Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2017

Copyright © der Originalausgabe: 2014 Joanna R. Macy und Molly Young Brown
Die Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel Coming Back To Life: The Updated Guide to The Work That Reconnects bei New Society Publishers Ltd., Gabriola Island, British Columbia, Canada, erschienen.

Übersetzung: Barbara Hamburger-Langer und Gunter Hamburger, Neuhausen ob Eck

Coverillustration: © Kat Bodie

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2017

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-628-8

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-657-8 (EPUB), 978-3-95571-659-2 (PDF), 978-3-95571-658-5 (MOBI).

In herzlichem Gedenken an

Francis Macy

(1927–2009),

der diese Arbeit so sehr liebte und ihr den Namen gab.

Er ist stets an unserer Seite,

solange sie weiter erblüht.

Verzeichnis der Übungen

Abschieds- und Trauerritual

Anrufung der Wesen der drei Zeiten

Beratungsgruppen

Bildhaftes Gestalten innerer Bilder

Botschaften an Häuptling Seattle

Campaigning

Corbett

Das Bestiarium – ein Zeugnis ausgestorbener Tierarten

Das Gewebe des Lebens

Das Klärungskomitee

Das Rad des Großen Wandels

Das Rätsel der Allmende (auch als Nuss-Spiel bekannt)

Das Roboterspiel

Das Schwert im Stein

Das Systemspiel

Das Verzweiflungsritual

Das Wahrheitsmandala

Das Wiegen

Der Segenskreis

Der Tanz zur Zerstückelung des Egos

Der Ulmentanz

Dialoge mit Mara, um unsere Entschlossenheit zu stärken

Die Bodhisattva-Perspektive (oder: Ich entscheide mich für dieses Leben)

Die evolutionären Gaben der Tiere

Die fünf Versprechen

Die Gaben der Vorfahren ernten

Die galaktische Ratsversammlung

Die Geschichte vom Seestern und das Ritual

Die Konferenz des Lebens

Die Landkarte deines Lebens

Die menschliche Kamera

Die Schale der Tränen

Die siebte Generation

Die Versammlung der Geschichtenerzählerinnen

Durchatmen

Ein Bild unserer Kraft

Ein Brief von Zukünftigen

Einander sehen lernen (Die vier Wohnsitze)

Einen Unterschied machen

Einleitung mit Dankbarkeit

Erdungsprozess

Es ist mir egal

Feldforschung zum Großen Wandel

Gefühle im Rhythmus von „Boom Chicka Boom“

Gespräche im Kreis

Gesprächsrunden zur Dankbarkeit

Gruppenprozess: Das Zerbröseln der Systeme

Ich zeige meiner Partnerin etwas Schönes

Jetzt – Vision – Übergang

Mitten im Leben (Milling)

Mitten im Leben mit Offenen Sätzen

Netzwerke bilden

Offene Sätze

Offene Sätze für den Großen Wandel

Offene Sätze zum Weitergehen und Handeln

Offene Sätze zur Dankbarkeit

Offene Sätze zur Tiefenzeit

Offene Sätze, um unseren Schmerz auszudrücken

Roboter und Gummimenschen

Spontanes Schreiben

Studien-Aktions-Gruppen bilden

Tonaufnahmen für Zukünftige

Unser Leben als Gaia

Vertrauensspaziergang: „Schau in den Spiegel“

Wachsende Ringe

Wer bist du?

Wie können wir mit anderen Menschen über unsere Sorgen und Hoffnungen sprechen?

Wir haben vergessen, wer wir sind

Wir verneigen uns vor unseren Widersachern

Ziele und Ressourcen

Vorbemerkung der Übersetzerin und des Übersetzers

Zur Aktualität des Buchs

Bei dieser Übersetzung handelt es sich um eine völlige Neubearbeitung, Aktualisierung und Erweiterung. Die früheren Übersetzungen mit dem deutschen Titel Die Reise ins lebendige Leben beziehen sich auf eine ältere Ausgabe von Coming Back To Life aus dem Jahre 1998 und sind deshalb nur in Teilen inhaltlich vergleichbar.

Seit der Fertigstellung der amerikanischen Originalfassung im Jahre 2014 sind weltweit, vor allem in Europa, gravierende Ereignisse geschehen, die unsere tiefenökologische Arbeit wesentlich beeinflussen, sodass sie sich in der deutschen Übersetzung teilweise widerspiegeln. Außerdem wird die deutsche Übersetzung um Inhalte ergänzt, die in der amerikanischen Originalfassung nicht enthalten sind, jedoch bei uns relevant sind. Beides geschieht in Übereinstimmung mit den beiden Autorinnen Joanna Macy und Molly Brown und dem Verlag.

Anmerkungen zu einer gendergerechten Sprache

Es ist uns wichtig, dass dieses Buch flüssig gelesen werden kann und keine Irritationen durch eine mit Sonderzeichen versehene geschlechtergerechte Sprache auftreten. Wir haben uns deshalb um eine geschlechtsneutrale Sprache, wie Doppelnennungen (weibliche und männliche Bezeichnung), neutrale Formulierungen oder um eine alternierende Schreibweise (mal weiblich, mal männlich), bemüht. Wo uns dies nicht sinnvoll schien, benützen wir in der Regel die weibliche Form. In jedem Fall sind immer Frauen und Männer gemeint, wenn dadurch der Sinn des Textes nicht verstellt wird.

Grußwort des Dalai Lama

Es wird zwar immer deutlicher, wie abhängig wir in allen Bereichen unseres Lebens voneinander sind, doch hat das kaum einen Einfluss auf die Einstellung gegenüber unseren Mitwesen und unserer Mitwelt. Wir leben in einer Zeit, in der menschliche Handlungen sowohl kreative als auch destruktive Kräfte in globalem Ausmaß hervorgebracht haben. Doch es gelingt uns nicht, ein entsprechendes Verantwortungsgefühl dafür zu entwickeln. Die meisten machen sich nur Sorgen um ihre Verwandten und ihren Besitz. Natürlicherweise versuchen wir, unsere Familie und unsere Freundinnen und Freunde vor Gefahr zu schützen. Ebenso kämpfen viele darum, ihr Haus und ihr Land gegen Zerstörung und Bedrohung durch Feinde oder Naturgewalten wie Feuer oder Überschwemmungen mit all ihrer Kraft zu verteidigen.

Wir nehmen es als selbstverständlich an, dass wir saubere Luft und Wasser zur Verfügung haben, dass das Getreide wächst und genügend Rohstoffe vorhanden sind. Es ist uns klar, diese Ressourcen sind endlich, aber da wir nur an unsere eigenen Bedürfnisse denken, verhalten wir uns so, als sei das nicht der Fall. Durch unser beschränktes, selbstsüchtiges Handeln werden wir weder dem gerecht, was in unserer Zeit notwendig wäre, noch setzen wir unsere Fähigkeiten dafür ein.

Viele Menschen kämpfen heute mit Elend und Entfremdung, und wir stehen globalen Problemen wie Armut, Überbevölkerung und Umweltzerstörung gegenüber. Das geht uns alle an. Es zeigt, wie klein unsere Welt geworden ist und wie abhängig wir voneinander sind. Keine einzige Gemeinschaft oder Nation kann davon ausgehen, die Probleme für sich allein zu lösen. Es ist ein Zeichen dafür, wie abhängig wir voneinander sind. In früheren Zeiten war jedes Dorf mehr oder weniger eigenständig und unabhängig. Kooperation mit anderen außerhalb des Dorfs war nicht unbedingt notwendig und wurde auch nicht erwartet. Um zu überleben, wurde alles Notwendige selbst getan. Die Situation hat sich nun grundlegend geändert. Es ist nicht mehr zeitgemäß, nur noch in Kategorien zu denken wie „mein Volk“ oder „mein Land“, geschweige denn „mein Dorf“. Um die vor uns liegenden Probleme zu lösen, benötigen wir das, was ich als Gefühl universeller Verantwortung bezeichnet habe, verwurzelt in Liebe und Freundlichkeit für alle unsere menschlichen Brüder und Schwestern.

So, wie die Dinge heute stehen, hängt das Überleben der Menschheit davon ab, ob wir uns um alle menschlichen Wesen kümmern, nicht nur um unsere eigene Gemeinde oder Nation. Die reale Situation erfordert klares Handeln und Denken. Engstirnigkeit und egozentrisches Denken haben uns vielleicht in der Vergangenheit genützt, doch heute führen sie in die Katastrophe. Durch Bildung und Erziehung können wir solches Verhalten überwinden.

Das Buch von Joanna Macy und Molly Brown birgt einen Reichtum an Wissen und Übungshinweisen aus ihrem Erfahrungsschatz, der sowohl in der Praxis ihrer Arbeit als auch im persönlichen Bereich entwickelt wurde. Mit großer Freude drücke ich meine Bewunderung für dieses Werk aus und möchte die Leserinnen und Leser dazu ermutigen, dem Inhalt nicht nur zuzustimmen, sondern das Gelernte in Handlungen umzusetzen für das Wohl aller fühlenden Wesen und dieser Erde, die unser einziges Zuhause ist.

SEINE HEILIGKEIT TENZIN GYATSO
Der vierzehnte Dalai Lama von Tibet,

07. September 1998

Vorwort

von Joanna Macy

Dieses Buch ist ein Leitfaden, das uns Wege zu unserer natürlichen Vitalität und Entschlossenheit weist, die Selbstheilungskräfte unserer Welt zu unterstützen. Es beschreibt eine besondere Form der Gruppenarbeit, die sich seit den 1970er-Jahren stetig weiterentwickelt hat. Ungeachtet der sich rapide verschlechternden sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen hat sie Hunderttausenden Frauen und Männern rund um den Erdball geholfen, solidarisch und mutig zu handeln.

Man kann diese Arbeit auch für sich allein machen, und sie hat bereits zahllose Menschen beeinflusst und bereichert. Das zentrale Element jedoch ist die Gruppenarbeit. Dabei kann sie ihre ganze Wirksamkeit entfalten, indem sie Kräfte und Synergien freisetzt. Der Zeitraum für einen Workshop variiert von Tagesveranstaltungen bis hin zu Konferenzen, die einen ganzen Mondzyklus umfassen. Doch selbst zeitlich kürzere Einheiten in Klassenzimmern oder Kirchen führen zu erstaunlichen Erkenntnissen der Realität unserer gegenwärtigen Lebensbedingungen. Wir können neue Sichtweisen und Zusammenhänge erkennen, wie wir in Relation zu unserer Welt in das Leben eingebettet sind. Dabei geht es nicht nur darum, unsere Leidenschaft für den Schutz des Lebens neu zu entfachen, sondern es kommt ebenso darauf an, unser Gefühl von wechselseitiger Zusammengehörigkeit zu stärken und wachsen zu lassen. Denn dieses Gefühl ist realistischer als unser Ängste, realistischer sogar als unsere Hoffnungen.

Es ist mir bewusst, dass die tiefenökologische Arbeit – The Work That Reconnects – kein persönlicher Besitz ist. Deshalb bin ich so dankbar für all die Wege und Ereignisse, die mein Leben beeinflusst haben, und für die Aufgaben als Mutter, Wissenschaftlerin und Aktivistin. Sie haben den Boden für die Arbeit bereitet und ihre Wurzeln wachsen und sich ausbreiten lassen. Dieser fruchtbare Boden wurde spirituell und philosophisch von meinen Vorfahren, protestantischen Predigern, genährt, dem Leben von Jesus und den hebräischen Propheten. Während der letzten 50 Jahre ist dieses Vermächtnis meiner Vorfahren durch den Buddha Dharma überarbeitet und erhellt worden. Dafür danke ich besonders meinen großartigen und liebenswerten Lehrern in Asien und einer sehr fortschrittlichen Graduiertenschule, einer universitären Einrichtung in den USA. Während meines Studiums dort entfachte die Systemtheorie in meinem Geist ein Feuer. Die Berührungspunkte mit der buddhistischen Lehre schenkten mir Einsichten, die mich auf meine tiefenökologische Arbeit vorbereiteten und The Work That Reconnects von Beginn an prägten.

Diese Arbeit durchströmt in praktischer und strategischer Weise mein ganzes Leben. Als Aktivistin seit mehr als fünf Jahrzehnten ernte ich nun die Früchte der Erfahrungen, die ich in den politischen Bewegungen, denen ich mich zugehörig fühlte, gemacht habe. Als ich mich für eine gerechte Wohnungsbauverordnung in unserer Hauptstadt engagierte und dann zur Redenschreiberin für die Urban League, einer US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wurde, weitete sich mein Leben wie in wachsenden Ringen. Die Bewegung für eine Neue Gesellschaft, die Seminare zu Makroanalyse durchführte, veränderte unser familiäres Leben und hat in allen Bereichen meiner tiefenökologischen Arbeit ihre Spuren hinterlassen. Die Anti-Atomkraft-Bewegung packte mich und führte mich vor und hinter die Tore der Kernkraftwerke von Seabrook (New Hampshire) und Three Miles Island (Nähe Harrisburg) und auch in die durch die Tschernobyl-Katastrophe verseuchten Städte im Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine. Diese Erlebnisse waren wie ein Impuls und zugleich die Geburtsstätte für die Arbeit in der Tiefen Zeit. Noch eine weitere Strömung beeinflusste meine tiefenökologische Arbeit – die Sarvodaya-Shramadana-Bewegung in Sri Lanka, eine buddhistische Selbsthilfebewegung (NGO).1 In den Jahren, in denen mein Buch fertiggestellt wurde, inspirierten mich dabei besonders diese dörflichen Organisationsstrukturen, die von buddhistischem Gedankengut und den Lehren von Mahatma Gandhi beeinflusst sind. Am beständigsten sind für mich zwei Lektionen der Sarvodaya-Bewegung: Die Arbeit beginnt ganz unten, und wir vertrauen dabei auf die Weisheit unserer Gemeinschaft.

Alle, die sich der Tiefenökologie verbunden fühlen, verfügen über derartige Ressourcen. Molly Brown, meine Mitautorin, schöpft ebenso aus mehreren Quellen: Aus ihren Kindheitserfahrungen in Los Alamos im Los Alamos National Laboratory2, aus ihrer Ausbildung und ihren praktischen Erfahrungen in Psychosynthese, einer Form der transpersonalen Psychotherapie, aus ihrem intuitiven Verständnis der Systemtheorie. Ganz aktuell engagiert sie sich dafür, Mount Shasta vor der Plünderung durch Konzerne zu bewahren. Andere Kolleginnen und Kollegen, seien sie Künstlerinnen, Naturforscher, Geistliche, Lehrkräfte, Landwirte, sie alle bringen ihren eigenen Werdegang, ihr Hintergrundwissen und ihr Können mit ein. Mögest DU dich beim Lesen dieses Buchs inspiriert fühlen und durch die Tiefenökologie ermutigt, deinen eigenen Erfahrungen, Talenten und Stärken zu vertrauen.

Seit dem ersten öffentlichen Workshop 1978 ist es die Absicht, durch die geistige, schöpferische Kraft der Tiefenökologie den Menschen die Augen zu öffnen. Dabei geht es weder darum, ihnen vorzuschreiben, was sie sehen sollen, noch was sie zu denken haben. Ziel ist es, die Blockaden der Rückkopplungsschleifen zu lösen, damit die Menschen wieder lernen, ihren eigenen Erfahrungen zu vertrauen und die Wahrheit zu sprechen über das, was sie sehen, fühlen und wissen, was um sie herum geschieht. Diese essenzielle Aufgabe der Tiefenökologie ist von größter Bedeutung, gerade wenn die konzerngesteuerten Regierungen ihren Druck auf die öffentliche Meinung weiter verschärfen – und sie ist auf jeden Fall immer „gute Medizin“.

Während unserer gemeinsamen Arbeit an dieser Ausgabe hielten Molly und ich zwischendurch inne und vergegenwärtigten uns all die Jahre seit dem ersten Erscheinen von Coming Back To Life 1998. In der kurzen Zeitspanne, seit der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten George W. Bush ins Weiße Haus „entsandt“ hatte3, sind rasche, tiefe und dramatische Veränderungen eingetreten. Dem Turbokapitalismus wurde freie Hand gelassen, die Erde auszuplündern und ihre Menschheit verarmen zu lassen. Wir haben uns zu einer Bevölkerung in Angst entwickelt, der man die Wahrheit vorenthalten hat. Deshalb ist es notwendiger denn jemals zuvor, öffentliche Kontrolle einzufordern, einen Aufschrei und einen Sturm der Empörung zu entfachen.

Diese Entwicklungen verdüstern die Zukunftsaussichten. Was uns bleibt, ist unser Vertrauen in unsere geistigen Fähigkeiten, unterscheiden und wählen zu können.

Ungeachtet all der sowohl realen als auch künstlich erzeugten Ängste, trotz fortgesetzter Zerstörung und der verschleierten Vernichtung ist es immer noch möglich, zu den Quellen des Lebens zurückzukehren.

In der Liebe, die uns mit der lebendigen Erde verwurzelt, liegt die Kraft zu Klarheit, Mut und Selbstachtung, die uns aus der Gefangenschaft einer kranken und todbringenden Ökonomie befreit.

Nach 36 Jahren ist es immer noch die Tiefenökologie, doch sie hat eine feiner geschliffene Klinge bekommen, so wie Manjushris Schwert, bereit, die Verwirrungen und Täuschungen, die unseren Geist umschlingen, zu durchschneiden. Ich stelle mir vor, wie dieses scharfe Schwert uns von allem befreien kann, von allem, was wir weder brauchen noch wollen. Ich sehe es vor mir, wie es uns das offenbaren kann, was wir wirklich wollen, und wie es sich direkt vor uns befindet, nur darauf wartend, gemeinsam ergriffen zu werden – von uns allen.

Anmerkung der Übersetzer

In den USA und den meisten englischsprachigen Ländern ist die Arbeit seit einigen Jahren unter dem Namen The Work That Reconnects bekannt, ein Begriff, den Fran Macy prägte. Im deutschsprachigen Raum dagegen haben sich die Begriffe „Tiefenökologie“ oder „Tiefe Ökologie“ seit mehr als 20 Jahren bewährt. Mit Einverständnis von Joanna Macy verwenden wir für die Übersetzung dieses Buchs diese Begriffe oder an manchen Stellen die englische Schreibweise ohne Übersetzung.

In Großbritannien wird die Arbeit als Active Hope bezeichnet, nach dem gleichnamigen Buch von Joanna Macy und Chris Johnstone.

In Japan hat sich der Name The Work That Reconnects nicht durchgesetzt. Die Kolleginnen und Kollegen dort verwenden ebenfalls Active Hope. In ihrer Landessprache ausgedrückt: Akutibu Hopu und in Katakana, der japanischen Silbenschrift:

アクティブ・ホープ

Es ist uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass unabhängig von den Namen die Arbeit überall dieselben Ziele und dieselben Grundlagen beinhaltet.


1  Eine ausführliche Beschreibung dazu findet sich in: Barbara Hamburger-Langer und Gunter Hamburger, Ein Stern sei mein Wagenlenker, edition octopus, Verlagshaus Monsenstein & Vannerdat, S. 365 ff., siehe auch: Sarvodaya Peace Action Plan 2006, http://www.commonway.org/node/60. (Anm. d. Übers.)

2  In Los Alamos, New Mexico, befindet sich das Los Alamos National Laboratory, ein Kernforschungszentrum und die Wiege des amerikanischen Atomwaffenprogramms. (Anm. d. Übers.)

3  Durch die juristischen Probleme der korrekten Stimmenauszählung in Florida im November 2000 dauerte es nach der Wahl mehr als einen Monat, bis ein Ergebnis feststand. Als der Oberste Gerichtshof letztinstanzlich eine erneute Nachzählung in bestimmten Wahlkreisen Floridas verbot, war der Wahlsieg des republikanischen Kandidaten offiziell. George W. Bush hatte die Präsidentschaftswahl mit einer bis heute umstrittenen Differenz von 537 Stimmen in Florida gewonnen. (Anm. d. Übers.)

Vorwort

von Molly Brown

Bei einer Zusammenkunft von Interhelp 1987 traf ich Joanna Macy zum ersten Mal. Interhelp ist ein Netzwerk, das von Joannas Kolleginnen und Kollegen gegründet wurde, um sich gegenseitig darin zu unterstützen, auf die Bedrohungen für das gemeinsame Überleben zu reagieren. Unsere nächste Begegnung fand bei einem Workshop 1991 statt, bei dem ich ihre Vision der Atomwächterschaft kennenlernte. Diese Arbeit von Joanna zog mich besonders an, da ich meine Kindheit in der Atomic City von Los Alamos, New Mexico, verbracht habe. Es war für mich wie eine karmische Verbindung, mich mit den Problemen von radioaktiven Stoffen zu beschäftigen, und so begann ich, an dem Atomwächterschafts-Projekt, das Joanna ins Leben gerufen hatte, mitzuarbeiten. Als ich mich im nächsten Herbst an der Starr King Schule4, einer Fachhochschule zur Ausbildung für das unitarische Pfarramt in Berkeley, Kalifornien, eingeschrieben hatte, nahm ich an Joannas Seminar in Tiefenökologie teil. Das führte mich sowohl in die Welt des systemischen Denkens ein als auch in Tiefenökologie und engagierten Buddhismus und half mir, deren Gemeinsamkeiten zu verstehen.

Bald darauf arbeiteten Joanna und ich zusammen: redaktionelle Zusammenarbeit mit Wendy Oser, Fran Macy und anderen bei drei besonderen Ausgaben des Magazins Nuclear Guardianship Forum. Ferner unterrichtete ich mit ihr zusammen am California Institute of Integral Studies (CIIS)5 in einem einjährigen Kurs angewandte lebendige Systemtheorie. Meine Verbindungen zur Welt der Psychosynthese ermöglichten mir, am CIIS Vorträge und Workshops zu diesem Thema bis zum heutigen Tag zu halten.

Als mich Joanna fragte, ob ich als Koautorin bei der ersten Auflage dieses Buchs mit ihr zusammenarbeiten wollte, ergriff ich die Chance und konnte so meine Liebe zum Schreiben, meine Liebe zu dieser Arbeit und meine Liebe zu dieser Frau miteinander verbinden. Ich entdeckte meine eigene prophetische Stimme nach dem Vorbild von Joanna beim gemeinsamen Schreiben, und mein Mut zu schreiben, zu sprechen und für die Erde zu handeln festigte sich. Das war etwas, wonach ich mich mein Leben lang gesehnt hatte.

Um zu verdeutlichen, was mich zu dieser Arbeit berufen hat, möchte ich etwas über meine Lebensgeschichte erzählen. Die eindrücklichen Erfahrungen während meiner Kindheit in Los Alamos, New Mexico, verdeutlichten mir, was Hannah Arendt „die Banalität des Bösen“ genannt hat. Ich benötigte einen Großteil meines Erwachsenenlebens, um wirklich zu begreifen, wie grundlegend falsch die Ansichten der dort vorherrschenden wissenschaftlich-militärischen „Kultur“ waren – und ich fragte mich, wie sonst gute und liebevolle Menschen solches Unheil anrichten können.

Der Spielplatz meiner Kindheit war die Natur, denn Los Alamos ist in die bewaldeten Berge im Norden New Mexicos eingebettet. Von frühester Jugend an zählten Camping, Picknick und das Spielen draußen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und ich entwickelte eine enge Beziehung zu Bäumen, Bergen, Bächen und allen Kreaturen. Fast unbemerkt wurde ich durch die in dieser Region lebenden Kulturen der amerikanischen Ureinwohner und der Menschen spanischer Herkunft geprägt. Doch meine Familie war ein Teil der wissenschaftlichen Gemeinde, obwohl meine Eltern selbst keine Wissenschaftler waren. So lernte ich, den Gott der Wissenschaft zusammen mit dem christlichen Gott anzubeten. Ich erinnere mich daran, wie ich an Tagen der offenen Tür für Familien die seltene Gelegenheit hatte, hinter die Sicherheitszäune zu blicken und einen Teil von dem, was dort gemacht wurde, zu Gesicht zu bekommen. Die Apparaturen, die Nebelkammern (Teilchendetektoren), die Teilchenbeschleuniger, die Handschuhkästen und die Gewebeproben, die man unter Mikroskopen studieren konnte, verzauberten mich. Ich wünschte mir, wenn ich groß wäre, eine Wissenschaftlerin zu werden. Ich wünschte mir, Zugang zu dem zu finden, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Außerdem brachte man mir bei, dass es in dieser Welt eine korrekte Art des Denkens gibt: logisch, rational, auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Daten und abgesichert von messbaren Parametern. Wenn im Labor etwas nicht gemessen und nicht wiederholt werden konnte, existierte es wahrscheinlich nicht. Gerade dann, wenn es sich dabei um persönliche Einsichten und Hypothesen handelte, mussten sie gegen die rigorose, zum Teil feindliche Kritik anderer Wissenschaftler verteidigt werden. Gefühle und Fantasie hatten nur wenig Platz im wissenschaftlichen Denken. Am besten wurden solche Dinge aus den Diskussionen herausgehalten. Gefühle und Träume waren etwas für das Geschwätz und die Schwärmereien kleiner Mädchen, hatten aber keinen Platz in der realen Welt.

Ungefähr 50 Jahre später, 1996, während meiner Solozeit bei einer Visionssuche, sah ich deutlicher als jemals zuvor, wie diese „bloß zweckorientierte Rationalität“ (ein Ausdruck von Gregory Bateson) die natürliche Moral der Menschen in Los Alamos verfremdete – und damit unerträgliches Leid in der Welt angerichtet wurde. Endlich gelang es mir, Zugang zu dem zu finden, was ich bisher verdrängt hatte – dem Lebensstil und der Art der kulturellen Werte meiner Gemeinschaft, in der ich aufgewachsen bin –, und ich erkannte, wie tief greifend diese Deformation auf mich als Heranwachsende gewirkt hatte. Während der Visionssuche wurde es mir übel, und ich erinnerte mich daran, wie oft ich als Kind Magenschmerzen hatte und wie viel Zeit ich im Krankenzimmer der Schule verbracht habe, besonders während der Kindergartenzeit und der ersten Klasse. Als ich mich auf die Gefühle von Unwohlsein und Schmerz konzentrierte, die ich so ähnlich als Kind gespürt hatte, fragte ich mich: „Was ist das Geheimnis? Woher kommt dieses tief verborgene Trauma, gegen das ich mich mein Leben lang gewehrt habe?“ Und plötzlich war es mir klar.

Einige Monate nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki 1945 zog meine Familie nach Los Alamos. Ich glaube heute, dass ich wusste, soweit man das als kleines Kind kann, dass etwas Unrechtes geschah. Zweifellos hörte ich Nachrichten und Gespräche über die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki im Radio. Bis zu einem gewissen Grad muss ich gewusst haben, dass die Menschen von Los Alamos mit dem, was dort geschehen war, etwas zu tun hatten. Ich erfuhr, dass diese Stadt ausschließlich wegen des Atomforschungslabors existierte, das vorrangig der Herstellung von Atomwaffen diente, und instinktiv muss ich gewusst haben, dass diese Arbeit etwas Schlechtes war. Sogar das besonders propagierte Programm „Atome für den Frieden“6 im Los Alamos der 1950er-Jahre war eine ausgeklügelte Selbstrechtfertigungskampagne für die zentrale Forschungsarbeit: die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen. Was auch immer an Gutem aus den Laboratorien gekommen sein mag, es rechtfertigte nicht das Böse. Als Kind wusste ich das in meinem tiefen Unterbewusstsein.

Doch von allen um mich herum, den ganzen wichtigen Menschen in meinem Leben, von der gesamten Gemeinschaft hörte ich nur Rationalisierungen, Rechtfertigungen und Verschleierungen. Wir waren ganz besondere Menschen, die wichtige und besondere Arbeit verrichteten, vor dem Rest der Welt geschützt durch Zäune und bewachte Schranken. Obwohl ich stolz auf die Bezeichnung Atomic City war, fühlte ich in meinem Herzen Schmerz und Verwirrung über das, was dort geschah. Obwohl ich niemals bewusst über diese Ungereimtheiten nachgedacht hatte, drückten sie sich in meinem Körper aus, insbesondere in meinen Verdauungsorganen. Ich habe es einfach nicht vertragen. Doch als abhängiges Kind konnte ich darüber schon gar nicht sprechen. Wie sollte ich mir selbst eingestehen, dass diese netten, guten Menschen, die ich liebte und bewunderte, sich auf solch eine zerstörerische Arbeit eingelassen hatten, wo sie doch selbst dies nicht wahrhaben wollten? Wie konnte ich den Mythos meiner gesamten Gemeinschaft infrage stellen?

Ich kann das ganze Band der rationalen Rechtfertigung in meinem Kopf ablaufen lassen, und es verwirrt mich heute noch. „Wir mussten die Bombe erfinden, ehe es die Nazis taten“ – und dann, nachdem Deutschland besiegt war, „wir mussten die Japaner stoppen.“ Diese Rechtfertigungen für die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki sind uns wohlvertraut. Doch fast alle von uns spüren den tiefen Schmerz und die Verzweiflung für all das große Leid, das diese sogenannte berechtigte Tat hervorgerufen hat. In Los Alamos jedenfalls waren solche Gefühle tabu. Emotionen wurden zu fragwürdigem Verhalten erklärt und durch intellektuelle Rationalisierungen ersetzt.

Nicht nur in Los Alamos wird Unrecht vertuscht und verleugnet, werden rationale Begründungen erfunden und kunstvoll formuliert. Die gesamte Struktur des Turbokapitalismus ist von diesem Selbstbetrug infiziert. Missachten und verheimlichen wir doch die riesigen Schäden, die unser System der gesamten Mitwelt, unseren Mitgeschöpfen und den unterdrückten Völkern weltweit und selbst Menschen in unserem eigenen Land zufügt – zum Nutzen von wenigen Leuten und zur Profitmaximierung einer winzigen Elite. Es sind gesetzestreue Bürger, brave Kirchgänger und liebevolle Familien mit hohen moralischen Grundsätzen, die kaum einen Gedanken an die tatsächlichen Kosten verschwenden, die sie mit ihren kurzlebigen oberflächlichen Genüssen verursachen, indem sie allradgetriebene Geländewagen, Kreuzfahrten und gentechnisch veränderte Lebensmittel bedenkenlos konsumieren.

In einer Gesellschaft zu leben, die den Schmerz, den sie verursacht, verleugnet, führt zu heftigen inneren Konflikten. Doch die Tabus verhindern, uns dies bewusst zu machen oder gar auszusprechen. Denn sie sind zu subtil, kraftvoll und komplex. Nur nett sein – mitunter sogar intelligent – bedeutet, sich der gemeinsamen Täuschung hinzugeben. Vergleichbar ist dies nur mit der sich wechselseitig verstärkenden Realitätsverweigerung in Alkoholikerfamilien. Doch wenn wir weiter die Tabus akzeptieren, fügen wir uns selbst und der Weltgemeinschaft wirklich großen Schaden zu, vor allem wenn wir unser inneres Wissen darum und unsere Weisheit verleugnen, so, wie ich es jahrelang getan habe.

Ich bin davon überzeugt, dass wir die Verleugnung durchbrechen, indem wir das dysfunktionale ökonomische System genau unter die Lupe nehmen, das uns von unserer Menschlichkeit abgeschnitten hat und unser Lebenserhaltungssystem zerstört. Egozentrisch, arrogant, gierig, geringschätzig gegenüber anderen Menschen und Mitwesen zu sein entspricht nicht unserer wahren Natur. Sagt Nein! Wir ­haben uns durch eine völlig verrückte, entfremdete Kultur, die unserer eigenen Torheit entspringt, entführen lassen. Gewinnen wir unsere Menschlichkeit zurück: Lieben, großherzig und einfühlsam sein, verbunden und voller Freude, heldenhaft und beharrlich, Teil des Lebens sein, Leid aushalten, kreativ und weise, im Herzen zentriert.

Die Tiefenökologie, wie sie hier beschrieben wird, ist dazu geeignet, unsere Menschlichkeit wiederzuerlangen. Ein Teil des Großen Wandels hin zu einer nachhaltigen, lebensfördernden Gesellschaft zu sein – in Gesellschaft meiner geliebten Freundin Joanna –, dafür bin ich zutiefst dankbar.


4  Unitarierkirche: In den USA gibt es mehrere Universitäten und Hochschulen, an denen die Ausbildung für das unitarische Pfarramt möglich ist, u. a. an der Starr King School for Ministry in Berkeley. (Anm. d. Übers.)

5  Das California Institute of Integral Studies, CIIS, in San Francisco ist eine private, gemeinnützige Hochschule mit Master- und Bachelor-Studiengängen. (Anm. d. Übers.)

6  In seiner Rede „Atome für den Frieden“ vor den Vereinten Nationen bekräftigte Dwight D. Eisenhower 1953 Amerikas „Entschlossenheit, an der Lösung des schrecklichen atomaren Dilemmas mitzuwirken, mit ganzem Herzen und Verstand an der Ausarbeitung eines Weges mitzuarbeiten, dass die wunderbare Erfindungsgabe des Menschen nicht dem Tod, sondern dem Leben gewidmet wird“.

Anrufung

„Sonnengesängle“ nach Franz von Assisi

Dolce sentire

Come nel mio cuore

Ora gradualmente

Sta nascendo amore

Dolce capire

Che non sono solo

Ma che son´ parte

Di un immensa vita.

Schön zu erspüren

wie tief in meinem Herzen

gerade allmählich

Liebe geboren wird.

Schön zu begreifen,

dass ich niemals alleine bin,

sondern ein Teil bin

eines unendlichen Lebens.

Meraviglioso il cielo

Ed le chiare stelle

Fratello sole

Ed sorella luna

La madre terra

Con frutti, prati ed fiori

Il fuoco, il vento

L`aria ed l’acqua pura.

Herrlich der Himmel

und die klaren Sterne,

Brüderchen Sonne

und Schwesterchen Mond

die Mutter Erde,

mit Früchten, Wiesen und Blumen,

das Feuer, der Wind,

die Luft und klares Wasser.

Klaus Lichtenberg, unveröffentlichter Gesang, mit freundlicher Genehmigung hier veröffentlicht, tiefenökologisches Netzwerktreffen, Sieben Linden, Juli 2016.

1. Das Leben wählen

Wie soll ich mein Lied beginnen
in der blauen Nacht, die sich gerade herabsenkt?
Mein Herz strebt in die große Nacht hinaus,
die Dunkelheit kommt mir rasselnd entgegen.
In die große Nacht strebt mein Herz.

Papago Medicine Woman Chant11

Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen
gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor,
Segen und Fluch. Wähle also das Leben,
damit du lebst, du und deine Nachkommen.

5. Buch Mose, Kapitel 30, Vers 1912

Wir leben in einem außergewöhnlichen Augenblick auf der Erde. Wir besitzen mehr technische Möglichkeiten und Fähigkeiten, als unsere Vorfahren sich je erträumen konnten. Unsere Teleskope lassen uns durch die Zeit hindurch zum Ursprung des Universums blicken. Unsere Mikroskope ermöglichen es, den Code im Herzen des organischen Lebens zu knacken. Unsere Satelliten enthüllen Muster des Wetters und die verborgenen Lebensweisen entlegener Völker. Kein einziger Aspekt unseres Lebens ist mehr sicher vor der elektronischen Überwachungskapazität von Unternehmen und Regierungen. Wer konnte sich noch vor einem Jahrhundert diese ungeheure Datenmenge und Konzentration von Macht vorstellen?

Gleichzeitig sind wir Zeugen der Zerstörung von Leben in einer Dimension, mit der keine vorangegangene Generation in der dokumentierten Geschichte je konfrontiert wurde. Sicherlich, unsere Vorfahren kannten Kriege, Seuchen und Hunger, aber heute sind nicht nur ein Stück Wald hier und Ackerland dort oder Fischgründe betroffen. Heute sterben ganze Arten aus, ganze Kulturen und das Ökosystem in globalem Ausmaß sind betroffen, sogar das sauerstofferzeugende Plankton unserer Meere. Wissenschaftler versuchen uns zu erklären, was auf dem Spiel steht, wenn wir Regenwälder vernichten, fossile Rohstoffe verbrennen, giftigen Abfall in die Luft blasen, im Boden vergraben und im Meer verklappen und Chemikalien benützen, die die schützende Ozonschicht unseres Planeten vernichten. Jedoch finden ihre Warnungen kaum Beachtung. Das ist unsere Industrielle Wachstumsgesellschaft – oder anderes ausgedrückt: der Turbokapitalismus.13

Unsere Wirtschaftspolitik fordert ständig steigende Ausbeutung und wachsenden Verbrauch von Ressourcen. Für unsere Industrielle Wachstumsgesellschaft ist die Erde Vorratskammer und Mülldeponie. Der Körper unseres Planeten wird nicht nur umgegraben und als Ware zum Verkauf angeboten, sondern ebenso als Kloake für die häufig toxischen Produkte der Industrie missbraucht.

So, wie stetig wachsender Krebs schließlich die lebenserhaltenden Systeme seines Wirts zerstört, vernichtet eine ständig expandierende globale Wirtschaft langsam seinen Wirt – das Ökosystem der Erde. 
– Lester Brown14

Wir spüren zu Recht, dass die Beschleunigung zunimmt – denn die Logik des Turbokapitalismus ist exponentiell – sie fordert nicht nur Wachstum, sondern ständig steigende Raten von Wachstum und Marktanteilen. Die Logik der ewig weiter steigenden Nachfrage nach Ressourcen und Märkten verursacht das, was zunehmend als globales Wirtschaftsimperium wahrgenommen wird, abgesichert durch Militär, Intervention und Besatzung.

Der Turbokapitalismus verursacht weltweit großes Leid. Buddhistisch orientierte Sozialwissenschaftler sehen das, was gerade geschieht, als institutionalisierte Formen sich wechselseitig verstärkender Gifte an der Wurzel allen menschlichen Leidens: Gier, Aggression und Täuschung. Konsumismus kann als institutionalisierte Gier, der militärisch-industrielle Komplex als institutionalisierte Aggression und staatlich und wirtschaftlich kontrollierte Medien als institutionalisierte Täuschung betrachtet werden. Daraus folgt, dass wir in der Industriellen Wachstumsgesellschaft weniger mit bösen oder teuflischen Kräften konfrontiert werden als mit universellen Irrtümern, zu denen alle Menschen neigen. Diese Irrtümer wurden einst als politische, ökonomische und gesetzliche „Agenten“ mit eigenen Rechten institutionalisiert. Sie haben einen Grad von Unabhängigkeit erreicht, der weit über die Kontroll- und Erkenntnismöglichkeiten eines jeden betroffenen Individuums hinausgeht. Wir sollten verstehen, dass es nicht darum geht, dies alles zu verdammen, sondern vielmehr uns und andere vom Sklaventum dieser institutionalisierten Gifte zu befreien.

Auf jeden Fall verursachen wir eine beispiellose Zerstörung des Lebens auf unserem Planeten. Was hinterlassen wir denen, die nach uns kommen? Was bleibt den Wesen der Zukunft? Wir sind viel zu sehr beschäftigt, um darüber nachzudenken. Wir versuchen unseren Verstand vor Albtraumszenarien zu verschließen, in denen um die Hinterlassenschaft einer verwüsteten, kontaminierten Welt gekämpft wird.

Als Menschheit sind wir bis heute einen langen Weg gegangen. Das Leben in uns hat so viele Jahrtausende der Prüfungen überlebt, hat sich durch so viele Herausforderungen entwickelt, und noch immer will sich Vielversprechendes entfalten – doch wir können alles verlieren, wenn das Netz des Lebens weiter langsam zerbröselt. Die Worte Jahwes, des Gottes des Volkes Israel, durch Mose gesprochen, sind wörtlich zu nehmen: „Leben und Tod lege ich dir vor … wähle also das Leben.“

Wir können uns noch immer für eine lebenserhaltende Welt entscheiden

Wir können das Leben wählen. Sogar im Angesicht der weltweiten Klimakata­strophe, der weltumspannenden radioaktiven Verseuchung, von Fracking, dem Abtragen der Berggipfel zur Steinkohlegewinnung, der Ölsandgewinnung, den Tiefseebohrungen und genetisch veränderten Lebensmitteln – wir können das Leben immer wählen. Wir haben noch immer die Möglichkeit, zum Wohle einer lebenswerten Welt zu handeln.

Entscheidend ist, dass wir uns Folgendes klarmachen: Wir können unsere Bedürfnisse erfüllen, ohne unser lebenserhaltendes System zu zerstören. Denn wir haben das Wissen und die technischen Möglichkeiten, so zu handeln. Wir haben das Können und die Ressourcen, um ausreichende Mengen von natürlicher, unveränderter Nahrung zu erzeugen. Auch wissen wir, wie wir saubere Luft und sauberes Wasser bewahren können. Wir sind fähig, Energie aus Sonne, Wind, Wasser, Algen und Pilzen zu erzeugen. Wir haben Methoden zur Geburtenkontrolle, um das Wachstum der menschlichen Population zu verlangsamen, um schließlich eine Verringerung zu bewirken. Wir haben die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten, um Waffen unschädlich zu machen, Kriege zu verhindern und jedem eine Stimme im Prozess demokratischer Selbstbestimmung zu geben. Wir können unsere moralischen Wertvorstellungen darin üben, unseren Lebensstil und Konsum in Einklang mit den Lebenssystemen der Erde zu bringen. Alles, was wir brauchen, ist der kollektive Wille dazu.

Das Leben zu wählen bedeutet, eine lebensfördernde, nachhaltige Gesellschaft zu schaffen. „Eine nachhaltige Gesellschaft ist eine, die ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Aussichten zukünftiger Generationen aufs Spiel zu setzen“15, so Lester Brown vom Earth Policy Institute.

Im Gegensatz zur Industriellen Wachstumsgesellschaft ist eine nachhaltig lebensfördernde Gesellschaft durch die Art ihres Systems fähig, sowohl regional als auch planetarisch lebenserhaltend mit den Ressourcen, die sie verbraucht, und dem Abfall, den sie produziert, umzugehen.

In dieser Erden-Zeit das Leben zu wählen ist ein mächtiges Abenteuer. Wie Menschen überall entdecken, entfacht dieses Abenteuer mehr Mut und Solidarität als irgendeine Militärkampagne. Zahllose Menschen sind dabei zu organisieren, zu lernen, Aktionen durchzuführen. Es sind Schülerinnen und Schüler, die Flüsse renaturieren, damit die Lachse laichen können, Stadtbewohner, die auf freien Flächen urbane Gemeinschaftsgärten schaffen, First Nations (Ureinwohner Kanadas), die die Ölproduktion und den Bau von Pipelines auf dem Land ihrer Vorfahren blockieren, und Frauen auf dem Land, die Sonnen- und Wasserreinigungstechnologien in ihre Dorfgemeinschaften bringen.

All diese vielfältigen menschlichen Aktivitäten dienen dem Leben. Sie machen weder Schlagzeilen noch werden sie in den Nachrichten erwähnt, aber für unsere Nachkommen wird genau das wichtiger sein als alles andere, was wir tun. Schaffen wir die Veränderung von der Industriellen Wachstumsgesellschaft hin zu einer nachhaltig lebensfördernden Gesellschaft, dann ist die Welt für jene, die nach uns kommen, lebenswert. Schauen die zukünftigen Menschen dann auf diesen historischen Moment zurück, werden sie klarer als wir heute sehen können, wie revolutionär unsere Aktionen waren. Vielleicht werden sie es die Zeit des Großen Wandels nennen. Sie werden es als epochal, als bahnbrechendes Ereignis vermerken. Während die landwirtschaftliche Revolution Jahrhunderte und die industrielle Revolution Generationen benötigte, muss die ökologische-spirituelle Revolution innerhalb einiger Jahre geschehen. Ebenso muss klar sein, dass nicht ausschließlich die Wirtschaftspolitik beteiligt ist, sondern auch die Unterstützung durch veränderte Gewohnheiten, Werte und Einsichten.

Wählen wir unsere Geschichte

Mit „Geschichte“ ist unsere Version der Realität gemeint, die Vergrößerungslinse, durch die wir blicken und verstehen, was gerade in unserer Welt geschieht. Oft ist unsere Geschichte, unsere Wahrnehmung, unbewusst und nicht hinterfragt. Wir nehmen an, sie sei die einzige Wirklichkeit. In der heutigen industrialisierten Welt scheinen alle gängigen Geschichten auf drei Versionen hinauszulaufen. In Seminaren finden wir es hilfreich, diese drei Geschichten in der Gegenwart darzustellen, in dem Sinne, dass sie alle wahr sind und alle gleichzeitig passieren. Wir können diejenige Geschichte wählen, die wir ergründen wollen, die für uns die breiteste und nützlichste Perspektive bereitzuhalten scheint.

  1. Business As Usual (Weiter so wie bisher) ist die Geschichte der Industriellen Wachstumsgesellschaft. Wir hören sie von Politikern, aus den Wirtschaftswissenschaften, von Konzernen und den von Unternehmen kontrollierten Medien. Hier gilt die feste Annahme, dass es wichtig ist zu wachsen und erfolgreich zu sein, und kaum die Notwendigkeit besteht, an unserer Lebensweise etwas zu verändern. Die zentrale Aussage lautet: Einfach weitermachen wie bisher. Wirtschaftliche Rückschläge und extreme Wetterbedingungen gelten in diesem Kontext als vorübergehende Schwierigkeiten, von denen wir uns nicht nur erholen, sondern sogar noch profitieren werden.
  2. Der fragmentierte16 Zerfall – auch bildlich als „Zerbröseln der Systeme“ vorstellbar – ist die Geschichte, die wir von Umweltwissenschaftlern, unabhängigen Journalisten und Aktivisten hören. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Katas­trophen, die von Business As Usual verursacht und weiter hervorgerufen werden. Es ist eine wissenschaftlich untermauerte Darstellung einer ständigen Störung und des fragmentierten Zerfalls von biologischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Systemen.

    Alle zusammen verändern wir uns von einer Gesellschaftsform, deren Organisationsprinzip die Hierarchiepyramide ist, zu einer Form, deren Ebenbild der Kreis ist. Die Menschen sind verbunden, keiner Rangordnung unterworfen. Menschen und Mitwelt sind verbunden und gleichberechtigt.
    – Gloria Steinem17

  3. Der Große Wandel ist die Geschichte derjenigen, die den fragmentierten Zerfall wahrnehmen, ihm aber nicht das letzte Wort überlassen wollen. Der Große Wandel birgt in sich das Auftauchen von neuen, kreativen menschlichen Antworten, die den Übergang von einer Industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer zukünftig lebensfördernden Gesellschaft in einer „mehr-als-menschlichen Welt“ (David Abram) ermöglichen. Das Hauptziel ist es hier, sich zusammenzuschließen, um für das Wohl des Lebens zu handeln.

Der Große Wandel18

Betrachten wir aus einem größeren zeitlichen Zusammenhang – aus der Perspektive zukünftiger Generationen –, wie der Große Wandel heute durch die Mitwirkung zahlloser Individuen und Gruppen an Schwung gewinnt. Dieser Große Wandel geschieht gleichzeitig in drei Dimensionen, die sich wechselseitig verstärken:

  1. Protestaktionen und Maßnahmen zur Verlangsamung der Auswirkungen der Schäden an der Erde und ihren Lebewesen.
  2. Analyse und Transformation der Systeme und der Grundlagen unseres Zusammenlebens.
  3. Eine grundsätzliche Bewusstseinsveränderung unserer Weltsicht und unserer Werte.

Viele von uns sind in allen drei Bereichen der Entwicklung engagiert, jeder davon ist notwendig für die Veränderung zu einer zukünftig lebensfördernden Gesellschaft. Menschen, die still im Hintergrund an einer dieser drei Dimensionen arbeiten, betrachten sich selbst nicht als Aktivistinnen, aber wir tun es. Eine Aktivistin ist für uns jemand, die eine bestimmte Absicht verfolgt und nicht darauf aus ist, persönlichen Gewinn zu erlangen oder ihre Aufstiegschancen zu verbessern.

1. Protestaktionen zur Verteidigung des Lebens

Vielleicht beruht die sichtbare Dimension des Großen Wandels auf den zahllosen Aktionen, mit denen die Zerstörungen, die der Turbokapitalismus anrichtet, verlangsamt werden. Dazu bedarf es sowohl politischer, gesetzgebender und juristischer Maßnahmen als auch direkter Aktionen. Diese Protestaktionen dienen dazu, Zeit zu gewinnen, um systemische Veränderungen zu ermöglichen. Protestaktionen können in vielfältigen Formen stattfinden:

Diese oben genannten Protestaktionen zielen auf Strategien der Politik, von Institutionen und Praktiken der Konzerne wie:

Klimawandel ist Gewalt in globalem Ausmaß gegen Orte, Lebewesen und auch gegen Menschen. Erst wenn wir diese Gewalt beim Namen nennen, sind wir in der Lage, ein echtes Gespräch über unsere wahren Prioritäten und Wertvorstellungen zu führen.
– Rebecca Solnit20

Diese erste Dimension des Großen Wandels erschöpft. Es ist wahre heldenhafte Arbeit. Im Rampenlicht zu stehen kann uns den Respekt und den Beifall von denjenigen einbringen, die erkennen, was auf dem Spiel steht. Ebenso kann unser Verstand völlig überlastet werden durch nicht enden wollende Krisen, verlorene Kämpfe, ständige Suche nach finanziellen Mitteln, Eskalation von Bedrohungen und Gewalt gegen Aktivisten.