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KinderStärken

Herausgegeben von Petra Büker

Band 9

Die Reihe im Überblick

Band 1:

Petra Büker (Hrsg.): Kinderstärken – Kinder stärken. Erziehung und Bildung ressourcenorientiert gestalten

Band 2:

Petra Völkel: Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten

Band 3:

Renate Niesel & Wilfried Griebel: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Familie in die KiTa

Band 4:

Dagmar Kasüschke: Kinderstärkende Pädagogik und Didaktik in der KiTa

Band 5:

Melanie Eckerth & Petra Hanke: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der KiTa in die Grundschule

Band 6:

Susanne Miller & Katrin Velten: Kinderstärkende Pädagogik in der Grundschule

Band 7:

Julia Höke & Petra Büker: Bildungsdokumentation stärkenorientiert gestalten

Band 8:

Birgit Hüpping & Petra Büker: Kulturelle Vielfalt. Kinderstärkende Pädagogik

Band 9:

Charlotte Röhner & Marianne Wiedenmann: Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation

Band 10:

Katja Koch: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Grundschule in die weiterführende Schule

Charlotte Röhner

Marianne Wiedenmann

Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024271-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-024272-2

epub:   ISBN 978-3-17-024273-9

mobi:   ISBN 978-3-17-024274-6

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Vorwort der Herausgeberin

 

Das Kind als Gestalter und als kompetenter Akteur seiner Lebens- und Bildungsbiografie: Diese im Sozial-Konstruktivismus verankerte Sicht auf das Kind steht aktuell im Fokus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Diskurse sowie in Bildungsplänen für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich. Kinder verfügen für die Gestaltung ihrer pluralen, komplexen Lebenswelten über enorme Stärken, die es durch Familie, Peers sowie pädagogische Fach- und Lehrkräfte als kompetente Mit-Akteure zu erkennen und zu stärken gilt: Diese Grundidee wird in der neuen Fachbuch-Reihe KinderStärken aufgegriffen und entlang der Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule in zehn Bänden kritisch und differenziert beleuchtet. Ein interdisziplinäres Autorenteam, bestehend aus Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Früh-, Elementar- und Grundschulpädagogik sowie der Entwicklungspsychologie, widmen sich in jeweils einem Band ausführlich einer spezifischen Lebensspanne, wissenschaftlich fundiert und nah an der pädagogischen Praxis.

Der vorliegende neunte Band der Reihe stellt ein Querschnittsthema in den Mittelpunkt, welches in allen Phasen der kindlichen Lebens- und Bildungsbiografie von grundlegender Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und die gesellschaftliche Teilhabe ist: die Entwicklung und Förderung der Sprachkompetenz. Vor dem Hintergrund der sich weiter ausdifferenzierenden Sprachenvielfalt in Kindertageseinrichtung und Grundschule als Folge der neuen Zuwanderungsbewegungen bedingt durch Flucht, Krieg und Vertreibung wie auch durch die Zunahme innereuropäischer Migration handelt es sich hier um ein hoch aktuelles Thema mit Bedarf an professionellen pädagogischen Handlungskonzepten. Bewusst betiteln die Autorinnen ihren Band mit dem Grundgedanken: »Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation«. So setzen sie sich von dem in der Nach-PISA-Debatte geführten Diskurs um kompensatorische Sprachförderung der Zweitsprache Deutsch für Kinder mit Migrationshintergrund ab und favorisieren den Ansatz der Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit und deren Potenziale für die Gestaltung der Kommunikation mit ein- und mehrsprachigen Kindern. Charlotte Röhner, die über einen großen Erfahrungshintergrund durch Forschungsprojekte zur Sprachenförderung in der Grundschule verfügt, und Marianne Wiedenmann als ausgewiesene Sprachheilpädagogin und -therapeutin bündeln ihre Expertisen in diesem fachlich fundierten, hoch informativen Band, der den aktuellsten Forschungsstand und einschlägige theoretische Positionen ebenso aufzeigt wie praktisch handhabbare sprach- und kommunikationsdiagnostische Verfahren und Konzepte alltagsintegrierter mehrsprachiger Bildung für Krippe, Kindertageseinrichtung und Grundschule. Ausführlich arbeiten die Autorinnen heraus, wie neu zugewanderte Kinder mit Fluchterfahrungen kulturell-sprachlich und psychosozial durch Sport und Bewegung integriert werden können. Dabei wird deutlich, welche Potenziale eine konsistent ressourcenorientierte, auf die Förderung natürlicher Mehrsprachigkeit in fächerübergreifenden Settings zielende Konzeption für alle Kinder der mehrsprachigen Gruppe beinhalten kann. Auf diese Weise besitzt der vorliegende Band einen hohen Anregungsgehalt für die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Praxis in Richtung einer anerkennungs- und teilhabeorientierten Pädagogik, die Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kommunikationsfähigkeit als Ressource für die Einwanderungsgesellschaft begreift.

Petra Büker

Paderborn, im Juli 2017

 

Inhalt

 

  1. Vorwort der Herausgeberin
  2. 1 Einleitung: Sprachliche Diversität im Einwanderungskontext und Sprache(n)lernen
  3. 2 Aufwachsen in mehreren Sprachen: Fallbeispiele sprachlicher Heterogenität
  4. 3 Theoretische Grundlagen des Spracherwerbs und Meilensteine der Sprachentwicklung
  5. 3.1 Theorien des Spracherwerbs
  6. 3.2 Meilensteine der Sprachentwicklung
  7. 4 Forschungsstand zum mehrsprachigen Spracherwerb
  8. 4.1 Forschungsstand zum bilingualen Spracherwerb
  9. 4.2 Forschungsstand zum biliteralen Spracherwerb
  10. 4.3 Schriftsprach- und Orthographieerwerb bei mehrsprachigen Kinder
  11. 5 Sprachdiagnostik und Sprachbeobachtung bei ein- und mehrsprachigen Kindern
  12. 5.1 Eine Auswahl sprachdiagnostischer Verfahren
  13. 5.2 Meilensteine als Alarmsignale für Eltern, Fach- und Lehrkräfte
  14. 5.3 Diagnostische Leitfragen zum Erst- und Zweitspracherwerb
  15. 5.4 Störungen der sprachlichen Kommunikation
  16. 5.5 Sieben Fallbeispiele zweisprachiger Kinder mit logopädischer Diagnose und sprach(heil)pädagogischem Förderbedarf
  17. 6 Mehrsprachige Erziehung in Kindertagesstätte und Grundschule
  18. 6.1 Rahmenmodell mehrsprachiger Erziehung
  19. 6.2 Bilinguale Kindergärten und mehrsprachige Schul- und Unterrichtsentwicklung
  20. 7 Sprachbildung und sprachliche Förderung in Krippe, Tagespflege und Kindertagesstätte
  21. 7.1 Sprache unterstützen von Anfang an
  22. 7.2 Modellierungstechniken und Sprachlehrstrategien
  23. 7.3 Alltagsintegrierte Sprachbildung und sprachliche Förderung in den Bildungsbereichen
  24. 8 Bildungssprachlicher Kompetenzerwerb und fachbezogene Sprachförderung in der Grundschule
  25. 8.1 Bildungssprache: Definition und Merkmale
  26. 8.2 Mehrdimensionaler Referenzrahmen bildungssprachlicher Kompetenzen
  27. 8.3 Sprachsensibles naturwissenschaftliches Lernen und bildungssprachliche Kompetenzentwicklung
  28. 8.4 Sprachsensibler Mathematikunterricht und bildungssprachliche kompetenzentwicklung
  29. 8.5 Sprachsensibler Sportunterricht und bildungssprachliche Kompetenzentwicklung
  30. 9 Neu zugewanderte Kinder stärken – kulturell-sprachlich und psychosozial integrieren
  31. 9.1 Kulturelle Akkulturation und interkulturelle Kommunikation
  32. 9.2 Psychosoziale Stabilisierung von Kindern mit Fluchterfahrungen
  33. 9.3 Psychosoziale Integration durch Sport und Bewegung
  34. 9.4 Modelle des Unterrichts und der sprachlichen Förderung neu zugewanderter Kinder
  35. 9.5 Neu zugewanderte Kinder stärken – Das Modell der Libellenschule
  36. 10 Fazit
  37. Literaturverzeichnis
  38. Quellen

 

 

 

1

Einleitung: Sprachliche Diversität im Einwanderungskontext und Sprache(n)lernen

 

Spracherwerb und die Förderung der Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen stellen zentrale Bildungsaufgaben dar, die auf allen Ebenen des Bildungssystems von übergeordneter Bedeutung für die kulturell-soziale Integration und den Schul- und Bildungserfolg der Heranwachsenden sind. Die Sprachkompetenz in der Verkehrs- und Unterrichtssprache ist Voraussetzung und Bedingung, um erfolgreich an Bildungs- und Lernprozessen teilhaben zu können, da sich Lernen immer auch im Medium der Sprache vollzieht und in allen Bildungsinstitutionen vom Elementar- bis in den Sekundarbereich der Schule an Sprache gebunden ist.

Der Diskurs um die Entwicklung und Förderung der Sprachkompetenz ist in der didaktischen Theoriebildung und Forschung durch bildungspolitische Maßnahmen unterstützt und in vielfältigen Forschungsinitiativen vorangetrieben worden, sodass sprachliche Bildung als umfassende Lern- und Entwicklungsaufgabe vom Elementar- bis in den Sekundarbereich verstanden und beforscht wird (vgl. die Forderung einer Durchgängigen Sprachbildung nach Gogolin & Lange, 2010).

Die sprachliche Ausgangssituation in Kindertagesstätten und Grundschulen ist durch eine Sprachenvielfalt geprägt, die sich in Folge kriegs- und armutsbedingter globaler Migrationsbewegungen weiter ausdifferenziert und einen nicht mehr hintergehbaren Bedingungsfaktor in den Bildungseinrichtungen darstellt. Die sprachwissenschaftliche Forschung spricht von einer sprachlichen Super-Diversität, die als Folge neuer Muster der Migration in westlichen Einwanderungsgesellschaften zu beobachten ist (Vertovec, 2007) und die zu einer ›Vervielfältigung von Vielfalt‹ auch in der Bundesrepublik Deutschland führt (Gogolin, 2015, S. 292). Die neue kulturelle und sprachliche Diversität zeigt sich vor allem in urbanen Zentren, die von den neu Zugewanderten bevorzugt werden und die in diesen zu jener Super-Diversität führen, die im internationalen Kontext beobachtet werden kann (Gamlen, 2010). Zur Anzahl von Sprachen, die in europäischen Zuwanderungsregionen gesprochen werden, liegen jedoch nur vereinzelte Studien vor. So zählt eine Erhebung, die in London durchgeführt wurde, ca. 230 Sprachen, die von den Schulkindern gesprochen werden (Eversly, Mehmedbegovic, Sanderson, Tinsley, Von Aln & Wiggings, 2010). Im deutschsprachigen Raum wurden sprachstatistische Erhebungen in Hamburg (Fürstenau et al., 2003), Essen (Chlosta & Ostermann, 2010), Freiburg (Decker & Schnitzer, 2012), Wien (Brizić, & Lo Hufnagl, 2011) und Erfurt (Ahrenholz, Hövelbrinks, Maak & Zippel, 2013) durchgeführt, die je nach der Häufigkeit von Migrationsfamilien in der Untersuchungsregion eine unterschiedliche hohe Anzahl zwischen 36 und 122 Familiensprachen aufweisen. Diese Anzahl von Sprachen dürfte sich in Folge der neuen Zuwanderungsbewegungen in Folge von Flucht, Krieg und Vertreibung wie Rahmen der innereuropäischen Binnenwanderung insbesondere in den Ballungszentren noch einmal deutlich erhöht haben. Eine von Römhild und Vertovec (2009) in Frankfurt am Main durchgeführte Erhebung kann das Phänomen der sprachlichen Super-Diversität, das in Folge der neuen transnationalen Migrationsbewegungen entsteht, beispielhaft illustrieren.

Der Blick auf die sprachliche Ausgangssituation von mehrsprachigen Kindern in Kindertagesstätte und Grundschule wurde bisher in der bundesrepublikanischen Diskussion um den mangelnden Kompetenzerwerb in der Zweitsprache Deutsch überlagert, der in der Post-PISA-Debatte eine hohe Aufmerksamkeit erfuhr und zu einer einseitigen Priorisierung des Deutschen in der sprachlichen Förderung von Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache führte. In den Bildungsinstitutionen wird die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit nicht favorisiert. Stattdessen wird die natürliche Mehrsprachigkeit, die multilinguale Kinder mitbringen, als Bildungshindernis angesehen und eine einseitige sprachliche und kulturell soziale Integration und Anpassung erwartet, statt die mitgebrachte Mehrsprachigkeit der zugewanderten Bevölkerungsgruppen anzuerkennen und als spezifische sprachliche Ressource zu fördern. Dieser monolinguale Habitus der Schule, den Gogolin bereits in den 1990er Jahren kritisierte, ist angesichts einer sich weiter ausdifferenzierenden sprachlichen Heterogenität in den Bildungseinrichtungen nicht mehr tragfähig. Das verbreitete professionelle Nicht-Wissen pädagogischer Fachkräfte im Umgang mit sprachlicher Diversität muss in ein pädagogisches Handlungswissen überführt werden, das dem fachlichen Wissen um Sprachenlernen und Mehrsprachigkeit entspricht und in pädagogisch-didaktisch angemessene Formate des Lehrens und Lernens in mehrsprachigen Gruppen übersetzt.

Wie die sprachlichen Ressourcen der mehrsprachigen Kinder gestärkt und ihre sprachliche Kompetenzentwicklung in der Kommunikation mit einsprachigen Kindern in den Bildungseinrichtungen von Kindergarten und Grundschule unterstützt werden können, ist Gegenstand unseres Bandes »Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation«, das den Sprache(n)erwerb in der Einwanderungsgesellschaft diskutiert und die neue sprachliche Diversität zum Ausgangspunkt sprachlichen Lernens mit und unter Kindern macht, die sehr unterschiedliche sprachliche Biographien mitbringen. Auf der Grundlage des linguistischen Wissens zu Spracherwerb und Mehrsprachigkeit werden Erwerbsbedingungen der Sprache, ihre Diagnostik sowie Vorteile und Schwierigkeiten bi- und multilingualer Erwerbsprozesse dargestellt und erörtert, welche Schlussfolgerungen sich daraus für das Sprache(n)lernen, die sprachliche Bildung und die Förderung der sprachlichen Stärken und Kompetenzen von Kindern ziehen lassen. Dazu werden sowohl der Forschungsstand zu Spracherwerb und Mehrsprachigkeit als auch praktikable Arbeits- und Handlungsmodelle mehrsprachiger Erziehung und Bildung in informellen und fachlichen Kontexten vorgestellt, wie sie in der sprachwissenschaftlichen wie sprachpädagogisch-didaktischen Forschung entwickelt und in der Diskussion sind. Die Entwicklung und Förderung der Bildungssprache werden ebenso einbezogen wie Modelle einer mehrsprachig-interkulturellen Sprachbildung, die »ihren Ausgangspunkt bei der Beobachtung innergesellschaftlicher Kommunikationsprobleme und deren Konsequenzen für sprachliche Bildung« nehmen und »durch Unterricht zum besseren Verständnis mit sprachlicher Heterogenität und Pluralität befähigen, die zu den alltäglichen Spracherfahrungen der Menschen in der mehrsprachigen, multikulturellen Gesellschaft gehören« (Gogolin, 1995, S. 107 f.). Einem solchen Verständnis interkulturell-sprachlicher Bildung wird in diesem Band gefolgt und es werden praktikable Ansätze und Konzepte mehrsprachigen Lernens erörtert, die im Kindertagesstättenbereich wie in der Grundschule darauf zielen, die sprachlichen Ressourcen der ein- und mehrsprachigen Kinder zu stärken und im sprachlichen Lernen wechselseitig zur Geltung zu bringen. Auch werden schulorganisatorische Modelle der zweitsprachlichen Förderung, wie sie in der aktuellen Debatte um die Beschulung neu zugewanderter Kinder in den einzelnen Bundesländern etabliert sind, kritisch miteinbezogen.

 

 

 

2

Aufwachsen in mehreren Sprachen: Fallbeispiele sprachlicher Heterogenität

 

Kinder mit mehr als einer Sprache sind in vielen Kindertagesstätten und Grundschulen die Regel. Die folgenden Sprachbiographien von Ebru, Alessia und Vladimir, die bei Küpelikilinc und Özbölük (2016, S. 12 ff.) zu finden sind und die wir in gekürzter Fassung wiedergeben, vermitteln einen anschaulichen Einblick in die sprachliche Welt und die individuelle Vielfalt mehrsprachiger Kinder:

Ebru (9 Jahre)

•  Eine Schwester im Alter von fünf Jahren

•  Vater in Deutschland aufgewachsener Türke, Fabrikarbeiter

•  Mutter: Aufgrund der Eheschließung nach Deutschland eingewanderte Türkin mit türkischem Realschulabschluss, aktuell in Weiterbildung

Die sprachliche Welt von Ebru

Die ersten Jahre haben beide Eltern mit Ebru ausschließlich Türkisch gesprochen. Die Mutter besuchte einen Deutschkurs, und Ebru war vom ersten bis zum dritten Lebensjahr dreimal pro Woche in der Kinderbetreuung und begann dort bereits die ersten deutschen Wörter zu sprechen. Nach ca. einem Jahr im Kindergarten merkten die Eltern, dass sie zunehmend unbeabsichtigt Deutsch mit Ebru sprachen und beschlossen, zu Hause konsequent auf das Türkischsprechen zu achten; der Vater aber spricht seitdem außer Haus fast immer Deutsch mit Ebru. Weiter gibt es zu Hause die Vereinbarung, dass bei den Hausaufgaben nur Deutsch gesprochen wird. Seit einem Jahr besucht die Mutter eine berufliche Weiterbildung; um ihr mit der deutschen Sprache zu helfen, hat sie die Familie gebeten, beim Abendessen deutsch zu sprechen.

Ebrus Mutter hat ihr auf Türkisch oft vorgelesen. Durch den Kindergarten entstand der Kontakt zur Stadtbücherei und seitdem liest der Vater den beiden Schwestern auf Deutsch vor, was allerdings aufgrund seiner Schichtarbeit nicht immer möglich ist.

Seit einigen Jahren merken die Eltern, dass die beiden Schwestern immer Deutsch miteinander sprechen, egal wie oft die Eltern sie anregen, zu Hause Türkisch zu sprechen.

In der Schule gibt es keinen Türkisch-Unterricht, was die Eltern sehr bedauern.

Türkisch sehr gut, Deutsch sehr gut, neuen Sprachen gegenüber ist Ebru sehr neugierig und aufgeschlossen. Sie merkt sich gerne Aussagen ihrer Freundinnen in deren Erstsprache und ›Vokabeln‹, die sie hier und dort aufschnappt, wie z. B. die Farben auf Englisch. Sie spielt zudem gerne mit ihren Sprachen, so erfindet sie sprachübergreifende Reime wie beispielsweise Viereck-Kelebek (Schmetterling). Sie liest gerne in beiden Sprachen, schreibt aber lieber in Deutsch.

Das Fallbeispiel Ebrus repräsentiert Reich (2008) folgend den Normalfall einer sukzessiv bilingualen Erziehung von Kindern aus Migrationsfamilien, bei der die Erstsprache zunächst dominant ist und die später innerfamilial zunehmend auf den Erwerb der Zweitsprache ausgerichtet wird. In Ebrus Familie ist in den Sprachpraxen auch jene Sprachbewusstheit zu beobachten, die zu einer balancierten Zweisprachigkeit auf hohem Niveau führt, wie sie bei Ebru zu finden ist. Ebru zeigt die von Reich analysierte extrovertierte sprachlich-produktive Grundhaltung, die den Erwerb einer ausgewogenen Zweisprachigkeit auf hohem Niveau begünstigt (ebd., S. 256). Sie gehört auch zu den Einzelfällen von Kindern, die in der Entwicklung der Erstsprache nicht stagnieren oder retardieren. Gleichwohl ist zu vermuten, dass die türkische Schrift- und Hochsprache nicht erworben wird und das sprachliche Kompetenzniveau im Türkischen alltagssprachlich ausgerichtet ist. Im Türkischen wird kein hoch- und bildungssprachliches Niveau erreicht werden können, da kein Unterricht in der Herkunftssprache erteilt wird.

Im folgenden Fallbeispiel Alessias wird ein Kind vorgestellt, das in einer bildungsnahen, mehrsprachigen Familie mit gehobenem Sozialstatus aufwächst (Küpelikilinc & Özbölük, 2016, S. 13):

Alessia (9 Jahre)

•  Einzelkind

•  Vater: In Deutschland aufgewachsener Italiener, Ingenieur

•  Mutter: In Deutschland aufgewachsene Türkin, Juristin

Die sprachliche Welt von Alessia

Als Alessia selbst zu sprechen begann, hat ihre Mutter mit ihr hauptsächlich Türkisch gesprochen. Nur in Anwesenheit des Vaters, der das Türkische nicht versteht, sprach die Mutter Deutsch mit ihr. Ihr Vater seinerseits hat mit ihr hauptsächlich Deutsch, aber auch hin und wieder Italienisch gesprochen. Als Alessia selbst anfing zu sprechen, waren viele der Wörter, die sie sprach, türkisch, so dass der Vater, der nun nicht verstand, was sein Kind sprach, sehr verunsichert war. Er beriet sich mit dem Kinderarzt, der ihm irrtümlicherweise sagte, drei Sprachen seien zu viel für ein Kind. Auch wenn die Mutter weiterhin den Wunsch hegte, ihr Kind mehrsprachig zu erziehen, hatte sie Verständnis für die Position ihres Mannes und sprach von nun an nur Deutsch mit Alessia. Die Vermittlung der türkischen Sprache schob sie vorerst auf. Als Alessia ca. drei Jahre alt und im Spracherwerb weit vorangeschritten war, begann die Mutter wieder vermehrt in Abwesenheit des Vaters Türkisch zu sprechen.

Sprachliche Kenntnisse von Alessia

Deutsch sehr gut, Italienisch und Türkisch versteht sie, formuliert selbst aber keine Sätze in den jeweiligen Sprachen. Formelhafte Äußerungen wie z. B. Danke, Bitte, Guten Tag kann sie in Türkisch zwar besser, aber auch in Italienisch äußern. Mit ihren Großeltern, die zwar auch in Deutschland wohnen, kann sie sich nur auf Deutsch unterhalten. Im Deutschen ist sie sehr sprachgewandt und verfügt über einen großen Wortschatz.

In Alessia wird ein mehrsprachiges Kind portraitiert, das potentiell dreisprachig aufwächst und im Ergebnis den Fall einer unbalancierten Mehrsprachigkeit mit Dominanz des Deutschen repräsentiert (Müller et al., 2013), das der ambivalenten bis widersprüchlichen Haltung der Eltern gegenüber einer mehrsprachigen Erziehung geschuldet ist. Eine balancierte Zweisprachigkeit, die Alessia vermutlich in zwei der drei Sprachen ihrer Familie hätte erreichen können, wurde nicht erzielt; insofern wurde das sprachliche Potential der mehrsprachigen Familie, die auch aufgrund ihres Bildungsstatus eine explizites sprachförderliches Milieu bietet, nicht ausgeschöpft und die sprachlichen Ressourcen nicht genutzt. Inwieweit eine dreisprachige Entwicklung möglich gewesen wäre, muss offen bleiben. Obwohl man aufgrund der allgemeinen wie der linguistischen Vorteile früher Mehrsprachigkeit davon ausgehen kann, dass dies erfolgreich und möglich ist, muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass eine linguistische Grundlagenforschung zu trilingualen Erwerbsprozessen noch in den Anfängen steht und insofern nur hypothetische Annahmen zu solchen mehrsprachigen Entwicklungsverläufen möglich sind.

In der Sprachbiografie Vladimirs wird ein Kind portraitiert, das in einer Aussiedlerfamilie aufwächst, die bei ihrer Immigration nach Deutschland selbst nicht über die deutsche Sprache verfügte und in der Person des Vaters bis heute noch nicht ausreichend verfügt. Zu welchen sprachlichen Dilemmata und Problemen dies in den Sprachpraxen und in der sprachlichen Erziehung der Familie führte, ist in der Falldarstellung eindrücklich dokumentiert (Küpelikilinc & Özbölük, 2016, S. 16):

Vladimir (9 Jahre)

•  Ein vier Jahre älterer Bruder

•  Mutter: Spätaussiedlerin, in Kasachstan geboren, Muttersprache Russisch, Kassiererin in einem Supermarkt

•  Vater: Kasache, seine Familie lebt noch in Kasachstan, Muttersprache Russisch, zur Zeit arbeitslos

•  Eltern der Mutter sprechen muttersprachlich Deutsch mit Dialektfärbung und leben in Deutschland

Die sprachliche Welt von Vlamimir

Vladimirs Eltern sind ohne Deutschkenntnisse vor 13 Jahren auf Wunsch der Mutter nach Deutschland gekommen. Vladimirs Mutter hat einen leichteren Zugang zur deutschen Sprache. In ihrer Heimat waren beide Eltern berufstätig. Seit dem Umzug nach Deutschland ist der Vater arbeitssuchend. Die Mutter hat mittlerweile eine feste Anstellung als Kassiererin in einem Supermarkt. Vladimirs Mutter hatte in den ersten Jahren große Sorgen, als Ausländerin negativ aufzufallen. Damit ihre Kinder es leichter haben, hat sie mit dem älteren Bruder von Vladimir nur Deutsch gesprochen und auch den Vater dazu aufgefordert. Der Vater macht sich Sorgen, dass die Kinder ihren Kontakt zu seiner Verwandtschaft in Kasachstan verlieren, wenn sie ihr Russisch nicht pflegen. Gleichzeitig fühlt er sich nicht authentisch, auf Deutsch, also in einer Sprache mit seinen Kindern zu sprechen, in der er sich selbst nur schwer ausdrücken kann. Daher kam es häufig zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern, die dann auf Russisch ausgetragen wurden, so dass die Kinder Russisch als die Sprache des Streits erlebten. Als der fünfjährige, ältere Sohn sprachliche Auffälligkeiten zeigte, ließ die Mutter sich beraten. Sie erfuhr, dass es sehr wichtig sei, in der Sprache mit den Kindern zu kommunizieren, in der die Eltern sich wohlfühlen, und dass das Sprechen der Familiensprache der Kinder nicht dabei hindere, Deutsch zu lernen, sondern das Deutschlernen unterstütze. Daraufhin schlug die Mutter einen Kurswechsel ein. Zu diesem Zeitpunkt war Vladimir ein Jahr alt. Mittlerweile wird zu Hause von der Mutter zunehmend und vom Vater ausschließlich Russisch gesprochen. Auch die Familiensituation ist harmonischer. Vor allem der Vater freut sich, dass ihm nun ein weites Spektrum an Möglichkeiten zur Verfügung steht. Vorher konnte er seinen Kindern nicht vorlesen, nicht mit ihnen singen oder scherzen. Nun stehen ihm alle diese Möglichkeiten offen. Die Geschwister sprechen hauptsächlich Deutsch untereinander. Vladimir spricht seinen Bruder zwar manchmal auf Russisch an, dieser blockt dann aber ab. Im Freundeskreis der Familie befinden sich viele russische Familien, so dass der Kontakt zur russischen Sprache nicht nur durch die Eltern gegeben ist.

Sprachliche Kenntnisse von Vladmir

Vladimirs sprachliche Kenntnisse sind sowohl im Russischen als auch in Deutsch gut.

Über die Notwendigkeit des Erwerbs der Verkehrssprache als einer unabdingbaren Bedingung und Voraussetzung der Integration neu Zugewanderter besteht im öffentlichen wie fachlichen Diskurs ein einhelliger Konsens. Am Einzelfall Vladimirs kann exemplarisch gezeigt werden, welche Problemlagen sich durch eine einseitige Priorisierung des Deutschen in den mehrsprachigen Familien ergeben können. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Befund von Klassert/Gagarina (2010), die bei russischen Migrantenkindern zeigen konnten, dass die Verwendung der deutschen Sprache in der Familie die Deutschkompetenz nicht steigern konnte, die Russischkompetenz aber schwächt. Im Hinblick auf die anerkannte Bedeutung des Zweitspracherwerbs ist die Verwendung des Deutschen durch die Mutter Vladimirs eine sprachlich legitime Entscheidung. Diese Sprachpraxis geriet aber mit den kommunikativ ebenso legitimen Erwartungen des Vaters an den Gebrauch der Erstsprache Russisch in Konflikt, die erhalten bleiben soll, um die familiären Kontakte zur Herkunftsfamilie in Kasachstan aufrecht erhalten zu können. Die Spannungen, die sich dadurch in der Familie ergeben, werden aber durch die Eltern konstruktiv gelöst, da sich die Mutter im Sprachenkonflikt beraten ließ und die Erstsprache Russisch wieder innerfamiliär genutzt wird, sodass das mehrsprachige Potential der Familie erhalten bleibt und die Kinder bilingual aufwachsen können. Tendenziell steht dieses Fallbeispiel für die sprachlichen Dilemmata, die in ähnlicher Weise auch in den neu zugewanderten Flüchtlingsfamilien auftreten und für die durch eine entsprechende Beratung der Bildungsinstitutionen, in denen die Kinder aufgenommen werden, Lösungen gefunden werden können

Die sprachliche Super-Diversität in Kindertagesstätten und Schulen stellt eine Herausforderung für pädagogische Fachkräfte und Grundschullehrkräfte dar, der sich die Bildungseinrichtungen zukünftig verstärkt stellen müssen, wenn man die sprachlichen Ressourcen der mehrsprachigen Kinder konstruktiv aufgreifen und als ein besonderes Potenzial wertschätzen will. Auch die aktuell neu zugewanderten Kinder kommen mit einer Vielfalt an Herkunftssprachen in das Bildungs- und Betreuungssystem und lernen sukzessiv bi- oder multilingual Deutsch als weitere Sprache. Wie Spracherwerbsprozesse verlaufen und was man zu Effekten bilingualer und biliteraler Erwerbsprozesse aus der Forschung weiß, wird nachfolgend erörtert, um ein linguistisch-sprachwissenschaftlich abgesichertes Fundament mehrsprachiger Erziehung und Bildung zu begründen zu können.

 

 

 

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Theoretische Grundlagen des Spracherwerbs und Meilensteine der Sprachentwicklung

 

Eine Grundsatzfrage der Sprachwerbstheorie ist, ob sich Sprache eher von innen nach außen oder bedingt durch soziale Einflüsse entwickelt. Die Diskussion um diese wird als »Input-output-Kontroverse« bezeichnet. Verschiedene Forschungsansätze und Theorien beleuchten unterschiedliche Aspekte im Spracherwerbsprozess und ihre Denkmodelle spiegeln unterschiedliche Arten der Sprachaneignung mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, was Konsequenzen für die Entwicklung von Diagnose- und Förderkonzepten in der Praxis hat. Im Folgenden wird ein Überblick zu den Spracherwerbstheorien, ihren Annahmen, Befunden und Grenzen gegeben, die im wissenschaftlichen Diskurs leitend sind: Daran schließt sich die Darstellung von Meilensteinen des Spracherwerbs an.

3.1       Theorien des Spracherwerbs

Der folgende Überblick umfasst leitende Theorien des Spracherwerbs, wie sie in unterschiedlichen disziplinären Kontexten entwickelt sind, und umfasst den nativistischen, lerntheoretischen, kognitivistischen, interaktionistischen, psychoanalytischen, kulturhistorisch-tätigkeitstheoretischen und relationalen Ansatz.

Nativistischer Ansatz

Der nativistische Ansatz von Chomsky geht davon aus, dass die Fähigkeit des Menschen zum Erwerb der Sprache auf genetische Disposition zurückzuführen ist, wonach in jedem Kind eine Universalgrammatik genetisch verankert ist. Chomskys Language-Aquisition-Device-Modell (LAD-Modell) besagt, dass das Kind über ein generelles Wissen in Bezug auf Form und Substanz von Sprache bzw. Grammatik verfügt. Ein Kind kann demnach über die Struktur der rezipierten Sprache Hypothesen bilden und diese auch bewerten (Klann-Delius, 2008). Der Erwerb der Sprache erfolgt durch langsames Reifen und Anwenden dieses genetisch verankerten Wissens. Dieses Modell kann jedoch weder die systematische Entwicklungsabfolge beim Spracherwerb erklären, noch kann damit gezeigt werden, ob die Grammatik vom Kind tatsächlich korrekt gebildet wird.

Wird der Erwerb von Sprache/n biogenetisch durch angeborene Mechanismen auf der Basis individueller Reifungsprozesse erklärt, so dominiert die Annahme, dass (nur) die Zielstrukturen auf den verschiedenen linguistischen Ebenen (Laut-, Wort-, Satzebene) optimal präsentiert werden müssen, um das sprachsystematische Regelwissen aufzubauen (Chomsky, 1965; Clahsen, 1986; Pinker, 1995).

Lerntheoretischer Ansatz unter behavioristischer Perspektive

Spracherwerb passiert nicht einfach automatisch, wie Chomsky postuliert: »Spracherwerb ist […] something that happens to you« (Chomsky zit. nach Klann-Delius, 1999, S. 53), sondern Sprache muss wie jedes andere Verhalten gelernt werden. Der imitationsorientierte Ansatz geht von Reiz-Reaktions-Mechanismen aus, die das Kind prägen. Wird Sprache/n-Lernen ausschließlich lerntheoretisch unter behavioristischer Perspektive im Sinne von Skinner (1957) betrachtet, so stehen Lernen am Modell durch Imitation und Verstärkung im Vordergrund: Satzmuster mit pattern practice, z. B. Übungen der Mundmotorik, Silben- und Reimspiele oder Lautgebärden mit Handzeichen.