SILKE NAUN-BATES

SoulPassion

Meine Seele ruft

SILKE NAUN-BATES

SoulPassion

Meine Seele ruft

Gewidmet

meinen Kindern

Samantha und Pascal.

Wartet auf Nichts. Lebt!

Folgt eurem Ruf. Ich bin da.

Immer. Für Euch.

Inhalt

Prolog

Die Marionettenspielerin – Akt 1

Meine Marionetten

Madame Eva

Der Richter

Die Eisprinzessin

Der Narr

Der Harlekin

Pandora

Die Diva

Rumpelstilzchen

Die Marionettenspielerin – Akt 2

Meine Marionetten im Glaskasten

Licht oder Schatten – entscheide dich!

Wiedersehen mit meinen Marionetten im Glaskasten

Alice

Goldmarie

Der Clown

Don Quijote

Angst oder Liebe?

Einladung ins Marionettentheater

Die Marionettenspielerin – Akt 3

Mein Verstand ist ein Jack Russel

Denk doch einfach positiv!

Ich lerne schwimmen

Ich erlebe, was ich fühle?

Der Knochendieb heißt Sinnlichkeit

Die Marionettenspielerin – Akt 4

Die vergessene Marionette im Glaskasten

Meine erste Gipfelerfahrung

Vergeben? Ich sicher nicht!

Vergebung braucht Zeit

Die Marionettenspielerin – Akt 5

Das Geheimnis wird gelüftet

Ich bin viele

… Und was ist meinen Bedürfnissen und Wünschen?!

Meine Marionetten, Jack Russel und ich

Zwischen Traum, Fiktion und Wirklichkeit

Vita

Was ein Mensch begehrt,

Wird niemals gestillt durch des Menschen Hand,

Erfüllung obliegt der Seele prächtigem Gewand.

Drum fürchte dich nicht,

Folge aufrecht und mutig ihrem Ruf,

Und werde, wozu dich das Leben erschuf.

Prolog

Du bist schön.

So unendlich schön

in deiner vielfältigen Einheit.

Für dich, für die Menschen, die dich umgeben, für die Menschen dieser Welt.

Für die Schutzlosen, Hoffnungslosen und Ausgebrannten. Für die mit dem Schicksal Hadernden. Für die Mutlosen und ewig Zweifelnden. Für die Engherzigen und Verurteilenden. Für die Fanatischen und Gewaltbereiten. Für die Helfenden und Vergessenen. Für die Kinder dieser Welt.

Wenn du dich sehen könntest, wie ich dich sehe, dich durch meine Augen betrachten könntest …

Ich sehe, wie unendlich schön du bist, ich sehe dein Strahlen, die Liebe, die du bist. Ich sehe deine Kraft, deine Stärke. Ich sehe dich aufrecht stehend, den Kopf erhoben, erfüllt von innerer Kraft und Stärke. Ich sehe ein souveränes und mutiges Wesen, kraftvoll und frei.

… Und an manchen Tagen möchte ich dich gerne einfach schütteln, schütteln, bis du aufwachst aus diesem Traum, dass du nicht sein kannst, wer du gerne sein möchtest, dass du nichts ändern kannst, dass du ein Opfer schwieriger Umstände bist, dass du die Welt nicht verändern kannst.

Ja, manchmal möchte ich dich einfach gerne schütteln …

 

Eines Tages wird dein Leben einen Sinn ergeben
und du wirst die Perfektion des Zufalls erkennen.

Die Marionettenspielerin

Akt 1

 

Mit einem lauten Knall schlägt sie die Tür hinter sich zu. Wieder einmal habe ich mich mit meiner 14-jährigen Tochter Sammy gestritten. Stets geht es um die gleichen Themen: Zimmer aufräumen, Schule, wann sie von der Party zu Hause sein soll, ihr, aus meiner Sicht, aufmüpfiges Verhalten mir gegenüber. Nach jedem Streit mit ihr fühle ich mich hilflos und Schuldgefühle plagen mich. Ich wollte es doch anders machen als meine Mutter, die in ihrer Hilflosigkeit rumschrie, Hausarrest verordnete, damit drohte, dass sie meine Schwester und mich in ein Heim stecken würde und die dann stundenlang einfach nicht mehr mit uns sprach. Und was mache ich? Ich verhalte mich genauso! Es fühlt sich an wie ein Albtraum, in dem ich gefangen bin und aus dem ich erst wieder aufwache, wenn Sammy die Tür zu ihrem Zimmer zuschlägt, dass die Wände wackeln. Dann erwache ich aus dieser Hypnose und fühle mich so unsagbar ohnmächtig. Tiefe Scham erfüllt mich: Wie kann ich nur auf diese Weise mit ihr umgehen, ihr solche Sätze an den Kopf werfen und ihr damit derart wehtun? So verhält sich eine Mutter einfach nicht! Meist verziehe ich mich danach ins Badezimmer, den einzigen Ort, an dem ich mich sicher fühle, wenn ich die Tür schließe, um meinen verzweifelten Tränen freien Lauf zu lassen. Ganz fest nehme ich mir danach, wie schon so oft, vor, dass ich beim nächsten Mal anders reagiere, und wünsche mir so sehr, dass mich jemand in den Arm nimmt, sanft wiegt und einfach nur sagt: „Alles wird gut, du wirst sehen.“

Begegnen wir uns nach so einem Streit das erste Mal wieder beginne ich mich für mein Verhalten zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder darauf zu beharren, dass meine Handlungsweise vollkommen in Ordnung ist, da sie sich meinen Wünschen widersetzt. Und manchmal bin ich auch einfach zu stolz, um mich zu entschuldigen, oder fühle mich noch immer hilflos und versuche, diese Ohnmacht hinter meiner Wut zu verstecken. Diese Ohnmacht macht mich an manchen Tagen derart wütend, dass ich Angst habe, die Kontrolle über mich zu verlieren. Ein wenig erschrecke ich dann vor mir selber, weil ich erkenne, dass ich durchaus in der Lage wäre, einen Menschen, den ich liebe, nicht nur emotional, sondern auch körperlich zu verletzen, würde mich nicht dieses letzte Quäntchen Selbstbeherrschung zurückhalten. Wenn ich höre, dass Menschen in ihrer Wut und Hilflosigkeit einfach zuschlagen, frage ich mich, wie das geschehen kann, doch in diesen Momenten, meiner Ohnmacht ausgeliefert, kann ich es durchaus nachvollziehen. Das erschreckt mich zutiefst. Gott sei Dank hält mich das Erschrecken vor mir selber zurück, meiner Wut vollständig zu folgen. Doch, wie geht es Menschen, die erst nach ihrem rasenden Anfall wieder aufwachen und erkennen, was sie angerichtet haben?

Wie auch immer ich nach solchen Situationen reagiere, ist im Grunde einerlei, nur eines ist sicher: Diese immer wiederkehrenden Konflikte sind anstrengend und rauben mir meine Kraft. Zumal mein Leben nicht nur aus dem Zusammensein mit meiner Tochter besteht, sondern noch eine Vielzahl an weiteren Herausforderungen für mich bereithält, wie die angespannte finanzielle Situation, den zermürbenden Kampf um Harmonie mit meiner Mutter, die Sehnsucht nach einem Seelenpartner, um nur einige zu nennen. Auch mache ich mir Sorgen darüber, wie mein Verhalten gegenüber meiner Tochter Sammy sich auf ihren jüngeren Bruder Pascal auswirkt. Hat er in diesen Situationen Angst vor mir? Versteckt er sich? Ist er wütend auf mich, auf uns? Was geht in ihm vor? Mit diesen Fragen wächst mein Scham- und Schuldgefühl zu einem riesigen Monster heran, dem ich nicht gewachsen bin, und am liebsten würde ich mich in einer einsamen Höhle verkriechen, um nichts mehr sehen, hören und vor allem fühlen zu müssen. Es gibt Tage, da bin ich hin- und hergerissen zwischen meinen eigenen Erwartungen, den Erwartungen anderer Menschen an mich und meine Kinder und den moralischen Erwartungen der Gesellschaft. Dann überkommen mich Zweifel, ob ich all dem jemals gerecht werden kann, und ich schaue neidisch auf die Menschen, die aus meiner Sicht all das haben, was mir fehlt: einen liebevollen, unterstützenden Partner, finanzielle Sicherheit, ein harmonisches Familienleben, einen Job, der ihnen Freude bereitet. Sie können es sich erlauben, in den Urlaub zu fahren, die Welt zu erkunden, haben ein schönes Heim und Pläne für die Zukunft. Ihr Äußeres ist stets makellos, ihre Kinder sind wohlgeraten und ihr einziges Problem scheint im Unverständnis gegenüber Menschen zu liegen, die nicht wie sie so ein perfektes Leben haben. Wenn ich sie beim Einkaufen oder an einem anderen Ort mit ihrem süffisanten Tonfall darüber sprechen höre, macht sich in mir ein Gefühl von Scham breit, weil ich es einfach nicht schaffe, mein Leben so perfekt zu gestalten.

Sicher, es gibt auch schöne, helle Momente, vor allem mit meinen Kindern und Freunden, doch diese wirken im Vergleich zu den anderen sehr blass und sind von wesentlich kürzerer Dauer.

In den wenigen Stunden, in denen ich mit mir alleine bin, habe ich oft den Eindruck, ich wäre Teil eines mysteriösen Marionettentheaters, welches seinen unwirklichen Zauber über mich ausbreitet und mich in sein Theaterstück hineinzieht. Vielleicht sollte ich dieses Theater einmal näher betrachten. Nur wie? Eine Erinnerung aus vergangenen Zeiten taucht auf. Ich sehe mich als Kind, eingetaucht in die Welt meiner Fantasie. Ja, als Kind war mir die Welt der inneren Bilder sehr vertraut. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, mir vorzustellen, wie die Marionetten aussehen könnten, wie sie ihr Bühnenbild gestalten und welche Aufführung sie für mich inszenieren. Am besten, wenn Sammy und Pascal bei ihrem Vater sind. Dann habe ich Ruhe und genügend Zeit. Mein Bauch fängt an zu kribbeln. Ich kann es kaum erwarten, diesem mysteriösen Gefühl auf die Spur zu kommen.

Meine Marionetten

Es ist Freitagabend, Sammy und Pascal sind gut gelaunt ins „Papa-Wochenende“ aufgebrochen und ich freue mich, dass ich bis Sonntagabend Zeit habe, mich meinem Marionettentheater zu widmen. Ich mache es mir auf der Couch gemütlich und bin gespannt, ob und was sich mir zeigen wird. Als Kind habe ich es geliebt, in meine innere Welt zu reisen und sie lebendig werden zu lassen. Wie oft sind meine Freunde und ich in Rollen geschlüpft, oft inspiriert durch unsere damaligen Helden, wie Winnetou und Peter Pan. Wir spielten unsere Rollen mit Hingabe und Leidenschaft und vergaßen, wer wir wirklich waren. Selbst in meinen Träumen begleiteten mich unsere spielerischen Aufführungen. Wie oft war ich Winnetou, gefesselt an einem Marterpfahl, bis mein bester Freund Old Shatterhand mich rettete, oder konnte fliegen wie Peter Pan. Mein Herz fängt an zu rumoren, so, als ob etwas aufbricht, und zwei Tränen bahnen sich ihren Weg. Tränen der Erinnerung und Sehnsucht. Sehnsucht, die mich ruft und lockt, mich bittet, einzutauchen in meine vergessene Welt.

Kann ich das heute noch, obwohl ich es so viele Jahre nicht mehr gemacht habe? Wieso eigentlich? Weil Erwachsensein bedeutet, den Ernst des Lebens zu erkennen? „Das Leben ist kein Ponyhof!“ „Hör auf zu träumen und stell dich der Wirklichkeit!“ „Zum Spielen ist die Kindheit da!“ Hat mein Leben dadurch seinen Glanz und sein Strahlen verloren? Die Leidenschaft und Begeisterung? War das der Grund, wieso ich nicht mehr träumen kann, meine Leichtigkeit und Verspieltheit verloren habe? Dass ich mich getrennt von allem fühle? Als Kind war ich mit allem verbunden, was mir begegnete: mit Menschen, Tieren, Bäumen, Pflanzen, den Wolken, dem Regen, der Sonne. Habe ich meinen Schlüssel zur Magie des Lebens einfach fallen lassen und vergessen, ihn wieder aufzunehmen, weil die äußere Welt wichtiger wurde als die innere? Meine Augen werden feucht. Traurigkeit und Wehmut bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Ich fühle mich, als ob ich das Wertvollste, was es in meinem Leben gab, einfach aufgegeben hatte. Nicht wissend um den Preis, den es mich kosten würde. Ich habe mein Kindsein verloren, meine kindliche, fröhliche Begeisterung und Neugier durch Wissen und Fakten ersetzt. Was hat es mir gebracht? Anstrengung, Schmerz, Kampf, Gefühllosigkeit. Ein Leben, gestaltet wie eine unendliche To-do-Liste in einem tristen Grau. Nur unterbrochen durch das Aufblitzen flüchtiger, farbiger Momente, die viel zu schnell vergehen. Mein Gott, was habe ich getan? Ich weine, bis mein Herz sich beruhigt und Wehmut, Traurigkeit und diese lockende Sehnsucht sich in sanfte Stille verwandeln. Überrascht und verwundert öffne ich meine Augen. Was war denn das? Woher kamen all diese Gedanken und Gefühle? Ich wollte doch nur meinem Eindruck, dass mein Leben manchmal einem Marionettentheater gleicht, auf die Spur kommen. Im Moment fühle ich mich jedoch eher, als hätte ich den Schlüssel zu einer vergessenen und mir verborgenen Welt gefunden. Ich fühle mich zarter, weicher und auch verletzbarer. Es fühlt sich sonderbar an. Ungewohnt. Ich atme tief ein, so, als ob ich diesen neuen Zustand in mich aufnehmen möchte. Das ist verrückt und unendlich schön.

Noch einmal nehme ich einen tiefen Atemzug, schließe meine Augen und versuche, mir mein Theater vorzustellen. Es fühlt sich seltsam an, meine innere Welt nach so langer Zeit zu betreten. Langsam formt sich vor meinem geistigen Auge ein Raum, eingehüllt in einen dichten grauen Schleier. Ich schaue genauer hin. Nein, das ist kein Schleier. Das ist eine dicke, fette Staubschicht. Kein Wunder, es ist sicher schon über zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Ich hole tief Luft, puste kräftig und finde mich hustend und spuckend in einer gigantischen Fusselwolke wieder. Es wird Zeit, gründlich sauber zu machen. Mit einem überdimensionalen Staubwedel bewaffnet mache ich mich ans Werk. Was für eine Freude! Ich kann es noch. Peter Pan und Winnetou leben. Wie sehr ich dieses Spiel vermisst habe, wird mir erst jetzt richtig bewusst. Mit steigender Begeisterung befreie ich das Theater von seiner Staubschicht, bis es vor Glanz erstrahlt. Fröhlich blicke ich mich um. Auf den ersten Blick sieht es ziemlich unspektakulär aus: ein Zuschauerraum, eine Bühne aus Holz mit einem purpurroten Vorhang. Die Wand der Bühne, die wohl das Bühnenbild darstellen soll, ist dunkel und leer. Über der Bühne hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Mein Marionettentheater“. Etwas fantastischer habe ich mir das schon vorgestellt. Ein wenig enttäuscht von der Einfachheit meines Theaters frage ich mich, ob es hier auch Marionetten gibt. Kaum zu Ende gedacht, färbt sich die dunkle und leere Wand in ein strahlendes Weiß und der Raum erwacht zum Leben. Staunend beobachte ich, wie Marionetten von oben auf die Holzbretter gleiten und beginnen ein Stück aufzuführen. Es sieht fantastisch aus. Welches Schauspiel sie darstellen, kann ich nicht erkennen, doch ich spüre die Begeisterung und Leidenschaft, mit der die Marionetten ihr Spiel vortragen. Sie spielen so virtuos und perfekt, mit vollendeter Hingabe, dass ich mich in ihrem Anblick verliere. Plötzlich beenden sie ihr Spiel und stellen sich nebeneinander auf. Nacheinander zieht jede der Marionetten eine Karte aus ihrer Kleidung hervor und hält sie mir entgegen. Stolz schauen sie mich an. Ihre Karten scheinen beschriftet zu sein. Mit zugekniffenen Augen versuche ich die Buchstaben zu entziffern, doch die Karten sind zu weit weg. Ich beginne die Marionetten zu zählen. Zwölf Augenpaare blicken mich herausfordernd an, als wollten sie sagen: „Komm, trau dich und spiele mit uns!“ Wie sie so erhobenen Hauptes und prachtvoll gekleidet auf der Bühne stehen, wirken sie sehr mächtig auf mich. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Die Vorstellung, mit zwölf Marionetten gleichzeitig zu spielen, überfordert mich, doch vielleicht ist es möglich, jede einzeln kennenzulernen. Beeindruckt schaue ich mir jede Marionette genau an. Sie scheinen meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen. Ich beschließe, mir Zeit zu nehmen und mich jeder Marionette einzeln zu widmen. Als mein Beschluss feststeht, verneigen sich die Marionetten vor mir, stecken ihre Karten zurück in ihre Kleidung und verlassen die Bühne. Die Wand wird dunkel und Stille umfängt mich.

Meine Augen öffnend denke ich, dass das Kennenlernen von zwölf Marionetten etwas dauern und eventuell auch etwas ungemütlich werden kann. Will ich das wirklich? Ja, ich will! Was habe ich schon zu verlieren, außer, dass ich weniger Zeit mit Brüten darüber verbringe, wie ich mein Leben in den Griff bekomme, oder mir die Zeit mit Fernsehschauen vertreibe?

Wohlig kuschle ich mich in meine Decke ein und freue mich auf das erneute Eintauchen in meine innere Welt. Das Schöne an inneren Reisen ist, dass Zeit ihre Bedeutung verliert. Wie oft hatte ich als Kind den Eindruck, stundenlang geträumt zu haben, dabei waren es nur Minuten. Es erschreckt mich, als mir erneut klar wird, wie sehr ich mein Leben in den letzten Jahren verplant hatte. Fast so, als wären Termine, To-do-Listen und Planung Gradmesser dafür, wie wertvoll und wichtig ich bin. Je mehr Termine und Ziele, desto wichtiger und wertvoller bin ich. Immer am Tun – und die Momente, in denen es nichts zu tun gibt, werden mit Fernsehschauen, Internet und Informationen von anderen Menschen gefüllt. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich mich manchmal, selbst inmitten von Menschen, so verloren fühle.

Aufgeregt betrete ich wieder die Bühne meines frisch geputzten Marionettentheaters. Ob sich wohl eine der Marionetten zeigen wird? Und was das mit den Karten auf sich hat, möchte ich auch zu gerne wissen! Da sich nichts tut, setze ich mich in den Zuschauerraum. Kaum habe ich Platz genommen, verwandelt sich das Bühnenbild in einen leeren Ballsaal majestätischer Pracht mit strahlenden Kronleuchtern. Musik aus einer vergangenen Welt erklingt. Ein sanftes Vibrieren erfüllt das Theater, als aus dem Nichts eine königlich gekleidete Marionette mit einer venezianischen Augenmaske auf der Bühne erscheint. Von ihrer Schönheit berauscht sitze ich mit offenem Mund auf meinem Stuhl und starre sie an. Sie kommt auf mich zu und präsentiert mir mit einem formvollendeten Hofknicks ihre geheimnisvolle Karte. Die Musik verstummt.

Neugierig lese ich, was auf der Karte geschrieben steht:

Madame Eva

Künstlername: Madame Eva

Ursprünglicher Name: Scham

Genre: Drama

Kleidungsstil: majestätisch prachtvoll

Besonderes Merkmal: venezianische Maske

Während ich lese, fällt mir ein, woran mich diese Karte erinnert: Schauspieler und Models haben ähnliche Karten. Sie werden „Setkarten“ genannt und stellen eine Art Visitenkarte dar. Ganz werde ich aus der Beschreibung nicht schlau. Ursprungsname Scham. Was das wohl bedeuten soll? Unruhe beginnt sich in mir auszubreiten. Bevor ich mir Gedanken machen kann, verbeugt sich Madame Eva mit einem Hofknicks vor mir. Der Ballsaal auf der Bühnenleinwand beginnt lebendig zu werden. Menschen in farbenprächtigen, pompösen Kostümen, ihre Gesichter hinter filigranen Masken verborgen, bewegen sich anmutig tanzend auf dem spiegelnden Tanzboden. Ihr Tanz wirkt auf mich geheimnisvoll und mystisch. Madame Eva schaut mich durch ihre verzierte Augenmaske durchdringend an, kommt auf mich zu und zieht mich mit schlangenähnlichen, hypnotischen Bewegungen auf die Tanzfläche. Im Licht des glitzernden Kronleuchters erkenne ich mein kostümiertes Spiegelbild im glänzenden Boden. Zum Takt der betörenden Musik passen sich unsere Bewegungen dem Rhythmus der anderen tanzenden Paare an. Anmutig bewegt sich Madame Eva mit mir über die Tanzfläche, bis es langsam immer dunkler um uns herum wird und die Töne der Musik verklingen. Im tiefschwarzen Dunkel beginnt Madame Eva mein farbenprächtiges Kostüm zu öffnen und mich zu entkleiden. Sanft gleitet meine Kleidung zu Boden, bis ich nur noch mit meiner Maske bedeckt im Raum stehe. Ruhig steht sie vor mir, schaut mir in die Augen und mit einer einzigen Handbewegung löst sie die Maske von meinem Gesicht. Wie in Zeitlupe fällt mein letzter Schutz zu Boden und ich stehe vollkommen entblößt auf der tiefdunklen Tanzfläche. „Gott sei Dank ist es so dunkel, dann sieht mich keiner in meiner Nacktheit“, kann ich gerade noch denken, als Madame Eva zweimal mit den Fingern schnippt und der Ballsaal in strahlend, gleißendes Licht getaucht wird.

Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass all die vorher noch tanzenden Menschen mich stocksteif und schockiert durch ihre Masken anstarren. Jeder Blick ein Dolchstoß mitten in mein Herz. Weinend versuche ich meine Blöße zu bedecken. „Lieber Gott, lass mich im Erdboden versinken!“, bete ich verzweifelt schluchzend. Mein Flehen nützt nichts. Statt sich aufzutun, verwandelt sich der Boden in ein virtuelles Fotoalbum. Bilder und Worte, die ich am liebsten für immer und ewig vergessen wollte, springen mir entgegen. Meine Kehle schnürt sich zu, ich schnappe nach Luft und versuche wegzurennen, doch meine Beine sind wie festgenagelt. Ein Beben fährt durch den Raum, der Boden öffnet sich und ich falle schreiend mitsamt den Bildern und Worten in einen morastig dunklen Sumpf. Wild strampelnd versuche ich, meinen Kopf oben zu halten, doch je stärker ich gegen das Ertrinken ankämpfe, desto tiefer sinke ich. Ich drohe zu ersticken. Zu ersticken an diesen Bildern und Worten, für die ich mich so sehr schäme. Plötzlich verwandelt sich der schleimige, übel riechende Morast in eine eklige, klebende Gestalt. Über und über mit Schlamm und Morast bedeckt, hält sie mich in ihren Armen und beginnt mit mir zu tanzen. Wir drehen uns immer schneller und schneller. Mir wird schlecht und ich muss mich übergeben. Das klebrige Monster lässt mich los und ich lande unsanft auf dem Boden meiner eigenen Übelkeit. Von oben bis unten besudelt und schmutzig.

Wie ein Häufchen Elend liege ich dort. Madame Eva steht in ihrer majestätischen Haltung vor mir, schaut mich mit strafenden Blick an und hält mir nachdrücklich ihre Karte vor die Nase, damit ich sie auch sicher nicht vergesse, verbeugt sich mit einem formvollendeten Hofknicks und verabschiedet sich von der Bühne.

Benommen von Madame Evas eindrücklichem Schauspiel beginne ich zu erkennen, wie sie ihre Wirkung in alltäglichen Situationen entfaltet, ohne dass ich mir dessen auch nur im Geringsten bewusst bin. Es gibt so viele Erinnerungen in meinen Leben, derer ich mich in meinem Innersten zutiefst schäme. Manche Dinge sind im Grunde Kleinigkeiten, andere wiegen schwerer: Momente, in denen ich gelogen habe, um möglichen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen, Fehler, die ich nicht eingestanden oder sogar auf andere Menschen geschoben habe, Nächte, in denen ich zu viel Alkohol trank und meinen Körper verschenkte, nur für ein klein wenig Zuneigung, Augenblicke, in denen ich lieber wegschaute, als etwas zu unternehmen, obwohl Hilfe vonnöten war, Situationen, in denen ich mich nicht unter Kontrolle hatte und meine Kinder anschrie …

Die Scham über all das sorgt dafür, dass ich mich hinter einer Maske verstecke, damit keiner erkennt, wie ich wirklich bin. Sollte nur ein Mensch herausfinden, wie verabscheuungswürdig ich mich verhalten habe, wird er es weitererzählen und alle werden sich von mir abwenden. Wer will schon mit einem Menschen wie mir zusammen sein? Also trage ich die Maske und spiele die schöne Tänzerin. Makellos und rein. Beim genaueren Betrachten wird mir klar, dass wohl kein Mensch „fehlerfrei“ ist und deswegen sehr viele Menschen Masken und schöne Ballkleidung tragen, doch das hilft mir im Moment auch nicht wirklich weiter. Zumindest hat das Schauspiel der als Madame Eva verkleideten Scham bewirkt, dass ich mir ihrer Anwesenheit bewusster werde und ihr Wirken im Alltag erkennen kann.