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Inklusion praktisch

 

Herausgegeben von

 

Stephan Ellinger und

Traugott Böttinger

 

Band 9

Christine Einhellinger

Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen

Erkennen, fördern, unterrichten

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033848-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033849-4

epub:   ISBN 978-3-17-033850-0

mobi:   ISBN 978-3-17-033851-7

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Vorwort zur Reihe Inklusion praktisch

 

Inklusion ist nicht nur eine der schönsten pädagogischen Visionen überhaupt, sondern auch eine gesellschaftliche Vorstellung, die vor allem auf humanistischen Werten und Normen beruht. Im Vordergrund stehen Begriffe wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstwert, Teilhabe und Partizipation.

Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer Inklusionskampagne 2013 einen kurzen Animationsfilm mit dem Titel Inklusion ist… entworfen, der aufzeigt, mit welchen Hoffnungen der Begriff verbunden ist.

Inklusion ist …

…  wenn alle mitmachen dürfen.

…  wenn keiner mehr draußen bleiben muss.

…  wenn Unterschiedlichkeit zum Ziel führt.

…  wenn Nebeneinander zum Miteinander und Ausnahmen zur Regel werden.

…  wenn anders sein normal ist.

Anders ausgedrückt: Bei Inklusion geht es also darum, die auf der gesetzlich-strukturellen Ebene formulierten Bestimmungen im täglichen Zusammenleben in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar und wirksam werden zu lassen.

Inklusion ist Utopie, Weg, Wertbegriff, Methode und Zielvorstellung zugleich und weckt vielfältige Wünsche und Hoffnung auf Veränderungen und gesellschaftliche Entwicklung. Dabei beschränkt sich Inklusion keinesfalls auf Schule. Dies verdeutlicht auch der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Inklusion, der Bildung als eines von zwölf verschiedenen Handlungsfeldern (u. a. Arbeit und Beschäftigung, Bauen und Wohnen oder Kultur und Freizeit) behandelt.

Viele Autoren verbinden mit Inklusion weitreichende Vorstellungen und Hoffnungen, die sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren lassen.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Ziel eine solidarische und sozial gerechte, diskriminierungs- und barrierefreie Gesellschaft ohne Ausgrenzung, die Diversität als Normalität ansieht. Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderung soll unter anderem ermöglicht werden, indem keine Unterscheidungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen vorgenommen werden und Behinderung als Zuschreibung und Kategorisierung erkannt wird.

Innerhalb des Bildungssystems soll eine chancen- und bildungsgerechte und weniger selektionsorientierte Schule für ausnahmslos alle Schüler entstehen. Inklusiver Unterricht ist kultur-, sprach- und gendersensibel und begreift Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance und Bereicherung.

Personenbezogen steht Inklusion für den Versuch, Abhängigkeiten und Barrieren zu reduzieren und so u. a. Teilhabe und Partizipation und einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen.

Dem geneigten Leser wird schnell deutlich, welch anspruchsvolle und zum Teil idealistische Vorstellungen an Inklusion herangetragen werden. Möglicherweise handelt es sich dabei sogar um eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu erfüllen ist: Inklusion soll einen Umbruch, eine gesellschaftliche Transformation bzw. Emanzipation oder gar einen Neuanfang des menschlichen Zusammenlebens markieren, der in eine noch nie vorhandene Dimension vorzustoßen vermag und dabei die zahlreichen Verfehlungen in der Geschichte vergessen macht.

In der vor Ihnen liegenden Buchreihe geht es keinesfalls darum, Inklusion oder ihre Idee schlecht zu reden. Vielmehr soll vor überzogenen Ansprüchen gewarnt werden, an denen letztendlich jede große Idee scheitern muss. Zu diesem Zwecke erfolgt zunächst eine grundlegende Beschäftigung mit der Thematik, bevor die weiteren Bände konkrete schulische Felder der Inklusion beleuchten und Umsetzungshilfen für Förder- und Regelschullehrkräfte bereitstellen.

Wir hoffen, Sie als Leserinnen und Leser für eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Inklusion begeistern zu können und wünschen Ihnen eine abwechslungsreiche Lektüre!

 

Würzburg, im November 2017

Prof. Dr. Stephan Ellinger und Dr. Traugott Böttinger

Einzelbände in der Reihe Inklusion praktisch

 

Band    1:

Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe

Band    2:

Exklusion durch Inklusion? Stolpersteine bei der Umsetzung

Band    3:

Sonderpädagogische Förderung in der Regelschule

Band    4:

Organisationsentwicklung und Leitung in einer inklusiven Schule

Band    5:

Kollegiale Kooperation in inklusiven Settings

Band    6:

Umgang mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in heterogenen Lerngruppen

Band    7:

Konturen eines inklusiven Fachunterrichts Mathematik

Band    8:

Teilhabe durch Grundbildung. Die Förderung Benachteiligter im Sekundarbereich I

Band    9:

Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen

Band  10:

Lehrergesundheit in inklusiven Settings

 

Inhalt

 

  1. Vorwort zur Reihe Inklusion praktisch
  2. Einleitung
  3. Veränderungen in der schulischen Praxis
  4. Zielsetzung des Bandes
  5. Inhalt und Aufbau
  6. 1 Geschichtliche Perspektive auf beeinträchtigtes Lernen
  7. 1.1 Wer nicht lernen wollte, dem drohte die Peitsche: Zur Zeit Karls des Großen
  8. 1.2 »Schulen für schwachbefähigte Kinder«: Heinrich Ernst Stötzner und Heinrich Kielhorn
  9. 1.3 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Intelligenztest von Binet und Simon
  10. 1.4 1922: Der erste Kongress für Heilpädagogik in München
  11. 1.5 1930er Jahre, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit: Offene Abwertung
  12. 1.6 Sozio-kulturell benachteiligte Schüler: Ernst Begemann 1970
  13. 1.7 Heute: Soziale Benachteiligung oder Beschreibung von Lernstörungen?
  14. 2 Aktuelle Perspektiven auf Lernbeeinträchtigungen
  15. 2.1 Was Lernende in die Schule mitbringen, Teil 1: Leben und Lernen in sozialer Benachteiligung
  16. 2.1.1 Leben in Armut
  17. 2.1.2 Leben in einem bildungsfernen Milieu
  18. 2.1.3 Leben in einer Risikofamilie
  19. 2.1.4 Leben mit Traumatisierungen
  20. 2.1.5 Leben mit Migrations- und Fluchthintergrund
  21. 2.2 Was Lernende in die Schule mitbringen, Teil 2: Interne Merkmale
  22. 2.2.1 Vorwissen
  23. 2.2.2 Begabung und Denken
  24. 2.2.3 Organische und neurologische Probleme
  25. 2.2.4 Gender
  26. 2.3 Was Lernende in der Schule vorfinden
  27. 2.3.1 Das Schulhaus
  28. 2.3.2 Übergang in die Schule als Bruch im Lebenslauf
  29. 2.3.3 Schulversagen als Versagen der Schule?
  30. 2.4 Was wir beobachten können – Erscheinungsformen
  31. 2.4.1 Sprache
  32. 2.4.2 Lern- und Leistungsverhalten
  33. 2.4.3 Sozial-emotionales Verhalten, Schulabsentismus, Dropout
  34. 3 Fazit und Ausblick
  35. Literatur

 

Einleitung

Veränderungen in der schulischen Praxis

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat in der Bundesrepublik einen umfassenden Umbau des Bildungssystems angestoßen. Eine der vielen Veränderungen betrifft auch die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SFB). Die Tendenz quer durch alle Bundesländer ist die, dass gerade in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten der SFB immer später, nur in bestimmten engen Zeitfenstern, nur unter ganz bestimmten Bedingungen und manchmal am besten gar nicht festgestellt werden soll. Eine Übersicht über die Feststellungspraxis in den 16 Bundesländern – Stand 2016 – findet sich in den beiden nachfolgenden Tabellen. Die Bundesländer werden nach ISO-Norm abgekürzt, auch die sonderpädagogischen Einrichtungen werden abgekürzt.

Abkürzungen der Bundesländer: BW: Baden-Württemberg; BY: Bayern; BE: Berlin; BB: Brandenburg; HB: Bremen; HH: Hamburg; HE: Hessen; MV: Mecklenburg-Vorpommern; NI: Niedersachsen; NW: Nordrhein-Westfalen; RP: Rheinland-Pfalz; SL: Saarland; SN: Sachsen; ST: Sachsen-Anhalt; SH: Schleswig-Holstein; TH: Thüringen

Abkürzungen der Einrichtungen/Dienste: GS: Grundschule, MSD: Mobiler Sonderpädagogischer Dienst, MSDD: Mobiler Sonderpädagogischer Diagnostischer Dienst, SFZ: Sonderpädagogisches Förderzentrum, TQB: Team zur Qualitätssicherung der sonderpädagogischen Begutachtung, ZuP: Zentrum für unterstützende Pädagogik

Tab. 1: Feststellung des SFB in den 16 Bundesländern: Bedingungen (Einhellinger 2017, 182 ff.)

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Feststellung des SFB in den 16 Bundesländern: Wie? (Bedingungen)

 

Tab. 2: Feststellung des SFB in den 16 Bundesländern: Zeitfenster (ebd.)

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Feststellung des SFB in den 16 Bundesländern: In welchem Zeitfenster?

Diese, durch die Tabellen veranschaulichte Tendenz rührt aus einem bestimmten Inklusionsverständnis heraus, das mögliche Stigmatisierungen, die mit der Feststellung eines SFB verbunden sein können, vermeiden will. Ob sich das Stigmatisierungsproblem durch den Wegfall der Feststellung des SFB vermeiden lässt, sei dahingestellt. Auch wird diskutiert, ob die Nachteile – gerade für die Schülerschaft aus dem (ehemaligen) Förderschwerpunkt Lernen – nicht überwiegen (Einhellinger 2016; dies. 2017). Diese Schülerinnen und Schüler drohen aus dem Blick zu geraten, gerade weil sie im Gegensatz zu Personen aus anderen Förderschwerpunkten keine offensichtlich feststellbare Behinderung oder Beeinträchtigung zeigen. Dadurch ist zu befürchten, dass sie mit ihren besonderen Bedürfnissen übersehen werden. Pädagogischer Alltag ist jedenfalls für alle Beteiligten: Es gab und gibt immer Kinder und Jugendliche, die an Schule scheitern, egal, ob sie benannt werden oder nicht. Die Frage, wer diese Schülerinnen und Schüler nun sind, ist gerade im inklusiven Setting daher für viele Beteiligten aktuell – sowohl für Regelschullehrkräfte als auch für die sonderpädagogischen Fachkräfte im Mobilen Sonderpädagogischen Dienst.

Zielsetzung des Bandes

Der vorliegende Band widmet sich daher der Frage, um welche Kinder es sich bei den zu inkludierenden ehemaligen Förderschülerinnen und Förderschülern handelt. Dabei werden verschiedene Perspektiven eingenommen, die sich überschneiden können, keineswegs aber identisch sind. Im eigentlichen Kern des Buchs wird zum einen danach gefragt, vor welchem Hintergrund Lernbeeinträchtigungen vorkommen, zum anderen wird schwerpunkthaft beschrieben, wie sie sich zeigen. Zu betonen ist, dass dabei Hintergrund nicht gleichzusetzen ist mit Ursache. Es soll bevorzugt um das Aufzeigen von möglichen Zusammenhängen gehen, weniger um kausale Beziehungen im Wenn-dann-Stil. Es liegt ein bedeutender Unterschied zwischen der Formulierung »Viele Schülerinnen und Schüler mit Lernbeeinträchtigungen sind sozial benachteiligt« und der These »Die soziale Benachteiligung ist der alleinige Grund für die Lernbeeinträchtigungen«. Die Ursachenfrage wird bewusst ausgeklammert, da sie sehr ideologieanfällig ist und Lehrkräften zunächst nicht weiterhilft, zumindest, wenn es um Ursachen geht, die zeitlich zurückliegen oder sich außerhalb ihres Einflussbereiches befinden. Der Fragenschwerpunkt lautet also eher: Wer und wie sind diese Kinder und Jugendlichen – was verlangen sie von mir und meiner Betreuung? Er lautet weniger: Wie sind sie so geworden? Der vorliegende Band versucht die verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Perspektiven so in einer Übersicht zu verbinden, dass Praktiker mit einer theoretischen Ausbildung sich ein Bild der aktuellen Forschungslage zu unserem Personenkreis machen können. Bezogen auf den großen Anteil der sozial Benachteiligten aus unserer Schülerschaft lautet die Frage, der sich Kapitel 2.1 annimmt: Was bedeutet es heute, sozial benachteiligt zu sein? Durch den mehrfachen Perspektivwechsel soll die Leserschaft die Gelegenheit erhalten, die bisherigen Erfahrungen mit der Schülerschaft und das gesammelte Wissen über Lernbeeinträchtigungen zu hinterfragen, zu erweitern und neu einzuordnen.

Inhalt und Aufbau

Zuerst wird eine geschichtliche Perspektive auf beeinträchtigtes Lernen eingenommen. Diese entspricht nicht einer Geschichte der Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen, sondern holt weit aus, um über grobe Meilensteine des Blicks auf gestörtes Lernen in der Gegenwart anzukommen. Dies ist – so die Hoffnung der Autorin – ein nicht nur kurzer, sondern auch kurzweiliger Einstieg in das Thema und kann ein besseres Verständnis für diese Schülergruppe ermöglichen. Kapitel 2, das Herz des vorliegenden Bändchens, unterscheidet im Grobaufbau danach, »Was Lernende in die Schule mitbringen«, »Was Lernende in der Schule vorfinden« und »Was wir beobachten können«. Die erste Kategorie dieses Kapitels dient dem Verständnis unserer Schülerschaft, die zweite ebenso, fragt aber implizit nach unserem eigenen Engagement als Pädagoginnen und Pädagogen. Die dritte der Kategorien beantwortet am konkretesten die Frage, wie unsere Kinder zu erkennen sind, wie sie sich zeigen. Ähnlich Stephan Ellingers (2013b) Systematik, der unter dem Konzept der sozialen Benachteiligung Armut, Milieus, Traumatisierung, Flucht- und Migrationshintergrund und Risikokinder einordnet, werden auch hier diese Konzepte unter »Leben und Lernen in sozialer Benachteiligung« (image 2.1) zusammengefasst. Jede Systematik hat ihre Grenzen, da es aufgrund der Verwobenheit der verschiedenen Aspekte immer zu Überschneidungen kommen muss. Wie hinreichend bekannt ist, lässt sich eine individuelle Lebenssituation, die im Einzelfall zu Lernbeeinträchtigungen geführt hat oder führen könnte, außerdem schwerlich mit nur einem der Konzepte beschreiben. Interessant ist es aber schon, genauer hinzuschauen auf die Umstände, die das Leben in Armut mit sich bringt (image 2.1.1), sowie das Leben in einer Familie, die einem Milieu zugehörig ist, das von Bildungsferne geprägt ist (image 2.1.2). Auch die besondere Situation in Risikofamilien (image 2.1.3) und nach Migration oder Flucht (image 2.1.5) soll gesondert beschrieben werden. Traumatisierungen kommen statistisch gesehen besonders im Zusammenhang mit Risikofamilien und/oder mit Flucht vor und werden daher dazwischen platziert (image 2.1.4). Die vorliegende Systematik wurde nach reiflicher Überlegung gewählt. Dennoch sollen im Folgenden einige Problempunkte angesprochen werden. Das Vorwissen, unter Kapitel 2.2.1 als »internes« Merkmal eingeordnet, ist natürlich stark von außen bedingt. Ebenso kann es »beobachtet« werden. Das Gleiche gilt für die Sprache (image 2.4.1): Ist sie nicht doch ein internes Merkmal oder überwiegt tatsächlich die Beobachtbarkeit? Ein weiteres Problem, das die systematische Aufarbeitung des Diskussions- und Forschungsstandes erschwert, ist die nicht einheitliche Verwendung der verschiedenen »sozialen Begriffe« wie Lage, Milieu, Benachteiligung etc., was vor allem in Kapitel 2.1 zum Tragen kommt.

Durch die relativ starke Auffächerung der Kapitel und des Inhaltsverzeichnisses sowie zahlreiche strukturierende Abbildungen hoffe ich, der interessierten Leserschaft ein vielfältiges, abwechslungsreiches und gewinnbringendes Leseangebot zu machen!

 

Würzburg, im November 2017

Dr. Christine Einhellinger

 

 

 

 

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Geschichtliche Perspektive auf beeinträchtigtes Lernen

1.1       Wer nicht lernen wollte, dem drohte die Peitsche: Zur Zeit Karls des Großen

Schulleistungsschwache oder »lernunwillige« Schüler gemäß der heutigen Vorstellung kann es erst seit der Zeit geben, in der Bildung erstmals einem breiten Kreis angeboten wurde. Zur Zeit Karls des Großen wurde die Bildung von Laien außerhalb des privilegierten Adels ins Auge gefasst. Laien waren Menschen, die nicht Mönche oder Priester werden wollten oder sollten (Weinfurter 2014, 200 f.). Das Religiöse war dabei ein wichtiges Moment, denn es ging auch darum, dass die Menschen die Texte verstehen, die sie beten, was durch Bildung und Lesen können befördert werden sollte. Hier bringt der Historiker Weinfurter eine interessante Begrifflichkeit ins Spiel: Die Menschen sollten »keine ›Idioten‹ (idiothae), das bedeutet ungebildet, sein« (ebd., 182). In der Zeit um 800 beschloss die bayerische Bischofssynode, dass in jeder Bischofsstadt eine Schule eröffnet werden solle. Manche Bischöfe nahmen diese Aufgabe sehr ernst. Weinfurter berichtet von einem bayerischen Würdenträger, der mit Strafen versuchte, die Lernunwilligen zu motivieren. Der Historiker merkt dazu recht trocken an:

»Wer nicht lernen wolle, den solle man mit Schlägen und Fasten bei Wasser und Brot dazu zwingen. Auch Frauen sollten mit Peitschenhieben oder Fasten dazu gebracht werden, ihren Widerstand aufzugeben – immerhin ein Beleg dafür, dass die Bildungsbemühungen auch Frauen galten« (ebd., 201).

1.2       »Schulen für schwachbefähigte Kinder«: Heinrich Ernst Stötzner und Heinrich Kielhorn

Der bedeutendste historische Meilenstein in der Heilpädagogik mit Schwerpunkt auf die Schülerschaft mit Lernbeeinträchtigungen ist Stötzners Schrift »Schulen für schwachbefähigte Kinder. Erster Entwurf zur Begründung derselben« von 1864. Sie wurde knapp 100 Jahre später als vollständiger Nachdruck der Originalausgabe wieder aufgelegt. Die Schrift ist kein ausschließlich pädagogisch motiviertes Werk; das lässt sich daraus schließen, dass Heinrich Ernst Stötzner dem ersten Kapitel eine Art Widmung vorangestellt hat: »Allen Schulbehörden an’s Herz gelegt« (Stötzner 1864/1963, 5). Die Adressaten für seine Monographie waren also Behörden bzw. die Schulverwaltung; es war ein Appell zur Einrichtung von »Schulen für schwachbefähigte Kinder«.

Folgende Beschreibung der Situation der schwachen Lerner zu Stötzners Zeiten gehört zu den meistzitierten Passagen in der Geschichte der Heilpädagogik; sie wirkt auch heute noch auf viele, die mit Kindern und Jugendlichen beruflich zu tun haben, beklemmend.

»Sie sind die letzten in der Klasse, selbst die im nächsten Jahre eintretenden überflügeln sie bald. Beim besten Willen können sie ja mit den anderen nicht gleichen Schritt halten. Und dies dennoch von ihnen verlangen, hieße einen Lahmen schelten, weil er beim Wettlauf so weit hinter denen, die gesunde Beine besitzen, zurückbleibt. Erst müht sich wohl der Lehrer rechtschaffen mit ihnen ab. Er versucht es auf jegliche Weise, die harte Schale, die den Geist dieses Kindes umgibt, zu durchbrechen – aber es geht zu langsam vorwärts, und er kann doch um eines, zweier willen nicht die ganze Klasse aufhalten. Da wird er wohl ungeduldig und meint, mit Strafen schneller weiter zu kommen; aber nun verliert das arme Kind mit der Liebe zum Lehrer auch alles Vertrauen zu sich selbst. Es wird immer matter; vielleicht wird es sogar noch stöckisch und trotzig. Und nun lässt der Lehrer das Kind fallen« (Stötzner 1864/1963, 6).

Zwanzig Jahre später thematisiert der Hilfsschullehrer Heinrich Kielhorn deutlich den Zusammenhang zwischen der sozialen Lage der Kinder und ihren Schulleistungen. Der Jargon irritiert im 21. Jahrhundert und wirkt geradezu menschenverachtend:

»Je größer die Städte sind, desto mehr setzt sich der Bodensatz der Bevölkerung in ihnen ab; desto mehr nackte Armut und Verkommenheit bergen sie. Und gerade diese Schichten sind es, die die meisten schwachsinnigen Kinder liefern« (Kielhorn 1887, 309).

Allerdings sind solche Zitate nicht ohne den historischen Zusammenhang gerecht zu beurteilen. Im Begriff »nackte Armut« schwingt offenbar auch ein Fünkchen Mitgefühl mit, was aufgrund Kielhorns eigener Biografie verständlich wäre. Schließlich stammt auch er aus armen Verhältnissen. In seinem »Hilfsschul-Lehrplan« von 1909, den Kielhorn in seiner damaligen Funktion als Schulinspektor und Leiter der Hilfsschule in Braunschweig verfasst hat, finden sich Fallbeispiele, die gut die Kinder und Jugendlichen beschreiben, die Schüler der damaligen Hilfsschule waren. Von der Ausdrucksweise abgesehen, gibt es Beispiele, die von großem pädagogischen Einfühlungsvermögen zeugen:

»Ein 14jähriger gutmütiger, aber etwas hastiger Knabe hatte ein kleines Mädchen geschlagen, welches ihn mit dem Balle an den Kopf geworfen hatte. Ihm, unter seinen Freunden eine Respektsperson, war es eine Ehrverletzung, von einem Mädchen an den Kopf geworfen zu werden. In diesem Sinne verteidigte er sein vermeintliches Recht in unpassender Weise gegenüber dem aufsichtsführenden Lehrer. Der Klassenlehrer, dem er zur Bestrafung überwiesen wurde, ließ ihn eine Viertelstunde unberücksichtigt. Als sich seine Erregung gelegt hatte, bekannte er reuemütig, gefehlt zu haben. Ein ermahnendes Wort hatte in diesem Falle mehr Wirkung, als eine Strafe gehabt haben würde; das war aus dem dankbaren Blicke des Jungen herauszulesen« (Kielhorn 1909, 80).

Wie sich die Situation aus der Sicht des geschlagenen Mädchens darstellte, wird nicht weiter erwähnt, was bedauerlich ist. Konzentriert man sich aber auf das Fallbeispiel des Jungen, wird eindeutig ein moderner pädagogischer Stil an den Tag gelegt. Es folgen noch zwei weitere Schilderungen, in denen Verständnis und Nachsicht gegenüber eigentlich unerwünschtem Verhalten gezeigt wurde. In der überwiegenden Zahl der weiteren Beispiele allerdings wurde die Prügelstrafe für die richtige Methode gehalten, angewendet an Jungen wie an Mädchen:

»In einer Familie ist der Mann ein gewalttätiger Trinker, die Frau ein zanksüchtiges Weib; die Kinder sind geistig minderwertig. Streitigkeiten und Prügeleien zwischen den Eheleuten kamen häufig vor, unflätige Schimpfereien bildeten die Umgangssprache, so daß sich die Kinder nicht scheuten, ihre Eltern mit Schimpfwörtern zu belegen.

 

Die älteste Tochter dieses Ehepaares war dessen getreues Abbild.

An Intelligenz, Rechtsbewußtsein und Gemüt leidlich gut begabt, aber an Ordnung und Gehorsam überhaupt nicht gewöhnt, suchte das Mädchen die Schulordnung zu durchbrechen und zu umgehen, wo es irgend möglich war. Von der Mutter aufgestachelt, wurde es in seinem 12. Jahre mehr und mehr frech; in herausfordernder Weise tat es gerade das, was ihm verboten war. Das Mädchen war auf dem Standpunkte angekommen: »Ihr dürft mich nicht schlagen. Redet was ihr wollt, ich mache, was ich will!« – bis es eines Tages von dem Klassenlehrer eine Züchtigung mit dem Stocke erhielt. Eine andere Lösung war nicht möglich. Die beschwerdeführende Mutter wurde abgewiesen, dem Kinde wurde eröffnet, daß es bei jedem Ungehorsam eine gleiche Strafe erhalten würde. Der Erfolg war, daß in den folgenden zwei Jahren wohl noch etliche Male daran erinnert werden mußte, der Stock sei noch vorhanden; aber das Kind ordnete sich unter und wurde allmählich empfänglich für freundliche und gütige Behandlung« (Kielhorn 1909, 82).

Doch nicht nur in der Stadt, wie bei Kielhorn geschildert, sondern auch in besonders abgelegenen, armen Landgemeinden, wuchsen Kinder unter erbärmlichen Bedingungen auf. Der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke stellte seinen eigenen Lebenserinnerungen (Lübke 1891) die seines Vaters voran. Peter Lübke, geboren 1798, schrieb seine ergreifenden und lesenswerten Erinnerungen unter der bescheidenen Überschrift »Aus dem Leben eines Volksschullehrers« auf. 1819 tritt er seine erste Stelle in einem kleinen, sehr abgelegenen Bauerndorf auf halber Strecke zwischen Köln und Kassel an. Die Schulgemeinde würde man aus heutiger Perspektive für verwahrlost halten – auch der aus einem zwar einfachen, aber gepflegten Haushalt stammende Junglehrer Peter Lübke sah das so: Während der Gutspächter auf dem Schloss »36 Pferde und 72 Kühe hielt« (ebd., 12), hungerten und froren die Bauern im Dorf. An einem kalten Dezembertag 1819 tritt der junge Lehrer das erste Mal in das weitgehend ungeheizte Schulhaus; das Entsetzen packt auch den mittlerweile über 90-Jährigen bei der Erinnerung daran: