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Geheimnisse der Macht

Erbe der Sieben Wüsten V


Helen B. Kraft




©Helen B. Kraft 2017

Cover:

Sylvia Ludwig /www. Cover-fuer-dich.de

Bildquelle: Anna Demianenko /www. Shutterstock. com

Nejron Photo /www.shutterstock. com

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

Haselünne

2017

ISBN 978-3-95959-081-5

Weitere Bücher dieser Serie

Band 1: Aus Verrat geboren

AusVerratGeboren-Final

Mit harter Hand herrscht König Crothar über sein Reich. Hart genug, dass sein Sohn Cruth es vorzieht, in der Menschenwelt zu leben. Dort allerdings muss er die Bestie, seine zweite Natur, zügeln, denn die Menschen fürchten seinesgleichen. Zu Recht, wie Cruth sehr genau weiß. Dann trifft er auf Nerey. Die atemberaubend schöne junge Hexe, zu der er sich sofort hingezogen fühlt, könnte sich allerdings für ihn als Katastrophe herausstellen. Denn zum einen fürchtet Nerey die Bestien, zum anderen hütet sie ein Geheimnis, das nicht nur Cruths Welt zu erschüttern droht. Doch ausgerechnet diese Frau wünscht sich Cruths Bestie als Partnerin.


Band 2: Schwarzstein und Königin

Cover

Zeyndas Leben könnte so einfach sein, wäre da nicht das Gefühl, für den Tod der eigenen Mutter verantwortlich zu sein. Oder die Tatsache, dass sie sich ausgerechnet in den falschen Mann verliebt. Zudem droht ihrem Volk auch noch ein Krieg mit den Menschen, an dem besagter Mann nicht ganz unschuldig ist. Am liebsten würde Zeynda ihn in die Wüste schicken – bestünde nicht die Bestie, ihr zweites Ich, darauf, dass ausgerechnet Daeon den perfekten Duft besitzt und damit ihr wahrer Gefährte sein muss.


Band 3: Duft des Sturms

Bestien3-Rundum-Entwurf4

Ausgerechnet jetzt, während Bestienkönigin Natayla alle Hände voll zu tun hat, den Frieden in Sela zu bewahren, beschließt ihr zweites Ich, dass es Zeit ist, einen Partner zu finden. Der char-mante Regenten Lucasz und dessen gut aussehende rechte Hand Daemyan scheinen beide gute Kandidaten zu sein. Doch nur der Mann mit dem perfekten Duft kann ihre Bestie überzeugen und ihr Gefährte werden, und Nataylas menschliches Herz und ihre Bestie sind sich da absolut nicht einig. Während Natayla noch um eine Entscheidung ringt, kommt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit ans Licht.

Kann Natayla die vor ihr liegende Prüfung besatehen und den Mann, den sie liebt, halten, oder verliert sie am Ende nicht nur ihr Reich?

Band 4 : Gefährliche Lügen

Kraft-Bestien4

Prinzessin Naya hat ein gewaltiges Problem, ebenso wie Calliou, der Sohn des Kanzlers. Beide haben Mühe, dem Einfluss ihrer überdominanten Väter zu entkommen. Da hilft es auch nicht wirklich, dass Naya sich immer in die falschen Männer verliebt, oder dass Calliou im Geheimen als Assassine für die Königin arbeitet.

Sie proben den Aufstand, doch der Zeitpunkt könnte ungünstiger nicht sein. Ein Feind bedroht die Bestien, entschlossen, sie alle auszurotten. Wenn Kobolde und Bestien es nicht schaffen, als Freunde und Familie zusammenzuhalten, könnte es das Ende für das Reich der Sieben Wüsten bedeuten.



Kurzgeschichten Band 1: Zwischen Verrat und Hoffnung

cover-kg1

derzeit nur als Ebook

Enthält zwei Kurzgeschichten, die zwischen Band 1 und Band 2 spielen


Kurzgeschichten Band 1: Zwischen Verrat und Hoffnung

KG2

derzeit nur als Ebook

Enthält zwei Kurzgeschichten, die zwischen Band 4 und Band 6 spielen


Wahrscheinlich wird es noch einen dritten Band Kurzgeschichten geben. Alle zusammen werden dann auch als gedrucktes Buch erscheinen.


www.machandel-verlag.de

Epilog

Manchmal frage ich mich, was aus Cruth und den Bestien geworden wäre, wenn wir nicht aufgetaucht wären. Wir scheinen so klein und unscheinbar, aber ohne uns Kobolde hätten die Bestien auf dieser Welt wohl nicht lange überlebt.

Barrique zu Abstraite, Anlass unbekannt

Sechs Wochen später

Sämtliche Kerzen in den Lüstern des wieder erbauten Thronsaals brannten und spendeten romantisches Licht. Mehrere Stuhlreihen warteten darauf, den zu erwartenden Gästen genügend Platz zu bieten, dem Schauspiel, das heute hier abgehalten wurde, beizuwohnen. Ein silberblauer Teppich führte von der Saaltür bis zur Thronempore, auf der sich zwei bequeme Sessel befanden, auf denen Natayla und Daemyan saßen und Hof hielten. Seitlich hinter den Stühlen standen Rogan und Daerog als Ehrengarde, Naya und Hazel saßen rechts davon auf zwei separaten Sesseln.

Die dicken Wände sorgten dafür, dass die warme Wüstenluft draußen blieb, dennoch schwitzte Lorin in seinem festlichen Anzug. Was jedoch nicht daran lag, dass Calliou mit diesem Festakt offiziell zum Kanzler ernannt werden würde.

Heute wollte Lorin das Unmögliche erreichen und Rogan um die Hand seiner Tochter bitten. Er wusste, dass er in den Augen des Roten nicht würdig war, keine seiner Prüfungen bestanden und noch dazu sein kleines Mädchen in Gefahr gebracht hatte. Trotzdem musste Lorin es zumindest versuchen.

Dia, die neben ihm in der Saaltür stand und darauf wartete, dass man sie hereinbat, lächelte zu ihm auf. „Alles wird gut“, wisperte sie und wirkte dabei eindeutig zuversichtlicher als er.

„Sagst du. Weißt du, ob dein Vater vor der Zeremonie gegessen hat, oder sollte ich noch warten, bis ...?“

„Lorin“, tadelte sie sanft. „Er wird dich nicht fressen. Du bist weit mächtiger als er, abgesehen davon weiß er doch, dass du mit meiner Bestie jetzt praktisch zur Familie gehörst.“

Er schnaubte. Wohl etwas zu laut, denn der scharfe Blick aus den blauen Augen eben jenes Mannes, den er mehr fürchtete als alles andere, traf ihn mit voller Wucht. Rogan verzog die Lippen zu einem halben Lächeln, das gefährlicher wirkte als eine gezogene Waffe. Die Musterung, der er Lorin unterzog, hätte jedem Wesen aus Fleisch und Blut die Knie in Gummi verwandelte.

Erst als Daerog ihn leicht anstieß, gab Rogan sein Gebaren auf. Er sagte etwas, doch Lorin konnte sein Bestiengehör noch nicht voll nutzen und verstand daher nichts.

Ein junger Gardist, der Callious Aufgabe, die Gäste anzukündigen, übernommen hatte, rief ihre Namen. Doch erst, als Dia ungeduldig an seinem Arm zog, setzte sich Lorin in Bewegung.

Seine Schritte fühlten sich hölzern an, als wäre er tagelang nicht gelaufen. Was zum Teil stimmte, schließlich hatten er und Dia die meiste Zeit im Bett verbracht. Er schob den Gedanken schnellstens wieder beiseite. Schlimm genug, unter der Beobachtung des Generals zu stehen. Wenn der ihn dabei ertappte, wie er sich dessen einzige Tochter nackt vorstellte, wollte er sich lieber nicht ausmalen, was geschehen könnte.

Dia führte ihn jetzt zu ihren Plätzen Naya und Hazel gegenüber zur Linken des Königspaares.

Eine Ehre, derer sich Lorin nicht würdig erachtete. Aber wie so oft waren die Bestien sich darin einig, mit ihm uneins zu sein. Sie hatten seine Bedenken einfach mit den Worten „Du gehörst jetzt zur Familie“ aus dem Weg geräumt.

Sobald sein Hintern das Polster berührte, atmete Lorin auf. Ab jetzt würde ihn nicht mehr jeder beobachten, obwohl er immer noch an exponierter Stelle saß. Vielmehr richteten sich aller Augen gerade auf den Ehrengast, der an der Seite seiner Mutter den Saal betrat.

Calliou, der bislang noch keinen Weg gefunden hatte, sich wieder in seine Koboldgestalt zu wandeln, trug ein Ornat aus feinsten Stoffen, dunkle Hosen mit einem roten Gewand darüber. Eine schwere Silberkette mit breiten, quadratischen Gliedern zierte seine Brust. In jede der Plaketten war das Wappen eines Bestienclans eingelassen, sodass klar war, dass dieser Kanzler die Verantwortung für alle Clans trug. Als Zugeständnis an seinen verstorbenen Vater saß ein schreiend gelbes Barett auf Callious Kopf, das er mit so viel Würde trug, dass niemand darüber lachte. Abstraite, seine Mutter, kam in Koboldgestalt. Im Gegensatz zu ihrem Sohn schrie ihre gesamte Kleidung nach Aufmerksamkeit, trotzdem bewegte sie sich graziös und selbstbewusst wie eine Königin.

Die echte Königin erhob sich mit der Hilfe ihres Gemahls, sobald das ungleiche Paar den Fuß des Podestes erreicht hatte. Daemyan hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken und lächelte dabei so liebevoll, dass allen Anwesenden klar wurde, dass das Kind, das unter dem Herzen der Monarchin wuchs, sicher nicht das Letzte sein und damit die Regentschaft von Natayla noch lange Bestand haben würde.

Lorin spähte unauffällig zu Dia, die der jetzt folgenden Zeremonie gebannt lauschte. Ihre blauen Augen glänzten und für das Lächeln, das um ihre Lippen tanzte, hätte Lorin töten können.

So aber begnügte er sich damit, ihren Anblick in sich aufzusaugen und sich einmal mehr zu schwören, dass er sie bis an das Ende ihrer Tage lieben würde.

Dermaßen in Gedanken versunken, verpasste er einen Großteil der Rede der Königin.

„... ein schwerer Schlag für Sela, die Bestien und für mich persönlich. Dein Vater war ein großer Mann.“

Jemand kicherte verhalten, was ihm einen bösen Blick seitens Nataylas einbrachte. Doch schon im nächsten Moment musste sie selbst darüber grinsen. Barrique mochte vieles gewesen sein, aber groß ganz sicher nicht.

Sie räusperte sich. „Ein großartiger Mann, dem insbesondere ich nicht nur mein Leben, sondern alles verdanke, was ich besitze. Seine Fußstapfen ausfüllen kann nur jemand, der ein ebenso großartiges Wesen besitzt, der gutherzig, treu und loyal gegenüber Sela und mir als Königin sein wird. Wir, meine Familie und ich, wissen, dass du, Calliou nicht nur ein würdiger Schwiegersohn und liebevoller Ehemann für unsere Tochter Naya sein wirst. Du wirst auch die Bestien beschützen, sie anleiten und lehren, so wie es dein Vater zuvor getan hat. Ehren wir Barrique und sein Vermächtnis damit, dass wir dich nun offiziell in sein Amt als Kanzler erheben.“

Abstraite, die sich noch vor Nataylas ersten Worten zurückgezogen haben musste und nun neben den glücklich wieder aufgetauchten Regenten Crokk und Mossa in der ersten Reihe stand, tupfte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, als ihr Sohn niederkniete. Die Königin beugte sich vor, was angesichts ihres voluminösen Bauchumfangs fast an ein Wunder grenzte, und küsste Calliou auf beide Wangen. Dann zog sie ihn auf die Füße und riss seinen Arm in die Höhe.

Sämtliche anwesenden Regenten, Gardisten, ranghohe Bestien und Familienmitglieder sowohl der Bestien als auch der Kobolde klatschten begeistert in die Hände.

Damit war der offizielle Teil beendet und die Gäste strömten in den Ballsaal. Livrierte Diener huschten umher und servierten Häppchen und Getränke. Ein Streichorchester spielte sanfte Musik. Insgesamt herrschte eine Atmosphäre des Friedens und Gelöstseins, die jeder Einzelne hier sich redlich verdient hatte.

Während Natayla und Daemyan sich mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegerkanzler unterhielten, zögerte Lorin, sich der Feier anzuschließen. Dia hatte ihn allein gelassen, um mit ihrem Cousin Daerog zu tanzen. Hazel und Cruth befanden sich bereits auf der Tanzfläche. Niemand störte sich daran, den einstigen Fürsten und Bestiengott engumschlungen mit der grünen Kobold-Bestien-Hybride zu sehen. Wenn die Bestien eines gelernt hatten, dann, dass es verdammt wichtig war zu tolerieren, egal, wie jemand aussah oder sich benahm. Niemand von ihnen würde jemals wieder etwas für selbstverständlich erachten.

Lorin sah sich suchend nach Rogan um, den er bei seiner eigenen Gefährtin vermutete, doch die stand bei ihren Söhnen. Von ihrem Mann fehlte jede Spur. Lorins Herz sank. Das brachte seinen Plan, den General auf der Feier anzusprechen, gefährlich ins Wanken. Er hatte gehofft, den Roten zu überrumpeln, wenn der sich unter all den Feiernden zusammenreißen musste.

„Lorin“, erklang eine Stimme hinter ihm, die ihn erstarren ließ. Langsam, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, drehte er sich um und suchte im Thronsaal nach ihr.

Zunächst fand er die Sprecherin nicht, aber dann entdeckte er sie auf der Empore. Sie saß in einem weißen Rüschenkleid auf dem Thron und schlenkerte mit den Füßen, die in schwarzen Lackschuhen steckten. Das helle Haar hatte sie zu feinen Korkenzieherlocken gedreht und hochgesteckt.

Lorins Mund wurde trocken. Er blinzelte, weil er nicht wahrhaben wollte, was er dort sah. Es konnte, nein, es durfte nicht sein.

„Tezza?“

Sie lächelte. Und zum ersten Mal, seit sie in ihrem kindlichen Körper gefangen war, wirkte es echt und befreit. Sie neigte den Kopf ein Stück, so wie sie es früher getan hatte, bevor sie ihm eine kindliche Weisheit, die keine war, offenbart hatte. Vor so unendlich langer Zeit.

„Du bist nicht echt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin hier. Fast. Du hast es also geschafft. Du hast die Dunkelheit und Osan besiegt. Du bist frei. Bist du jetzt glücklich?“ Ihr Tonfall sagte nichts darüber, was in ihrem Kopf vorging.

„Ich wäre glücklich, wenn du jetzt bei mir sein könntest. Wenn wir niemals Osan mit seinen finsteren Plänen über den Weg gelaufen wären. Wenn du ...“ Seine Stimme erstarb und er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. „Wenn du mich nicht verraten hättest.“

Ihr Lächeln verrutschte. „Ich wollte dir nie wehtun, großer Bruder. Ich wollte diese Freiheit auch für mich. Dieses Leben. Ich wollte heiraten, Mutter sein, alt werden. Dafür hätte ich vermutlich sogar dich geopfert. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich nicht wusste, was Osan dir antat. Ich hab dich lieb, Lorin, und werde dich immer lieb haben. Gräm dich nicht der Dinge, die geschehen sind. Du konntest ebenso wenig etwas dafür wie Mutter oder ich.“ Sie hopste vom Thron und die drei Stufen hinab. Dann lief sie auf Lorin zu.

Ihre dünnen Ärmchen umschlangen seine Hüfte. Es fühlte sich echt an, als stünde sie tatsächlich vor ihm, wenngleich das nicht sein konnte. Lorin begann zu zittern. Er legte eine Hand auf Tezzas Schulter und konnte ihre Wärme spüren.

„Du bist wirklich hier.“

Sie lehnte sich zurück. „Nein, bin ich nicht. Aber ich bin hier“, sie legte eine Hand auf seine Brust. „Dort werden Mutter und ich immer sein, und wenn du uns rufst, dann hören wir dich.“

Seine Augen schwammen in Tränen, bevor er heftig schluckte. „Tezza ...“

„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren, Hexe? Oder warum redest du mit dir selbst?“

Lorin wirbelte herum und fand sich Rogan gegenüber, der im Türrahmen zum Festsaal stand, die Arme vor der Brust gekreuzt. Mit seinem schwarzen Anzug, dessen Nähte und Litzen mit Rot abgesetzt waren, nahm er sich äußerst imposant aus.

Lorin suchte verstohlen nach Tezza, doch sie war verschwunden. Trotzdem glaubte er ihr, dass sie immer da sein würde.

„Ich ... nun, ich ...“

Fieberhaft überlegte er, wie er sich erklären sollte, als ihm der rettende Einfall kam. „Ich habe geübt.“

Rogans Braue kroch fast in den Haaransatz seiner blonden Mähne. „Und das hat dich zum Weinen gebracht.“

„Was? Nein, ich ...“ Lorin wischte sich über die Wangen, dann holte er tief Luft. „Ich liebe Dia und ich möchte sie heiraten“, platzte es aus ihm heraus.

Für einen Augenblick herrschte Stille. Nur die Musik und das Gelächter wehten zu ihnen herüber. Rogan stand wie erstarrt. Als er sich dann doch rührte, fürchtete Lorin fast, dass der heutige Tag womöglich noch ein Trauertag werden könnte. Falls Rogan ihn tötete - oder, was wahrscheinlicher war, Bestie und Dunkelheit sich zusammentaten, ihren Träger verteidigten und den General in ein Häufchen Asche verwandelten. Was sicher kein guter Start für eine Ehe mit Dia wäre.

Als Rogans Schultern zu beben begannen, konnte Lorin nicht anders als starren. Lachte ihn der General etwa aus?

„Hast ja verdammt lange dafür gebraucht, Hexe. Man könnte fast meinen, du hättest Angst vor mir.“

Lorin verstand gar nichts. „Aber ... du sagtest, dass du sie niemals einem Mann geben würdest, der deine Prüfungen nicht bestanden hat!“

„Richtig.“

„Und ich habe versagt, auf ganzer Linie. Wieso amüsiert es dich dann, dass ich mich darüber sorge, dass du nein sagen könntest?“

Rogan kam näher und seine gewaltige Pranke landete hart auf Lorins Schulter. „Erinnerst du dich noch daran, welche Prüfungen das sind?“

Als ob er das vergessen könnte! „Bereit sein, das eigene Leben für Dia zu geben. Ein anderes Leben nehmen, ohne zu morden. Und aufgeben, was ich am meisten begehre. All das zusammen.“

Rogans Finger schlossen sich schmerzhaft ein Stück. Ein beinahe trauriger Ausdruck trat in seine Augen. „Als ich die Prüfungen ersann, dachte ich nicht, dass es jemanden gäbe, der sie tatsächlich erfüllen könnte. Doch du hast mich eines Besseren belehrt.“

Lorin blickte an sich hinunter. Vielleicht stand er auf der eigenen Leitung und merkte es nicht. Jedenfalls hatte er keine Ahnung, worauf Rogan hinauswollte.

„Ich verstehe nicht ...“

„Du hast Rothman vernichtet, ohne ihn zu ermorden, denn es ist nur dann Mord, wenn du ihn vorsätzlich tötest, doch du hast uns alle damit nur retten wollen. Um das zu erreichen, hast du aufgegeben, was du am meisten liebtest: mein kleines Mädchen. Indem du ihre Bestie an dich genommen hast, hast du riskiert, dein eigenes Leben zu verwirken, und als du dachtest, Dia sei tot, wolltest du dein eigenes Leben für das ihre geben. Du hast alle meine Prüfungen erfüllt – tatsächlich sogar gleichzeitig. Ich wüsste keinen anderen Mann, der dazu in der Lagen sein könnte, geschweige denn besser als Ehemann für meine Tochter geeignet wäre.“ Er zog Lorin, der noch immer zu verblüfft war, um zu reagieren, in seine Arme und drückte ihm fast die Luft aus den Lungen. „Willkommen in der Familie, Lorin.“

Viel leiser fügte er hinzu: „Aber wenn du ihr jemals wieder so wehtust, wirst du es bereuen.“

ENDE

Nachwort

Mit „Geheimnisse der Macht“ endet nun die Reihe um die „Erben der Sieben Wüsten“. Hexen und Bestien haben einen Weg gefunden, nebeneinander zu koexistieren, ohne sich zu bekriegen. Sie werden weiterhin versuchen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, sei es der Schutz der Menschen vor ihrer Art, die Geheimhaltung ihrer Existenz vor eben jenen Schutzbefohlenen oder der Profit, wie ihn nur Hexen kennen. Ich fürchte, selbst Lorin wird seine hehren Ziele, das Haus Morrow gänzlich von der Söldnerschaft abzukehren, zurückschrauben müssen. Er wird es weiterhin versuchen - jetzt, da es niemanden mehr gibt, der ihm trotzen könnte. Und Dia wird ihm helfen, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Sie und Lorin haben die EdTezRiel-Stiftung gegründet, deren Namen sich aus Edwell, Tezza und Gabriel zusammensetzt, und die sich für die durch die Kämpfe zu Waisen gewordenen Hexenkinder einsetzt. Die Stiftung soll den Kindern helfen, anders als Tezza den Verlust zu verarbeiten und ihre Fähigkeiten für bessere Ziele einzusetzen. Ich wünsche allen Beteiligten dafür viel Glück.

Daemyan und Natayla werden noch sehr lange regieren. Der Rote kann seiner Gefährtin einfach nicht auf Dauer widerstehen, und so wird das noch nicht geborene jüngste Kind bestimmt nicht das letzte bleiben.

Naya und Calliou leben weiter in Sela. Sie werden Eltern von Zwillingen - was sie noch nicht wissen, ich wollte ihnen die Überraschung nicht verderben. Mit Cruths Hilfe wird es Lorin gelingen, sowohl diese Kinder als auch mögliche Nachkommen seitens Hazels soweit zu verändern, dass sie fruchtbar werden. Lorins Angebot, Hazel mit Hilfe von Cruths Blut von ihrem dauerhaften Koboldaussehen zu befreien, werden sowohl sie als auch ihr Gefährte ablehnen. Hazel ist stolz darauf, woher sie stammt und möchte nichts daran ändern, das auch nach außen zu zeigen - und Cruth? Er liebt Hazel, wie sie ist, egal ob grün oder nicht.

Was Rogan angeht, so wird er sich noch lange an seinen Enkeln und Urenkeln erfreuen, ehe er von uns geht. Er hinterlässt mit ihnen jede Menge Sturmbestien, die allesamt kräftig daran arbeiten, den Clan zur alten Stärke zurückzuführen.

Nayas Bruder Daerog bekommt noch seine eigene kleine Geschichte, hier will ich nicht vorgreifen, aber es verspricht schon jetzt, lustig zu werden - zumindest für mich als Autorin.

Zu guter Letzt sei gesagt, dass Lorin weiterhin versuchen wird, den Weg nach Scáthgard wieder zu öffnen. Falls es ihm gelingt, wer weiß, könnte sich diese Autorin vielleicht dazu überreden lassen, noch weitere Geschichten zu erzählen.

Danksagung

 

Eine Reihe zu schreiben, ist nie einfach. Figuren müssen stringent bleiben, Geschehnisse dürfen nicht verfälscht werden und doch möchte man eine Geschichte transportieren, die spannend wie seine Vorgänger ist. Damit das gelingt, bedarf es der Hilfe vieler Menschen. Darunter die so genannten Betaleser, die sich des Manuskriptes annehmen, ehe es überhaupt beim Verlag landet. Diesen Betas, namentlich Sarah König, Lena Puttfarcken und Susanne Bonn sowie Annika Dick, die mich mit Bildern von Alexander Skarsgård versorgt hat, damit ich am Ball bleibe, möchte ich ganz herzlich danken. Um die Einhaltung der deutschen Grammatik hat sich auch dieses Mal wieder Bianca Sigwart gekümmert. Wenn sich jetzt noch Fehler im Roman befinden, bin ich alleine daran schuld.

Sylvia Ludwig von Cover für dich hat erneut ein tolles Cover geschaffen und meine zugegeben nicht sehr einfachen Wünsche umgesetzt.

Dank Charlotte Erpenbeck, die mir schon recht früh sagte. "Wenn Bestien drauf steht, darfst du mir alles schicken", wurde diese Reihe erst möglich.

Wegen Calliou, dessen optisches Vorbild Tom Hardy war, musste mein Mann wieder einmal viele Standbilder eines Schauspielers ertragen, was er gutmütig über sich ergehen ließ. Trotzdem hat er mich stets unterstützt und angefeuert, wenn Bestien und Kobolde nicht so wollten wie ich. Ohne diese Unterstützung ginge gar nichts.

Danke mein Herz, dafür liebe ich dich!

 

 

 

 

Prolog

 

In Anbetracht der Ereignisse bin ich froh, ein Kobold zu sein.

Aus: Aufzeichnungen Barrique, Datum/Anlass unbekannt.

 

357 n. Chr.

 

Mit klopfendem Herzen folgte Lorin seinem Vater in die Hütte. Die Luft war schwer von den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu kleinem Raum. Am liebsten wäre er einfach wieder weggelaufen. Dann könnte er mit dem kleinen Damm spielen, den er an einem dünnen Nebenarm des Flusses gebaut hatte. Oder Tezza ärgern, die ihm gestern einen Frosch in den Schuh gesetzt hatte. Ihm würde schon etwas einfallen, um sich zu beschäftigen. Hauptsache, er müsste nicht hier sein mit den Hexen, die immer nur über langweilige Dinge redeten.

Sein Vater zog ihn jedoch unerbittlich mit in den Raum, wo die anderen bereits saßen. Er setzte sich neben Jokas und nahm Lorin, dem das furchtbar peinlich war, auf den Schoß. Der Hexer streckte den Arm aus, um Lorin durchs Haar zu streichen, doch der drehte sich weg. Er mochte es nicht, wenn Fremde ihn anfassten. Und Jokas mochte er erst recht nicht.

„Ich sehe, wir sind vollzählig. Nun, Jokas, berichte“, sagte eine fremde Stimme.

„Herr, wir haben gefunden, wonach Ihr gesucht habt. Es ist ein kleines Tor außerhalb der Bestienstadt. Von unserem Dorf aus brauchen wir nur ein paar Stunden.“

„Sehr gut. Habt ihr es ausprobiert?“

Lorin verrenkte sich den Hals, um den Sprecher besser sehen zu können, doch sein Vater unterband das Gezappel sofort. Mit einem warnenden Blick hieß er Lorin, ruhig zu sein und sich zu benehmen.

Dann hätte er mich zu Hause lassen sollen, dachte Lorin schnippisch und versuchte es so lange weiter, bis der Griff seines Vaters schmerzhaft wurde. Erst dann hörte er auf und sank in sich zusammen.

Die Erwachsenen unterhielten sich sehr lange über Dinge, die Lorin nicht verstand. Zum Teil ging es anscheinend um irgendwelche Steine, aber da er nicht begriff, was an blöden Steinen so wichtig sein sollte, beobachtete er lieber eine kleine Schabe, die sich gerade durch eine Bodendiele nach oben kämpfte. Der Panzer des Tierchens glänzte braun und schwarz. Wenn er es Tezza ins Nachthemd steckte, wäre die Sache mit dem Frosch gerächt. Die Idee gefiel ihm. Sehr sogar. Er grinste. Dann sah er sich verstohlen um. Die Erwachsenen redeten immer noch und niemand, nicht einmal sein Vater, beachtete ihn.

Um sich nicht zu verraten, sah Lorin die Schabe nur an und sprach lautlos einen Zauber, den er bei seiner Mutter aufgeschnappt hatte. Damit konnte man Dinge fliegen lassen, und immer, wenn er alleine war, übte er die Sprüche und Flüche, die er eigentlich nicht kennen durfte. Dabei hatte er schnell festgestellt, dass er zaubern konnte, auch ohne die Worte laut auszusprechen. Manchmal genügte es, wenn er sie dachte. Bei schwierigeren oder neuen Sachen musste er zwar noch die Lippen bewegen, aber nicht mehr reden. So merkten die Erwachsenen es nie, wenn er etwas mit Zauberei anstellte. Bei diesen heimlichen Übungen stellte er sich gerne vor, eines Tages der Anführer der Hexen zu sein. Er würde dann in Großmutter Medas Haus wohnen und Leute wie sein Vater müssten ihm Respekt entgegenbringen. Aber sie müssten nicht vor ihm knien. Das fand er schrecklich. Er hatte die Geschichten von Crothar, der Bestienlegende, gehört, der von seinem eigenen Sohn verlangt hatte, sich seinem Willen zu beugen. Das würde Lorin seinem Vater oder seiner Mutter nicht antun. Sie sollten nur merken, wie es ist, ständig in der Gegend herumgescheucht zu werden.

Obwohl er durch diese Gedanken ein wenig abgelenkt war, gelang ihm der Zauber auf Anhieb. Die Schabe kratzte in einem Moment noch am Holzboden, im nächsten schwebte sie in der Luft auf Lorin zu.

Er streckte vorsichtig die Hand aus, um nach dem Tierchen zu greifen und es in seine Hosentasche zu schieben. Nur keine hektischen Bewegungen, damit der Vater es nicht bemerkte.

„Einen interessanten Sohn hast du da, Kallun.“

Lorin erstarrte. Er wagte es nicht, den Kopf zu heben, um den Mann anzusehen, den alle nur den Schatten nannten. Eine dumme Erwachsenen-Angewohnheit, schließlich hatte der Mann einen Namen und jeder kannte ihn.

„Scheint so, als habest du Recht, Herr. Ich wusste selbst nicht, dass er das kann.“ Sein Vater hielt ihn jetzt noch fester, fast als ob er fürchtete, Lorin würde von seinem Schoß springen und davonlaufen.

Als ob er weit käme. Sein Vater kannte einen Zauber, der verängstigte Schweine oder Hühner einfing. Den konnte er jederzeit auch gegen ihn einsetzen, wie Lorin nur zu gut wusste.

Während er sich bemühte, unsichtbar zu sein und nach unten starrte, kamen zwei dunkle Lederstiefel in sein Blickfeld. Gleich darauf ging der Schatten in die Knie und packte Lorin am Kinn. Derart gezwungen, den Blick zu heben, sah er in das schiefe Lächeln des Mannes, den sein Vater so bewunderte.

„Lorin, Lorin, Lorin, was bist du doch für eine freudige Überraschung. Dein Vater hätte dich früher mitbringen sollen, wie mir scheint.“ Die schmutziggelben Augen des Mannes funkelten vergnügt, als er sich mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht strich, ehe er sich wieder an Lorins Vater wandte. „Er könnte die Lösung für unser Problem sein.“

„Herr, bitte. Er ist ein kleiner Junge.“

„Mit großer Zauberkraft, wie mir scheint. Was meinst du, Jokas?“

Der Angesprochene packte Lorin unsanft an den Armen und zog ihn vom Schoß seines Vaters. Er hielt ihn so fest, dass Lorins Fußspitzen kaum den Boden berührten, und starrte ihm dann eindringlich in die Augen. „Könnte sein, dass er dank seiner Mutter ein sehr starkes Talent hat. Wir können es nur herausfinden, wenn wir es versuchen.“

„Nein!“, schrie Kallun auf. „Bitte. Er ist noch ein Kind, das wird ihn ...“

„Tz, tz, tz“, schnalzte der Schatten mit der Zunge. „Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn man mir widerspricht oder Vorschriften machen will. Wenn Jokas sagt, wir versuchen es, werden wir das auch. Immerhin ist Jokas unser Anführer. Nicht wahr?“

Zustimmendes Gemurmel ringsum.

Lorin begriff nicht, was die Männer meinten. „Vater?“

Doch der hatte sich abgewandt. Er stützte einen Ellenbogen auf den Tisch, gegen den er zuvor mit dem Rücken gelehnt hatte, und legte seinen Kopf schwer auf eine Hand. Schließlich hob er die andere und machte eine wegwerfende Bewegung. „Also gut. Aber holt Edwell dazu. Sie ist nach Meda die Stärkste im Dorf ... und er vertraut ihr.“

Lorin atmete auf. Sie wollten seine Mutter holen. Jetzt würde alles gut werden. Sicher würde sie ihm nur ein paar Maulschellen geben, weil er ohne Aufsicht gezaubert hatte. Dass er seine Schwester mit der Schabe hatte ärgern wollen, konnte ja niemand wissen. Sie würden nur denken, dass er neugierig gewesen sei.

Während er sich innerlich darauf vorbereitete, dass seine Mutter ihn ausschimpfen würde, krochen die Minuten zähflüssig dahin. In dem kleinen Zimmer gab es noch nicht einmal etwas Interessantes zu sehen. Er erkannte nur wenige der Männer und nahm an, dass sie aus umliegenden Dörfern stammen mussten. Ob sie Hexen wie seine Eltern waren, wusste er nicht. Vermutlich waren sie es.

Schließlich jedoch stand seine Mutter vor ihm. Ihre Augen, die denen seiner Schwester so ähnlich waren, wirkten viel zu groß. Hatte sie etwa geweint?

Ehe Lorin fragen konnte, hatte sie ihn aus Jokas Klammergriff befreit und an ihre Brust gedrückt. Lorin genoss es, so von ihr gehalten zu werden. Als ihm ihr warmer Duft nach Brot in die Nase stieg, vergaß er, dass er vielleicht Angst vor Schelte haben sollte. Seine Mutter machte immer alles wieder gut.

Viel zu schnell versteifte sie sich und ließ Lorin wieder los. „Also gut. Tun wir es. Wenn es uns von diesen Monstern befreit, bin ich bereit, alles zu tun.“

„Edwell, weißt du, was du da sagst?“, begehrte Kallun auf, doch Lorins Mutter presste nur entschlossen die Lippen zusammen.

„Welche Wahl haben wir denn? Willst du auf ewig in deren Schatten stehen? Willst du dir den Buckel krumm arbeiten unter der Knute dieser Monster? Unser Sohn könnte ein Held sein! Er könnte alles beenden und dafür sorgen, dass sie dorthin zurückkehren, wohin sie gehören.“

Lorins Vater schwieg. Das tat er manchmal, wenn seine Mutter lange genug auf ihn einredete. Schließlich seufzte er resigniert und machte den Weg frei.

Jokas packte Lorin am Arm und zerrte ihn zum Tisch. Er hob ihn auf die Platte und hielt ihn fest. „Mach seine Brust frei.“

Wem der Befehl galt, konnte Lorin nicht sagen, seine Angst vor dem, was da kommen würde, war viel zu groß. Er zappelte mit den Beinen, versuchte sich loszureißen, doch gegen den Erwachsenen hatte er keine Chance. Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Mutter, bitte, ich bin auch brav. Versprochen!“

Niemand reagierte auf sein Flehen.

Sein Vater schnürte die dünne Weste und das abgetragene Hemd auf, das Lorin am Morgen angezogen hatte, dann ging er zum Tischende. Dort legte er die Hände auf Lorins Fußknöchel und hielt ihn so ebenfalls fest. Lorins Gedanken rasten. Er verstand nicht, was seine Eltern vorhatten, war aber zu ängstlich, um mehr zu tun als zu betteln und zu weinen. Direkt zu fragen, wagte er nicht. Mit tränenverschleiertem Blick beobachtete er, wie der Schatten auf seine Mutter einredete. Beide gestikulierten wild, und Edwell schüttelte mehrfach den Kopf, bis der Schatten ihr eine Ohrfeige versetzte.

Lorin schloss die Lider. Er mochte ein kleiner Junge sein, aber selbst er verstand, dass dieser Mann alle Fäden in der Hand hielt. Er mochte behaupten, Jokas sei der Anführer der Gruppe, trotzdem wusste jeder, dass das so nicht stimmte.

Eine warme Hand strich über Lorins Wange. Er schaute auf und in die Augen seiner Mutter. Er sah ein Lächeln darin und eine Spur von Hoffnung, ehe sie sich vorbeugte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte.

„Sei mein großer, starker Junge. Du warst schon immer etwas Besonderes, jetzt kannst du beweisen wie sehr.“

Damit zog sie sich zurück und streckte sich. Ringsum bildeten die Anwesenden einen Kreis um den Tisch. Sie fassten sich an den Händen und begannen den Singsang eines Zaubers, den Lorin nicht kannte. Jokas und sein Vater beteiligten sich nicht daran. Während Kallun das Gesicht abwandte, als könne er den Anblick nicht ertragen, lag Jokas' Augenmerk auf Edwell gerichtet, die nun ihrerseits einen Zauber anstimmte.

Leiser als die anderen beschwor sie eine Macht, die Lorin körperlich spüren konnte. Wie die Spitzen kalter Äste glitt sie über seine Haut. Dort, wo sie ihn berührte, brannte es und hinterließ sichtbare Striemen. Anfangs war es nur unangenehm, aber je länger der Zauberspruch dauerte, desto schmerzhafter wurde es. Lorin wand sich, er schrie, flehte und rief nach seiner Mutter. Niemand kümmerte sich darum.

„Gebunden in Zeit, gebunden in Raum, verschmolzen im Licht, der Macht ergeben, das ist mein Wille. Seele an Seele, Stein auf Haut, gebunden seid ihr, das ist mein Wille.“

Die Worte seiner Mutter ergaben keinen Sinn, aber Lorin hatte es längst aufgegeben, darüber nachzudenken. Er schrie vor Schmerzen, als ihm etwas auf die Brust gedrückt wurde. Er roch brennendes Fleisch, hörte ein Zischen, dann wurde er ohnmächtig.

1. Kapitel

Hexen und Verrat sind zwei Worte gleicher Bedeutung. Das eine bekommst du nicht ohne das andere.

Earron zu Cruth, Anlass unbekannt.

2045 n.Chr.

Lorin betrat das Gebäude von Morrow Consultings und steuerte geradewegs auf den Empfangstresen zu. Die dahinter sitzende junge Frau schenkte ihm ein herzliches Lächeln, das sich in ein Stirnrunzeln verwandelte, als er abbog und geradewegs das Drehkreuz passierte, um zu den Aufzügen zu gelangen.

Zielstrebig ging er zum äußersten Aufzug an der rechten Seite und tippte den neustelligen Code ein, der ihn zur obersten Etage bringen würde.

„He! Sie können da nicht einfach durchgehen, ich muss Sie anmelden!“

„Keine Sorge, Mr Larkin erwartet mich.“

Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Gästen des Vorstandsvorsitzenden des Hauses Morrow ließ man einige Sonderheiten durchgehen. Trotzdem rechnete Lorin damit, dass die Dame Gabriel anrufen und ihn vorwarnen würde. Sie erkannte in Lorin den kleinen Jungen nicht mehr, der er vor sechs Monaten noch gewesen war. Seinem Freund würde es nicht anders ergehen.

Sobald er in der Kabine stand, drehte er sich um und zwinkerte der Empfangsdame zu, was ihre entrüstete Miene zum Zittern brachte. Er wusste, was sie in diesem Augenblick bewusst wahrnahm. Seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und das dunkle, kurze Haar passten in fast jedes weibliche Beuteschema. Nur seine Augen nicht. Jede Frau, mit der er in den letzten Monaten zusammen gewesen war, hatte ihm gesagt, dass sie angsteinflößend waren.

Der Aufzug hielt und die Türen glitten lautlos auf. Lorin strich seine Krawatte glatt, prüfte den Sitz der Manschetten und trat in den mit Marmor ausgelegten Flur. Glaswände bildeten durchsichtige Abtrennungen, die zu einem Besprechungsraum, einem Büro im hinteren Teil und einer kleinen Kaffeebox führten.

Abgesehen von dem kaum wahrnehmbaren Rauschen der Klimaanlage und seinen Schritten auf dem Boden hörte Lorin kein Geräusch. Er schien allein zu sein, aber das konnte durchaus täuschen. Dieses Stockwerk war das am besten geschützte im ganzen Gebäude. Die zusätzlichen magischen Sicherungen sollten Eindringlinge fernhalten. Es war gut möglich, dass sie auch die Anwesenheit von Gabriel Larkin tarnten.

Lorin hätte jeden noch so starken magischen Schutz mit dem Schlag eines Gedankens in Stücke hacken können, damit jedoch nur den Hausalarm ausgelöst. Er wollte keinen Ärger. Nur mit seinem alten Freund sprechen.

„Es war ein Fehler, ohne Einladung heraufzukommen. Besser, Sie gehen wieder, ehe Sie es bereuen“, ertönte da auch schon die vertraute Stimme Gabriels aus Richtung des vermeintlich leeren Büros. Keinesfalls so herzlich wie Lorin es sich gewünscht hätte, aber woher sollte Gabriel auch wissen, dass er der Fremde war? Das letzte Mal, als sie einander gesehen hatten, war Lorins Körper noch kindlich gewesen.

Ehe er etwas sagen konnte, fühlte er, wie die Magie rings um ihn herum zunahm. Er konnte ihre Macht förmlich auf der Zunge schmecken. Für einen Augenblick zögerte er. Angriffe jeglicher Art reizten ihn, wollten ihn dazu bringen, unkontrolliert um sich zu schlagen. Er beherrschte sich, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was in ihm vorging. Gabriel musste nicht wissen, in welcher Gefahr er schwebte, sollte Lorin die Kontrolle über sich verlieren. Sein Freund war ein guter Hexer, aber gegen die Kräfte, die im Laufe der Zeit in Lorin gewachsen waren, hatte er keine Chance. Deshalb ging Lorin gemächlich weiter, bis er die gläserne Bürotür erreichte. Dort lehnte er sich an den Rahmen und sah zu dem scheinbar leeren Sessel hinter dem Schreibtisch.

„Du erkennst deine Freunde offenbar nicht mehr, Gabriel.“

Über dem Sessel begann die Luft zu verschwimmen, bis sich schließlich eine Gestalt herauskristallisierte.

„Lorin?“ Mit geweiteten Augen starrte der Mann ihn an.

„Das bin ich, alter Freund.“

Gabriel sprang auf und lief auf ihn zu. Beide Arme nach vorn gestreckt, ein breites Grinsen im Gesicht. Kurz bevor er Lorin erreichte, hielt er an, als wisse er nicht, ob seine Reaktion die richtige sei.

„Du ... bist erwachsen.“ In seinem Tonfall schwang etwas mit, das sowohl Überraschung als auch Enttäuschung sein konnte.

Lorin neigte den Kopf. Er suchte nach den Worten, die er sich bei seiner Ankunft zurechtgelegt hatte, doch sie wollten ihm nicht einfallen. „Ich habe den Fluch gebrochen“, sagte er nur.

„Ich wusste, du schaffst es!“ Gabriel lachte auf und in seinen grauen Augen blitzte es übermütig, was ihn gleich mehrere Jahre jünger erscheinen ließ. „Also ist Cruth zurück?“ Wie alle Mitglieder des Hauses Morrow kannte auch er die Legenden, die sich um den Bestiengott rankten.

„Ja.“ Lorin verzog grimmig die Lippen, ohne näher darauf einzugehen. Sein Freund wusste auch so, dass Cruth die Schuld am Tod von Lorins Mutter trug. Ebenso, dass Lorin damals die Zeit manipuliert hatte, um Edwell zu retten, und dabei sich und seine kleine Schwester zu einem Leben als ewige Kinder verdammt hatte. Zumindest körperlich.

Der Gedanke an Tezza versetzte ihm unvermittelt einen Stich. Er wollte nicht an sie denken. Und auch nicht daran, wie sie zu Tode gekommen war. Er wollte sie in Erinnerung behalten, wie sie einst gewesen war: Ein liebreizendes Mädchen mit allerlei Unsinn im Kopf, das er gerne aufgezogen hatte.

„Komm, Junge, setz dich und erzähl mir alles.“

Während Lorin zu dem schwarzen Besuchersessel ging, umrundete Gabriel wieder seinen Schreibtisch und ließ sich zurück in seinen Stuhl fallen. Dabei gab er ein Ächzen von sich, das Lorin erschreckte. Er musterte den Älteren genauer. Was er sah, gefiel ihm nicht. Gabriel trug wie immer einen maßgeschneiderten Anzug, der ihm wie angegossen passte. Sein graues Haar war ordentlich gekämmt und die faltige Haut seines Gesichtes ließ keinerlei Zweifel daran, dass er über einiges an Lebenserfahrung verfügte. Das einst volle nussbraune Haar allerdings war dünn geworden und hatte zu viele weiße Strähnen. In den grauen Augen blitzte Intelligenz, aber es lag auch ein latenter Schmerz darin. Der einst imposante Geschäftsmann mit der Ausstrahlung eines Kämpfers war verschwunden. Stattdessen sah Lorin nur noch einen schwachen Körper, in dem nach wie vor ein hellwacher Geist lebte.

Lorin schluckte hart, weil ihm die Kehle eng wurde. Gabriel bedeutete ihm mehr als jeder andere Mensch. Ihn jetzt schon vom Alter gezeichnet zu sehen, obwohl er gerade einmal Mitte fünfzig war, tat weh. Was auch immer da los war, es konnte nichts Gutes sein.

„Nun setz dich endlich“, forderte Gabriel, aufgeregt wie ein kleines Kind.

Lorin brachte es nicht über sich, ihn gleich auf sein Äußeres anzusprechen. Er nahm Platz und legte sich einen Knöchel aufs Knie. Alles war besser, als die Informationen, die er hatte, unverblümt zu verkünden, aber ihm wollte einfach keine Möglichkeit einfallen, es Gabriel schonend beizubringen. „Tezza ist tot.“

Gabriel presste die Lippen zu einem weißen Strich. „Ich ahnte es. Sie hat sich länger als du nicht gemeldet. Außerdem gab es etliche Vermisstenmeldungen bei Mitgliedern des Zirkels. Siebzig, wenn ich mich nicht irre. Unsere Leute konnten nicht herausfinden, was geschehen war, aber ich gehe vom Schlimmsten aus. Sind diese Hexen auch tot?“

„Ja.“ So schmerzhaft es war, Gabriel musste es wissen. „Weißt du, was Tezza getan hat?“

Sein Gegenüber öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ein Hustenkrampf hinderte ihn am Sprechen. Als Lorin aufstehen wollte, um ihn auf den Rücken zu schlagen, hob Gabriel nur eine Hand und schüttelte den Kopf.

„Es geht schon“, würgte er keuchend hervor, ehe er einen Schluck Wasser trank. Sobald er das Glas geleert hatte, runzelte er die Stirn. „Verzeih, ich hätte dir auch etwas anbieten sollen.“

„Nicht nötig, mein Freund.“ Noch immer wagte Lorin nicht, seine Beobachtungen zu äußern. Er ahnte bereits, was mit Gabriel los war, aber es auszusprechen , würde es zur Gewissheit werden lassen. Noch war er nicht bereit dazu, weswegen er beim Thema Tezza blieb. „Also? Wusstest du es?“

Gabriel seufzte. „Ich hatte einen Verdacht. Sie hat Andeutungen gemacht, Hexer requiriert, deren Fähigkeiten ... nun, sagen wir mal ... nicht darin lagen, eigenständig zu denken.“

Lorin biss sich auf die Lippe. Tezza hatte leicht beeinflussbare Hexen benötigt, die über die Macht verfügten, Flüche zu sprechen, die Bestien bannen konnten.

„Sie war wahnsinnig“, sagte er hart, obwohl es ihm noch immer wehtat, so von ihr zu denken. Er war der Ältere, er hätte sie abhalten, beschützen müssen, stattdessen ...

„Sie war deine Schwester, Junge! Rede nicht schlecht über sie. Du weißt selbst genau, was sie durchgemacht hat.“

Das tat er. Ihm selbst war es ja nicht anders ergangen. Trotzdem hatte er seinen Frust darüber, nicht erwachsen zu werden, dazu verwandt, einen Weg zu finden, den Fluch zu brechen, anstatt wie sie Rache zu üben.

Müde winkte er ab. „Lassen wir es dabei. Ihre Sorgen haben ein Ende gefunden.“

„Richtig“, seufzte Gabriel. „Deine auch? Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Junge.“

Alles in Lorin sträubte sich dagegen, Gabriel die Wahrheit über seine Schwester zu erzählen. Wie sollte sein Freund verstehen, warum Tezza die Kronprinzessin Selas entführt hatte, wenn er selbst nicht einmal begriff, weshalb? Voll Grauen erinnerte er sich daran, Naya nackt und gefesselt in der Wüstenfeste gesehen zu haben. Und daran, wie Tezza sie mit einem Ritualdolch quälte.

„Lorin!“

Ergeben hob er die Schultern. „Tezza hat das selanische Königshaus bedroht, indem sie Königin Nataylas Tochter entführte.“

„Götter! Was sollte das bringen?“

„Sie hat von meinen Forschungen gehört. Vielleicht kam ihr dabei zu Ohren, dass ich glaubte, das Blut von Bestien könne den Fluch brechen.“ Mit brüchiger Stimme berichtete Lorin von der Folter, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, dennoch, schnappte Gabriel nach Luft, was einen weiteren Hustenkrampf hervorrief.

Sobald er wieder atmen konnte, krallte er die Hände in die Tischplatte und sah Lorin fest an. „Konnte sie die Magie speichern?“

„Nein. Sie trank sich daran satt. Für kurze Zeit wurde sie mir dadurch ebenbürtig. Sie muss gewusst haben, dass das geschehen könnte, denn sie hat gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass unter den Bestien weltweit Chaos ausbrach.“

„Wie das?“

Lorin begann, mit den Fingern auf seinen Oberschenkel zu trommeln. „Sie hat mit Cornell Blackstark eine Vereinbarung über den Kauf von Land in der Wüste getroffen. Als Königin Natayla davon erfuhr, befahl sie den Tod des Mannes. Zeitgleich hat Tezza ein Koboldkind entführt, es gezwungen, Lügen auszusprechen, wodurch einige Kobolde zu Tode kamen, darunter auch Kanzler Barrique.“

Gabriels entsetzter Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er um die Bedeutung dieser Sache wusste. Die Bestien verließen sich seit Jahrhunderten auf den Rat des Koboldkanzlers. Sein Tod war mehr als nur ein tragischer Verlust.

„Tezza hat das von langer Hand geplant.“ Lorins Fingertippen endete, und er ballte die Faust. „Wie seinerzeit Osan hat sie abgewartet, Nadelstiche gesetzt und zu guter Letzt einen Keil zwischen die Königin und ihren Gefährten zu treiben versucht. Wenn ihr das zusammen mit der Destabilisierung der Bestienregierungen gelungen wäre ...“

„Die Welt, wie wir sie kennen, wäre ausgelöscht worden.“

„Mehr als das“, bestätigte Lorin grimmig. „Nicht nur die Existenz der Bestien unter den Menschen wäre bekannt geworden. Auch wir hätten Stellung beziehen müssen. Ein Krieg wäre unvermeidlich gewesen - und ich weiß nicht, ob wir Hexen das überlebt hätten. Deshalb ... Nein, lassen wir das.“

Gabriel machte eine Bewegung, als wolle er Lorin schütteln. „Ich will alles wissen, Junge.“

Lorin erwiderte Gabriels Blick fest. „Um Cruths Fluch zu brechen, benötigte ich tatsächlich Bestienblut. Während meiner Reisen durch die Welt fand ich heraus, dass es als Katalysator verwendet werden kann.“

„Und wie hast du sie dazu gebracht, es dir zu geben?“

Das war ja die Crux an der Sache. Er hatte sich nicht besser als Tezza verhalten, aber seine Absichten waren Heilung, nicht Vernichtung gewesen. Doch nicht immer rechtfertigt ein guter Zweck die Mittel. Niemand wusste das besser als Lorin. „Habe ich nicht. Ich ...“ Er holte tief Luft. „... habe sie entführt.“

„Lorin!“

„Ich weiß, Gabriel, ich weiß. Alles, was du sagen willst, habe ich mir selbst schon vorgeworfen. Wenn ich gewusst hätte, was Tezza plant, dann hätte ich es nicht getan. Ich wäre zu Königin Natayla gegangen und hätte sie um Hilfe gebeten. Ihre Mutter hat viel für uns getan. Deshalb war ich es ihr und ihrer Familie schuldig, das Unrecht wieder gutzumachen.“

„Das weiß ich, aber ...“

„Wenn ich es ihr gesagt hätte, hätte sie sich Hoffnungen gemacht. Sie hatte bereits genug andere Probleme, da wollte ich nicht auch noch eine Wunde öffnen, die bereits vernarbt war. Was, wenn es schiefgegangen wäre? Die Bestien, die ich gefangen hielt, wären wieder freigekommen, aber Cruth hätte weiterhin sein Dasein in der Ebene der Nichtexistenz fristen müssen. Und seine Enkelin hätte mich dafür gehasst, dass ich ihre Hoffnung nicht erfüllen konnte.“

„Ich verstehe, warum du es tun musstest, Junge“, lenkte Gabriel ein, „aber die Mittel dazu waren falsch. Der Friede, den das Haus Morrow mit den Bestienclans, insbesondere dem Königshaus, hält, ist allenfalls als fragil zu bezeichnen. Ist dir klar, dass du einen Krieg hättest auslösen können?“

„Das hat Tezza ohnehin schon. Es ist nur dem Verständnis der Königin und ihrer Vertrauten zu verdanken, dass sie keine Rache üben. Immerhin ist das jetzt sechs Monate her.“

„In denen du nicht im Traum daran dachtest, uns zu warnen. Was sollte das, Lorin? Du warst nie zuvor unverantwortlich. Herrgott, du bist älter als ich, du hättest wissen müssen, dass euer Handeln auch Konsequenzen für das Haus Morrow haben würde!“

Bei Gabriels wütenden Worten zuckte Lorin zusammen. „Ich habe mich bei Königin Natayla im Namen des Hauses entschuldigt und sie wissen lassen, dass nur einzelne Hexen daran beteiligt waren. Glaub mir, sie weiß, was es bedeutet, einen Verräter in den eigenen Reihen zu haben.“

„Mag sein, aber weiß sie auch, was du noch verbirgst?“

Diesmal presste Lorin die Lippen fest zusammen. Er war nicht bereit, dieses Kapitel seines Lebens noch einmal aufzuschlagen. Er hatte es beendet und einen Strich darunter gezogen. Jetzt wollte er nach vorn sehen, die Verantwortung über das Haus Morrow übernehmen und zur Ruhe kommen. Aber vor allem wollte er das Versprechen seiner Urgroßmutter Meda gegenüber Cruth einlösen, nämlich dass die Hexen seines Hauses die Bestien auf Dauer unterstützen würden.

„Also nicht.“ Gabriel schob den Sessel zurück und stand auf. Er ging zum Fenster, wandte Lorin den Rücken zu und starrte hinunter auf den Verkehr. „Du warst leichtsinnig, Junge. Das alles könnte noch immer auf uns zurückfallen. Ich ...“

Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Gabriel hob ab, und während er lauschte, nutzte Lorin die Gelegenheit, seine Fassung zurückzugewinnen. Die Erinnerung an seine Erlebnisse hatten ihn innerlich aufgewühlt. Er sah wieder Tezzas irren Blick vor sich, fühlte die Macht, mit der sie ihn bekämpfte und den heftigen Schmerz, als es endlich endete. Er hatte mit keinem Wort Gabriel gegenüber erwähnt, dass er für Tezzas Tod verantwortlich war - und das würde er auch nicht.

„Danke für die Information. Ja, alles bestens.“ Als Gabriel auflegte und sich übers Haar strich, wirkte er mit einem Mal sehr verletzlich.

„Wie lange hast du noch, Gabe?“

Gabriel verzog das Gesicht zu einer gutmütigen Grimasse angesichts der Abkürzung seines Namens. „So deutlich, ja?“

„Die Zeiten, da du mir etwas vormachen kannst, sind lange vorbei.“

Sein Schulterzucken geriet kläglich. „Ein Versuch war es wert.“

„Ebenso wie der, mir auszuweichen?“ Eine Faust ballte sich um Lorins Herz. Er wollte den Schmerz auf dem Gesicht seines Freundes wegwischen, ihm helfen.