Hinsicht mit Sucht konfrontiert, wobei sich dieser Band auf die stoffgebundenen Süchte beschränkt. Auch wenn forensisch-psychiatrische Zusammenhänge verschiedene Rechtsbereiche tangieren, liegt der Schwerpunkt dieses Buchs auf strafrechtlichen Aspekten. Auf wichtige Fragestellungen anderer Gebiete, wie beispielsweise im Sozialrecht oder Betreuungsrecht, wird jedoch auch eingegangen.

Das Hauptanliegen ist die Vermittlung von Grundlagenwissen für die verschiedenen Berufsgruppen, die in der Praxis mit Menschen arbeiten, welche Drogen konsumieren und strafbares Verhalten zeigen. Dabei scheint die adressierte Leserschaft ebenso breit gefächert, vom ambulanten Suchtberater über Mitarbeiter der Justiz bis zur interdisziplinären Belegschaft einer Klinik des Maßregelvollzugs, wie die Facetten von Menschen, die im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum delinquent handeln. Wir wollen den verschiedenen Lesern die jeweils fachfremden Zusammenhänge verständlich aufzeigen und somit den alltäglichen Dialog zwischen Medizinern und Juristen, Bewährungshelfern und Suchtberatung, allgemeiner und Forensischer Psychiatrie etc. vereinfachen, versachlichen und nicht zuletzt auch Ressentiments ausräumen, welche aus unrealistischen Erwartungen aneinander resultieren. Letztlich soll es darum gehen, anhand fachübergreifender Informationen aus Medizin, Soziologie, Kriminologie und Justiz ein erweitertes Fallverständnis für die Klienten zu ermöglichen und einen sachgerechten und fortschrittlichen Umgang mit ihnen zu fördern.

Die einzelnen Kapitel des Buchs werden thematisch kurz vorgestellt, da sie durchaus separat und je nach individuellem Interessengebiet gelesen werden können. Wir hoffen, für jede Berufsgruppe erstmalige, vertiefende oder auch Zusammenhänge herstellende Informationen zusammengestellt zu haben.

Die Einleitung nimmt zunächst kapitelübergreifende Definitionen und Sachverhalte vorweg, welche die Einbettung einzelner Kapitel in das gesamte Thema erleichtern sollen. Vielfach verwendete Gesetzestexte sind mannigfaltig im Internet abrufbar, eine Aufführung im Anhang ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Im zweiten Kapitel werden anhand eines anonymisierten Fallbeispiels das individuelle Ausmaß von Sucht und Kriminalität einerseits und die Tragweite gesellschaftlicher Zusammenhänge mit Beteiligung unterschiedlichster Berufsgruppen andererseits dargestellt. Das dritte Kapitel berichtet Ergebnisse zur Häufigkeit von Suchtmittelkonsum und -abhängigkeit sowie Zahlen und Kennwerte zur Delinquenz. Dabei wird von der Allgemeinbevölkerung hin zu spezielleren Stichproben vorgegangen, damit ein möglichst ganzheitliches Bild über die Umfänge entstehen kann. Im vierten Kapitel werden zu Beginn Definitionen und Einteilungshilfen für suchtspezifische Begriffe wie Substanzwirkungen und Suchtfolgen erläutert, um auch nicht klinisch tätigen Personen über das Alltagsverständnis hinaus detaillierte Vorstellungen hierzu zu ermöglichen. Des Weiteren kann der Leser hier einen Überblick gewinnen, welche Informationen bislang zum Verlauf von Sucht und Delinquenz über die Lebensspanne vorliegen. Kapitel fünf beschäftigt sich mit der Frage, wie Sucht, Delinquenz und das Zusammentreffen von beiden entstehen könnte. Die aufgezeigten Vorstellungen können dabei allerdings nur die theoretischen Grundannahmen verständlich machen, eindeutige Ursache-Wirkungs-Nachweise sind auf diesem Gebiet erwartungsgemäß ausstehend. Im sechsten Kapitel beschäftigen wir uns mit speziellen forensischen Fragestellungen an psychiatrische Sachverständige in verschiedenen Gerichtsfragen. Neben den Aspekten zum Strafrecht, wie beispielsweise die Frage zur Schuldfähigkeit oder Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, werden auch zivil- und sozialrechtliche Belange, die Fahreignung und Gewahrsamssowie Verhandlungsfähigkeit bearbeitet. Das Kapitel ist auch geeignet, die Möglichkeiten und Grenzen forensischer Sachverständigentätigkeit zu verstehen. Das siebte Kapitel beschreibt relevante Reaktionsmöglichkeiten auf Sucht und Kriminalität im forensischen Kontext mit Ergänzungen um gesellschaftliche Blickwinkel. Im achten Kapitel wird dann darauf eingegangen, welche Möglichkeiten der Vorbeugung bestehen, und zwar auf jeweils unterschiedlichen Ebenen der Entwicklungsverläufe von Sucht und Delinquenz. Kapitel neun nähert sich dem Thema ergänzend aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht. Im zehnten Kapitel wird die Notwendigkeit des interdisziplinären Austauschs erläutert und ein Ausblick zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB aus Sicht der Autoren gegeben.

1.1       Sucht – Drogen – psychotrope Substanzen

Pragmatisch und allgemein zitiert Tretter (2012, S. 5) den Suchtforscher Wanke1: »Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Es verhindert die freie Entfaltung der Persönlichkeit und mindert die sozialen Chancen des Individuums.«. Dieser seelische Erlebniszustand wird häufig durch Substanzen herbeigeführt, die folglich psychoaktiv oder psychotrop genannt werden. Etwas Verwirrung kann die Unterscheidung der Begriffe Sucht, Missbrauch, Abhängigkeit oder neuerdings Substanzkonsumstörung (Falkai und Wittchen 2015) stiften. Dabei kann es im allgemeinen Sprachgebrauch ausreichen, die Begriffe synonym zu verwenden, bei konkreteren Fragestellungen sind dann Differenzierungen sinnvoll. Auf dem Kontinuum von Abstinenz – Gelegenheitskonsum – Gewohnheitskonsum – Missbrauch/schädlicher Gebrauch – Abhängigkeit umfasst der ältere Suchtbegriff den Missbrauch/schädlichen Gebrauch und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen. Für klinische und wissenschaftliche Zwecke bedarf es einer scharf begrenzten Definition und so ist das Abhängigkeitssyndrom im ICD-10 (Dilling et al. 2006) durch folgende Kriterien definiert, wovon mindestens drei zusammen einen Monat vorgelegen haben sollten:

1.  starkes Verlangen oder Zwang zum Substanzkonsum,

2.  verminderte Kontrolle über Beginn, Ende oder Menge des Konsums,

3.  körperliche Entzugssymptome,

4.  Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz,

5.  Einengung von Interessen und Aktivitäten auf Substanzgebrauch,

6.  anhaltender Konsum trotz eindeutig schädlicher Folgen.

Letzteres Kriterium definiert unter anderem den Begriff des schädlichen Gebrauchs. Aufgrund der Erkenntnisse zu Ursachen, Symptomen, Verlauf, Therapiemöglichkeiten und Prognose gilt Sucht allgemein und die Abhängigkeit von einer psychotropen Substanz im Speziellen als abgrenzbares, eigenständiges psychiatrisches Krankheitsbild. Der Begriff Drogen wird allgemein synonym für psychotrope Substanzen gebraucht, unterliegt damit aber auch den Vorstellungen und Bewertungen der Allgemeinheit. Demnach zählen Alkohol und Nikotin wohl zu den mengenmäßig relevantesten psychotropen Substanzen, diese würden aber allgemein weit hinter Heroin, Cannabis, Kokain, Amphetaminen etc. als Drogen benannt.

Merke

Sucht beschreibt allgemein Erlebnis- und Verhaltensweisen sowie Konsequenzen, die aus der Umsetzung eines unabweisbaren Verlangens resultieren. Dieser breite Begriff umfasst auch die konkreten Begriffe schädlicher Gebrauch/Missbrauch und Abhängigkeit. Für Praxis und Forschung existieren gegenwärtig ein dimensionales Modell der Substanzkonsumstörung (DSM-5) mit Kontinuum zwischen schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit sowie ein kategoriales Modell (ICD-10) mit Abgrenzung schädlichen Gebrauchs von Abhängigkeit.

1.2       Devianz – Delinquenz – Kriminalität – Kriminalisierung – Sozialkontrolle

Das gesellschaftliche Zusammenleben im Sozial- und Rechtsstaat erfordert von dessen Bürgern ein Verständnis der gemeinsamen Normen und Wertvorstellungen. Verhaltensweisen, die nicht normkonform sind, werden zunächst als abweichend oder deviant beschrieben. Devianz kann somit auf mannigfaltige Weise vorliegen. Demgegenüber ist der unscharfe Begriff Delinquenz eher reserviert für den soziologischen Verbrechensbegriff, wird für per se rechtlich relevantes Fehlverhalten gebraucht und häufig synonym mit Kriminalität verwendet. Letztere definiert sich jedoch streng genommen am geltenden Strafrecht. Für besonders schützenswerte Rechtsgüter, bspw. Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, werden im Strafgesetzbuch (StGB) Tatbestände und Sanktionen als Gesetze verankert und somit wird eine Sonderform sozialer Normen als Rechtsnorm geschaffen. Ein Verstoß gegen ein im Strafrecht (syn. Kriminalrecht) festgelegtes Gesetz stellt dann neben deviantem Verhalten zugleich kriminelles (auch delinquentes) Verhalten dar, nämlich das Begehen einer Straftat beziehungsweise Kriminalität. Man spricht auch von Kriminalisierung und Entkriminalisierung, wenn bestimmte Verhaltensweisen als Straftatbestände in das StGB aufgenommen werden oder wieder entfernt werden. Beispielsweise wurde Homosexualität entkriminalisiert und der Konsum neuerer psychotroper Substanzen durch deren Aufnahme in das Betäubungsmittelgesetz (BtMG)2 kriminalisiert. In dem Maße, wie das Kriminalrecht mit dem Strafgesetzbuch nur einen Auszug aller sozialen Normen und Wertvorstellungen als Gesetze enthält, stellt es auch nur die Ultima Ratio der gesellschaftlichen Normkontrolle dar. Diese letzte Instanz wird durch die Träger der formellen Sozialkontrolle – Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht – repräsentiert. Das entscheidende Gewicht kommt jedoch der informellen sozialen Normkontrolle zu, welche durch die persönlichen Entwicklungsinstanzen – Familie, Lehrinstitutionen, soziales Umfeld – bestimmt wird.

1.3       Zusammenhang von Sucht und Delinquenz

Aus obigen Ausführungen kann resümiert werden, dass die strafrechtlichen Vorschriften und formellen Kontroll- und Sanktionsinstanzen den gesellschaftlichen Umgang mit psychotropen Substanzen zumindest mitgestalten und gravierend von der sozialen Norm abweichendes Konsumverhalten nach den Gesetzestexten als Kriminalität bewertet werden kann. Dieser einfache Zusammenhang von Substanzkonsum und Kriminalität wird durch komplexere Sachverhalte und Zusammenhänge übertroffen. Nach Wankes Definition (siehe oben) bedingt Sucht mitunter eine Unterordnung des Verstandes, sodass sich hieraus individuell und situativ Verschiebungen von sozialen Norm- und Wertvorstellungen im Handeln ergeben können, was dann wiederum als Straftatbestände und Kriminalität gewertet werden kann. In diesem Fall wird also ein gerichteter Zusammenhang angenommen, Sucht bedingt Kriminalität. Demgegenüber existiert die Annahme, dass die Kriminalität eines Individuums die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Sucht erhöht. Dies zum Beispiel, indem über Ausbildung einer kriminellen Identität deviante Norm- und Wertvorstellungen angenommen werden, die auch einen abweichenden Gebrauch psychotroper Substanzen legitimieren. Insbesondere letzterer Zusammenhang verdeutlicht allerdings schon den unausblendbaren sozialen Kontext, in dem Kriminalität und Sucht stattfindet. Daher kann in dieser Einleitung bereits vorweggenommen werden, das sowohl Delinquenz, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen als auch deren paralleles Antreffen durch andere soziale Faktoren bedingt und mitgestaltet werden. An Arten von »Drogenkriminalität« lassen sich unterscheiden:

1.  Kriminalität, die das Betäubungsmittelgesetz quasi selbst generiert, indem es bspw. Erwerb, Anbau, Herstellung und Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln unter Strafe stellt (§ 29 BtMG);

2.  strafbare Handlungen, um den Konsum psychotroper Substanzen zu unterhalten oder negative Konsequenzen zu vermindern, bspw. Beschaffungskriminalität3; sowie

3.  Straftaten im akut oder langfristig durch psychotrope Substanzen veränderten Erlebniszustand, bspw. Trunkenheit im Straßenverkehr und Formen von Gewalttätigkeit im intoxikierten Zustand.

1.4       Erkenntnismöglichkeiten

Wesentliche Erkenntnisse über die Klientel der Forensischen Psychiatrie stammen aus Analysen von Maßregel- oder Gutachtenpopulationen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Klientel eine extreme Selektion in Bezug auf alle Delinquenten darstellt: Beispielsweise wurden im Jahr 2012 von allen Aburteilungen bei 0.25% die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) sowie bei 0.09% die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet (Heinz 2012). Die Abbildung 1 stellt dar, auf welcher Ebene der Strafverfahren diese Klientel selektiert wird und dass in der Folge die jeweilige Repräsentanz solcher Analysen zu beachten ist (image Abb. 10 im Anhang).

Das sogenannte Dunkelfeld der Delinquenz und Kriminalität beschreibt den Umstand, dass nicht alle rechtsrelevanten Normbrüche als solche erkannt werden, angezeigt werden oder anderweitig zugänglich sind. Dunkelfeldforschung, bspw. durch Opferbefragungen, kann auch nur eine Teilerkenntnis bringen, sodass man auch von relativem und absolutem Dunkelfeld spricht. Ebenso eingeschränkt ist die Generalisierbarkeit von Aussagen zur Kriminalität, die ins Hellfeld gerückt wird. Dies geschieht in über 90% der Fälle nämlich durch Anzeigen von Privatleuten und nur in der Minderheit durch offizielle Organe wie Polizei, Staatsanwaltschaft, Finanzbehörden etc. »Hell- und Dunkelfeld sind […] zwei Scheinwerfer, die in das Dunkel des Unwissens leuchten, dabei aber die ›echte‹ Kriminalität nicht zu erfassen vermögen.« (Neubacher 2014, S. 36). Analog dazu kann man Einschränkungen der Erkenntnis auch bei Informationen zu Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen verstehen. Nicht die

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Abb. 1: Zusammenhang von Dunkelfeld, Ausfilterung im Strafverfahren und Beispiele forensischer Aspekte. Links: Anzahl der Fälle 2012 (Statistisches Bundesamt 2014); Mitte: mögliche Erkenntnisquellen; rechts: forensische Aspekte. Abkürzungen: DF = Dunkelfeld, OEG = Opferentschädigungsgesetz, PKS = Polizeiliche Kriminalstatistik, PsychKG = Psychisch-Kranken-Gesetz, StrVerfStat = Strafverfolgungsstatistik, StrVollzStat = Strafvollzugsstatistik, MRV = Maßregelvollzug

Gesamtheit all dieser Menschen befindet sich in Begleitung der Suchthilfe oder im Kontakt zur Suchttherapie. Beispielsweise schätzt man bei Personen mit Alkoholabhängigkeit in Deutschland, dass sich nur 10% in einer suchtmedizinischen Behandlung befinden (Mann et al. 2015). Es muss also bei Aussagen über Sucht und Delinquenz stets berücksichtigt werden, aus welcher Erkenntnisquelle die Informationen stammen, und Generalisierungen muss mit Skepsis begegnet werden. Am bedeutsamsten werden für die Frage des Zusammenhangs von Sucht und Delinquenz Untersuchungen erachtet, welche Menschen zukünftig über einen längeren Abschnitt hinweg beobachten. Diese prospektiven Längsschnittstudien sind bereits aus Zeitgründen relativ aufwendig und so werden häufig Querschnittsuntersuchungen oder in die Vergangenheit gerichtete, retrospektive Analysen durchgeführt. Letztere sind jedoch anfällig für Verzerrung von zeitlichen Zusammenhängen und erschweren Ursache-Wirkungs-Analysen.

1.5       Rechtsbereiche und rechtliche Rahmenbedingungen

Der rechtliche Rahmen für forensisch-psychiatrische Aspekte der Sucht in Deutschland ergibt sich im Wesentlichen aus dem Grundgesetz (GG), dem Strafgesetzbuch (StGB), dem Jugendgerichtsgesetz (JGG), den Strafvollzugsgesetzen der Länder (StVollzG) und dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Des Weiteren kann eine grundlegende Kenntnis der Straftheorien aus dem Sanktionenrecht zur Versachlichung der Frage beitragen, welche Straftäter warum wie von der Justiz behandelt werden. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB soll die Legalbewährung bei Straftätern verbessern, die im Zusammenhang mit einem Hang zu übermäßigem Konsum psychotroper Substanzen Delikte begangen haben und ein erhöhtes Risiko erneuter Straffälligkeit aufweisen. Die in der Regel stationäre Behandlung ist auf zwei Jahre ausgelegt und wird bis zu zwei Dritteln auf eine etwaige parallele Freiheitsstrafe angerechnet. Die §§ 35, 36 BtMG zielen auf eine Zurückstellung der Strafvollstreckung bzw. Anrechnung von Therapiezeit auf verurteilte Strafe von nicht mehr als zwei Jahren ab. Auch richterliche Weisungen, bspw. im Rahmen der Führungsaufsicht nach § 68b StGB, stellen eine justizielle Reaktion auf den Zusammenhang von psychotropen Substanzen und Delinquenz dar. Letztere Weisungen und Maßnahmen nach § 35 BtMG führen Straftäter und allgemeinpsychiatrische Suchthilfe zusammen, wohingegen die eigentliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zunächst in einem eher abgekapselten Bereich verortet ist.

1     Klaus Wanke (1933–2011), Suchtforscher und Pionier der Drogenberatungsstelle.

2     Das Betäubungsmittelgesetz zählt an sich zu den Verwaltungsrechten, wird jedoch als ein Nebenstrafrecht bezeichnet, da es auch Strafnormen enthält.

3     Als direkte Beschaffungskriminalität werden Handlungen verstanden, die den unmittelbaren Substanzerwerb anstreben (Erwerb, Besitz von Drogen mit Verstoß gegen das BtMG, aber auch Apothekeneinbrüche, Rezeptfälschung etc.). Indirekte Beschaffungskriminalität dient in der Regel zur Bereitsstellung von Mitteln für den Erwerb psychotroper Substanzen (Einbruch, Diebstahl, Raub, Dealen etc.).

 

 

 

 

2

Fallvignette

 

Im Folgenden soll eine Lebens- und Krankheitsgeschichte eines forensisch-psychiatrischen Patienten pseudonymisiert dargestellt werden, die leider nicht untypisch ist.

 

Herr X ist 38 Jahre alt und wartet nach Verbüßung einer langen Freiheitsstrafe auf den Wechsel in die Sicherungsverwahrung, falls es nicht doch noch gelingt, durch Therapie das Risiko für weitere schwere Straftaten zu senken. Er hat seit dem 13. Lebensjahr ein Suchtproblem und in Verbindung mit diesem begeht er auch immer wieder Straftaten.

Herr X stammt aus unauffälligen primären Familienverhältnissen und beschreibt selbst eine schöne Kindheit. Nach zeitgerechter Einschulung kommt es bereits ab der 3. Klasse zu Verhaltensauffälligkeiten, Schulschwänzen und ersten »kleineren« Diebstählen. Diese negative Entwicklung setzt sich trotz Intervention der Eltern, der Schule und des Jugendamts fort, mit 13 Jahren gehört er zu einer größeren Peergroup, in der erheblich Alkohol konsumiert wird und Straftaten aus dem Bereich schwerer Diebstahl und Raub begangen werden. Da er noch nicht strafmündig ist, müssen ihn die Eltern von der Polizei abholen und für die Schäden einstehen. In der Schule erreicht er die Klassenziele nicht und wird letztlich mit 15 Jahren und aus der 7. Klasse ausgeschult.

Wegen fortgesetzter delinquenter Handlungen wird er mit 15 Jahren erstmals inhaftiert. Gleichzeitig setzt ein Drogenkonsum ein, der sowohl Haschisch, LSD, Ecstasy, Speed, Kokain und Heroin in unterschiedlicher Menge und Frequenz betraf. Wegen einer zusätzlichen Angstkomponente erfolgte mit 16/17 Jahren eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, jedoch ohne erfolgreiche Lebensänderung bzw. Abstinenz.

Weitere Inhaftierungen folgen, aber in der Jugendhaftanstalt kann er mit ca. 20 Jahren eine zeitweilig positive Entwicklung nehmen und seinen Hauptschulabschluss erreichen. Eine daran anschließende berufliche Ausbildung oder Integration gibt es nicht, der Einflussnahme durch den Sozialdienst bzw. der Jugendbewährungshilfe entzieht er sich stets schnell, die Eltern erscheinen eher hilflos.

Wegen des multiplen Substanzkonsums erfolgt mit 22 Jahren die erste stationäre Entgiftungsmaßnahme in der Allgemeinpsychiatrie und Herr X erlebt die für ihn positive Wirkung von Psychopharmaka. In den folgenden Jahren versucht er immer wieder, sowohl Benzodiazepine, Schlafmittel als auch (opioidhaltige) Schmerzmittel verschrieben zu bekommen oder besorgt sie sich illegal. Eine dauerhafte Abstinenz wird durch Entgiftungsmaßnahmen nicht erreicht. Die Delinquenzentwicklung verläuft parallel weiter, selbst in der Haftanstalt kommt es zu Körperverletzungen, BtMG-Verstößen und anderen Disziplinarmaßnahmen, in Freiheit wird er durch Diebstahlshandlungen, Raub, Körperverletzungen und anderes auffällig, Strafhandlungen, die zum Teil im Sinne von indirekten Beschaffungsdelikten begangen wurden.

Dies führt mit 24 Jahren zur Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe mit gleichzeitiger Unterbringung in der Entziehungsmaßregel. Dazu wurde eine forensisch-psychiatrische Begutachtung veranlasst, die im Ergebnis zur Frage der Schuldfähigkeit zur erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit infolge der Berauschung kam. Trotz einer gutachterlich angezweifelten Therapiefähigkeit bzw. -motivation erhält Herr X erneut eine Chance auf Veränderung und Rehabilitation in der Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB.

In der forensisch-psychiatrischen Klinik wird deutlich, dass Herr X allein schon wegen einer Lernbehinderung große Probleme hat, die Lerninhalte zu verstehen und zu verinnerlichen, und dass neben einer Störung durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen komorbid auch eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (dissoziale, zwanghafte und passiv-aggressive Anteile) sowie eine Angststörung zu diagnostizieren waren. Die Beziehungsfähigkeit des Herrn X war erheblich beeinträchtigt, Partnerschaften vor und nach der Maßregel konnte er trotz jeweils gemeinsamen Kindes nicht halten. Gleichwohl wurde er in alle üblichen Behandlungsmaßnahmen der Klinik integriert, absolvierte sowohl Suchtgruppen als auch Gruppentherapien zur Förderung der sozialen Kompetenz und Vermeidung von Aggressivität und wurde in komplementäre Behandlungen (Ergotherapie, Arbeitsmaßnahmen, Sport) eingebunden. Die Fortschritte in der Unterbringung waren aber trotz umfangreicher Therapie und durchaus positiver und stabiler Beteiligung des Herrn X nicht so umfassend, dass eine Entlassung in einen eigenen Wohnraum und vorherige Erprobung unter Lockerung ohne Aufsicht möglich wurde. Stattdessen musste er in eine Nachsorgeeinrichtung der allgemeinen Suchthilfe entlassen werden, um sich unter den dortigen kontrollierenden Bedingungen weiterzuentwickeln.

Die positive Entwicklung dort hielt wiederum nicht lange an. Neben dem Rückfall in den Konsum von Alkohol und Drogen verließ er die Nachsorgeeinrichtung, beging eine Körperverletzung gegenüber seiner Partnerin im Rausch (wobei die Beziehung hoch konfliktbesetzt war), geriet immer stärker in die Suchtmittelabhängigkeit, suchte keine Hilfen (z. B. um eine Entgiftung und Langzeitbehandlung einzuleiten), sondern verkehrte im dissozialen Milieu. Aus diesem heraus kam es zu einem Tötungsdelikt. Gemeinsam mit zwei Freunden trank er erheblich Alkohol, der mit Benzodiazepinen versetzt war, und man geriet aus nicht bekannten Gründen in Streit. Herr X verletzte zusammen mit einem Freund den dritten Beteiligten so schwer, dass er an den Folgen verstarb nachdem sie die Wohnung verlassen hatten. Herr X bestreitet eine größere Tatbeteiligung. Er wurde zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung im Alter von 28 Jahren verurteilt. Die Chance auf Veränderung durch eine erneute Entziehungsmaßregel wurde sowohl vom Gutachter als auch vom Gericht nicht gesehen.

Im Strafvollzug hat Herr X lange Zeit jegliche sozialtherapeutischen Interventionen abgewehrt, illegal weiter konsumiert, viele Disziplinarverstöße begangen und es immer wieder erreicht, psychotrope Medikamente in zum Teil hoher Dosierung verschrieben zu bekommen. Als Grund nennt er seine Angstsymptomatik, hohen Suchtdruck und eine soziale Isolation. Erst nach fast 8 Jahren Haft stimmt er einer ambulanten Psychotherapie zu, die aufgrund des legalen und illegalen Suchtmittelkonsums nicht effektiv erscheint. Nach Abstimmung mit dem Justizministerium wird er zur Langzeitentgiftung und Vorbereitung einer weiteren psychotherapeutischen Maßnahme in eine forensisch-psychiatrische Klinik aufgenommen und das Therapieziel wird erfolgreich umgesetzt. Die Rückverlegung erfolgt in die sozialtherapeutische Anstalt der zuständigen Justizvollzugsanstalt. Ziel dieser Intervention ist eine so weitreichende Stabilisierung, dass von Herrn X keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit ausgeht, die Sicherungsverwahrung also vermieden werden kann.

Ob dies gelingt, bleibt abzuwarten. Herrn X wurden im Laufe seines Lebens immer wieder viele Hilfen zuteil, die leider nur kurzfristig zu einer Veränderung und Stabilisierung führten. Sicher hängt dies mit der frühen negativen Persönlichkeitsentwicklung und den komorbiden Störungsbildern zusammen, inklusive der mangelnden intellektuellen Fähigkeiten. Trotzdem wurde der Klient nie aufgegeben, sondern erhielt stets neue Angebote der entsprechenden sozialen Träger und Institutionen.

Das Fallbeispiel verdeutlicht die Vielzahl der Berufsgruppen, die mit dem Thema Sucht und Kriminalität konfrontiert sind. Neben Polizei und Justiz sind dies bereits in frühen Jahren das Lehrpersonal im Schulsystem und Mitarbeiter des Jugendamts. Im weiteren Verlauf bedurfte es allgemeinpsychiatrischer Behandlungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Entgiftungsmaßnahmen in der Erwachsenenpsychiatrie. Aus dem allgemeinen Versorgungssystem erfolgten Behandlungen im Rahmen einer stationären Nachsorge. Spezifische Kontakte ergaben sich mit dem sozialpädagogischen Personal der Sozialdienste und der Bewährungshilfe oder eben mit der Forensischen Psychiatrie im Rahmen der Begutachtung und der interdisziplinären Behandlung in der Entziehungsanstalt (Ärzte, Psychologen, Sozialdienst, Pflegekräfte, Ergotherapeuten, Lehrer).

 

Wir werden in den folgenden Kapiteln diesen exemplarischen Fall immer wieder aufgreifen und die Zusammenhänge erläutern.

 

 

 

 

3

Allgemeine und klinische Epidemiologie

 

3.1       Konsum psychotroper Substanzen und Sucht in der Allgemeinbevölkerung

Größeren Untersuchungen zufolge tritt bei 8,5% der Bevölkerung in Deutschland ein Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholabhängigkeit auf (Meyer et al. 2014; Jacobi et al. 2004). Dabei sind Männer offenbar deutlich stärker betroffen (14,4%) als Frauen (2,6%). Zu einem Missbrauch oder einer Abhängigkeit von illegalen Drogen kommt es bei 2,1% der Bevölkerung (männliche Bevölkerung 2,3%, weibliche Bevölkerung 1,9%).

Repräsentative Schülerbefragungen der 9. und 10. Klassen (Kraus et al. 2011) zeigen, dass 93,6% Erfahrungen mit Alkohol und 63,4% Erfahrungen mit Nikotinkonsum aufwiesen. 50% berichteten Trunkenheitserfahrungen vor dem 15. Lebensjahr. Cannabis wurde von 22,2% mindestens einmalig gebraucht. An Gebrauchsraten anderer Substanzen wurde angegeben: Amphetamine 6%, XTC 3%, LSD 2,6%, Kokain 3,1%, Drogenpilze 3,8%, Sedativa/Tranquillizer 2,3% und Schnüffelstoffe 10,6%. Der Konsum illegaler Drogen begann beim Großteil nach dem 14. Lebensjahr. Bei Kindern und Jugendlichen ist somit die häufigste und am frühesten genutzte psychotrope Substanz Alkohol. Knapp ein Viertel hat Erfahrung im Konsum von Cannabis, immerhin knapp 9% haben andere, vorrangig stimulierende Substanzen probiert.

Es existieren repräsentative Daten zur Häufigkeit und Menge des Konsums legaler und illegaler psychotroper Substanzen sowie zur Rate substanzbedingter Störungen, klassifiziert nach DSM-IV für die häufigsten Substanzen bei 18- bis 64-Jährigen in Deutschland (Kraus et al. 2013; Pabst et al. 2013). Nur 3,6% gaben an, noch nie Alkohol konsumiert zu haben. 14,2% hatten einen riskanten Konsum (bei letzterem 18- bis 20-Jährige 16,7%, 30- bis 39-Jährige 11,9%). Die 12-Monats-Prävalenz für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit lag in den jungen Altersgruppen am höchsten mit etwa je 6% und fiel in den folgenden Dekaden dezent und nahezu kontinuierlich ab, bis auf etwa 1% bei den 60- bis 64-Jährigen. Beide Diagnosen sind bei Männern deutlich häufiger vertreten als bei Frauen.

Merke

Im Laufe des Lebens tritt innerhalb der deutschen Bevölkerung eine Suchtstörung bezüglich Alkohol bei etwa 8 von 100 Personen auf und bezüglich illegaler Drogen bei 2 von 100 Personen. Männer sind insbesondere bei der Alkoholsucht häufiger betroffen.

Alkoholabstinent bleiben unter 3% der Menschen in Deutschland. Im jungen und mittleren Erwachsenenalter findet sich die höchste Rate an Rauschtagen, die mit dem Alter ebenso abnimmt wie die Rate derjenigen, die jeweils im zurückliegenden Jahr als abhängig oder schädlich konsumierend eingeschätzt wurden.