Für meine Kinder. Die in ihrer je eigenen Art
 so unverwechselbar begabt und wunderbar sind.

Statt eines Vorworts: Als ich dieses Buch schrieb, ...

... merkte ich, dass ich mich sehr gut auskenne mit dem, was ich über Vielbegabte zu erzählen hatte, und dass ich mich – selbst Vielbegabte – im Schreibprozess oft mit genau diesen Dingen herumplagte. Ich merkte aber auch, dass das Wissen darum mir enorm half. Ich konnte mich schneller innerlich wieder aufrichten, nachjustieren und meine Richtung wieder finden. Die Selbstkritik abstellen, wenn sie zu heftig wurde, und den inneren Stimmen erfolgreich die Stirn bieten. Ich konnte mir selbst immer wieder sagen: „Durchatmen, Annette – durchatmen!“ Anlass dazu hatte ich reichlich, denn als ich dieses Buch schrieb …

Und ich lernte noch vieles mehr. Dennoch bin ich heute an einem Punkt, an dem ich sagen kann: Es ist schön, vielbegabt zu sein und mit Multitalenten ausgestattet durch ein (auch dadurch) spannendes Leben zu gehen und ein Buch zu schreiben. Und ich hoffe, dass ich mit diesen Erfahrungen aus der Zeit des Schreibens andere Vielbegabte ermutigen kann, ihre Vielbegabung als etwas Großartiges anzuerkennen und ihre Möglichkeiten zu entdecken und zu ergreifen! Seid mutig und geht eure Wege, denn wie schon Loriot in „Menschen, Tiere, Katastrophen“ schrieb: „Wenn ich es recht bedenke, ist die berufliche Frage bei mir eigentlich nie ganz gelöst worden.“

1. Leseeinladung: Das Für-wen-Kapitel

Für wen sind Bücher gemacht? Für Leser.

Für welche Leser ist dieses Buch gemacht? Für Sie zum Beispiel. Für Menschen mit Interesse an einem Thema. Das Thema dieses Buches ist Vielbegabung. Und wenn Sie dieses Buch in der Hand halten oder es gar gekauft haben, hat der Begriff Vielbegabung irgendetwas in Ihrem Inneren angesprochen – bewusst oder unbewusst.

In diesem Buch geht es aber auch um Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Vielleicht war es ja die Kombination dieser Themen, die Ihr Interesse geweckt hat.

Wichtig ist: Sie lesen. Menschen lesen Bücher, weil der Inhalt, der Titel, die Aufmachung oder eine Empfehlung ihr Interesse daran geweckt hat. An dieser Stelle könnte ich dieses Kapitel beenden. Aber: Das „Für-wen-Kapitel“ stellt auch die Frage, ob das Buch für Sie als Leserin oder Leser geeignet ist.

Wofür sind Bücher gemacht? Natürlich zum Lesen. Bücher sind Orte des Wissens, der Unterhaltung und der Bildung. Ein guter Freund sagte, sie verdichten Lebenserfahrungen von anderen Menschen auf wenige Zeilen und können dadurch helfen, Zeit zu sparen. Dieses Buch möchte unterhaltend bilden und Wissen anbieten. Und wenn Sie dadurch Zeit sparen – prima! Es soll einen Nutzen für Sie, den Leser, haben und Freude machen. Es wurde von einer Vielbegabten geschrieben, und wir vielbegabten Scanner haben Freude daran, Wissen zu erlangen, Themen zu erfassen, hierhin zu schauen und dorthin zu schnuppern. Deshalb unternimmt dieses Buch den Versuch, Informationen über Vielbegabung und Achtsamkeit in einer gut lesbaren Form darzubieten.

Darüber hinaus möchte ich ein recht neues und bislang noch nicht weithin bekanntes Thema einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Es gibt verschiedene Begabungsformen. Hochbegabung kennt man. Hierzu wird schon seit Längerem gelehrt, geforscht und geschrieben. Mittlerweile gibt es auch kritische Relativierungen und Neudefinitionen. Die auch als Wahrnehmungsbegabung bezeichnete Hochsensibilität ist seit einiger Zeit im Bekanntheitsgrad gestiegen und es gibt zahlreiche Fachbücher dazu. Auch hier wird geforscht über das Phänomen als solches, die Auswirkungen und die Verbreitung. Allgemein werden Menschen sensibler dafür, dass wir alle in unserer Persönlichkeit unterschiedlich sind – und ein Teil unserer Persönlichkeit ist unsere Begabung. Das Bewusstsein für Vielbegabung ist noch neu und es gibt bislang wenig Fachliteratur. Fachleute in beratenden, therapeutischen oder pädagogischen Berufen wissen zum großen Teil noch nicht ganz so viel darüber oder haben noch gar nichts davon gehört.

Bücher sind Teil unserer Bildung. In diesem Sinne möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag leisten und Ihnen allen einen Einstieg in das noch eher unbekannte Thema Vielbegabung ermöglichen. Ein besonderes Anliegen ist mir hier die achtsame Selbstfürsorge für Betroffene. Ich stütze mich auf persönliche Erfahrungen, Beobachtungen in meiner beruflichen Praxis, fachlichen Austausch, viele gelesenen Seiten Fachliteratur und mein persönliches Wissen, das ich im Verlauf von 48 Lebens- und nahezu 30 Lehr-, Studien- und Berufsjahren erworben habe.

Wie ist das Buch strukturiert?

In Kapitel 2 erkläre ich die zentralen Begriffe, um die es in diesem Buch geht. Vielbegabung (hier werden im Folgenden Vielbegabung und Scanner bzw. Scannerpersönlichkeit synonym verwendet) und abgrenzend dazu Hochsensibilität und Hochbegabung. Ebenso verfahre ich mit Selbstfürsorge, Achtsamkeit und dazugehörigen Themen.

In Kapitel 3 eröffnet sich ein tieferer Blick auf Denken, Fühlen, Lebensaufgaben und Möglichkeiten Vielbegabter. Es geht um eine Verständnisebene für alle, die mit Vielbegabten zu tun haben, und darum, Missverständnisse aufklären. Doch auch Vielbegabte erhalten hier eine tiefere Einsicht in ihre besondere Form der Begabung.

Mit praktischen Übungen und gedanklichen Brücken kommt das vierte Kapitel seiner Forderung „Butter bei die Fische“ nach und bietet Lösungsansätze aus der achtsamen Praxis und für gute Selbstfürsorge im Alltag. In diesem Kapitel wechselt die Anrede des Lesers übrigens vom Sie zum Übungs-Du.

Im Anhang finden Sie schließlich verwendete und empfehlenswerte Literatur und nützliche Internetseiten.

Infoboxen sollen an verschiedenen Stellen das Gesamte aus der Perspektive des wissenden Verstehens abrunden. Darüber hinaus kommen immer wieder Fachleute und Vielbegabte selbst zu Wort, um Themen inhaltlich abzurunden und über persönliche Eindrücke und Geschichten das Beschriebene besser verständlich zu machen.

Sie müssen dieses Buch nicht von vorne nach hinten lesen. Lassen Sie sich gerne treiben, wenn Ihnen das Freude macht. Wenn Sie gleich ins Tun kommen wollen, können Sie auch mit den Übungen in Kapitel 4 einsteigen und den erklärenden Teil nachlesen, wann immer es für Sie passt.

In vielen Bereichen wird heute sehr stark auf geschlechtergerechte Sprache geachtet. Ich verwende in diesem Buch häufig „der Vielbegabte“ und meine damit den vielbegabten Menschen. Durch eine Interviewteilnehmerin, die in diesem Buch zu Wort kommt, und ihr Fachgebiet Diversity bin ich sensibilisiert für meine Grenzen einer diskriminierungsfreien Sprache und das Thema im Allgemeinen. Es ist so umfassend, dass auch in Bezug auf Begabungen eine Diskussionsgrundlage vorhanden ist. Ich verwende das Wort vielbegabt und zur Unterscheidung das Wort normalbegabt, ohne damit ausdrücken zu wollen, eines von beiden sei weniger wert oder eben unnormal.

2. Was ist das denn?!
Das einführende und erklärende Kapitel

Wer zu der Feststellung gelangt: „Hilfe, ich bin vielbegabt!“ kennt zumindest den Begriff der Vielbegabung und hat vielleicht auf irgendeine Art erfahren, dass es sogenannte Scannerpersönlichkeiten gibt. Eventuell hat er auch eine Ahnung bekommen, was das bedeuten kann. Ich kenne viele Menschen, für die die Entdeckung, ein sogenannter Scanner zu sein, ein „Kronleuchter-Erlebnis“ war. Es war nicht ein erhellender Moment, sondern es gingen alle Lampen auf einmal an und viele Lebensgeschichten, Begebenheiten, Erfahrungen und eigene Wege ließen sich plötzlich und auf einen Schlag erklären. Auf diese gewaltige Erkenntnis folgt oft die stille Frage „Und jetzt?“ – Um diesen Verstehens- und Lernprozess, der der reinen Erkenntnis folgt oder folgen sollte, geht es in diesem Buch. Sie werden lernen, wie das gerade erfahrene Neue in den Alltag integriert und wie etwas vielleicht Verstörendes zu einem nützlichen Potenzial werden kann.

Doch bis es so weit ist, muss erst einmal die Erkenntnis da sein. Um sie zu erlangen, beantworte ich zuerst die Frage: „Was ist das denn?!“

2.1 Begriffsklärung: Die vielbegabte Scannerpersönlichkeit

Im Begriffsdschungel:

All das sind Begriffe, die für vielbegabte Menschen benutzt werden (können). Umgangssprachlich wäre auch der Alleskönner oder das Universalgenie passend. In Österreich würde man vielleicht auch Tausendsassa sagen, was ungefähr so viel bedeutet wie ein Tausend-Dies-und-Das. Oder diese Wortentdeckung amüsiert mich noch immer, Wunderwuzzi. Sind Scanner Unternehmer, werden sie oft zu sogenannten Polypreneuren: Sie gründen mehrere Firmen, setzen mehrere Ideen um und bringen sie in die Öffentlichkeit.

Entdeckt und bekannt gemacht wurde die Scannerpersönlichkeit von Barbara Sher.

Barbara Sher, geb. 1943 in den USA. Unternehmerin, Karriereberaterin, Autorin. Sie gilt als Mitbegründerin des Life-Coaching und wird deshalb auch als „godmother of life coaching“ bezeichnet.

Tätigkeiten: Workshops und Seminare an Universitäten, für große Organisationen und Behörden

1972: Gründung erster Erfolgsteams („Successteams“, Unterstützungsteams zur Zielerreichung)

1979: Erste Buchveröffentlichung: „Wishcraft: How to get what you really want“, auf die zahlreiche weitere Veröffentlichungen folgen.

Sie prägte den Begriff Scanner für vielbegabte Menschen.

Sher lebt in New York und Teile des Jahres in Kappadokien (Zentraltürkei), wo sie eine handwerkliche Initiative von Teppichwebern unterstützt.

Die US-amerikanische Karriereberaterin und Life-Coach widmete ihr Buch „Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast“ den Scannern. In einem früheren Buch hatte sie diesen Begriff zum ersten Mal erwähnt und ihn somit in die Welt gebracht. Doch wie ist es dazu gekommen?

In den vielen Jahren ihrer Arbeit mit unterschiedlichen Menschen machte Barbara Sher die Entdeckung: Bei bestimmten Klienten gab es eine Gemeinsamkeit, eine Art Merkmal. Oft waren diese mit ähnlichen Fragestellungen, Aufgaben oder Problemen beschäftigt. Sher erkannte hier ein Muster. So wie es Menschen gibt, die unverkennbar intelligenter sind als der Durchschnitt, oder Menschen, die überdurchschnittlich musikalisch begabt sind …. oder, oder, oder … genauso gibt es auch Menschen, die Begabungen und Interessen in verschiedenen und sogar mehreren und immer wechselnden Bereichen haben. Diese Vielseitigkeit, dieses „Multi“ in Bezug auf Begabungen und Interessen schienen für Sher ein Muster zu sein und die Ursache für einige Grundfragestellungen oder Grundprobleme im Leben dieser Klienten. Sie setzte ihre Beobachtungen fort und bezeichnete die Menschengruppe, die sie im Blick hatte, als Scanner. Zur Abgrenzung und Erklärung beschrieb sie neben dem Scanner einen weiteren Typ, den des Tauchers. Durch diese bildhaften Begriffe hatte Barbara den Typus Scanner griffig und verständlich gemacht.

Was oder wer aber ist der Taucher? Wir alle kennen ihn gut, denn er ist der Spezialist, der heute so beliebte Experte. Taucher sind die Menschen, die für ein Thema brennen. Haben sie dieses einmal entdeckt, bleibt es der Kern ihres Interesses. Es kann zum erfüllenden Hobby werden, die berufliche Entwicklung prägen und auch Lebensthema sein. Ganz anders der Scanner. Auch der Vielbegabte entdeckt ein Thema und ist erfüllt davon. Er gibt sich ganz hinein, durchdringt es – und schließt dann mit diesem Thema ab. Umgangssprachlich ausgedrückt: Er ist einfach durch damit. Nach seinem Empfinden hat er alles ausreichend und in Gänze für sich erfasst und somit den Punkt erreicht, an dem es aus seiner Perspektive nichts Neues mehr zu entdecken gibt. Eine Ausnahme ist der Zyklische Scanner (siehe Abschnitt 2.1.4 Scanner-Typen).

Auch wenn er Barbara Sher seinerzeit als passend erschien, ist der Begriff Scanner eher unglücklich. Juli Dorothee Scheld, Emotions-Coach und Begabungsexpertin führte 2010 den im deutschsprachigen Raum wesentlich besser verständlichen Begriff der Vielbegabung ein (siehe dazu Abschnitt 2.1.2 Der Begriff Scanner – Versuch einer Übersetzung).

2.1.1 Darf ich vorstellen: ein Scanner

Anders als für Taucher sind für Scanner Themen und Inhalte endlich. Irgendwann erschöpfen sie sich, und so sind spannende Themen, Hobbys und Vorlieben auf ganz selbstverständliche Art Erscheinungen auf Zeit. Und für den Scanner ist das überhaupt nicht schlimm, denn die Welt ist voller interessanter Dinge. Jedes neue Thema, Projekt oder Hobby ist für sie eine echte Entdeckung! Und der Kreislauf von Begeisterung, Hineinstürzen, Aufsaugen und Ausleben geht immer wieder aufs Neue los, bis – ja, bis das Thema erfasst und damit abgearbeitet ist. Der Scanner kann dann loslassen, denn oft hat das nächste Interesse schon längst angeklopft.

Umgekehrt können Scanner sich oft nur schwer festlegen oder entscheiden. Wenn ich mich für eine Sache entscheide, erteile ich doch allen anderen eine Absage. Wie furchtbar! Das will der Scanner natürlich überhaupt nicht. Am liebsten würde er alles auf einmal machen. Beides kennt Barbara Sher aus ihrem eigenen Leben: das Interesse für viele, immer neue Dinge und die Not, sich nicht entscheiden zu können. Es klingt zunächst absurd, aber genau diese Gegensätzlichkeit erlebt eine vielbegabte Scannerpersönlichkeit ständig und mit großer Intensität.

Sehr plastisch und eindrücklich schildert Sher ihren Start am College. Während ihre Freundinnen Pläne anfertigten, wie sie denn zeitlich alle Erstsemesterveranstaltungen unter einen Hut bringen konnten, war Barbara schon in den Sog der vielfältigen Themen des Semesterprogramms gezogen und konnte nicht glauben, dass sie sich wirklich für einige Dinge entscheiden sollte. Sie wollte doch so viele dieser wunderbaren Veranstaltungen belegen und warum sollte sie sich auf Erstsemesterangebote beschränken oder einem einzigen Fachgebiet ihre Aufmerksamkeit schenken?

Diese Vielfalt an Interessensfeldern macht aus dem Scanner oft einen „Häufchenbilder“. Hier hat er einen Stapel Bücher oder Zeitschriften liegen, die alle ein Thema behandeln, auf das der Vielbegabte vor einer Weile in einem Gespräch aufmerksam wurde. Dort steht eine Kiste mit Materialien für eine bestimmte Technik zur Herstellung von XY (hier kann ALLES eingesetzt werden), weil ihn der Herstellungsvorgang und / oder das Ergebnis so begeistert haben und das Ganze so spannend ist … Scanner sammeln, Ideen und Sachen. Und das Sammeln erhält das Thema oder eine Idee am Leben. Aber hin und wieder braucht man Platz, muss sich von etwas trennen und sich verabschieden. Für Scannerpersönlichkeiten eine sehr fordernde Aufgabe. Scanner, die (noch) nicht um ihre vielbegabte Persönlichkeit wissen, klammern sich mitunter an Dinge. Irgendwann, so denken sie, werden sie sich endlich entscheiden oder festlegen können. Schließlich müsse sich jeder einmal entscheiden und dann, ja dann endlich werden sie sich dieser Sache auch ganz widmen können. Aber Entscheiden ist, wie Aussortieren, für Scanner keine leichte Aufgabe.

Woher kommt dieses Nicht-loslassen-Können? Häufig von der noch nicht erkannten Freiheit, dass man Themen beenden darf. Ohne diese Erkenntnis kann daraus ein Teufelskreis werden: „Aber das fand ich mal toll. Ich kann doch nicht …“ Doch! Wir können. Loslassen, beenden und aussortieren. Positiv gedeutet heißt das, wir können Raum für Neues schaffen.

Ein weiteres Merkmal von Vielbegabten beschreibe ich gerne mit dem Wort Ideenmaschine. Scanner produzieren immerzu Ideen, worin sich eine Ähnlichkeit zum Bilden von Häufchen zeigt. Wenn ich von einem Thema, einem Artikel, einem Buch oder etwas anderem auf eine Idee gebracht werde, statte ich mich gerne schnell mit (viel) Material dazu aus. Denn ich habe ja diese Idee, und die würde ich, wenn ich könnte, gerne umsetzen. – Manchmal schwirrt Vielbegabten nur so der Kopf. Eine Idee jagt die nächste und man bekommt kaum Ordnung hinein. „Ich sehe vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr“ – an diesen Punkt kommen sie sehr leicht.

Scanner könnten immer neue Initiativen starten, Vereine oder Gruppen initiieren, machen gerne bei vielen Projekten mit und sind oft bereit, auf Anfrage mitzuarbeiten. Denn: Alles ist ja spannend. Vielleicht ist ein anderer Bereich auch schon etwas zur Routine geworden und deshalb hat eine gewisse Langeweile Einzug gehalten. Langeweile können Scannerpersönlichkeiten nur schwer ertragen. Dann sind die Türen offen für neue Projekte, seien es berufliche Herausforderungen, eine spannende These, über die man fällt, eine neue Technik zur Bildbearbeitung, eine interessante Ernährungsvariante … eine gefundene Abwechslung.

Gleichzeitig kennen Scanner starke Selbstzweifel nur zu gut und verbunden damit ist das Selbstbild „Ich kann eigentlich gar nichts“. Das ist einem scheinbaren Unterschied geschuldet, den sie zwischen sich selbst und den Menschen im Umfeld wahrnehmen. Die können sich einer Sache lange, intensiv und überzeugt widmen, während man selbst immer einen Drang zu Neuem verspürt.

Ich höre Nichtscanner immer wieder sagen: „Ja, das sind die, die immer und überall mitmischen (müssen)“. Oder: „Na, prima, jetzt haben die, die nichts zu Ende bringen und immer wieder was Neues anfangen, auch einen wohlklingenden Namen.“ Diese und ähnliche Einwände habe ich von sogenannten Normalbegabten schon oft gehört. Aber diese Kritik trifft nicht den Kern der Sache. In Kapitel 3 über typische Denkmuster von Scannern und die häufigsten Trugschlüsse Vielbegabter erfahren Sie mehr zu diesem Thema.

Wenn man es positiv formuliert, sind vielbegabte Scannerpersönlichkeiten Menschen mit einem hohen kreativen Potenzial und einer Ressource, die sehr nützlich sein kann: eine Art innerer Flexibilität, die sich in Neugier, Wissensdurst und Aufgeschlossenheit bemerkbar macht. Sie können sich sehr gut auf neue Dinge und Aufgaben einstellen. Aber wehe, etwas wird langweilig und es gibt nichts mehr zu lernen oder zu entwickeln! Erloschenes Interesse ist schlecht für die Motivation und Langeweile ist ein Killer. Vielbegabte sind nicht nur innerlich sehr flexibel, sie brauchen auch Abwechslung und neue Herausforderungen, neue Inhalte und die Möglichkeit, diesem Bedürfnis genug Nahrung zu geben. Juli Dorothee Scheld (siehe Versuch einer Übersetzung) sagt, dass Vielbegabte einen hohen Wissens- und Entwicklungsantrieb haben und dieser ständig eine bestimmte Futtermenge benötigt, damit sie zufrieden sind. Es muss also genügend Input geben. Routinen hingegen und immer gleichbleibende Abläufe sowie persönlicher Stillstand sind ihnen ein Gräuel.

Zu dieser Lust an Neuem meint Barbara Sher, dass kaum jemand sich einer Sache so hingeben kann wie ein Scanner. Und dass es wenige Menschen gibt, die Langeweile so schwer ertragen können wie Vielbegabte. Als größten Unterschied zwischen Scannern und Normalbegabten, macht Sher aus, dass Erstere schneller lernen als die meisten anderen Menschen. Ich möchte ergänzen: Vielbegabte lernen nicht nur schneller, sie haben auch eine ausgesprochene Lust am Lernen, Ausprobieren und Umsetzen.

„Der typische Scanner dringt in Rekordgeschwindigkeit in ein neues Thema vor, da er einen wissbegierigen, hungrigen Geist hat, dessen Lieblingsgericht das Lernen ist. Mehr als alles andere wollen Scanner etwas Neues lernen. Und dafür haben sie die größte Begabung.“

Barbara Sher, Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast, S. 53

Die Fähigkeit zu lernen ist eine sogenannte universelle Eigenschaft der Persönlichkeit, die wir Menschen im Prozess der Evolution erworben haben. Auf alle Menschen bezogen heißt das: Jeder kann lernen. Wenn die besonders ausgeprägte Lust am Lernen, Ausprobieren und Umsetzen den Kern der Scannerpersönlichkeit ausmacht, kann man die Vielbegabung und das Scanner-Sein demnach als individuelle Eigenschaft der Persönlichkeit beschreiben. Barbara Sher trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie von besonderen Denkern spricht.

Kritische Stimmen könnten jetzt sagen: „Was hier beschrieben ist, ist doch alles völlig normal.“ Ja, das stimmt. Jeder Mensch ist auf seine Weise kreativ und verfügt über ein gewisses Maß an Flexibilität. Die meisten Menschen brauchen Abwechslung und haben Spaß an neuen Dingen. Und immer wieder erleben sie Schübe, die sie zu Neuem anspornen. Der Unterschied jedoch ist: Beim Vielbegabten ist das ein Dauerzustand. Scannerpersönlichkeiten sind immer im Produktionsmodus. Sie kreieren ohne Unterlass. Wie bei einer Maschine, die keine Ruhephasen kennt, gibt es bei ihnen ein Mehr. Und dieses Mehr ist weder gut noch schlecht, ist keine Wertung, sondern beschreibt das Anders-Sein.

2.1.2 Der Begriff Scanner – Versuch einer Übersetzung

Shers Begriff Scanner lässt sich nicht einfach übersetzen und ist oft erklärungsbedürftig; das zeigt sich auch an der Vielzahl der möglichen und irgendwie passenden Begriffe zu Beginn dieses Kapitels. Wenn ich im Gespräch mit anderen Menschen das Wort Scanner fallen lasse, erlebe ich immer wieder, dass es auch Befremden auslöst. In unserem Sprachgebrauch ist Scanner ein technischer Begriff und allein das Wort Scannerpersönlichkeit bedarf vielleicht deshalb vieler Erklärungen, weil der Begriff aus dem Zusammenhang gerissen erscheint. Im Februar 2017 lernte ich Juli Dorothee Scheld (Emotions-Coach und Begabungsexpertin) kennen, und erfuhr, dass auf sie der im deutschsprachigen Raum mittlerweile sehr verbreitete Begriff Vielbegabte als Bezeichnung für Scanner zurückgeht. Im Jahr 2010 kam es zu einem intensiven Austausch zwischen ihr und Barbara Sher; es ging um die Schnittmenge zwischen Scannern und Hochbegabung. Scheld übersetzte anschließend Scanner mit Vielbegabte und führte den Begriff im deutschsprachigen Raum ein.

Für Scheld ist bereits die Begeisterungsfähigkeit für immer neue Themen, die Auseinandersetzung damit und das Hineingehen in ein Thema, Gebiet oder eine Aufgabe eine wichtige Begabung. Und wofür ich mich wirklich begeistere, dafür habe ich laut Sher auch eine Begabung.

Nun höre ich geradezu die Kritiker ausrufen: „Ja, aber nicht jeder, der sich für die Kunst des Mittelalters begeistert oder die Oper, wird gleich zum Experten für mittelalterliche Malerei oder zur Opernsängerin.“ Stimmt! Wenn ich aber hier von Begabung spreche, dann meine ich damit: Ein Thema, das mein Interesse erlangt, kann in der Beschäftigung mit ihm ganz unterschiedliche äußere Formen annehmen. Eine Opernliebhaberin geht – im Normalfall –einfach in die Oper. Aber einer vielbegabten Opernliebhaberin reicht das nicht. Es stellt sie nicht zufrieden. Ihre Art des Eintauchens ist nicht, die Geschichte der Oper oder der Werke bis in die Tiefen zu ergründen und somit zum klassischen Experten, einem sogenannten Taucher zu werden. Die vielbegabte Opernliebhaberin geht in die Oper und möchte singen, Bühnenbilder entwerfen oder Kostüme oder selbst eine kleine Oper schreiben. Sie könnte also Noten lernen, sich zur eigenen Freude mit Partituren beschäftigen und einige Arien einstudieren. Vermutlich wird sie nie auf einer großen Bühne und vor Publikum stehen, aber sie wäre nah an ihrem Thema. Oder sie würde sich – weil ihr das Notenlesen und Singen nicht in die Wiege gelegt wurden – mit der Geschichte der Oper befassen. Daraus könnte ein Vortrag entstehen oder ein Artikel. Sie könnte auch Führungen durch Opernhäuser machen. Vielleicht ist sie von Beruf Erzieherin oder Lehrerin. Dann könnte sie versuchen, den Kindern, mit denen sie arbeitet, etwas von ihrer Opernleidenschaft zu vermitteln.

Was den Vielbegabten kennzeichnet und ihn vom Taucher unterscheidet ist die Tatsache, dass seine Begeisterung von begrenzter Dauer ist. Wie lange eine solche Vorliebe oder Leidenschaft andauert, kann sehr unterschiedlich sein, aber das Besondere des Begabungsmerkmales Vielbegabung ist genau die zeitliche Begrenzung.

Der deutsche Begriff Vielbegabung ermöglicht es, sich das Thema Begabung noch auf eine andere Art zu erschließen. Hört man, jemand habe eine Begabung, denkt man sehr schnell, dass er aus diesem Geschenk etwas machen kann. Sie kann ihm beruflich nützen oder wenn aus einem Hobby eine erfolgreiche Tätigkeit wird, bringt sie ihm Geld und Anerkennung. Sportliche Begabungen führen oft vom Sportverein über erst kleine und dann immer größere Wettkämpfe zu Medaillen und anderen Erfolgen. Daraus kann eine (ehrenamtliche) Trainertätigkeit werden, vielleicht aber auch die große Karriere als Profisportler. Eine musikalische Begabung führt zunächst in die Musikschule. Das dort erlernte Instrument wird zum Lebensbegleiter, bleibt entweder ein geliebtes Hobby oder beeinflusst doch den beruflichen Weg.

Wenn wir von Vielbegabung sprechen und uns Juli Dorothee Schelds Übersetzung anschauen – die Fähigkeit, sich für viele Dinge zu begeistern und sich immer neuen Themen mit voller Energie widmen zu können – wird deutlicher, was Vielbegabung meint. Begabung ist normalerweise mit Kontinuität verbunden. Diese gibt es auch bei Vielbegabten, allerdings zeigt sie sich hier in der Fülle und im beständigen Wechsel. Für sie ist das immer Neue kontinuierlich und lebensbegleitend.

2.1.3 Der rote Faden im Scanner-Leben

Scheld hat in ihrer Arbeit mit Vielbegabten beobachtet, dass es bei aller Vielfalt einen roten Faden zu geben scheint. Dieser zieht sich durch das ganze Leben und somit auch durch die vielen Aktivitäten und Interessen, durch berufliches wie privates Tun. Nur ist vielen dieser rote Faden nicht bewusst.

Vielbegabte, die entweder noch nicht erkannt haben, dass sie Scanner sind oder diese Besonderheit noch nicht in ihr Leben integrieren konnten, leiden oft unter typischen Problemen: Sie können sich nicht entscheiden und haben immer das Gefühl, mit ihrer inneren Vielfalt „falsch“ zu sein. Oft sehen sie sich mit einem Umfeld konfrontiert, das mit Unverständnis reagiert, sobald sie ihr Interesse wechseln, wenn ein Thema für sie „ausgereizt“ ist. Das setzt ihnen zu und beschäftigt sie sehr.

Erkennt man in dieser Situation seinen roten Faden, sein eigenes Kernthema, bedeutet das für die meisten Vielbegabten eine große Erleichterung. Diese Erfahrung konnte Scheld machen. Mit anderen Worten: Die Eier legende Wollmilchsau erkennt, dass es bei ihr so etwas wie eine Linie gibt. Diese Klarheit kann sehr, sehr erleichternd sein und führt laut Scheld zu innerer Ruhe bei ihren Klienten und Klientinnen. Drei verschiedene Arten von rotem Faden konnte sie ausmachen: einen inhaltlichen Faden, einen praktischen oder einen, der in einem übergeordneten Wert erkennbar ist.

Der praktische Faden zeigt sich nicht in einer bestimmten Handlungsweise. Wer beispielsweise immer schreibt, ist nicht unbedingt ein Scanner, bei dem das Schreiben der praktische rote Faden ist. Aber wer eine Leidenschaft für das Vermitteln hat und in vielen Interessensgebieten und Kontexten unterwegs ist, könnte entdecken, dass Wissensvermittlung – egal um was es inhaltlich geht – für ihn der rote Faden ist. Und im Entwickeln von Vermittlungstechniken, Lernorten oder der Darstellung von Inhalten können Scanner sehr kreativ sein.

Der rote Faden kann auch inhaltlicher Natur sein. Vielleicht merke ich, dass ich mich immer wieder mit dem Leben von Menschen in der Stadt beschäftige. Ich lese immer wieder dazu, nehme an Diskussionen zu dem Thema teil, interessiere mich für urbane Architektur, Stadtplanung, kulturelles Leben, Geräuschbelästigung und vieles andere, was immer in irgendeiner Form mit Menschen in der Stadt zu tun hat.

Eine weitere sehr spannende Art ist der übergeordnete rote Faden, der sich zum Beispiel in einer Lebenshaltung oder einer persönlichen Überzeugung zeigt oder an einen Wert anknüpft. Achtsamkeit kann ein solcher roter Faden sein. Wenn ich merke, dass mir bestimmte Haltungen eines achtsamen Lebens wichtig sind, leitet diese Haltung mein Tun. Als Teil der achtsamen Haltung ist mir vielleicht die Freiheit von Bewertungen besonders wichtig, und zwar in sehr vielen unterschiedlichen Kontexten, im Berufs- wie im Privatleben. Im Kollegenkreis gilt man als guter Feedbackgeber und wird zum gewünschten Gesprächspartner in Konfliktsituationen, weil man die Fähigkeit besitzt, sich nicht auf eine Seite zu schlagen, sondern neutral zu bleiben. Vielleicht ist jemand deshalb gerne Schiedsrichter und auch sehr angesehen in dieser (ehrenamtlichen) Tätigkeit, weil er keine Partei ergreift, sondern gerecht auf dem Spielfeld agiert.

Die Entdeckung meines roten Fadens rundete für mich vieles weiter ab, was schon durch die Einsicht „Ich bin ein Scanner“ erhellt worden war. Die Erkenntnis, ein Scanner zu sein, war der schon erwähnte Kronleuchter-Moment, die Entdeckung des roten Fadens hingegen stellte eine tiefe Zufriedenheit her. Mich und mein Tun, mein scheinbares Springen von einem zum anderen, erkannte ich als sinnvoll. Mein roter Faden heißt Umsetzung. Ich kann mich für jede Art von neuem Projekt begeistern und es zur Umsetzung führen. Ich kann mich für Ideen anderer begeistern und Geburtshelferin für unterschiedliche Wege der Zielerreichung werden. Ich bin prädestiniert für überschaubare Initiativaufgaben, da es mir sehr leichtfällt, die Zügel abzugeben, wenn etwas gut auf dem Weg ist und sich eingependelt hat. Ich mag Weiterentwicklung, denn jede Innovation darf umgesetzt werden. Mein Ideenbuch quillt über vor Ideen und ersten Ansätzen für eine Umsetzung. Ich merke auch schnell, wenn die Umsetzung zu viele Haken hat und keinen Sinn macht. Ich bin dankbar, dass ich meinen roten Faden gefunden habe und dass Juli Dorothee Scheld mich auf die Idee gebracht hat, ich könnte einen haben.

2.1.4 Scanner-Typen in Anlehnung an Barbara Sher sowie typische Scanner-Themen

Kein Scanner gleicht dem anderen. Warum sollte es auch anders sein als grundsätzlich bei allen Menschen?