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1. Auflage 2018

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH 

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

 

Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Penguin Books unter dem Titel The Pioppi Diet.

Copyright © Dr Aseem Malhotra and Donal O’Neill, 2017. Published by arrangement with Furniss Lawton

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Übersetzung: Ronit Jariv, Christian Gonsa

Redaktion: Silke Panten, Anna Christiane Gülicher-Loll (S. 136–157)

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Ohn Mar

Abbildungen im Innenteil: © Clare Winfield

Foodstyling: Kat Mead

Requisitengestaltung: Louie Waller

Satz und E-Book: Daniel Förster

 

ISBN Print 978-3-7423-0495-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0015-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0016-1

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

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Inhalt

Vorwort von Professor David Haslam, Vorsitzender des National Obesity Forum

Einleitung

Teil 1: Die Geschichte und die Wissenschaft

1. Pioppi: Das Dorf, in dem die Menschen vergessen zu sterben

2. Die Pioppi-Diät: Gesundheitsvorsorge durch und durch

3. Was sind industriell verarbeitete Lebensmittel?

4. Was ist so schlimm an Zucker?

5. Gesättigte Fette verstopfen nicht die Arterien

6. Cholesterin: Freund oder Feind?

7. Die Hauptursache von Herzerkrankungen: Insulinresistenz und Entzündungen

8. Typ-2-Diabetes ist eine Kohlenhydratintoleranz

9. Hören Sie auf, Kalorien zu zählen und zwischendurch Snacks zu essen

10. Der Mythos vom Abnehmen durch Sport: Vor einer schlechten Ernährung kann man nicht davonlaufen

11. Bewegung ist Medizin

12. Stress

13. Intermittierendes Fasten

Teil 2: Der 21-Tage-Plan

14. Der Leitfaden

15. Das Trainingsprogramm

16. Aseems und Donals Top-Ten-Lebensmittel

17. Eine Woche im Leben der Pioppi-Diät

18. Empfehlungen für die Einkaufsliste

Teil 3: Rezepte

19. Rezepte

Quellen

Danksagung

 

 

 

 

Aseem: Für meine Mutter und meinen Vater, Anisha und Kailash. Eure Liebe, Güte, Ehrlichkeit und Integrität inspirieren mich ständig, ein besserer Mensch und ein besserer Arzt zu werden.

Donal: Für meinen Patenonkel Brian. Es ist nicht »Ulysses«. Aber die gute Nachricht über Rotwein hätte dir gefallen!

Vorwort von Professor David Haslam,
Vorsitzender des National Obesity Forum

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Es ist sehr beeindruckend, wenn man ein renommierter Herzchirurg ist. Es ist umso bewundernswerter, wenn man sein Wissen durch die Medien in Wort, Bild und Ton an viele Menschen vermitteln kann. Doch furchtlos und im vollen Bewusstsein des zu erwartenden öffentlichen Aufschreis kontroverse wissenschaftliche Meinungen zu vertreten, die weder von einem breiten Publikum noch von der Mehrheit der Ärzte akzeptiert werden, ist einzigartig und beispiellos. Dieses Buch ist furchtlos. Es packt unsere fast schon religiösen Ernährungsdogmen und schüttelt sie gründlich durch. Es enthüllt, wie unser derzeitiges rückständiges Denken und aktuelle gefährliche Lehrmeinungen sich aus fehlerhaften Forschungen der 1950er-Jahre entwickelten. Es zeigt, warum Mediziner die Hand heben, die Schuld für die derzeitige Adipositas-Epidemie auf sich nehmen und den Fehler wiedergutmachen sollten, indem sie sich entschuldigen und dann der Welt die korrekte Botschaft verkünden. An der Botschaft oder den wissenschaftlichen Erklärungen dieses Buches ist nichts abstrus oder abwegig. Es basiert auf zuverlässigen und einwandfreien Quellen und man kann seinen Aussagen bedenkenlos vertrauen.

Die Menschen machen sich Gedanken darüber, warum Übergewicht, Adipositas und Typ-2-Diabetes immer häufiger auftreten – und wie diese Krankheiten verhindert werden können. Schon Einstein ärgerte sich über den Irrsinn, dass immer wieder auf dieselben ineffektiven Lösungen zurückgegriffen wird in der Hoffnung, dass sie beim nächsten Mal funktionieren. Dies ist im Wesentlichen auch die Richtung, die Wissenschaft und Regierungen bei der Bekämpfung von Adipositas eingeschlagen haben. Doch wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich längst als falsch herausgestellt haben, müssen hinterfragt und nicht immer weiter propagiert werden. Die jüngst von der britischen Regierung lancierte Ernährungsempfehlung ist dafür ein gutes Beispiel. Dieser sogenannte Eatweel Guide propagiert kohlenhydratreiche Ernährung, indem er die täglich empfohlene Kohlenhydratmenge anhebt – und das, obwohl Kohlenhydrate einen großen Anteil an der Adipositas-Epidemie haben. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns kollektiv am Kopf kratzen und fragen sollten, was um Himmels willen da eigentlich los ist und wie wir unseren Lebensstil ändern können, um Adipositas zurückzudrängen und unzählige Leben zu retten. Uraltes Ernährungswissen wurde plötzlich durch Studien angezweifelt, die vor 70 Jahren durchgeführt worden sind. Doch jede wissenschaftliche Studie muss infrage gestellt werden. ­Darum geht es auch bei der Begutachtung akademischer Arbeiten. Dieses Buch postuliert ganz klar, dass wir angesichts der andauernden Adipositas-Epidemie bestehende Ernährungskonzepte – egal wie etabliert sie auch sind – hinterfragen und neu bewerten sollten. Die ersten Worte, die ein Medizinstudent an der Uni hört, sind: »Die Hälfte von dem, was Sie hier lernen, wird sich in der Zukunft als falsch herausstellen; das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, welche Hälfte.« Gerade wird bewiesen, dass das öffentliche Gesundheitswesen, die Regierung und gängige Ernährungsdogmen sich irren, und es hängt von furchtlosen und kenntnisreichen Ärzten wie Aseem Malhotra ab, dies publik zu machen und die Ansichten hartgesottener Traditionalisten zu überwinden.

Sie kennen die Mittelmeerdiät? Vielleicht nicht ganz so gut, wie Sie glauben. Dieses brillante Buch legt dar, dass der alte griechische Begriff »Diät« (diaita) sich nicht nur auf die Ernährung, sondern auch auf Kultur und Lebensstil bezieht. Aseem Malhotra und Donal O’Neill verfolgen die moderne Mittelmeerdiät wohlwollend und ein bisschen nostalgisch zu ihren Urhebern Margaret und Ancel Keys zurück, obwohl die aktuelle wissenschaftliche Analyse zeigt, dass ein Großteil von Ancels Erkenntnissen falsch war. Doch es ist faszinierend, wie Kultur und Lebensstil Süditaliens zusammen mit der Romantik des Essens und der entspannten Art der Bewohner dieser wunderschönen Küstenregion zu einer Geschichte verwoben werden. Die Mittelmeerdiät aus Fisch, Fleisch, Gemüse, Oliven und anderen Produkten der Region war noch nie so verlockend. Früher musste man dafür in südliche Gefilde ziehen, doch inzwischen können wir die mediterrane Küche zu uns nach Hause bringen und in unseren Alltag einbauen. Aktuelle Ratgeber und Richtlinien könnten so viel tun, um die Volksgesundheit zu verbessern, wäre da nicht die Paranoia der Gesundheitspolitiker und die Weigerung konservativer Ärzte, sich dem Wandel zu stellen.

Eines der letzten großen und vernünftigen medizinischen Fachbücher wurde 1951 von Raymond Greene (dem Bruder des Schriftstellers Graham Greene) verfasst. Danach wurden universell nur noch Lügen und Fehlinformationen verbreitet. Greene schrieb in Bezug auf Adipositas:

 

Nahrungsmittel, die vermieden werden sollten:

 

  1. 1. Brot und alles, was mit Mehl hergestellt ist
  2. 2. Zerealien und Puddings
  3. 3. Kartoffeln und alle anderen weißen Wurzelgemüsesorten
  4. 4. Lebensmittel, die Zucker enthalten
  5. 5. sämtliche Süßigkeiten

 

Nahrungsmittel, von denen man so viel essen darf, wie man will:

 

  1. 1. Fleisch, Fisch, Geflügel
  2. 2. alle grünen Gemüsesorten
  3. 3. Eier, frisch oder als Eipulver
  4. 4. Käse
  5. 5. Obst, wenn ungezuckert oder mit Saccharin gesüßt, mit Ausnahme von Trauben und Bananen

 

Das ist der perfekte Fahrplan für eine gesunde Ernährung und gegen Übergewicht. Doch die Verwerfung und völlige Umkehrung dieser hervorragenden Richtlinien durch Gesundheitsministerien hat die Adipositas-Epidemie in den letzten Jahrzehnten gefördert.

Wissenschaft und klinische Therapie können nur vorankommen, wenn Ärzte wie Aseem Malhotra die Theorien hinter den aktuellen Richtlinien unter die Lupe nehmen, sie hinterfragen und bei Bedarf korrigieren. Dieses Buch ist ein Beispiel dafür, dass ein renommierter Arzt sich selbst kritisch betrachtet, die Fehler seines Berufsstandes erkennt und dann den Mut hat, in den Medien offen darüber zu sprechen, was die meisten Ärzte und Pflegekräfte entweder missverstehen oder ihren Patienten nicht vermitteln können.

Vielleicht gehört auch Aseem Malhotra – wie Hippokrates, Galen, Celsus, Sushruta, Maimonides, George Cheyne und Raymond Greene – in die Reihe der für den Umgang mit Fettleibigkeit wesentlichen Autoren. Wenn dem so ist, stehe ich ihm zur Seite und unterstütze ihn in jeder mir möglichen Weise.

Aseem Malhotra ist erfahren genug, um die Beweislage rund um den Themenkomplex Ernährung und Krankheit gründlich zu bewerten. Zudem ist er selbstbewusst genug, um den Angriffen seiner Widersacher standzuhalten. In Anbetracht seines enormen Wissens, seiner umfangreichen Recherchen und seiner immensen Kommunikationsfähigkeit können wir uns vielleicht im Hinblick auf Adipositas und die Sterblichkeitsrate bei vermeidbaren Krankheiten nun endlich auf eine bessere Zukunft freuen. Aseem und Donal, ich gratuliere euch zu einem furchtlosen und großartigen Buch, das die Volksgesundheit drastisch verbessern kann.

Einleitung

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»Gesundheit ist der wahre Reichtum, nicht Gold und Silber.«

– Mohandas K. (Mahatma) Gandhi

Im Laufe von über 15 Jahren als Arzt und Kardiologe, in denen ich Tausende von Patienten behandelte und Hunderte von Herzoperationen durchführte, habe ich erkannt, dass ein Großteil der modernen Medizin im übertragenen Sinne versucht, eine durchgetrennte Arterie mit einem Pflaster zu verarzten. Seit Jahrzehnten ist unsere Gesundheitskultur und -politik fälschlicherweise darauf ausgerichtet, Krankheitssymptome zu behandeln, anstatt die Ursachen zu bekämpfen.

Die Folge: Das Gesundheitswesen steckt in einer Krise, unter der wir alle leiden. Fast die Hälfte der deutschen Erwachsenen und beinahe jedes zehnte Kind im Grundschulalter ist übergewichtig. Ähnliches gilt auch für andere Industriestaaten. Und der Trend zeigt weiter abwärts. Die Lage ist so ernst, dass Professor Dame Sally Davies, Chief ­Medical ­Officer von England, verkündet hat, dies sei vielleicht die erste Generation von Kindern, die von ihren Eltern überlebt werden wird.

Der rasante Anstieg von Adipositas und den damit verbundenen Krankheiten zieht sich in der westlichen Welt quer durch alle sozioökonomischen Klassen und Altersgruppen. Er macht sogar vor dem Militär nicht Halt. 2012 erklärte der Generalarzt der Vereinigten Staaten, dass Übergewicht inzwischen auch die nationale Sicherheit der USA bedrohe.

Fettleibigkeit ist jedoch nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs aus chronischen Krankheiten, die durch einen ungesunden Lebensstil hervorgerufen werden, darunter vor allem Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes, Krebs und Demenz. In den USA werden 75 Prozent der über drei Billiarden Dollar an Gesundheitskosten allein für die Behandlung dieser Krankheiten ausgegeben und auch beim britischen National Health Service machen sie den größten Posten aus. Und nicht nur unser Gesundheitswesen ächzt unter dem Krankheitsansturm. Eine ungesunde, unglückliche Gesellschaft ist auch ökonomisch unproduktiv.

Wie konnte es so weit kommen? Sind wir selbst Schuld daran, weil wir anderen die Verantwortung überlassen? Könnten Fresssucht und Faulheit ausgemerzt oder zumindest deutlich eingeschränkt werden, wenn wir weniger essen und uns mehr bewegen würden? Nein – nicht in diesem Fall. Das ist sogar einer von mehreren fatalen Irrglauben, die uns nicht nur noch kränker machen, sondern auch die Einführung wirklich wirksamer Lösungen für Einzelschicksale und die Gesamtbevölkerung verhindert haben.

Machen Sie sich darauf gefasst, dass in diesem Buch alles, was Sie bisher zu diesem Thema glaubten und zu wissen glaubten, auf den Kopf gestellt wird. Fehlgeleitete Gesundheitskampagnen führen Ärzte, Politiker und die Bevölkerung nach wie vor in die Irre, aber die Zeit für einen Wandel ist nun endlich gekommen.

In den folgenden Kapiteln entlarven wir mehrere Mythen und erklären, warum die Angst vor gesättigtem Fett und Cholesterin unbegründet ist, warum man aufhören sollte, Kalorien zu zählen, warum eine alternde Bevölkerung kein Gesundheitsproblem darstellt, warum es so etwas wie ein »gesundes Gewicht« gar nicht gibt und warum Zucker der Feind Nummer eins in der westlichen Ernährung ist. Wenn Sie einige der grundlegenden biologischen Abläufe verstanden haben, sind Sie bestens ausgerüstet, um eine lebensverändernde Reise anzutreten, die nur 21 Tage ­dauert.

Die Pioppi-Diät ist eine Kombination aus mehreren gesundheitsförderlichen Elementen im Alltag, die für ein körperliches Wohlbefinden sorgen. Ernährung ist dabei der Hauptfaktor, doch die Wirkung, die eine bessere Ernährung auf unsere Gesundheit hat, wird durch bessere und bewusstere Entscheidungen in anderen Bereichen unseres Alltags verstärkt. Die Kombination dieser Faktoren macht die Pioppi-Diät als 21-Tage-Programm zu einer wirkungsvollen gesundheitlichen Maßnahme. Einfach ausgedrückt, ist die Pioppi-Diät darauf ausgerichtet, Ihnen dabei zu helfen, auf Ihren Körper zu hören und seine Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen: Essen, Schlaf, Bewegung, Atmung und Fitnessübungen, die wir lieber als »achtsame Bewegung« bezeichnen. Das Ergebnis ist eine subtile, aber überzeugende Demonstration davon, dass unser Körper uns zu einem schlankeren, gesünderen, glücklicheren und aktiveren Selbst führen kann.

Und falls Sie uns nicht glauben: Wir hatten das Privileg, auf die Fachkenntnisse und Unterstützung vieler renommierter internationaler Wissenschaftler zurückzugreifen, darunter auch Kardiologen und Adipositas-Experten. Dieses Wissen in Kombination mit unserer eigenen Erfahrung sowie weiteren persönlichen Zeugnissen sollte Sie davon überzeugen, dass die Lösungen, die die Pioppi-Diät bietet, von den besten und aktuellsten wissenschaftlichen Studien bestätigt werden. Dieses Buch basiert auf dem Dokumentarfilm The Big Fat Fix aus dem Jahr 2016, der von mir und dem ehemaligen Spitzenathleten und Filmemacher Donal O’Neill coproduziert wurde. Der ehemalige Gesundheitsminister und derzeitige Bürgermeister von Manchester Andy Burnham hat das Potenzial des Films erkannt: Wir wollen »Millionen helfen und Tausende von Leben retten« und ich möchte Sie bitten und dazu ermutigen, die Gesundheitsgeheimnisse der Pioppi-Diät mit Ihrer Familie und Ihren Freunden, Bekannten und Kollegen überall auf der Welt zu teilen. Es ist nie zu früh – oder zu spät –, seinen Lebensstil zum Positiven zu ändern.

Um einen jungen Redakteur der Zeitschrift Men’s Health zu zitieren, der seine Gesundheit und sein Leben anhand von Pioppi umkrempelte: »Das Ding funktioniert wirklich.«

Teil 1
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Die Geschichte und die Wissenschaft

1.

Pioppi: Das Dorf, in dem die Menschen vergessen zu sterben

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»In Italien, in der Region Kampanien, in der Provinz Salerno, in Celento, in Pollica, haben wir einen Schatz.«

– Stefano Pisani, Bürgermeister von Pollica, im Juni 2015 in einem Interview in The Big Fat Fix

Nie wurde Wahreres ausgesprochen.

In Kampanien, zwei Autostunden südlich von Neapel, gibt es ein winziges Dorf namens Pioppi (197 Einwohner). Jeden Tag verlassen ein paar Fischer­ in ihren Booten den malerischen Hafen, um den Fang des Tages einzuholen. Ihre Beute ist eher kommunal als kommerziell: Die Boote bringen genug Fisch mit, um die Gemeinde und die wenigen Restaurants zu versorgen. Jeden Nachmittag ziehen sich die Einwohner des Dorfes (in dem es keinen Supermarkt gibt) zur traditionellen Siesta zurück. Im Ort geht die Geschichte um, dass die Figur des Fischers Santiago in Ernest Hemingways Roman Der alte Mann und das Meer (1952) von einem Besuch des Autors in der Gegend inspiriert war. Wer, wie wir, einmal selbst hier war, wird dies ohne Weiteres glauben.

Nachdem mein Vater 2010 einen Herzinfarkt erlitten hatte, befasste ich mich fünf Jahre lang intensiv mit Herzerkrankungen und unserer modernen Ernährung. Nicht lange vor seinem Herzinfarkt war mein Vater zu den Ergebnissen eines kardialen Belastungstests beglückwünscht worden. »Sind Sie Sportler, Mr. O’Neill?«, wurde er gefragt. »Nicht mehr«, antwortete er, »aber ich war es einmal, vor langer Zeit.«

Wie viele Haushalte hatten wir Butter damals in den 1980er-Jahren durch »gesunde« Margarine ersetzt. In einem TV-Werbespot wurde Fett in einen Ausguss geschüttet, um zu demonstrieren, wie gesättigtes Fett Arterien verstopft. Dies war nicht nur ein äußerst eindringliches Bild, es enthielt auch eine überzeugende – wenn auch letztendlich irreführende – Botschaft. Meine Mutter fing an, mit »gesundem« Sonnenblumenöl zu kochen, und Vollmilch wurde in unserem Haus durch halbfette Milch ersetzt. Wir alle fürchteten Fett. Diese Einstellung behielt ich bis zum Jahr 2010 bei, als ich meine Recherche für Cereal Killers begann. Nachdem wir den Film 2013 fertiggestellt hatten, unterstützte Aseem uns und unsere Botschaft. Er organisierte Vorführungen in London und lud wichtige Leute aus Medizin und Medien dazu ein. Meinen Auftritt in BBC Breakfast mit Dr. Peter Brukner, dem ehemaligen Leiter der sportmedizinischen Abteilung des Liverpool Football Club und heutigen Mannschaftsarzt des australischen Cricket-Nationalteams, hatte ich ihm zu verdanken.

»Keine Angst vor Fett« war der Slogan zu Cereal Killers. Damals war das eine ungeheuerliche und rebellische Botschaft (ein TV-Sender wollte ein Remake in Auftrag geben, »nur mit viel weniger Fett«), doch inzwischen hat sich die öffentliche Wahrnehmung verändert. Als wir in unserem nächsten Film Run on Fat die Kamera auf sportliche Leistungen und den erstaunlichen Sami Inkinen richteten, gab es keinen Plan für einen dritten Film. Aber dann las ich in Nina Teicholz’ hervorragendem Buch The Big Fat Surprise über Pioppi und fragte mich, ob in diesem winzigen unbekannten italienischen Dorf eine Geschichte steckte, die erzählt werden wollte. Als meine Internetrecherche fruchtlos blieb, wurde ich sehr aufgeregt.

Im Juni 2015 kamen wir unangekündigt in Pioppi an, um The Big Fat Fix zu drehen. Die Vorgabe lautete: die Essenz dieses verschlafenen kleinen Dorfes einzufangen, in dem die Menschen vergessen zu sterben. Ein ziemlich gradliniges Vorhaben, das sich in gewisser Weise aber als fast nicht umsetzbar erwies.

Wo es Essen gab, würden wir filmen. Wenn wir Mahlzeiten genossen, würden wir dies vor laufender Kamera tun. Aber in unserer Mission, das wahre Geheimnis mediterraner Langlebigkeit aufzudecken, wollten wir weit über die bloße Ernährung hinausgehen. Als wir unsere Sinne öffneten und zuließen, dass der Zauber dieser Umgebung in unsere Knochen eindrang, wurde Schicht um Schicht ein Lebensstil freigelegt – der vom Bürgermeister erwähnte »Schatz« –, der unter jahrzehntelanger Fehlinformation begraben worden war.

Als ich mich mit Aseem (damals mein Co-Produzent und zukünftiger Co-Autor sowie weltweit führender Aktivist gegen Übergewicht) an jenem ersten Tag zu einer Mahlzeit aus Fisch und Meeresfrüchten hinsetzte, fingen wir an zu glauben, dass es sich hier um viel mehr als eine bloße Story handelte.

Wir hatten uns für das Restaurant »La Caupona« mitten im Dorf entschieden und die Gastfreundlichkeit, die uns dort entgegengebracht wurde, stellte die Weichen für einen denkwürdigen Aufenthalt in diesem magischen Ort. Wir sprachen kein Italienisch und der ältere Herr, der uns begrüßte und bediente, sprach kein Englisch. Er kommunizierte zwar nur mit seinem breiten Lächeln, aber zu guter Letzt stand ein beeindruckendes Festmahl aus Fisch und Meeresfrüchten, gegrilltem Gemüse und jeder Menge Olivenöl vor uns auf dem Tisch.

Während Aseem vor laufender Kamera ausführte, welche gesundheitlichen Vorzüge Olivenöl hat, lief Kameramann Marek das Wasser im Munde zusammen. Grundsätzlich ist es immer ein gutes Zeichen, wenn die Person hinter der Kamera wirklich interessiert ist an dem, was vor der Kamera passiert. Der Anfang war also vielversprechend. Wie alle guten Regisseure erstellt unsere Regisseurin Yolanda normalerweise genaue Drehabläufe, aber wenn niemand Englisch spricht und du gar nicht so genau weißt, wonach du überhaupt suchst, musst du manchmal einfach deinem Bauchgefühl folgen. Das ist zwar keine typische Vorgehensweise für einen Dokumentarfilm, macht so manchen Streifen aber tatsächlich besser.

Als Professor Tim Noakes The Big Fat Fix »herausragend« nannte und als den »besten Gesundheitsfilm aller Zeiten« bezeichnete und als Aseem eine Uraufführung vor Mitgliedern des britischen Parlaments in Westminster organisierte, hatten wir das Gefühl, etwas Befriedigendes erreicht zu haben. Aber an unserem ersten Drehtag hatten wir noch keine Ahnung, was uns erwartete.

Es gab sehr viel, was wir nicht wussten.

Nach dem Mittagessen fuhren wir herum, um die Gegend zu erkunden, während die Einheimischen sich zurückzogen, um ihre Siesta zu halten. Im Laufe unseres Aufenthalts in Pioppi lernten wir die potenzielle gesundheitliche Bedeutung dieses in der dortigen Kultur verankerten täglichen Rituals zu schätzen, ebenso wie viele weitere Elemente des Lebensstils. Doch es ist unmöglich, einen einzigen Faktor als Ursache der erstaunlichen Gesundheit und Langlebigkeit der Menschen in dieser Region zu isolieren.

Wenn Sie wissenschaftliche Studien zur Langlebigkeit lesen, die im Zuge unserer Beobachtungen verfasst wurden, empfehlen wir, dass Sie Berichten über magische lebensverlängernde Kräuter nicht allzu viel Glauben schenken. In unserem Film und diesem Buch stellen wir Pioppi als ganz besonderen Ort vor, wo bestimmte Erkenntnisse aus Medizin, Ernährungs- und Umweltwissenschaften mit der physischen Weisheit der Langlebigen koexistieren und kollidieren. Die Realität ist einfach. Die Wissenschaft weiß weit weniger, als wir glauben, und die Bewohner von Pioppi wissen weit mehr, als wir ihnen – bisher zumindest – zugestehen wollten.

In Pioppi dehnt sich die Zeit und wiegt dich in dem Gefühl, dass die Welt jenseits der engen Grenzen des Dorfes keine Bedeutung hat. Unsere stille, ruhige erste Nacht dort bildete einen krassen Gegensatz zu unserer gewohnten nächtlichen Umgebung. Keine Geräusche. Keine Lichter. Keine Störungen irgendeiner Art. Nur völlige himmlische Ruhe.

Am nächsten Tag wachten wir mit der kollektiven Erkenntnis auf, dass wir auf unserem Spontanbesuch dabei waren, in etwas sehr Besonderes einzutauchen. Stellte sich nur die Frage, wie wir dieses Erlebnis in etwas Handfestes für unsere Zuschauer übertragen konnten. An diesem frischen, klaren Morgen in Süditalien gab es nur ein Mittel, um diesen Prozess einzuleiten.

Kaffee.

Die Bar in der Dorfmitte befand sich direkt gegenüber vom Restaurant, in dem wir am Vortag so vorzüglich gespeist hatten. Per Zeichensprache bestellten wir erfolgreich Espresso und Cappuccino (es blieb nicht bei einer Tasse) und filmten eifrig mit. Kaffee wird in der Ernährungswissenschaft zunehmend als förderlich für die Gesundheit wahrgenommen, wir brauchten also ein paar Aufnahmen, um dies im Film zu veranschaulichen. Der Kaffee war hervorragend und ließ eine wichtige Erkenntnis in uns heranreifen.

Wissenschaftler reden nicht gern von »Stress«, weil dies kein messbarer Zustand ist (vielleicht am ehesten durch Herzfrequenzvariabilität (HFV), auf die wir später noch genauer eingehen). Obwohl es ein schwammiger Begriff ist, wissen wir alle genau, was mit Stress gemeint ist. Wir erkennen intuitiv, wann wir selbst, ein Familienmitglied, ein enger Freund oder der Partner gestresst sind, und über einen längeren Zeitraum hinweg können die Begleiterscheinungen dieses Zustands einen ernsthaft schädlichen Effekt auf unsere Gesundheit haben.

Unser Darm kann sehr heftig auf eine Zunahme von Stresshormonen reagieren: Er wird poröser und lädt damit Erkrankungen geradezu ein. Manche Experten sind sogar überzeugt, dass chronischer Stress langfristig mehr Schaden anrichtet als eine schlechte Ernährung. Aber alle sind sich einig, dass es definitiv besser ist, den Stresspegel möglichst gering zu halten – ziemlich beeindruckend, wenn man bedenkt, dass es hier um etwas geht, das wir noch nicht einmal genau »messen« können.

Während Aseem und ich 24 Stunden nach unserer Ankunft in Pioppi in der Morgensonne mit Blick aufs Meer unseren Espresso schlürften, waren wir uns einig, dass hier etwas nicht direkt Greifbares, aber trotzdem sehr Wirkungsvolles in der Luft lag. Die völlige Abwesenheit von Stress, wie wir ihn in einer modernen urbanen Umgebung erleben, war so klar wie unser Blick auf das unverschmutzte Meer, das mit sanften Wellen auf dem unberührten Kieselstrand unter uns aufschlug. Pioppi mag zwar in einer historisch bedingt armen Region Italiens liegen, hat aber einen reichhaltigen gesundheitlichen Schatz zu bieten.

Kein Fitnessstudio. Kein Supermarkt. Keine Probleme.

In den 1970er-Jahren, Jahrzehnte vor dem Internet, war es eigentlich nicht vorstellbar, dass dieses winzige Dorf einen größeren Einfluss auf die globale Ernährungs- und Gesundheitspolitik haben könne als jeder andere Ort auf dem Planeten. Doch genau das war es, was Aseem und mich hergebracht hatte. Wir wandelten auf den Spuren des amerikanischen Wissenschaftlers Ancel Keys.

Professor Keys war der Erfinder der K-Ration, einer lang haltbaren Essensration für unterwegs mit genug Kalorien, um Soldaten zwei Wochen lang zu ernähren. Als er die Gegend nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte, war er so beeindruckt von Pioppi, dass er Jahre später wiederkehrte, um die Recherche zu betreiben, die letztendlich zu unserer heutigen, verzerrten Interpretation des traditionellen mediterranen Lebensstils führte. Keys und seine Frau Margaret, die Architekten der modernen »Mittelmeerdiät«, lebten und arbeiteten vier Jahrzehnte lang in Pioppi, bevor Keys im Jahr 2004 starb. Auch heute noch wird in dem Ort mit Verehrung und Zuneigung von ihm gesprochen.

Straßenschilder an beiden Ortszugängen verweisen auf Keys und den von der UNESCO anerkannten Status des Dorfes als Ursprung der Mittelmeerdiät und bestätigten uns bei unserem Besuch, dass wir uns auf der richtigen Spur befanden. Das Museum der Mittelmeerdiät, untergebracht in einem historischen Gebäude in der Dorfmitte, überzeugte uns schließlich völlig, dass wir die Quelle dieser überaus erfolgreichen Ernährungsweise gefunden hatten.

Pioppi boomt im August, wenn italienische Urlauber einfallen, versinkt aber für den Rest des Jahres im Dornröschenschlaf. Es war Juni und wir gingen davon aus, dass bei einer Einwohnerzahl von 197 ein Kamerateam im Dorf auffallen würde. Das Einzige, was wir nun brauchten, war eine Form der Kommunikation, die hörbarer war als das freundliche Lächeln, das uns überall entgegengebracht wurde. Yolanda sagt immer, dass eine Kamera in der Öffentlichkeit einen Hauch Magie mit sich bringt. Man weiß nie, wer oder was sich zeigt.

Angelo Morinelli genoss gerade seinen morgendlichen Espresso, als hinter ihm ein Zwei-Meter-Kameramann auftauchte, um den Barista und die Crema in Nahaufnahme einzufangen. Angelo wusste nicht, dass der Mann, der draußen seinen Espresso schlürfte, Aseem Malhotra war, ein britischer Kardiologe, der eine weltweite Kampagne für Lebensstilmedizin führte. Er hatte auch nicht Cereal Killers gesehen. Aber er spürte, dass hier gerade etwas Bedeutsames passierte. Und dass er wahrscheinlich dabei helfen ­konnte.

Zwar hatten wir keine gemeinsame Sprache, doch glücklicherweise sprach Marek ein paar Brocken Deutsch, das Angelo beherrschte, und fand so heraus, dass dieser Mann Ancel Keys’ Fahrer gewesen war. Angelos Vater hatte das Land gehört, auf dem Keys erst seine Villa bauen ließ und später den Gebäudekomplex Minnelea, in dem er Wissenschaftler beherbergte, die zu Besuch kamen.

Aufgeregt tätigte Angelo einen Anruf und reichte mir den Hörer. Sein Sohn Antonio war kürzlich nach Hause zurückgekehrt, nachdem er zehn Jahre als Koch in den USA gearbeitet hatte. Sein Traum war es gewesen, in seinem Heimatdorf ein Spitzenrestaurant zu eröffnen – eine Hommage an lokale Erzeugnisse in der von der UNESCO geschützten Heimat der Mittelmeerdiät.

Antonio wurde unser Fremdenführer, Gastgeber und Freund. An diesem Abend aßen wir zum ersten Mal in seinem Restaurant »Suscettibile«. Sein Traum war wunderbare Wirklichkeit geworden, wie jeder bestätigen kann, der jemals dort gespeist hat. Auf den Tellern macht sich die Liebe zur Region, zu seinen Erzeugnissen und seiner Küche bemerkbar. Der Büffelmozzarella aus der Gegend ist göttlich, die Meeresfrüchte unvergleichlich und der Wein – ah, der Wein! In Antonios Restaurant machten wir Bekanntschaft mit einem großartigen Rotwein. Danach arrangierte Antonio für uns einen Besuch des wunderbaren Weinguts San Giovanni, wo dieser mediterrane Schatz erzeugt wird. Wir bestaunten Weinberge, die sich gefährlich steil zum Meer hinabsenken, im Hintergrund majestätisch bewacht vom Vesuv. Die Kamera tat sich schwer, die fast surreale Schönheit des Ortes einzufangen, doch dem Wein gelang dies mühelos. Ida Budetta erklärte uns, wie sie und ihr Mann das kleine Stück Land ursprünglich mit bloßen Händen beackert hatten. Das Etikett »bio« bedeutet hier nichts. Hier gibt es nur das Land. Und das Meer. Und die Liebe der Menschen zu dem, was sie tun. Ihre Beziehung zum Land und seinen Früchten ist von Respekt geprägt und wirft ein Licht auf ein weiteres, bislang vergessenes Element des traditionellen Lebensstils der Region: die Arbeit.

Antonio organisierte auch ein Interview mit dem Bürgermeister Stefano Pisani, der uns kurz und verständlich erklärte, was bei der modernen Ausrichtung der Mittelmeer-»Diät« schiefgelaufen war. Es handelte sich schlicht um einen Übersetzungsfehler des ursprünglich griechischen Wortes diaita. Diaita bedeutet »Lebensstil« und darin, so Pisani, »sind viele Dinge enthalten – die Landschaft, das Meer, die Lebensqualität, die Kultur, die Arbeit und vieles mehr«.

In dieser Region leben die Männer, die ihr ganzes Leben lang jeden Tag acht Stunden täglich auf dem Feld arbeiten, länger als die Frauen. Diese Männer witzelten mit uns über die Intensität des Holzhackens, das zu ihren täglichen Pflichten gehört. »Versucht es mal für eine Stunde«, sagten sie lachend. Die »Arbeit«, auf die der Bürgermeister verwies, bestand aus jahrzehntelanger langsamer, konstanter Bewegung (Gehen) gepaart mit kürzeren, intensiveren Ganzkörperaktivitäten (zum Beipiel Holzhacken). Trug dieser Faktor zu ihrer Langlebigkeit bei?

Als wir die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Weisheit dieses Ortes und seiner Bewohner verglichen, wurde uns die Bedeutung von Bewegung und Beweglichkeit bewusst. Untersuchungen, die Beweglichkeit mit Sterblichkeitsraten über zehn Jahre verglichen, und zwar in Bezug auf alle Todesursachen, deuten auf die Wichtigkeit von körperlicher Kraft und Ausgeglichenheit hin. In dieser Hinsicht müssen die Männer aus Pioppi sich keine Sorgen machen.

Die Tatsache, dass die Wissenschaft nur misst, was sie messen kann – und zwar nur zu bestimmten akuten Zeitpunkten –, und dass die moderne Medizin im Wesentlichen Krankheitsmanagement ist, hat in unserem Verständnis von gesunder Lebensführung ein Vakuum erzeugt. Gesunde Menschen haben andere Berührungspunkte mit der modernen Medizin als kranke. Während gewaltige Summen dafür aufgewendet werden, Krankheiten zu verstehen, zu diagnostizieren und zu heilen, müssen die Gesunden selbst zusehen, wie sie weiterleben, ohne krank zu werden. Wenn sie dann aber 100 Jahre alt werden oder irgendetwas anderes Erstaunliches zuwege bringen, richten sich plötzlich alle Augen auf sie und man fragt sich, wie sie es so weit gebracht haben.

Die Wirkung vieler gesundheitsfördernder Lebensstil-Entscheidungen (ob bewusst oder unbewusst), wie die, die zum traditionellen Leben in Pioppi gehören, bleibt von der Öffentlichkeit unbemerkt, bis die Langlebigkeit der Bevölkerung statistisch auffällt. Erst dann überschlägt sich die Wissenschaft in dem Bemühen herauszufinden, wieso diese Menschen ständig die Langlebigkeitsolympiade gewinnen.

Und der Clou: Sie leben nicht nur lange, sondern auch gut.

Wenn das Altern als ein Prozess der allmählichen physischen Degeneration betrachtet wird, durchlaufen die traditionell lebenden Bewohner von Pioppi ihn offensichtlich langsamer als viele von uns. Es verwunderte uns zum Beispiel nicht weiter, den Kellner aus dem kleinen Café eines Morgens beim Reparieren des Dachs seines Lokals zu sehen. Als Antonio uns aber erzählte, dass der Mann 85 Jahre alt ist, waren wir schwer beeindruckt. Seine flüssigen und beschwerdefreien Bewegungen straften sein chronologisches Alter Lügen. Doch als wir erfuhren, dass der älteste Mann der Region das stolze Alter von 107 erreicht hatte, klappte uns so richtig die Kinnlade herunter. 85 Jahre mögen an den meisten Orten beachtlich sein, aber in diesem Dorf, in dem die Menschen vergessen zu sterben, galt unser Kellner als junger Spund.

Welches Geheimnis steckt also dahinter? Die Wahrheit ist, dass wir niemals zu 100 Prozent erklären werden können, warum diese Menschen so lange so gut leben. Aber es lassen sich definitiv einige Grundprinzipien herausarbeiten.

Auf einer hervorragenden Führung durch das Mittelmeerdiät-Museum in Pioppi mit der einheimischen Englischlehrerin Susan Bessie Haslam wurden wir darauf hingewiesen, dass Armut einen starken Einfluss auf den traditionellen Lebensstil dieser Region ausübte. Nahrung war knapp, was notgedrungen dazu führte, dass Mahlzeiten ausgelassen wurden. Antonio erklärte uns, dass die Männer in solchen Zeiten mit leerem Magen aufs Feld gingen. Heute gilt das Fasten bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes als neuer Stern am Himmel und Bodybuilder legen regelmäßig Fastenzeiten ein, um Muskelmasse aufzubauen. Es geschah nicht mit Absicht, aber intermittierendes Fasten gehörte in der Pioppi-Region zum natürlichen Alltag.

Ancel Keys’ ursprüngliche Recherche ging nicht auf das Fasten aus ökonomischen oder religiösen Gründen ein. Doch der Verzicht auf Mahlzeiten war ein sehr reales und nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelmeergebiet weit verbreitetes Phänomen. Genau wie die Arbeit trug auch der regelmäßig auftretende Nahrungsmangel zur gesundheitsfördernden Wirkung der traditionellen diaita bei. Doch dazu später mehr.

Überall entdeckten wir plötzlich Puzzleteile, die sich langsam zu einem Gesamtbild der Langlebigkeit zusammenfügten.

Rückblickend ist es leicht zu verstehen, wie ein breit gefasster, potenziell gesundheitsfördernder Lebensstil stark vereinfacht wurde und wie diese vereinfachte Interpretation Fahrt aufnahm und an Glaubwürdigkeit gewann, zuerst bei Keys’ Forschern und danach bei jenen Urhebern von Regelwerken in den USA, die die diaita durch die verzerrende Brille der Ernährungspolitik der 1970er sahen.

Die Pioppi-Diät ist eine Übertragung der grundlegenden Prinzipien der traditionellen mediterranen diaita auf einen modernen westlichen Lebensstil. Wir sind sicher, dass die Befolgung dieser Prinzipien auch Bewohner von Städten wie New York, London und Sydney kardiologisch, physisch und psychisch gesunder machen und ihnen ein längeres Leben bescheren kann.

In den folgenden Kapiteln gehen wir ausführlich auf die Ursachen heutiger Zivilisationskrankheiten wie Herzerkrankungen, Übergewicht und Typ-2-Diabetes ein. Wir werden erklären, warum Sport als Mittel zum Gewichtsverlust überbewertet und Bewegung unterbewertet wird. Wir untersuchen, was Telomere sind und warum eine wirksame Stressbewältigung so wichtig ist, um sie zu schützen. Wir prüfen, welche Nahrungsmittel sich radikal auf unsere Körperzusammensetzung, unseren Energiespiegel und unsere kardiovaskuläre Gesundheit auswirken. Vor allem jedoch präsentieren wir Ihnen klare, leicht nachvollziehbare von Pioppi inspirierte Richtlinien, mit denen Sie das Risiko einer Herzerkrankung in nur 21 Tagen dramatisch senken können.

Wenn Sie es nicht abwarten können, mit dem Programm loszulegen, springen Sie direkt zu Kapitel 14. Aber Achtung: Wenn Familienmitglieder, Freunde und Kollegen Sie fragen, warum Sie plötzlich so gut aussehen und so viel Zufriedenheit ausstrahlen, müssen Sie vielleicht wieder zurückblättern, um zu verstehen, was mit Ihnen passiert ist. Oder Sie sagen einfach: »Hat alles mit Pioppi zu tun.«

Wenn die Zukunft der Gesundheitsvorsorge in der Lebensstilmedizin liegt, dann waren die Bewohner von Pioppi ihrer Zeit weit voraus!