Illustrationen


Alle Illustrationen in diesem Band sowie das Buchcover stammen von der Bildagentur www.shutterstock.com, mit Ausnahme dieses gemeinfreien Bildes im Vorwort:

Portrait der Gebrüder Grimm Wikipedia / Wikimedia Commons 

 

Ende




cover

Grimms Märchen Update 1.2

Der Wolf und das böse Rotkäppchen


Anthologie

Hrsg. Charlotte Erpenbeck




Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck


Haselünne
2012

Umschlag: naucken/www.shutterstock.de

Illustratoren:  www.shutterstock.com

ISBN 978-3-95959-082-2







Vorwort

 

 

Vor genau 200 Jahren, im Jahr 1812, gaben die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm den ersten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen heraus.

Seitdem begleiten die Geschichten von Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Hans im Glück, Aschenputtel, dem Froschkönig und vielen anderen Märchengestalten Generationen von Kindern.

Aber nicht nur den Kindern, auch den Erwachsenen sind diese Märchen lieb und teuer. Und wer sich die Mühe macht, einmal nach den Ursprün-gen unserer Märchen zu forschen, wird schnell feststellen, dass diese Geschichten eigentlich für Erwachsene erzählt und geschrieben wurden. Nicht zuletzt die eindeutig erkennbaren erotischen Inhalte vieler Märchen deuten, neben Mord, Totschlag und familiären Verstrickungen, auf die ursprüngliche Zielgruppe hin.

Die Autoren dieser Anthologie sind der Frage nachgegangen, wie Grimms Märchen wohl aussehen würden, hätte man sie heute geschrieben. Herausgekommen ist ein bunter Bilderbogen, der von wahrhaft märchenhaften Welten bis zur kriminalistischen und verhaltenstherapeutischen Analyse führt.

Viele Ihrer Lieblingsmärchen werden Sie unschwer wiederfinden. Einige allerdings haben sich der modernen Welt derart angepasst, dass Sie sehr überrascht sein werden, wenn Sie ihren Ursprung erkennen.

In diesem zweiten Band der Anthologie finden Sie überwiegend Märchen der Moderne: Kurzgeschichten, in denen die Märchenmotive mehr oder weniger gut getarnt ihre Aktualisierung finden.

Im Namen aller Autorinnen und Autoren wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen!

 

 

Charlotte Erpenbeck 

(Hrsgb.)

 

Datt Taachebuch vonne Märchenprinzessin

Stefanie Bergerhoff



 

Montach:

Heut iss mir wat total dämliches passiert. Meine goldene Kugel iss mir in den Brunnen gefallen. Und dann kam son Frosch und hat gesacht, datt ichse wieder kriege wenn ich ihn küsse. „Nee“, habbich gesacht, “machich nich, mein Vatta hat noch mehr von den Dingern, also brauchich dich auch nich zu küssen.“ Dann binnich nach Hause gelaufen un wollt mir ne neue Kugel holen. 

Mein Vatta hat aber gemeint: „Nix da! Hier hasse n  neues Kügelken, aber dafür gehse getz wacker wieder zurück am Brunnen und küsst den dösigen Frosch, weil datt könnt doch eventvell ein Prinz sein!“ 

 

Dienstach:

Heute lag ich ziemlich lang inne Poofe. Dann hat mich aber son total zerkratzten Prinz wachgeküsst. Kein Wunder – bei der Dornenhecke!  Ersma werd ich mittm Gärtner n ernstes Wörtchen sprechen. Wat iss datt fürn Penner?

 

Mittwoch:

Heut war Stiefmutta wieder total mies drauf. Laach wahrscheinlich an ihrn neuen Spiegel. Ers musst ich stundenlang mitn Jäger fangen spielen und danach hat der Döskopp mich auch noch im Wald vergessen. Ich hab aber dann sieben Zwerge getroffen un so isset wenigstens nochn netter  Abend geworden. Ein Geschenk hab ich auch noch gekricht - son komischen  Glaskasten. Naja, wer weiß wofürs gut iss. Vielleicht mach ich mirn Aquarium draus.

 

Donnerstach:

Heut solltich für son doofen Zwerg Flax spinnen. Der war vielleicht schräch drauf! Ständich isser ums Feuer gehopst als obber mal muss un nich kann.

Nachdem ich ihm aber dann von meinen Abführdröpfkes was inne Teekanne gekippt hab, isser hinter den Büschen nich mehr vorgekommen. Ich bin dann nach Haus gegangen.

 

Freitach:

Schon wieda Knatsch mitter Stiefmutta. Ich bin ja total scharf auf den Prinzen ausser Nachbarschaft – nä?! Der sieht voll gut aus un hat Kohle zum abwinken.

Aber meine beiden dösigen Stiefschwestern wolln den auch. Da war dann der Stress echt vorprogrammiert. Ich – meine guten Glasschlüffkes an, obwohl ich mir da jedesmal Hühneraugen von hole – wollt grad raus, da läßt doch meine Stiefmutta sone Tuppabox mit Vochelfutter auffn Boden knallen. Ich sach noch:“Iss doch gar kein Winter, die brauchen  getz kein Futter.“ Aber et half nix.   

Sachtse: “Du darfs ers auf datt Fest, wenn datt Vochelfutter wieder schön fein sortiert inne Dose liecht!" 

Dattdatt nur eine Sorte war, hattese Gott sei Dank nich gemerkt! Ich bin dann doch noch auf datt Fest gefahren, mit ner goldenen Kutsche un fein Kleid- chen. Un wat iss – ich krich den Prinzen doch! Morgen iss Hochzeit!

 

Samstach:

Heut hat mir mein Prinz ein Entchen geschenkt – dabei hamwer doch gar kein Teich! Egal. Die Hochzeit war jedenfalls super, un von meiner Stiefmutta hamwa ein Gartenhäusken ganz aus Lebkuchen gekricht – inclusieve Kammazoofe. Die iss zwar alt un hat ein Buckel un soooooon Zinken,aber dafür kannse ganz prima kochen! Un kinderlieb isse! Sie kannet garnich erwarten bis datt wir welche ham – so für zum spielen un so.

Damit  datt ihr datt nich so langweilich bis dahin iss, schickich morgen mal die Kinners vom Gärtner vorbei. Wie heißen die noch? Der Junge heißt Hänsel – aber datt Mädchen???

 

Sonntach:

Heut wieder Probleme mitter Schwiegermutta gehabt. Die hat mir nämlich ne Erbse unters Plümmo gesteckt, für zu gucken, obbich auch wirklich echt bin, mit blaues Blut un so. 

Ich bin echt! Am ganzen Körper hab ich blaue Flecken- un weh tut datt!

Aber datt  krichtse wieder! Ich hab ihr nämlich n paar Reißzwecken inne  Sandaletten gekippt – un datt gibt morgen sicher ordentlich Blut im Schuh.

 

Montach:

Meine Güte! Watt iss datt denn? Datt Entchen wäx ja wie bekloppt! Hoffentlich hat der Gärtner den Teich bald fertich – so im Waschbecken iss datt ja nix auf Dauer!

 

Dienstach:

Heut hat der Bruder von mein Prinz son Mädchen am Strand gefunden – die  war fast naggich! Gesacht hatse auch nix, weilse keine Zunge hat. Außerdem warse auch noch total schlecht zu Fuß! Vielleicht hattse Malesse mit Hühneraugen – datt arme Ding!  Abends beim Ball gings aber dann schon – hat kaum noch gehumpelt, nur noch n bissken Frätzken geschnitten.

 

Mittwoch:

So – ich habbet doch geahnt! Datt iss nämlich gar kein Entchen. Datt issn Schwan! Un datt iss getz nämlich ein Problem, weil der angeblich auch noch fünf Brüder hat. Woher ich datt weiß?

Bei uns im Keller sitzt son Kind watt Hemdchen sticken tut – aus Brennnesseln – muss ma sich ma reintun!  Un die Brummsuse is am jammern, datt wenze die Hemdchen nich pünktlich fertich kricht, hättese den totalen Stress anne Backe. Ich werd der nachher mal n Paar Gummihandschuhe bringen… un Brandsalbe. 

 

Donnerstach:

Heute hat der Bruder von mein Prinz geheiratet. Da war datt arme Ding vom Strand ganz furchbar traurich. Nachher sindwer alle auf sein Schiff drauf, so wegen Hochzeitsnacht un Hannimuun. Un wie datt Fest so am Ende iss un die Verliebten schon fast inne Kiste, da hüppt die Püppi  doch einfach ins Meer!

Wech warse, so schnell wiese gekommen iss. 

Komisch isset aber doch. Datt hat so furchbar geschäumt, als obse Badeschaum vorwechgekippt hätte.

 

Freitach:

Heut hab ich meine Omma besucht. Die wohnt in so ein klein Häusken im Wald. 

Vorher habbich mich aber noch bissken fein gemacht, nettes Kleidchen  angezogen un datt rote Käppi von Omma von Weihnachten.

Unterwegs  wollt mir dann ständich son dösigen Wolf n Gespräch aufzwingen. Binnich aber garnich drauf eingegangen. Omma sah dann auch richtich gut aus! Früher hattset ja immer mitte Ohren – aber getz!

Ich wußt ja nich, datt so im Alter noch wat wachsen tut. Un auch die Stimme iss getz viel kräftiger! Scheins bekommt ihr die Waldluft gut.

 

Samstach:

Heut Abend warich im Wald spazieren. Un wie ich da so rumlief un fror, weil ich ma wieda viel zu dünn angezogen war …(wer ham ja getz grad mal März- nä), kam son Oppa vorbei un fracht, obbich wohl n Stücksken Brot für ihn hätte. 

Normal habbich ja sowatt garnich bei mir – aber wie der Zufall datt so will!

Also – ich geb ihm datt Brot – un der freut sich auch tooootal un kaum isser  wech da kommt ein kleines Mädchen, ganz mit ohne Haare un friert scheins ganz schrecklich am Kopp. Ich - dem mein rotes Käppi gegeben un wollt grad nach Hause, da kommt doch noch son Plaach un hat ausser der reinen Unschuld überhauptnix  am Körper! Datt hat mich nu doch sehr bewecht un da ich ja Zuhaus den Schrank voller Prötteln hab, un et war ja auch nich mehr weit zu laufen, hab ich dem armen Ding eben mein Seidenhemdchen geschenkt. Nu warich zwar ganz naggich, aber et war ja schon dunkel.

Un wie ich mir so überlech, wie ich wohl unbemerkt in mein Schloß komme, wird datt von oben auf einmal so richtich schön hell. Un wat iss? Ich  - plötzlich wieder ein Hemdchen an (voll aus Goldbrokat), un von oben reechnets Centstücke! Ey – ich musste aufpassen, dattich nich erschlaachen wurde!

Mit mein neuen Hemdchen hab ich aber dann doch noch n paar aufgefangen. Iss doch gut, wemma lieb zu andern iss. Getz habbich endlich eigenes Geld!

 

Sonntach:

Heut  Morgen hatt ich Bauchweh  – un wie!

Datt ging so bis elf Uhr, un dann kam der Arzt un hat gesacht: „Frau Prinzessin“, hatter gesacht, „sie kommen heut nieder!“ Es ging dann auch alles total schnell, un zwei Stunden später hatte ich einen kleinen Jungen. Näää – datt Kind iss ja so süß, aber irgendwie unheimlich winzich! Darum wollnwers auch Däumeling nennen. Vonner Verwandtschaft hammwa dann noch eine goldene Nußschale als Wiege gekricht. Hammse ja ordentlich was sparen können, wo datt Kind doch nu so klein ausgefallen iss!    

Weil mich datt ganze aber doch recht mitgenommen hat, fahren wer getz ersma zwei Wochen Erholung auffe Ballearen.

Ich habbet echt nötich!

 

Un Schluß.




 

Bergerhoff, Stefanie

 

Stefanie Bergerhoff wurde 1960 in Siegen geboren.

Mehrere Ortswechsel führten sie durch Süddeutschland, ins Ruhrgebiet und zurück in den Westerwald. Schon in der Jugend entdeckte sie ihr Interesse für die kreativen Künste. Die ersten literarischen Versuche folgten. Seit der Geburt ihres Sohnes 1986 schrieb sie zahlreiche Kurzgeschichten, Gedichte und ein Kinderbuch.

Ihre Texte sind humorvoll, aber oft auch mit tieferem Hintergrund. Im “Taachebuch vonne Märchenprinzessin“ vereint sie den sympathischen Dialekt des Ruhrgebiets mit den klassischen Märchen der Gebrüder Grimm.

Rotkäppchen

Stefan Lochner


 

„Verdammter Mist!“

Wolfgang stolpert, schlägt mit seiner Hand an eine Hausecke. Ein rostiger Stahlträger schneidet in seine Haut. Was für eine blöde Idee, sich abends in Duisburg Ruhrort herumzutreiben.

Nur das verdammte Plakat dieser Kneipe mit der hübschen jungen Frau mit dem roten Käppchen ist daran schuld. Wer konnte auch ahnen, dass die Straßenlaternen ausgeschaltet oder defekt sind? Wie in einem Dinosaurierfriedhof ragen die Stahlskelette von Resten einstiger Ruhrgebietsherrlichkeit in den Nachthimmel. 

Diese Woche implodierte seine Existenz. Stress mit dem Chef, der beinahe zur Abmahnung führte. Dann hat Susanne einfach Schluss gemacht. Per SMS. 

Unsicher jongliert er mit den Bruchstücken seines Lebens. Wo findet er Halt? Warum müssen diese blöden Rohre quer auf dem Gehweg liegen? Räumt hier niemand auf? 

Keine Menschenseele zu sehen. Nicht einmal Ratten lassen sich blicken. Es ist Zeit, umzudrehen. Was ist das für ein Geräusch? Sind das nicht Frauenschuhe? In dieser Gegend, um diese Uhrzeit? 

Tatsächlich. Wolfgang traut seinen Augen kaum. Aus einer Seitenstraße biegt eine junge Frau. Sie strahlt in der Dunkelheit und schwebt auf mindestens zehn Zentimeter hohen Schuhen. Das leichte Kleid endet weit über den Knien. Und was ist das Rote auf ihrem Kopf? Ist das etwa die Frau auf dem Plakat? Nach einer Sekunde, in der er meint zu halluzinieren, beschleunigt Wolfgang. Rasch ist er ihr so nahe, dass ihr Parfüm ihn umhüllt. In seinem Kopf macht es klick. Diesen Traum von einer Frau muss er festhalten.

Wolfgang tritt neben sie. Ihr unschuldiges Gesicht ist Realität. Große Augen durchdringen Wolfgang. Hoffentlich rennt dieses Wesen nicht weg. Hätte er nur die Finger von der Knoblauchsauce gelassen! Er räuspert sich.  

„Hallo junge Frau. Bist du etwa Rotkäppchen?“

Eine blöde Frage, aber ein besserer Spruch fällt ihm nicht ein. Sie lächelt: „Wenn du das meinst. Ich heiße Nadine; aber alle nennen mich Rotkäppchen.“

Ihre feine Stimme geht ihm durch Mark und Bein. „Und wie heißt du?“

„Äh. Ich heiße Wolfgang.“

„Ein schöner Name.“

Ihr Lächeln taucht die Straße in gleißendes Licht, als ihr Arm sich unter den seinen schiebt. Am anderen baumelt ein Körbchen, bedeckt mit einem bunten Tuch. Wohin geht sie denn? Egal. Er würde Nadine in die Hölle folgen. Stumm gleitet er neben ihr durch die Nacht. 

Sie biegen in einen Hof, der frei von Gerümpel ist, und Wolfgang bleibt erschrocken stehen. Im Licht roter Lampen neben dem Eingang erglüht Nadines Gesicht. 

„Wo sind wir denn hier gelandet?“

„Hab keine Angst. Geh schon mal vor und trink erst mal etwas. Ich komme später nach.“

„Ehrlich?“ 

Zögerlich zieht er an der Klinke. 

„Natürlich. Keine Angst. Niemand wird dir den Kopf abreißen. Und grüße bitte Großmutter von mir.“

„Großmutter?“

Nadines Lachen durchbohrt Wolfgang wie ein Florett: „So nenne ich sie. Lass dich von ihr bedienen, bis ich so weit bin.“

Sie verschwindet im Dunkeln. Eine saubere Deern. Wolfgang öffnet die Tür. 

Neben der Theke quetschen sich fünf kleine Tische. Gelbes Licht kriecht in alle Fugen. Das soll das Lokal auf dem Plakat sein? Egal. Wenn Rotkäppchen kommt, ist das die prächtigste Kneipe der Welt. Die Luft ist gesättigt von schwerem Parfüm. Den Würgereiz bekommt er rasch unter Kontrolle.  

Eine Frau steht hinter der Theke und mustert den Gast. Die hat einige Jahre mehr auf dem Buckel als Rotkäppchen. Ihre spärliche Kleidung bedeckt nur das Allernötigste. Seine Augen fixieren einen Tisch, damit sie nicht meint, er würde etwas von ihr wollen.

Rasch setzt er sich. Hoffentlich erscheint Rotkäppchen bald. Diese Großmutter macht ihm Angst. Dazu ist er der einzige Gast in diesem Lokal. Ob das gut geht?

„Einen wunderschönen guten Abend. Was kann ich dir Gutes tun?“

Wolfgang erschrickt ob ihrer dunklen Stimme und blickt nach oben. Ihre Oberweite, nur mühsam gebändigt von einem Bustier, versperrt ihm den Blick auf ihr Gesicht. Sein Hals trocknet aus, der Atem stockt und er räuspert sich.

„Warte, ich bringe dir die Karte.“ 

Großmutter stöckelt zurück zur Theke. Ihre hohen Schuhe und das kurze Kleid betonen ihre Beine. Wolfgang kann seinen Blick nicht senken. Tief beugt sich die Frau über die Theke und das Kleid rutscht noch ein Stück höher. Wolfgang bleibt wie festgeschraubt sitzen. Sie balanciert auf einem Bein und streckt ihm das andere entgegen. 

Zu seinem Bedauern senkt sich der Schuh auf den Boden, die Großmutter dreht sich um und schwebt auf ihn zu. Seine Augen wollen den spärlichen Stoff ihres Kleides verbrennen. Mit Mühe bekommt er sich in den Griff. Er wartet auf Rotkäppchen. Was will er von der Alten? 

Großmutter beugt sich nach vorne und legt eine Karte auf das Tischchen. Mit aller Kraft wendet Wolfgang sich der Getränkekarte zu. Es ist nicht teuer. Kein Nepp.

„Lass dir Zeit. Ich kümmere mich um den Begrüßungscocktail.“

„Was ist das?“

„Unsere Spezialität. Der geht aufs Haus; weil du heute mein erster Gast bist.“

Er widmet sich der Karte. Aus den Augenwinkeln sieht er eine Bewegung.

Klack. Klack. Klack. Vorsichtig hebt er den Blick. Und schaut ins Leere. Sie hantiert hinter der Theke mit Messern, Früchten und Flaschen. Er senkt erneut den Blick. 

Klack. Klack. Klack. Parfüm kitzelt in seiner Nase.

Der Cocktail vor ihm schillert in vielen Farben und gegenüber nimmt die Frau Platz. Sie lehnt dankend eine Getränkeeinladung ab, nickt Wolfgang aufmunternd zu. Der erste Schluck prickelt in seiner Kehle. 

„Na?“

„Genial. Hast du den selbst gemixt?“

„Selbstverständlich. Ich kümmere mich hier um alles.“

Wolfgang tränkt seine Geschmacksnerven mit der Flüssigkeit. Etwas kratzt an seinem Bein. Es sind ihre Zehen. Heftig wehrt er sie ab. Sie lächelt. Und wirkt auf einmal wesentlich jünger. Oder täuscht ihn die Schminke? Wolfgang drückt sich auf dem Stuhl nach hinten. Erneut nimmt er einen Schluck. Das Glas ist beinahe leer. Sein Horizont schwankt wie nach einer Achterbahnfahrt. Die Großmutter ist kein schlechter Anblick und ihr Kleid klafft an den richtigen Stellen. 

„Kann ich noch einen haben?“

„Aber natürlich. Du kannst alles haben.“

„Und was kostet es dann? Auf der Karte steht kein Cocktail.“

„Stimmt. Den gibt es nur zur Begrüßung.“ 

„Hast du nicht gesagt, dass ich alles haben kann?“

„Da hast du mich ganz richtig verstanden.“

Sie lächelt und beugt sich nach vorne. Ein Schwall Parfüm kriecht in seine Nase und seine Augen versinken in ihren Rundungen. 

Großmutter lehnt sich zurück. Dafür erreichen nun ihre Zehen seine Knie. Es kribbelt angenehm. 

„Mein Kleiner, hier ist es immer so einsam.“

„Kann ich verstehen. Abends ist sicher tote Hose. Ist es denn nicht gefährlich für so eine hübsche Frau?“

„Schutzlos bin ich nicht. Oben wacht Herr Förster über mich.“ 

Sein Atem geht schwerer, er kippt den Rest des Cocktails in sich hinein. Es verschlägt ihm den Atem, das Licht flirrt in allen Farben des Regenbogens. 

Wolfgang öffnet die Augen. Er sitzt allein am Tisch. Hat er Großmutter nur geträumt? Nein. Sie steht schon an der Türe und winkt. Wolfgang springt auf, torkelt hinter ihr her. Kaum hat er sie erreicht, umfasst er ihre Taille und drückt sie fest an sich. Sie ist so weich.

Vorsichtig leitet sie ihn zur Kammer im ersten Stock. Dort sprengt sie zu seiner Freude die Ketten seiner Zurückhaltung.

 

Wolfgang erwacht. In seinen schlaffen Gliedern steckt immer noch die Leidenschaft, mit der er die Großmutter geliebt hat. Seine Hand tastet neben sich. Er ist allein. Wo ist die Großmutter? Er spürt noch ihre Wärme unter der karierten Bettdecke. Was ist mit ihm los? Wie kann er diese alte Frau vermissen? Sie war einfach großartig. 

Es raschelt. Im Halbdunkel steht Rotkäppchen neben dem Bett und betrachtet ihn. Ihre enge weiße Unterwäsche betont die Linien ihres Körpers. Wolfgang stellt sich schlafend.

„Hallo Großmutter, ich habe den Champagner und den Kaviar dabei.“

Aha, das hatte sie also in dem Körbchen. Wolfgang schließt die Augen und spürt Rotkäppchens Finger an seinem Kopf. 

„Ei Großmutter, was hast du für große Ohren!“ 

„Dass ich deine feine Stimme besser hören kann.“

„Ei Großmutter, was hast du für große Augen!“ 

„Dass ich deinen tollen Körper besser sehen kann.“ 

 „Ei Großmutter was hast du für große Hände!“ 

„Dass ich dich besser verwöhnen kann.“

„ Ei Großmutter, was hast du für einen großen Mund?“ 

„Dass ich dich besser vernaschen kann.“

Lachend lässt sich Rotkäppchen auf Wolfgang fallen. 

Eine Stunde später reicht ihm Rotkäppchen ein Glas Champagner, und er stürzt es hinunter. Wolfgangs Augen werden schwer, und er schlummert ein.

Er schlägt die Augen auf. Wie lange hat er geschlafen? Die Tür öffnet sich in Zeitlupe, ein Mann erscheint. Ist das Herr Förster? Frech durchwühlt dieser Wolfgangs Hose. Das darf der doch nicht! Wolfgang hat nicht einmal die Energie zu schreien. Die Welt ist mit einem Gazeschleier verdeckt. Seine Kreditkarte leuchtet im Licht auf, dann verlässt ihn die Kraft, und Wolfgang schläft wieder ein. 

Wie nach einem Gewitter klart sein Geist auf. Warum ist es schon wieder Nacht? Nicht einmal durch die Ritze unter der Tür dringt Licht. Unter Einsatz all seiner Kräfte erhebt sich Wolfgang. Auf dem Bett sitzend zieht er seine Hose an und schlüpft in sein Hemd. In der Dunkelheit versucht er es erst gar nicht, die Knöpfe zu schließen. Wo sind denn nur die verdammten Schuhe? Kniend tastet er über den Boden. Staub klebt an seinen Händen. Ekelhaft. Er findet die Schuhe, zieht sie an, verknotet die Schnürsenkel unter Anstrengung und taumelt zur Tür. Leise öffnet er sie. Er ist allein. Vorsichtig tastet er sich am Geländer die Stufen der Treppe nach unten. Zum Glück liegen auf den Stufen kleine Teppiche, so hört man seine Schritte nicht. 

Unbemerkt betritt er den Schankraum. Da sitzt die Großmutter. Er weiß immer noch nicht, wie sie heißt. Mann, ist ihr Dirndl tief ausgeschnitten! Automatisch schleicht sich Wolfgang an. Ob sie noch einmal Lust hat?

Sie hält etwas in den Fingern. Das darf nicht wahr sein! Das ist doch seine Kreditkarte. Sie führt gerade das Kärtchen in ein Lesegerät ein. Die will sein Konto plündern! Verdammt, warum begeht so eine hübsche Frau ein solches Verbrechen?

Er möchte ihr die Kreditkarte entreißen, da springt sie auf und schubst ihn nach hinten. 

Wolfgang entlässt seine ganze aufgestaute Wut in einem Fauststoß. Er trifft die Frau hart am Kinn. Mit großen Augen starrt sie ihn an und kippt nach hinten in die Theke. Das Holzgestell bricht mit einem Poltern zusammen. Ihre langen Beine schauen unter dem knappen Rock hervor. 

Hoffentlich ist sie nicht ernsthaft verletzt. Wolfgang beugt sich über die Reste der Theke. Auch so sieht die Großmutter sehr aufreizend aus. Ihr Oberteil ist völlig verrutscht. Wolfgang möchte ihr helfen. 

Da hört er Männerschritte. Das ist sicherlich Herr Förster. Nur raus aus dem verfluchten Haus. Die Kreditkarte hält er fest in seiner Hand. Die Schritte hallen in seinen Ohren. 

Zum Glück erreicht Wolfgang schon den Eingang. In diesem Moment wird die Tür aufgerissen, und Wolfgang stolpert nach vorne. Er prallt auf Rotkäppchen. Sie ist süßer denn je. Im Arm trägt sie wieder ihren tuchbedeckten Korb. 

„Das war wirklich toll mit dir, mein lieber Wolf.“

Bei ihrem Lächeln schmilzt seine Panik, die Fluchtgedanken verschwinden und er schiebt die Kreditkarte in die Gesäßtasche. Herr Förster taucht hinter ihm auf und brüllt: „Dieser böse Wolf hat der Großmutter ein Leid angetan.“

Rotkäppchen küsst Wolfgang auf die Wange: „Das kann gar nicht sein. Er ist so lieb. Das würdest du doch nie tun, oder?“

Rotkäppchen zieht Wolfgang nach draußen. Herr Förster kümmert sich um die Großmutter. Hand in Hand gleiten Rotkäppchen und Wolfgang durch die nächtlichen Straßen, bis vor ihnen eine dunkle Fläche auftaucht. Alt und träge windet sich die Ruhr unter ihnen.

„Nadine, das Wasser ist so dunkel wie deine Augen.“

„Ich hoffe, sie sind nicht ganz so schmutzig.“

Sie entnimmt ihrem Korb eine kleine Flasche und schenkt zwei Gläser Sekt ein. Was Frauen so in ihren Körben tragen. Er prostet Rotkäppchen zu. Sie setzen sich nebeneinander auf die Ufermauer. Ihre nackten Beine schaukeln über dem Wasser. Seine Hand landet auf dem spitzen Knie. Wolfgang ist glücklich. Nadines Hand streichelt seinen Rücken, gleitet hinunter bis zu seinem Po.  

Er nimmt noch einen Schluck. Der Sekt hat einen sauren Nachgeschmack. Da spürt er die Erdanziehung doppelt. Sein Gewicht zieht ihn nach unten. 

„Nadine. Was ist mit mir? Mein Bauch fühlt sich an, als wären Steine darinnen.“ 

Nadine dreht ihre Beine rasch nach hinten zurück ans Ufer. 

„So ähnlich Wolfgang. Du bist stoned.“ 

Er erhebt sich, schwankt wie bei einem Unwetter. Warum hat Nadine seine Kreditkarte in der Hand? Er möchte auf sie zugehen, kann jedoch nur mit Mühe verhindern, dass er das Gleichgewicht verliert.

Da tippt ihm Nadine auf die Schulter, Wolfgang stolpert, dreht sich um die eigene Achse, versucht sich zu fangen. Seine Beine geben nach, und er kippt vornüber ins Wasser.

Die Großmutter und Herr Förster beugen sich über das Ufer. Die Großmutter trägt ein langes Kleid, das ihre blauen Flecke verdeckt.

Wolfgang möchte Nadine um Hilfe bitten, bekommt aber nur ein armseliges Glucksen heraus. Wie ein gekenterter Frachter versinkt er in den Fluten. Als letztes sieht er seine Kreditkarte zwischen Großmutters Fingern tanzen. 

Das Kräuseln des Wassers beruhigt sich.

„Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot.“

Herr Förster küsst die Großmutter, die vor Schmerzen stöhnt und drückt danach Nadine fest an sich. 

Ein Wolf heult den Mond an. Nadine greift in ihren Korb und hält ihr Smartphone in den Händen. Eine SMS. Da nähert sich wieder eine böse Seele. Die Großmutter humpelt am Arm von Herrn Förster zurück zum Lokal. Seine Hand ruht fordernd auf ihrem Hinterteil. Sie himmelt ihn mit Blicken an. 

„Schatz, ich kann den Typen nicht verführen.“

„Und warum denn nicht?“

„Ich liebe nur dich. Jede Bewegung tut mir weh.“

„Du weißt, dass es sein muss. Reiß dich bitte zusammen.“ 

„Ich habe überall am Körper blaue Flecken.“

„Du schmierst dir doch auch so zentimeterdick Make-up drauf. Im Zweifel machst du die doppelte Menge der Tropfen rein. Dann bekommt der das auch nicht mit.“

Herr Förster baut sich vor Großmutter auf. 

„Denk daran. Auch du lebst davon, dass wir den Typen die Konten leeren.“

Rotkäppchen zupft sich das Kleid zurecht, rückt die rote Haube gerade und hastet zurück auf die Straße. Auf ihrem Smartphone erkennt sie, wo sich der Mann befindet.

Rotkäppchen ist immer noch stolz darauf, dass es ihre Idee war, die Typen in der anderen Kneipe aushorchen zu lassen, und die finanziell interessanten dann mit einem Sender in der Tasche weiter zu schicken. Gut, Großmutter ist etwas einfältig, aber sie bekommt öfters den Ärger der Männer ab. Dafür hat sie auch mehr Spaß als andere Frauen in dem Alter.

Sicher wie am Tag findet Nadine zu der Straße, durch die der Mann kommt. Sie kann ihn durch ein verfallenes Fabriktor erkennen. Er geht gebeugt, als streife seine Nase auf dem Asphalt. Was hat wohl das Schick-sal mit dem angestellt? Egal. Job ist Job.  

Nadine biegt vor ihm in die Straße ein und betont ihre Schritte. 

Klack. Klack. Klack.  

Sie spürt, wie er beschleunigt. Nadine lässt ihn herankommen. Jetzt liegt es an ihm. 

„Hallo junge Frau. Bist du etwa Rotkäppchen?“

Immer die gleiche Frage. Immer die gleiche Unsicherheit. 

„Ich heiße Nadine, aber alle nennen mich Rotkäppchen.“

Natürlich schaut der genauso blöde wie alle Männer. Der zappelt an der Angel. Ihre Stimme ist so fein, dass sie ihm durch Mark und Bein geht. „Und wie heißt du?“

„Äh. Ich heiße Wolf-Dieter.“

„Ein schöner Name.“

Sie hakt sich bei ihm ein und sieht, wie sich seine Nasenlöcher blähen. Er ist bereit.

 

 


Lochner, Stefan


Stefan Lochner wurde 1963 in Stuttgart geboren und wuchs dort auf. Nach dem BWL Studium an der Berufsakademie trat er ins Berufsleben ein. Seit Jahren schreibt er Kurzgeschichten, wobei 2011 die erste Veröffentlichung als Teil eines Hörbuchs gelang.

 

 

 

Aschenputtels zweite Schwester 

Heidemarie Köhler



 

 

Die trägt die Nase ganz schön hoch. Was sie sich einbildet! Glaubt wohl, sie ist die Herrin im Haus – bloß weil sie vor uns hier war. Spielt das Prinzesschen, Vaters Liebling ... Wart nur, den Hochmut treiben wir dir aus. Meine Schwester und ich, auch wenn wir uns oft zanken – bei so was halten wir zusammen. Wir lassen uns doch von dem Püppchen nicht in den Schatten stellen. Wir sind die schönen Schwestern, nur wir zwei. 

Mutter ist natürlich auf unserer Seite, und Mutter, als seine neue Frau, hat einen Stein im Brett bei Vater. Also, du Püppchen, jetzt schau, was du gegen uns ausrichten kannst!

Die traurige Fratze am Esstisch – die verdirbt einem ja den Appetit! Ach, kannst du mir nicht aus dem Keller ein Glas süßen Wein ... Nein, nicht so kalt, den musst du anwärmen, dummes Ding, ja, lauf noch mal.

Ach, und nun glaubt die große Schwester, sie könnte das Stiefkind als Magd, für sich allein – he du, mein Bett ist noch zu schütteln und wenn du hier gelüftet und gefegt hast, ab in die Küche, da gibt’s genug zu tun.

Ja, wie siehst du denn aus, du ... Aschenputtel! Hoppla! Da sind mir doch die Erbsen in die Asche ... Ach, wenn du schon so staubig bist, dann kannst du die doch rauslesen? Nicht wahr?

Vater verspricht Geschenke. Die Schwester hat sich schöne Kleider ausgesucht, da bin ich klüger: Perlen und Edelsteine will ich, Geschmeide, kostbar, wie es mir gebührt! Er fragt das Aschenputtel auch. Was, einen Zweig will sie vom Vater, bloß einen Zweig? Ein Stöckchen kriegst du, ein Stück Holz, das ist grad recht für dich.

Da sieht man doch, wie einfältig sie ist, das dumme Ding. 

Ja, in der Küche ist ihr Platz, und wenn sie fertig mit der Arbeit ist, dann soll sie auch da schlafen. Und weck uns morgens nicht zu früh, wenn du uns warme Milch ans Bett ... Genau. Jetzt geh zurück in deine Aschenecke. 

 

Ein Fest! Ein Fest im Schloss, der Prinz sucht eine Braut. Ob ich die Perlen anlege oder den Smaragd, der passt so gut zu meinen Augen. Die Schwester trägt ihr Spitzenkleid ... Dafür ist ihre Kette dürftig.

Was – Aschenputtel, du? Du willst mitkommen? Wir müssten uns ja schämen deinetwegen. Da, lies die Erbsen aus der Asche! 

(Das schafft sie nie.)

Was, fertig? Schon? Hier, noch einmal, dann darfst du mit. 

(Das ist unmöglich, viel zu wenig Zeit, wir sind sie los.) 

Was willst du jetzt schon wieder, ich muss mich putzen. Schon wieder fertig? Wie hast du das gemacht? Und trotzdem, nein, es bleibt dabei, du bleibst zu Hause.

Wir gehen zum Ball, ins Schloss zum Prinzen. Das graue Aschenputtel in der Ecke, das hat bloß Vögel zur Gesellschaft.

 

Sie muss eine Prinzessin sein, die Fremde. Wo kommt sie her? Und was sie für ein Kleid trägt! Das glänzt und schimmert, ich bin fast geblendet. Der Prinz tanzt nur mit ihr, mich sieht er gar nicht. Mich nicht und keine sonst, nur sie. Den ganzen Abend diese Fremde. Wozu spielt die Musik, wenn ich nicht mit ihm tanzen kann?

Nun geht sie. Endlich. Hat er jetzt vielleicht Augen für andere? Für mich? 

Er läuft ihr hinterher, doch sie ist weg. Einen goldenen Schuh hat sie verloren. Wer war sie? 

 

Er will sie finden. Wir sollen alle den Schuh anprobieren, und wem er passt, die muss es sein. Die wird er nehmen.

Ich, Mutter, ich! Gib mir den Schuh, ich zieh ihn an!

Ach, immer diese große Schwester! Ich will zuerst!

Wenn ihr nur der Schuh nicht passt – ha! Er passt nicht. 

Ich, Mutter, ich bin dran! Prinz! Ich probiere den Schuh.

Nein, Mutter, was willst du – die Schwester soll den Zeh ab – sie wird nie wieder laufen können! Was macht das aber, wenn sie fahren kann.

Sie ist nicht die Richtige, und doch nimmt er sie mit. Als seine Braut. Meine Schwester, wieder mal sie, immer sie, sie, sie. Warum musste sie vor mir geboren werden? 

Das Blut sickert durch, merkt er das nicht, der dumme Prinz, ist er denn blind? Ich hoffe, es tut ihr höllisch weh. Es muss ja wehtun. Sie beißt die Zähne zusammen, schluckt die Tränen herunter – schon ist sie weg, mit ihm, auf seinem Pferd.

Und ich bin jetzt die Erste hier, wenigstens das.

Ob der Prinz einen jüngeren Bruder hat? Der könnte doch mich …

Hufgetrappel. Ist er das schon, der zweite Prinz? Das Pferd hält vor dem Haus an. Die Schwester steigt ab, meine große Schwester. Sie ist zurück. Sie humpelt. 

 

Er will sie nicht – jetzt bin ich dran! Ich, ich, ich probiere den Schuh, ja! Er passt nicht – nein, Mutter, ich kann das nicht, nein!!

Nun werde ich Königin. 

Ich verbeiße den Schmerz – aah! Ich lasse mir nichts anmerken. Aah au au! Der Prinz geleitet mich hinaus. Ich kann kaum auftreten, die Ferse, au meine Ferse. Er hebt mich aufs Pferd. Ich sitze vor dem Prinzen, ich! Den Fuß strecke ich weg, heimlich, dass er nicht bei jedem Tritt anschlägt. Und es tut dennoch weh. An etwas anderes denken! Ach, die Täubchen, die da geflogen kommen, hübsch und weiß, zwei kleine Bräute. Ich bin auch eine Braut, ich bin die Braut des Prinzen! Mein Fuß wird heilen, er wird nicht immer so schmerzen. Nur an die Täubchen denken, an die Hochzeit. Ach diese Täubchen, wie sie dem Prinzen ins Ohr gurren, niedlich. Ruckediguh. Was flüstern sie denn? Ich verstehe sie nicht. Der Prinz sieht mich an – er lässt mich los, fast wäre ich gefallen. Was macht er für ein Gesicht? Er sieht an mir herunter. Blut, ja – er hat das Blut entdeckt. Brrr, bremst er das Pferd, wir kehren um. Meine Schwester hat er zurückgebracht und nun will er mich auch nicht.

 

Was – nein, die doch nicht! Die Stiefschwester, das graustaubige Küchenmädel – nein! 

Der Schuh passt, wie macht sie das? Da ist gar kein Blut, sie sieht glück-lich aus. Aschenputtel – du? Königin Aschenputtel …

Ja, wir werden bei dir im Schloss wohnen, deine Familie sind wir. Ihre Familie, nicht wahr, große Schwester? Es gibt sicher reiche Herren am Hof, Grafen, die goldbestickte Kleider tragen und in Kutschen fahren, dann muss ich nicht mehr laufen. Ich kann kaum laufen, meine Ferse, und alles war umsonst. Meine Ferse, ach …

 

Heute ist Hochzeit. Herzlichen Glückwunsch, Schwester Aschenputtel, Königin Aschenputtel. Ja, der bleibt hängen, der Name aus ihrer Küchenzeit. 

Da kommen wieder die Täubchen, die kleinen Vogelbräute, und ich? Ich bin nicht die in Weiß. Du setzt dich auf meine Schulter, kleines weißes Vögelchen, du schmückst mich – aber – nein! Au! Nein, weg, weg, lass mich, ich will nur weg. Mein Auge, es brennt, es sticht!

Kein Aufsehen erregen, durchhalten, vielleicht merkt niemand was, wenn ich den Blütenkranz darüber … 

Nun ist sie Königin. 

Hoffentlich ist alles bald vorbei. Ich will mich nur verkriechen, das Fest, ich will nicht feiern, nein. 

Die Vögel, da kommen die Tauben wieder. Was willst du von mir, nicht! Nein, weg, geh weg! Sie pickt, die Taube, auf meiner anderen Schulter diesmal, sie hackt zu. Mein Kopf! Jetzt meine beiden Augen ... 

 

Ich dachte, der Prinz wäre blind. 

 

 



Köhler, Heidemarie


Heidemarie Köhler, von jeher in der fiktiven Wirklichkeit mindestens ebenso zuhause wie im Alltag, schreibt hauptsächlich Kurzprosa und Romane, gelegentlich passiert ihr ein Gedicht.

 

 

Grimms Maerchen Update 1.2

Goldmarie und Pechmarie

Michaela Illner


 

Miriam? Wärst du so freundlich und schüttelst meine Bettwäsche noch einmal auf bevor du gehst?“ Die kräftige Stimme der alten Dame hallte durch die ganze Wohnung, obwohl eine gehobene Lautstärke nicht von Nöten gewesen wäre, da Miriam direkt hinter ihr stand. 

„Selbstverständlich Frau Holle. Das mache ich doch jedes Mal bevor ich heimgehe.“, antwortete die Angesprochene in dem ruhigen Tonfall, den Jüngere manchmal anschlagen, wenn sie mit älteren - und ein wenig senilen - Semestern sprachen. Miriam schüttelte Kopfkissen und Bettdecke heftig aus und verabschiedete sich: „Ich gehe dann jetzt nach Hause, Frau Holle. Brauchen Sie noch etwas?“ 

„Nein, danke meine Liebe. Mein Sohn kommt ja gleich zurück. Er kümmert sich dann um mich.“ 

Nach getaner Arbeit erwartete die Studentin eine unfertige Hausarbeit und der eigene Haushalt, der zugegeben ein wenig litt, seit sie diesen Nebenjob bei Frau Holle angenommen hatte. Dreimal in der Woche half sie dieser netten Dame mit dem Haushalt: Sie buk Brot, ging einkaufen, saugte, wischte Staub und schüttelte mehrmals die Bettwäsche aus. Es war ein leichter, gut bezahlter Job und sie machte ihn gern. Dabei nahm sie auch den einen oder anderen Spleen der Frau in Kauf.

Das einzige , was ihr nicht so gefiel, waren die Tage, an denen Frau Holles Sohn zuhause war, ein schlaksiger Buchhalter mit dicker Hornbrille und Halbglatze. Dieser Inbegriff des klischeehaften Muttersöhnchens lebte mit über vierzig Jahren in einer Souterrain-Wohnung bei seiner Mutter und verbrachte die meiste Zeit vor dem Fernseher. Miriams Mitbewohnerin hatte ihn als bemitleidenswerten, hoffnungslosen Fall bezeichnet, und sie hätte ihr auch vorbehaltlos zugestimmt, wenn es da nicht diese Momente gäbe: Manchmal, wenn er glaubte unbeobachtet zu sein, taxierte er Miriam mit einem merkwürdigen Blick, bei dem ihr ein Schauer über den Rücken lief. 

 

„Hallo Goldlöckchen.“, begrüßte sie ihre Mitbewohnerin, als sie zur Tür hereinkam. „Du wirst mich lieben. Ich habe uns etwas zu Abendessen gezaubert.“ 

„Marianna, Spaghetti aus der Packung sind keine Zauberei“, lachte Miriam während sie sich an den Esstisch setzte. Die mangelnden Kochkünste ihrer Freundin waren legendär. 

„Oh, du spottest über mein Tagewerk?“ Mit gespieltem Ärger zog Marianna eine Schnute. „Ich habe außerdem noch diesen riesigen Berg weggespült. Und den verstopften Abfluss gesäubert. Da waren eine Menge deiner goldenen Locken drin, meine Liebe.“ 

„Ich denke das ein oder andere Haar von deinem Rabenkopf wird sich auch gefunden haben.“, neckte Miriam zurück. 

Marianna zuckte mit den Schultern. 

„Ich habe Frau Holle heute gesagt, dass du ab nächster Woche für mich einspringst, während ich in Italien bin.“, wechselte Miriam das Thema. 

„Du meinst wohl: Während du im wunderschönen Florenz auf deiner faulen Haut liegst.“ 

Miriam grinste:„Von wegen. Ein Auslandssemester ist harte Arbeit, meine Liebe. Aber nochmal wegen dem Job. Ich habe eine Liste gemacht mit den Aufgaben, die du zu erledigen hast. Und lass dich nicht von ihrem Sohn verunsichern. Er ist ein wenig komisch, aber harmlos.“ Mit diesen Worten lud sie sich eine ansehnliche Portion Nudeln auf ihren Teller und wechselte das Thema.

 

Nur noch wenige Stunden trennten Miriam von ihren Aufenthalt in Florenz. Noch einmal schüttelte sie die Betten aus und half der alten Frau dabei, einen Apfelkuchen zu backen. Als sie sich verabschiedete, bekam sie einen Umschlag mit dem Lohn für die letzten Wochen sowie ein zusätzliches Taschengeld überreicht. Gerade als sie ihre Hand auf die Türklinke legen wollte, sprach eine ungewohnte Stimme sie an: „Miriam, könnten Sie mir kurz mit den Farben helfen?“ Frau Holles Sohn sprach in einem ruhigen, aber bestimmten Ton. 

„Sicher!“ Sie griff nach einem der vielen Farbeimern, die er vor die Kellertür gestellt hatte. „Ich wusste gar nicht, dass ihr renovieren wollt. Das ist ja eine außergewöhnliche Farbe.“ 

„Ja, ich mag Gold. Kannst du den Eimer bitte in den Keller tragen?“

 

„Nein, nein, nein! So geht das nicht.“, schimpfte Frau Holle. „Sieh her, Marianna. Du musst die Bettwäsche so aufschütteln. So macht es Miriam immer.“ Marianna konnte keinen Unterschied zwischen der Art und Weise feststellen wie beide die Wäsche aufschüttelten. Mittlerweile hatte sie sich beinahe an das ständige Nörgeln gewöhnt. Niemals konnte sie es der alten Vettel recht machen. Mal ließ sie das Brot zu lange im Ofen, mal kaufte sie die falsche Sorte Äpfel. Andauernd warf sie ihr vor, faul, unpünktlich und nachlässig zu sein. Marianna machte drei Kreuze, wenn Miriam wieder im Land war und ihre Aufgaben aufnehmen konnte. Doch am schlimmsten war dieser Freak von Sohn. Jedes Mal,  wenn sie aufeinandertrafen,  betrachtete er sie mit einem unheimlichen Blick. Miriam hatte sie zwar gewarnt, doch hätte sie niemals gedacht, dass er so unangenehm sein könnte. Am ersten Tag hatte er sie nur ununterbrochen angestarrt, ohne ein Wort zu sagen oder mit der Wimper zu zucken. Doch die zweite Begegnung war noch furchteinflößender. Sie war dabei die Wäsche zu falten,  als sie plötzlich seinen heißen Atem in ihrem Nacken spürte. Einen Moment lang war sie starr vor Angst, dann drehte sie sich um. Er schenkte ihr lediglich ein mattes Lächeln und ging dann fort. Jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, stellten sich die feinen Härchen an ihrem Nacken auf und sie spürte ein eigentümliches Kribbeln. Sie musste nur noch den Müll rausbringen, dann konnte sie diesem Alptraumhaus endlich entkommen – zumindest für heute. Auf dem Weg zur Tür stolperte sie plötzlich und ließ die Mülltüten fallen. „Verdammter Mist.“, fluchte sie und trat nochmal gegen den leeren Farbeimer, der die Ursache ihres Missgeschicks war. Ärgerlich bückte sie sich nach den Tüten, doch dann hielt sie inne. Die Tür zum Keller, die normalerweise abgeschlossen war, stand nun einen Spalt breit offen, und leise Musik drang nach oben. 

Jetzt war ihre Neugier geweckt. Hatte sie nicht eben gehört, wie Frau Holles Sohn das Haus verlassen hatte? Und die alte Vettel war zu schwerfällig, um die vielen Stufen hinabzusteigen. Ohne genau zu wissen warum, hatte sie bereits die ersten Schritte nach unten getan. Die Enttäuschung war groß: Der Wohnbereich war schlicht gehalten, nur wenige Möbelstücke und gar keine Dekoration, dafür aber einen großen Fernseher. Unwillkürlich fragte sie sich, warum dieser Irre hier so viel Zeit verbachte. Es war ungemütlich und roch merkwürdig nach vergammelten Essen. Sie ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Da sie die Quelle der leisen Musik immer noch nicht ausmachen konnte, wollte sie  sich umdrehen und den Keller verlassen,  als eine Tür an der gegenüberliegenden Wand ihre Aufmerksamkeit erregte. Langsam ging sie darauf zu. Mit jedem Schritt wurde die Musik etwas lauter. Sie kannte das langsame Klavierstück, doch war sich nicht sicher woher. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, als sie die Tür aufstieß. Hinter der Tür verbarg sich ein weiterer Raum, der von einer einzelnen Lampe nur spärlich beleuchtet wurde. Abgesehen von einem CD-Player auf dem Boden, der die Quelle der geheimnisvollen Musik war, wurde der kleine Raum von einem Tisch beherrscht, auf dem etwas durch eine graue Plane verdeckt wurde. Mariannas Knie wurden weich. Aus der Plane ragte etwas hervor, das verdächtig nach einem Finger aussah. Beim Näherkommen sah sie, dass es sich wirklich um einen vergoldeten, menschlichen Finger handelte. Ihr wurde schlecht. Trotzdem hoffte sie, dass sie sich irrte und es sich vielleicht um eine Puppe handelte. Ein starker Geruch nach Farbe und noch etwas anderem schlug ihr entgegen, als sie die Plane hob. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Miri! Vor ihr lag die vergoldete Leiche Miriams. Wer konnte nur…? Sie musste hier raus. Schnell! 

„Na, wen haben wir denn da?“ 

Marianna zuckte zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie Miriams Mörder hinter sich stehen. In seiner Hand hielt er einen Holzknüppel. Mit einem fiesen Grinsen kam er auf sie zu und holte mit aller Kraft aus. Bevor sie auch nur die Hände heben konnte, sauste der Knüppel schon auf sie nieder.

 

Sie erwachte mit Schmerzen. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte Mühe die Augen zu öffnen. Nackt, geknebelt und gefesselt lag sie auf dem Metalltisch. Das Seil schnitt ihr schmerzhaft ins Fleisch. Die Musik, die sie herunter gelockt hatte, spielte immer noch. Verzweifelt versuchte sie sich zu befreien, doch erreichte damit nur, dass die Fesseln noch weiter einschnitten. 

„Aufwachen, Dornröschen!“, die Stimme des Mörders erschreckte sie. „Ich bin gerade fertig geworden.“ Bei diesen Worten ging er auf sie zu und strich ihr mit einer seltsam zärtlichen Bewegung die Haare aus dem Gesicht. „Ich habe hier etwas für dich. Es ist zwar nicht so schön wie Miriams Geschenk, aber ich denke, für dich wird es genügen.“ Er stand auf und gab den Blick frei auf einen Metalleimer, der eine schwarze Masse enthielt. „Das ist Pech. Ich habe es erwärmt. Weißt du, ich wollte Miriam nicht wehtun. Sie war so hübsch und perfekt. Ich wollte, dass sie auf ewig so aussieht. Deshalb habe ich ihr nur ganz vorsichtig die Tüte über den Kopf gestülpt und ihr dabei etwas vorgesungen, als das Leben langsam aus ihrem Körper wich. Und dann habe ich jeden Zentimeter ihres Körpers in Gold gehüllt, weil sie etwas ganz Besonderes ist. Doch du verdienst so eine Behandlung nicht. Ich dachte mir, dir schütte ich einfach nur dieses Zeug über den Kopf und schaue zu, was passiert.“ 

Marianna geriet in Panik. Sie versuchte zu schreien, der Knebel ließ jedoch nur einige gedämpfte Laute durch. Mit aller Kraft versuchte sie von ihm wegzukommen, auch wenn sie insgeheim wusste, dass ihre Bemühungen umsonst waren. Ihr Peiniger zog sich dicke Arbeitshandschuhe an und hob den Eimer über ihren Kopf. 

Plötzlich hielt er inne. Sie hörte Schritte auf der Kellertreppe. 

Langsame, behäbige Schritte, dann ertönte Frau Holles Stimme: „Was ist das für ein Gestank?“ Marianna schöpfte neue Hoffnung. Frau Holle würden jeden Augenblick in den Raum kommen und ihren Sohn mit einer gefesselten, nackten Frau vorfinden. „Er wird mich  bestimmt nicht ermorden, wenn seine Mutter in Hörweite ist.“, dachte sie. „Du weißt doch, dass ich hier unten renoviere. Ich komme gleich rauf und mach dir einen Tee, Mutter!“, rief er laut genug, dass die schwerhörige Frau Holle ihn verstehen konnte. Er wartete kurz bis die Schritte sich wieder entfernten. Dann straffte er sich und hob den Eimer. Marianna blickte nach oben und schaute ihm direkt in die Augen. Doch dort erkannte sie kein Innehalten, kein Erbarmen. Bloß wahnsinnige Mordlust. 

 

 


 

Illner, Michaela


Michaela Illner, Jahrgang 1982, studierte Geschichte sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Seit ihrer Kindheit schreibt sie Kurzgeschichten und Märchen. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Fantasy-Roman. 

Web: www.michaelaillner.de

 

Allerleirau 

Olivia Mittwoch



 

Als das Flugzeug abhob, stieß Patricia einen Seufzer der Erleichterung aus und schloss die Augen. Geschafft, sie war in Sicherheit vor den Fängen ihres Vaters. Sie zog das alte, verblichene Foto ihrer Mutter aus der Handtasche und betrachtete es. Das Bild zeigte eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit, die den Betrachter freundlich und etwas schüchtern anlächelte. Das Bild hatte Patrizia schon durch ihre einsame Internatszeit begleitet, in der ihre Eltern sich wenig um sie kümmerten. Während ihr Vater, der berühmte Schönheitschirurg Werner Schneider-Marschall, unermüdlich mit dem Aufbau seines Imperiums aus Beautyfarmen, Wellnesstempeln, Wohlfühloasen und Luxushotels beschäftigt war, verfiel ihre Mutter zusehends. Ihr Körper wurde durch die zahlreichen Schönheitsoperationen entstellt, die ihr Vater an ihr vornahm, und die Medikamentensucht machte sie mehr und mehr zu einem psychischen Wrack. Ihre Mutter litt sehr unter den ersten Anzeichen des Alterns. Wohl auch deswegen legte sie sich immer wieder aufs Neue bereitwillig unter das Messer ihres Mannes, der keine Skrupel hatte, jede neue spektakuläre Operationsmethode an ihr auszuprobieren. Patricia strich zärtlich über das Foto. Zuletzt hatte sich ihre Mutter willenlos den Wünschen ihres Mannes gefügt. Patricia war entschlossen, einem ähnlichen Schicksal zu entkommen. Als ihre Mutter vor einem Jahr in Italien mit ihrem Sportwagen von einer Küstenstraße ins Meer stürzte, glaubte Patricia nicht an einen Unfall. 

 

Seit ihre Mutter gestorben war, begleitete Patricia ihren Vater auf seinen Reisen rund um den Globus. Im Zusammensein mit ihrem Vater hatte Patricia jedoch in der letzten Zeit ein ungutes Gefühl beschlichen, da er begonnen hatte, sie mit bewundernden Blicken zu betrachten und sie wie seine Ehefrau zu behandeln und nicht wie seine Tochter. Mit Schaudern dachte Patricia an das Geschehen der letzten Nacht, das sie dazu gebracht hatte, die Luxussuite, die sie mit ihrem Vater teilte, fluchtartig zu verlassen. Sie waren im Hotelrestaurant von einem Bekannten ihres Vaters für ein Paar gehalten worden, und er zwinkerte ihr daraufhin vertraulich zu, ohne das Missverständnis aufzuklären. Was als Spaß und Tribut an die Eitelkeit ihres Vaters noch durchgehen mochte, ließ sich auf keinen Fall mehr ertragen, als sie ihn mitten in der Nacht vor ihrem Bett stehen sah. Die beiden Schlafzimmer der Suite lagen nebeneinander und waren nur durch eine Verbindungstür getrennt. Noch immer fragte sich Patricia, woher sie die Ruhe und Courage genommen hatte, um ihren Vater mit fester Stimme wieder zurück in sein Zimmer zu schicken. Zu ihrem ungläubigen Erstaunen war er widerstandslos abgezogen, mit hängenden Schultern wie ein geprügelter Hund.