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Altersmedizin in der Praxis

 

Herausgegeben von Johannes Pantel und Rupert Püllen

Michael Falkenstein, Melanie Karthaus

Fahreignung im höheren Lebensalter

Sensibilisieren – Erfassen – Fördern

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031230-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031231-9

epub:   ISBN 978-3-17-031232-6

mobi:   ISBN 978-3-17-031233-3

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Vorwort zur Reihe

 

 

 

Altersmedizin dient dem älteren Patienten, indem sie wie kein zweites Fach seine Besonderheiten und Bedürfnisse ganzheitlich in den Blick nimmt. Sie ist aber auch vielseitig, spannend und effektiv.

Dies anhand ausgewählter Handlungsfelder deutlich zu machen, ist ein wichtiges Anliegen der Reihe »Altersmedizin in der Praxis«. Das wichtigste Ziel ist es jedoch, das auch in der Altersmedizin exponentiell anwachsende Wissen für den Versorgungsalltag kompakt und praxisnah aufzubereiten.

Doch braucht man dazu heute noch Bücher? Haben nicht Internet und Zeitschriften das Buch längst abgelöst, weil sie häufig einen rascheren Zugriff auf manchmal schnell veraltendes Fachwissen erlauben? Das mag in einzelnen Bereichen und zu manchen Fragestellungen zutreffen; doch wer sich vertieft mit einem Thema auseinandersetzen möchte, wer nicht nur Fachinformationen, sondern auch ausgewogene Bewertungen sucht, wer sich durch einen erfahrenen Autor fundiert in ein Thema hineinführen lassen möchte, der greift besser zu einem Buch. Nicht zuletzt bieten Bücher eher Sponsor-unabhängige Informationen als kostenlos zugängige Publikationen.

Die Reihe »Altersmedizin in der Praxis« erhebt nicht den Anspruch, das weite und wachsende Gebiet der Altersmedizin vollständig darzustellen. Es geht vielmehr darum, einzelne für die altersmedizinische Praxis wichtige Themen aufzuarbeiten und in einer didaktisch gut aufbereiteten Form auf dem neuesten Wissensstand zu präsentieren.

An wen richtet sich die Reihe? Natürlich in erster Linie an Ärzte jeglicher Fachrichtung, die regelmäßig ältere Patienten in der Praxis, dem Krankenhaus oder in einem anderen Kontext betreuen. Die Bücher richten sich ebenfalls an Ärzte in Weiterbildung und an Studenten, aber auch an andere Professionelle des Gesundheitswesens, die Umgang mit älteren Patienten haben. Die einzelnen Bände können dabei sowohl als fundierte Einführungen und Übersichten zu den jeweiligen Themen gelesen werden, als auch als kompakte Nachschlagewerke für den Einsatz in der täglichen Praxis dienen.

 

Die Herausgeber

Johannes Pantel und Rupert Püllen

 

Vorwort

 

 

 

Immer mehr Ältere fahren Auto und immer wieder wird die Frage nach der Fahreignung (gesunder wie erkrankter) älterer Autofahrer gestellt. Nicht zuletzt durch die Berichterstattung in den Medien entfacht sich an diesem Thema häufig eine hitzige, jedoch wenig zielführende Diskussion. Unseres Erachtens ist es gleichermaßen wenig hilfreich, Ältere pauschal als Risikofaktor zu diffamieren, oder andererseits mögliche alters- und erkrankungsbedingte Beeinträchtigungen zu ignorieren. Um die allgemeine und individuelle Verkehrssicherheit zu erhalten und (im Idealfall) zu erhöhen, bedarf es vielmehr einer umfassenden Berücksichtigung aller wichtigen Aspekte des Fahrens im Alter. Deshalb verfolgt das vorliegende Buch einen interdisziplinären Ansatz und ist für alle diejenigen relevant, die sich um die Fahrkompetenz Älterer kümmern oder kümmern sollten. Es richtet sich somit in erster Linie an Ärzte, aber auch an Psychologen, Verkehrsplaner, Fahrzeugentwickler, Polizeibeamte und Fahrlehrer.

Kapitel 1 führt allgemein in das Thema ältere Fahrer und ihr Fahrverhalten ein. Hier werden zunächst Statistiken zur Beteiligung von Senioren als Autofahrer vorgestellt und das typische Fahrverhalten, Risikosituationen und aktuelle Unfallstatistiken Älterer beschrieben. Danach wird auf die Frage eingegangen, inwieweit ältere Autofahrer ein Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr darstellen oder haben und es wird die aktuelle hiesige Gesetzgebung zum Thema ältere Fahrer dargestellt.

Kapitel 2 behandelt alle Aspekte fahrrelevanter altersbegleitender funktioneller Veränderungen. Hierzu gehören Veränderungen von Persönlichkeit, Emotion und Motivation, und vor allem von Sensorik, Psychomotorik und Kognition. Das Kapitel schließt mit der Darstellung der Selbsteinschätzung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und Fahrtüchtigkeit Älterer.

Kapitel 3 gibt im ersten Teil eine ausführliche Übersicht über Erkrankungen, die im Alter gehäuft auftreten und die Fahrkompetenz Älterer beeinträchtigen können. Im zweiten Teil werden von Älteren häufig eingenommene verkehrsmedizinisch relevante Medikamente aufgelistet und Empfehlungen für die Auswahl solcher Medikamente gegeben.

Kapitel 4 nennt Instrumente zur Erfassung fahrrelevanter Funktionen, wobei kognitive Tests bzw. Testbatterien im Vordergrund stehen. Abschließend werden einige kognitive Leistungstests erwähnt, die im Rahmen der Fahreignungsbegutachtung eingesetzt werden.

Kapitel 5 beschreibt Instrumente zur Erfassung des Fahrverhaltens mit dem Schwerpunkt auf Fahrverhaltensbeobachtungen im Realverkehr oder im Fahrsimulator. Abschließend wird diskutiert, ob Funktionstests oder Fahrtests zur Beurteilung der Fahrtauglichkeit älterer Autofahrer besser geeignet sind.

Kapitel 6 gibt eine umfassende Übersicht über Maßnahmen zur Förderung sicherer Mobilität für Senioren. Diese umfassen zum einen Gestaltungmaßnahmen der Verkehrsumwelt und der Fahrzeugtechnik, zum anderen personenbezogene Maßnahmen wie Schulungen und Trainingsmaßnahmen. Das Kapitel schließt mit kritischen Überlegungen zu Regelsetzungen und Sanktionen und schlägt am Ende eine Maßnahmenkette zur Förderung der sicheren Mobilität Älterer vor.

Kapitel 7 stellt die Rolle des Hausarztes bei der Betreuung älterer Fahrer in den Fokus. Nach einer Übersicht über Informations- und Dokumentationspflichten des (Haus-)Arztes wird die Möglichkeit der Überprüfung der Fahrtüchtigkeit durch Ärzte (und Psychologen) diskutiert. Das Kapitel schließt mit juristisch relevanten Informationen zum Umgang mit uneinsichtigen fahruntüchtigen Patienten.

Kapitel 8 gibt zusammenfassende Empfehlungen für die sichere Mobilität Älterer, die sich aus den bis hierhin beschriebenen Fakten und Überlegungen ergeben haben.

 

Wir danken den vielen Kollegen, mit denen wir fruchtbare und kritische Diskussionen zum Thema ältere Autofahrer geführt haben, insbesondere Prof. Dr. Georg Rudinger, Bonn.

Unser Dank gilt auch den Reihenherausgebern für die Ermunterung, ein Buch zu diesem wichtigen Thema zu schreiben und für ihre sinnvollen Verbesserungsvorschläge. Insbesondere danken wir dem Verlag und hier Frau Dr. Annegret Boll für ihre stets hilfreiche und prompte Unterstützung in allen Phasen des Buchprojekts.

Wir hoffen, mit diesem Buch die multidisziplinären Akteure für die verschiedenen Aspekte der Fahreignung Älterer zu sensibilisieren und ihnen umfassende Informationen und Maßnahmen zur Förderung sicherer Mobilität für Ältere an die Hand zu geben. Insbesondere hoffen wir, dass sich das Bonner Hausarztmodell von Georg Rudinger, welches den Hausärzten eine Schlüsselstellung bei der Betreuung älterer Autofahrer zuweist, nach und nach durchsetzen wird. Deshalb versteht sich dieses Buch nicht zuletzt auch als Appell an Politik und Ärztekammern, die notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung eines solchen Modells in die Praxis zu schaffen.

 

Michael Falkenstein und Melanie Karthaus

Im Juni 2017

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. Begriffsbestimmungen
  4. 1 Ältere Fahrer, Fahrverhalten und Verkehrssicherheit
  5. 1.1 Ältere Fahrer: Zahlen und ihre Entwicklung
  6. 1.2 Fahrverhalten älterer Autofahrer
  7. 1.3 Sind ältere Fahrer ein Risiko oder sind sie eher gefährdet?
  8. 1.4 Aktuelle Gesetzgebung in Deutschland und Europa
  9. 2 Fahrrelevante altersbegleitende funktionelle Veränderungen
  10. 2.1 Persönlichkeit, Emotion und Motivation
  11. 2.1.1 Persönlichkeit
  12. 2.1.2 Emotion
  13. 2.1.3 Motivation
  14. 2.2 Sensorik
  15. 2.3 Psychomotorik
  16. 2.4 Kognition
  17. 2.5 Selbsteinschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Fahrtüchtigkeit
  18. 2.6 Kompensationsstrategien älterer Fahrer
  19. 2.6.1 Kompensation auf der Mikro-Ebene
  20. 2.6.2 Kompensation auf der Makro-Ebene
  21. 2.6.3 Offizielle Leitlinien zu Kompensation und Kraftfahreignung
  22. 3 Verkehrsmedizinisch relevante Erkrankungen und Medikamente
  23. 3.1 Alterstypische Erkrankungen und ihr Einfluss auf die Fahrsicherheit
  24. 3.1.1 Erkrankungen der Sinnesorgane
  25. 3.1.2 Erkrankungen des Zentralnervensystems
  26. 3.1.3 Diabetes
  27. 3.1.4 Erkrankungen des Bewegungsapparates
  28. 3.1.5 Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  29. 3.1.6 Schlafstörungen und Tagesschläfrigkeit
  30. 3.1.7 Krebserkrankungen
  31. 3.2 Verkehrsmedizinisch relevante Medikamente im Alter
  32. 3.2.1 Analgetika und Antirheumatika
  33. 3.2.2 Antidepressiva
  34. 3.2.3 Antidiabetika
  35. 3.2.4 Herz-Kreislauf-Medikamente
  36. 3.2.5 Augenmedikamente (Ophthalmika)
  37. 3.2.6 Sedativa und Schlafmittel
  38. 3.2.7 Für Ältere ungeeignete Medikamente
  39. 3.2.8 Multimedikation und Unverträglichkeiten
  40. 4 Erfassung fahrrelevanter Funktionen
  41. 4.1 Persönlichkeitsfragebögen
  42. 4.2 Sensorische Tests
  43. 4.3 Psychomotorische Tests
  44. 4.4 Kognitive Tests
  45. 4.4.1 Einzeltests
  46. 4.4.2 Testbatterien
  47. 4.5 Kognitive Leistungstests, die im Rahmen der Fahreignungsbegutachtung eingesetzt werden
  48. 4.6 Vor- und Nachteile der Erfassung fahrrelevanter Funktionen
  49. 5 Erfassung des Fahrverhaltens
  50. 5.1 Fahrverhaltensbeobachtungen im Realverkehr
  51. 5.1.1 Systematische Fahrverhaltensbeobachtungen im Realverkehr
  52. 5.1.2 Fahrverhaltensbeobachtungen im Realverkehr bei Senioren
  53. 5.2 Fahrverhaltensbeobachtungen im Fahrsimulator
  54. 5.3 Funktionstest oder Fahrtest?
  55. 6 Maßnahmen zur Förderung sicherer Mobilität für Ältere
  56. 6.1 Umweltbezogene Maßnahmen
  57. 6.1.1 Gestaltung der Verkehrsumwelt
  58. 6.1.2 Gestaltung der Fahrzeugtechnik
  59. 6.2 Personenbezogene Maßnahmen
  60. 6.2.1 Aufklärung und Schulungen
  61. 6.2.2 Verhaltensanpassungen älterer Fahrer
  62. 6.2.3 Trainingsmaßnahmen
  63. 6.2.4 Regelsetzungen und Sanktionen
  64. 7 Die Rolle des Hausarztes bei der Betreuung älterer Fahrer
  65. 7.1 Informations- und Dokumentationspflichten
  66. 7.2 Überprüfung der Fahrtüchtigkeit durch Ärzte und Psychologen
  67. 7.3 Schweige- oder Meldepflicht? Umgang mit uneinsichtigen fahruntüchtigen Patienten
  68. 8 Empfehlungen für die sichere Mobilität Älterer
  69. Referenzen
  70. Register

 

Begriffsbestimmungen

 

 

 

 

Im alltäglichen Sprachgebrauch werden Begriffe wie Fahreignung, Fahrtauglichkeit, Fahrfähigkeit, Fahrtüchtigkeit, Fahrkompetenz und Fahrfertigkeit teilweise synonym verwendet, obwohl sie verschiedene Facetten der Fähigkeit, ein Fahrzeug sicher zu führen, beschreiben. In der Verkehrspsychologie und der Verkehrsmedizin besteht weitgehender Konsens darüber, dass sich die einzelnen Begriffe darin unterscheiden, ob sie sich auf eine momentane oder zeitlich überdauernde Fähigkeit beziehen (Berghaus und Brenner-Hartmann 2012). Konkret bezeichnet der Begriff der Fahreignung oder Fahrtauglichkeit die situationsunabhängige, zeitlich überdauernde und generelle Eignung, ein Fahrzeug sicher zu führen. Im Straßenverkehrsgesetz heißt es: »Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat« (§ 2 Abs. 4 StVG).

 

Eine eingeschränkte Fahreignung führt je nach Art der Einschränkung zum vorübergehenden oder endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis oder der Erteilung der Fahrerlaubnis unter bestimmten Auflagen, die von der betroffenen Person erfüllt werden müssen. Typische Beispiele hierfür sind bestimmte Erkrankungen oder begangene Straftaten, nach der die Wiederherstellung der Fahreignung im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) nachgewiesen werden muss. Entsprechende Regelungen hierzu finden sich in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Gräcmann und Albrecht 2016) und den Beurteilungskriterien in der Fahreignungsbegutachtung (Schubert et al. 2013). Bei der Beurteilung der Auswirkung von Krankheiten oder Mängeln auf die Fahreignung werden zwei Gruppen von Fahrerlaubnisklassen unterschieden. Gruppe 1 betrifft im Wesentlichen die Privatfahrer und umfasst in erster Linie die Fahrerlaubnisklassen für Krafträder und Kraftwagen bis 3 500 kg mit maximal 8 Sitzplätzen (Klassen A, A1, B, BE, M, S, L, T). Dagegen umfasst Gruppe 2 die Fahrerlaubnisklassen für Kraftfahrzeuge über 3 500 kg Gesamtmasse sowie Kraftfahrzeuge zur Personenbeförderung (Klassen C, C1, CE, C1 E, D, D1, DE, D1E, FzF) und betrifft demzufolge vor allem Berufsfahrer.

 

Als Fahrfähigkeit oder Fahrtüchtigkeit wird dagegen die situationsabhängige, momentane Bereitschaft und Fähigkeit, ein Fahrzeug sicher zu führen, bezeichnet. Sie kann beeinflusst werden durch äußere Einflussfaktoren wie Müdigkeit, Alkohol, Drogen oder Medikamente.

 

Davon zu unterscheiden ist die Fahrfertigkeit oder Fahrkompetenz, die sowohl Kenntnisse (z. B. Regelwissen) als auch die technische Fähigkeit (z. B. Bedienung des Fahrzeugs), ein Fahrzeug sicher zu führen, umfassen. Diese werden in der Fahrschule und durch Fahrpraxis erworben.

 

1          Ältere Fahrer, Fahrverhalten und Verkehrssicherheit

 

 

 

Der in den westlichen Industrieländern anhaltende demografische Wandel stellt in vielerlei Hinsicht eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Durch die zunehmende Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer macht sich diese Herausforderung auch im Straßenverkehr bemerkbar. Hier erfordert sie einerseits ein größeres Bewusstsein für die Bedürfnisse älterer Menschen als aktive Verkehrsteilnehmer und andererseits entsprechende Anpassungen in der Gestaltung der Verkehrsumgebung und der Sensibilisierung für mögliche altersbedingte Beeinträchtigungen und daraus resultierende individuelle Maßnahmen.

1.1       Ältere Fahrer: Zahlen und ihre Entwicklung

In den meisten westlichen Industrieländern stellen ältere Menschen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar. So ist der Anteil älterer Menschen (ab 65 Jahre) im Zeitraum von 1995 bis 2010 in den OECD-Staaten mehr als doppelt so schnell gestiegen wie die Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig steigt der sogenannte Altenquotient, der das Verhältnis älterer Personen zu Personen im erwerbsfähigen Alter beschreibt, kontinuierlich an. So lag er 1950 in den OECD-Ländern bei 14 % und im Jahr 2015 schon bei 28 %. Schätzungen zufolge wird er bis zum Jahr 2075 auf 55 % steigen. Im Jahr 2013 stellte die Gruppe der Menschen in Deutschland, die 65 Jahre oder älter sind, einen Anteil von 21 % der Gesamtbevölkerung dar, wobei 5,4 % der Bevölkerung älter als 80 Jahre waren. Den Schätzungen des Statistischen Bundesamtes zufolge wird im Jahr 2060 jeder Dritte (32–33 %) älter als 65 Jahre und jeder Achte (etwa 13 %) 80 Jahre und älter sein. Diese Entwicklung kann einerseits auf die steigende Lebenserwartung und andererseits auf den gleichzeitigen anhaltenden Rückgang der Geburtenraten zurückgeführt werden.

Der demografische Wandel spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Verkehrsteilnehmer einer Gesellschaft wider. Ein Beispiel für eine gesellschaftliche Entwicklung, die das Mobilitätsverhalten der Menschen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten geändert hat, ist die zunehmende Anzahl von Frauen, die eine Fahrerlaubnis besitzen. Noch vor 50 Jahren war der Führerscheinerwerb bei Frauen eher die Ausnahme, deshalb besaßen Anfang der 1990er Jahre nur 10 % der heute 80-jährigen Frauen den Führerschein. Heute ist es für Frauen wie für Männer eher die Regel, die Fahrerlaubnis für Pkw schon im Alter von 18 Jahren zu erwerben, so dass im Jahr 2008 etwa 88 % der Personen (83 % der Frauen und 93 % der Männer) einen Pkw-Führerschein besaßen (INFAS und DLR, 2010). Darüber hinaus können auch politische Rahmenbedingungen das Mobilitätsverhalten einer Gesellschaft beeinflussen. Gesetzliche Vorgaben wie die Verlängerung der Erwerbstätigkeit (»Rente mit 67«) machen es für die Betroffenen zwingend notwendig, länger mobil zu bleiben.

Schließlich ermöglicht die zunehmend höhere Lebenserwartung eine aktivere Gestaltung des Ruhestands, für die Mobilität eine wichtige Rolle spielt. Dies belegt auch die überproportionale Zunahme der mit dem Auto zurückgelegten Strecken bei Senioren1: Im Zeitraum von 2002 bis 2008 stieg der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung um 16 %, der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Strecken in dieser Altersgruppe nahm gleichzeitig um 31 % zu (INFAS und DLR 2010).

Bei der Mobilität älterer Menschen kommt dem Auto als individuellem Verkehrsmittel eine besonders große Bedeutung zu, da es erlaubt, selbstbestimmt mobil zu bleiben. Insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen es kaum attraktive Alternativen gibt und die Gruppe der Senioren überdurchschnittlich stark vertreten ist, ist das Auto oft die einzige Möglichkeit, flexibel mobil zu sein. Aber auch in Ballungsräumen, in denen der öffentliche Personennahverkehr gut ausgebaut ist, gibt es einen großen Anteil älterer Personen, die das Auto – aus Angst vor Belästigungen und Übergriffen – als subjektiv sichereres Verkehrsmittel wahrnehmen und es deshalb bevorzugen (Schlag 2008).

Merke

Der demografische Wandel sowie gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen führen dazu, dass der Anteil älterer Autofahrer in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich weiter steigen wird.

1.2       Fahrverhalten älterer Autofahrer

Aufgrund der großen interindividuellen Variabilität in der Fahreignung älterer Auto- und Zweiradfahrer ist es nicht hilfreich, von einem grundsätzlich anderen Fahrverhalten älterer Verkehrsteilnehmer zu sprechen. Dennoch gibt es bestimmte Auffälligkeiten oder Fahrfehler, die bei älteren Fahrern häufiger zu beobachten sind als bei jüngeren Fahrern. In einer von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Auftrag gegebenen Studie analysierte das Kraftfahrtbundesamt Verkehrsauffälligkeiten von 350 000 Autofahrern im Alter von 35–84 Jahren, die im Fahreignungsregister (damals: Verkehrszentralregister, VZR) registriert waren. Die Analyse der Verkehrsauffälligkeiten älterer Autofahrer (65–84 Jahre) ergab eine deutliche Häufung bestimmter Auffälligkeiten, zu denen vor allem Vorfahrts- und Rotlichtmissachtungen sowie die falsche Straßenbenutzung gehören und demzufolge als »alterstypische Verkehrsrisiken« bezeichnet wurden (Schade und Heinzmann 2008). Ihr Anteil nimmt mit steigendem Alter stark zu und machte hier bei den über 80-jährigen Autofahrern schon rund 50 % der erfassten Verkehrsauffälligkeiten aus.

Ähnliche Ergebnisse zeigen auch die Unfallstatistiken des Statistischen Bundesamtes (2016). Hier wurden für das Jahr 2015 insgesamt 77 338 Unfälle älterer Personen mit Personenschaden2 registriert. Die Mehrheit der an einem solchen Unfall beteiligten Senioren war als Pkw-Fahrer (63,8 %) in den Unfall verwickelt und zu einem deutlich geringen Anteil als Fahrradfahrer (19,2 %) oder Fußgänger (9,7 %). Die insgesamt 46 781 Unfälle mit Personenschaden, an denen ältere Pkw-Fahrer beteiligt waren, wurden mit 36 916 Fehlverhaltensweisen in Zusammenhang gebracht. Auch hier waren Vorfahrtsfehler die häufigste Unfallursache (17,7 %), gefolgt von Fehlern beim Abbiegen, Wenden, Rückwärts-, Ein- oder Ausfahren (16,5 %). Im Vergleich zu anderen Altersgruppen traten diese Fahrfehler bei Senioren deutlich häufiger auf. Dagegen gab es laut Statistischem Bundesamt (2016) vergleichsweise wenige Unfälle aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit (4,8 %), Fehlern beim Überholen (2,4 %) oder Fahren unter Alkoholeinfluss (0,7 %). Abbildung 1 zeigt einen Überblick über die altersspezifische Verteilung verschiedener Fehlverhaltensweisen von Pkw-Fahrern pro 1 000 Beteiligten bei Unfällen mit Personenschaden (image Abb. 1).

Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es sich sowohl bei diesen Zahlen des Statistischen Bundesamtes als auch bei der oben genannten Studie des Kraftfahrtbundesamtes um registrierte Fehlverhaltensweisen handelt, die entweder aufgrund eines Unfalls oder durch einen Eintrag in das Fahreignungsregister aktenkundig wurden. Weder in den offiziellen Unfallstatistiken noch im Fahreignungsregister tauchen dagegen die zahlreichen Bagatellunfälle (wie z. B. kleinere Kollisionen auf dem Parkplatz) auf, die ohne Einbezug der Polizei reguliert werden. Schließlich ist davon auszugehen, dass darüber hinaus täglich eine große Anzahl alterstypischer (wie auch altersunabhängiger) Fahrverhaltensfehler begangen werden, die nicht als Ordnungswidrigkeit erfasst werden oder zu einem Unfall führen, sodass die tatsächliche Auftretenshäufigkeit deutlich höher anzusetzen ist.

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Abb. 1: Fehlverhalten von Pkw-Fahrern je 1 000 Beteiligte bei Unfällen mit Personenschaden im Jahr 2015, getrennt nach Altersgruppen; basierend auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2016).

Besonders häufig treten Fehlverhaltensweisen oder spezifische Probleme Älterer in bestimmten Verkehrssituationen auf wie zum Beispiel auf mehrspurigen Straßen, beim Linksabbiegen oder generell in komplexen Kreuzungen (Poschadel et al. 2012). Diese Situationen erfordern meistens die gleichzeitige Erledigung mehrerer Aufgaben (unter Zeitdruck) wie die Orientierung und visuelle Suche, Bewertung der Verkehrssituation und Planung der nächsten Tätigkeiten, wobei irrelevante Informationen ausgeblendet und unangemessene Reaktionen unterdrückt werden sollen (Inhibition). Die alterstypischen Fehlverhaltensweisen und diese immer wieder zu beobachtenden Probleme älterer Autofahrer in bestimmten Verkehrssituationen sind vermutlich auf die zunehmende Beeinträchtigung sensorischer, motorischer und kognitiver Fähigkeiten zurückzuführen (Anstey et al. 2005), die in Kapitel 2 in diesem Band beschrieben werden (image Kap. 2).

Merke

Ältere Autofahrer zeigen - vor allem in komplexen Verkehrssituationen - gehäuft bestimmte Auffälligkeiten (alterstypische Verkehrsrisiken) wie Vorfahrtsmissachtungen sowie die falsche Straßenbenutzung, die vermutlich auf die zunehmende Beeinträchtigung sensorischer, motorischer und kognitiver Fähigkeiten zurückzuführen sind.

In diesem Zusammenhang ist bei vielen älteren Autofahrern kompensatorisches Verhalten zu beobachten, das bewusst oder unbewusst eingesetzt wird, um (wahrgenommene) Beeinträchtigungen fahrrelevanter Funktionen auszugleichen. Diese Kompensationsstrategien können sich auf unterschiedliche Weise im Fahrverhalten zeigen. Typische Beispiele hierfür sind: Vermeidung potenziell gefährlicher Situationen wie Fahren bei Dunkelheit oder im Berufsverkehr sowie die Anpassung des Fahrstils in Form einer reduzierten Geschwindigkeit oder eines größeren Sicherheitsabstands. Eine ausführliche Darstellung der Kompensationsstrategien älterer Autofahrer findet sich in Kapitel 2.6 in diesem Band (image Kap. 2.6).

1.3       Sind ältere Fahrer ein Risiko oder sind sie eher gefährdet?

Insgesamt waren Senioren an 12,9 % der im Jahr 2015 registrierten Unfälle mit Personenschaden beteiligt (Statistisches Bundesamt 2016). Im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil (21 %) weisen sie damit eine unterproportionale Unfallbeteiligung auf. Auch wenn die absoluten Unfallzahlen dafür sprechen, dass ältere Autofahrer ein geringes Risiko für den Straßenverkehr darstellen, fällt auf, dass in Fällen, in denen über 64-jährige Autofahrer in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt waren, diesen in der Mehrzahl der Fälle (67,1 %) die Hauptschuld an dem Unfall zugewiesen wurde. Von den Unfallbeteiligten, die 75 Jahre oder älter waren, trugen dem Statistischen Bundesamt (2016) zufolge sogar 75,1 % die Hauptschuld an dem Unfall. Dies gilt insbesondere für ältere Autofahrer ab 75 Jahren, die nur wenig (< 3 000 Kilometer pro Jahr) Auto fahren (Langford et al. 2006). Insofern ist möglicherweise weniger das Alter, sondern vielmehr die mangelnde Fahrpraxis ursächlich für die höhere Unfallrate von Senioren. Bei der Frage, ob ältere Autofahrer ein besonderes Verkehrsrisiko darstellen, ist also eine differenzierte und zumindest fahrleistungsbereinigte Betrachtung erforderlich (Kocherscheid und Rudinger 2011).

 

Unabhängig von ihrem Risiko, an einem Unfall mit Personenschaden beteiligt zu sein, haben ältere Verkehrsteilnehmer auch ein bestimmtes Risiko, bei einem Unfall selbst verletzt oder sogar getötet zu werden. Laut dem Statistischen Bundesamt (2016) verunglückten im Jahr 2015 insgesamt 48 690 ältere Menschen im Straßenverkehr, das entspricht einem Anteil von 12,3 % aller Verunglückten im Straßenverkehr. Dabei erlitten 35 267 Senioren leichte Verletzungen, 12 399 Personen trugen schwere Verletzungen davon und 1 024 ältere Menschen wurden bei Verkehrsunfällen getötet. Das generelle Risiko, bei einem Verkehrsunfall zu verunglücken, ist bei älteren Menschen (auf 100 000 Einwohner bezogen) nur halb so hoch wie bei jüngeren Menschen. Allerdings ist ihr Risiko, bei einem Unfall schwere Verletzungen zu erleiden (25,5 %) oder diesen Unfall nicht zu überleben (2,1 %), deutlich höher als bei jüngeren Unfallopfern (15,9 % bzw. 0,7 %).

Die überwiegende Mehrheit der im Jahr 2015 verunglückten Senioren waren Pkw-Insassen (46,6 %) und auch die meisten der im Straßenverkehr getöteten Senioren (42,0 %) waren bei dem Unfall im Pkw unterwegs. Angesichts dieser Zahlen kann durchaus von einer besonderen Gefährdung von Senioren im Straßenverkehr – nicht nur als Fußgänger oder Radfahrer – sondern auch als Autofahrer gesprochen werden (Kocherscheid und Rudinger 2011).

Merke

Die meisten älteren Autofahrer sind im Sinne der allgemeinen Unfallstatistik sichere Fahrer, es gibt jedoch einige Subgruppen wie z. B. ältere Wenigfahrer, die ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko haben.

Unabhängig davon unterliegen ältere Autofahrer aufgrund ihrer höheren Vulnerabilität einer besonderen Gefährdung im Straßenverkehr.

1.4       Aktuelle Gesetzgebung in Deutschland und Europa

Die innerhalb Europas geltenden gesetzlichen Regelungen zur Gültigkeitsdauer der Fahrerlaubnis über die Lebensspanne hinweg weisen teilweise große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern auf. In Deutschland sieht die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) nur für einzelne Führerscheinklassen (C1, C1E, D, D1, DE und D1E) eine Befristung der Fahrerlaubnis vor, die »bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres erteilt« wird (§ 23 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3 FeV). Eine anschließende Neuerteilung dieser Fahrerlaubnis für die sogenannten Lkw- und Busklassen erfolgt nur für weitere fünf Jahre. Für die Fahrerlaubnis für Pkw gibt es in Deutschland keine generelle Befristung. Stattdessen liegt die Verantwortung für eine sichere Fahrzeugführung laut Fahrerlaubnisverordnung bei dem Verkehrsteilnehmer selbst:

»Wer sich infolge körperlicher oder geistiger Mängel nicht sicher im Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet. Die Pflicht zur Vorsorge, namentlich durch das Anbringen geeigneter Einrichtungen an Fahrzeugen, durch den Ersatz fehlender Gliedmaßen mittels künstlicher Glieder, durch Begleitung oder durch das Tragen von Abzeichen oder Kennzeichen, obliegt dem Verkehrsteilnehmer selbst oder einem für ihn Verantwortlichen.« (§ 2 Abs. 1 FeV).

Eine altersbedingte Einschränkung der Fahrtauglichkeit gibt es nicht, sodass die vom Gesetzgeber beschriebene Selbstverantwortung für Verkehrsteilnehmer aller Altersgruppen gleichermaßen gilt. Hier ist allerdings zu bedenken, dass Selbstverantwortung nur bei hinreichendem Wissen des Einzelnen älteren Fahrers über mögliche funktionale Veränderungen bei bestimmten Erkrankungen, aber auch beim gesunden Altern möglich ist.

Während es in Deutschland demnach keine allgemeingültige Befristung der Fahrerlaubnis für Pkw gibt, sind in anderen europäischen Ländern regelmäßige Überprüfungen der Fahreignung für Pkw-Fahrer gesetzlich vorgeschrieben. Dabei variieren sowohl die Häufigkeit dieser Überprüfungen als auch deren Methoden teilweise erheblich. So ist beispielsweise in England die Abgabe einer ärztlichen Erklärung über den Gesundheitszustand und ein Gespräch mit dem Patienten vorgesehen, in anderen Ländern wie Luxemburg, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und den Niederlanden ist dagegen eine medizinische Untersuchung erforderlich. Diese muss in den einzelnen Ländern unterschiedlich häufig durchgeführt werden: In Irland müssen Autofahrer ab 70 Jahren je nach individueller medizinischer Vorgeschichte jährlich oder alle drei Jahre eine medizinische Untersuchung vornehmen lassen. In Portugal ist eine solche Untersuchung schon für Autofahrer ab 50 Jahren alle fünf Jahre und ab 70 Jahren alle zwei Jahre verpflichtend. Einen detaillierten Überblick über die aktuellen Regelungen in den einzelnen europäischen Ländern und Übersee geben Fastenmeier und Gstalter (2014).

Merke

In Deutschland gibt es - anders als in vielen anderen Ländern - keine altersbezogenen Pflichtuntersuchungen für Pkw-Fahrer, stattdessen setzt der Gesetzgeber auf die Selbstverantwortung des Einzelnen. Diese benötigt aber hinreichende Information des älteren Fahrers.

Wissenschaftliche Belege dafür, dass solche verpflichtenden Untersuchungen das Unfallrisiko für ältere Autofahrer senken, gibt es nicht. Beispielsweise verglichen Langford et al. (2008) die Unfallraten älterer Fahrer (80+) aus zwei australischen Bundesstaaten: In New South Wales müssen Autofahrer ab einem Alter von 80 Jahren jährliche medizinische Pflichttests absolvieren, während es in Victoria keine solchen Tests gibt. Zwischen den Gruppen zeigten sich keine Unterschiede in der Unfallrate. Die Autoren schließen daraus, dass altersbezogene Pflichttests keine Sicherheitsvorteile haben.

Stattdessen gibt es Hinweise darauf, dass ältere Personen in Folge dieser Maßnahmen das Auto zugunsten weniger sicherer Verkehrsmittel aufgeben und als Fahrradfahrer oder Fußgänger ihr Unfallrisiko sogar noch erhöhen könnten (Hakamies-Blomqvist et al. 1996; Siren und Meng 2012). Bei der Bewertung dieser Befunde ist jedoch zu berücksichtigen, dass die hier verwendeten Testverfahren nicht unbedingt geeignet beziehungsweise nicht sensitiv genug sind, um die sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu erfassen, die für das Autofahren eine zentrale Rolle spielen (Karthaus und Falkenstein 2016). Für eine aussagekräftigere Beurteilung der Fahreignung sind Testverfahren erforderlich, welche fahrrelevante Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Ablenkresistenz, Suche oder Multitasking erfassen und an die spezifischen Merkmale der Fahrsituation angepasst sind. In welchem Ausmaß die Ergebnisse solcher Testverfahren das tatsächliche Fahrverhalten vorhersagen können, wird aktuell noch diskutiert (image Kap. 4 und image Kap. 5 in diesem Band).

Die Diskussion über eine zeitliche Beschränkung der Fahrerlaubnis in Verbindung mit altersbezogenen Pflichtuntersuchungen wird in Deutschland immer wieder (und häufig sehr medienwirksam mit Schlagworten wie »Senioren-TÜV« o.ä.) geführt. Aktuell gibt es jedoch keine konkreten Bestrebungen, die Pkw-Fahrerlaubnis grundsätzlich zu befristen. Davon unabhängig ist die 3. Führerscheinrichtlinie der EU (Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006), die im Jahr 2013 in Deutschland in nationales Recht übergegangen ist. Sie legt fest, dass ein Führerschein zukünftig nur noch 15 Jahre lang gültig sein darf. Dies bezieht sich jedoch lediglich auf das Dokument selbst und nicht auf die damit verbundene Fahrerlaubnis. Allerdings erlaubt das Amtsblatt der Europäischen Union (L403/18 vom 20.12.2006) den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU ausdrücklich, die Neuausstellung des Führerscheindokuments an eine Überprüfung der Fahreignung durch »ärztliche Untersuchungen oder andere […] Maßnahmen« zu knüpfen. Die meisten Experten lehnen dies jedoch mit dem Hinweis auf einen fehlenden empirisch gesicherten Zusammenhang zwischen der Befristung der Fahrerlaubnis und dem Unfallrisiko ab.

Merke

Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass altersbezogene Pflichtuntersuchungen das Unfallrisiko älterer Autofahrer verringern. Allerdings sind die bislang eingesetzten Untersuchungen in den verschiedenen Ländern kritisch zu betrachten.

1     Der Begriff der Senioren bezeichnet im Folgenden Autofahrer ab 65 Jahren. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden sämtliche Personenbezeichnungen in der grammatikalisch maskulinen Form verwendet, die jedoch – sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet – selbstverständlich Personen beiderlei Geschlechts umfassen.

2     Unfälle mit Personenschaden bezeichnet Unfälle, bei denen Personen verletzt oder getötet wurden – unabhängig von der Höhe des entstandenen Sachschadens.

 

2          Fahrrelevante altersbegleitende funktionelle Veränderungen

 

 

 

Mit zunehmendem Alter treten Veränderungen in sensorischen, motorischen oder kognitiven Funktionen auf, die das alltägliche Leben und zumal das Autofahren beeinflussen und beeinträchtigen können (z. B. Falkenstein und Sommer 2008). Vor allem komplexe Aufgaben des Alltags, die mehrere Funktionen und deren Interaktion erfordern, sind von altersbedingten Veränderungen betroffen. Ein typisches Beispiel für eine solche komplexe Alltagsaufgabe ist das Autofahren in dichtem Verkehr (z. B. Anstey und Wood 2011). Altersbegleitende funktionelle Veränderungen können sich somit auch auf das Fahrverhalten in bestimmten Situationen auswirken und hier zu den sogenannten »alterstypischen Verkehrsrisiken« (image Kap. 1.2) und einem höheren Unfallrisiko führen (Anstey et al. 2005).

Es gibt jedoch eine erhebliche interindividuelle Variabilität in dem Ausmaß der funktionellen fahrrelevanten Veränderungen, die zu einer großen Heterogenität innerhalb der Gruppe der älteren Autofahrer und deren Fahrverhalten führt. Das Ausmaß dieser Veränderungen hängt nicht nur von dem biologischen Alter einer Person ab, sondern auch von verschiedenen anderen, internalen und externalen Einflussfaktoren (Falkenstein und Gajewski 2015). Internale Faktoren sind z. B. die genetische Ausstattung und der Lebensstil, externale Faktoren die Erziehung und die Art der im aktiven Erwerbsleben durchgeführten Arbeit. Das kalendarische Alter allein ist deshalb kein guter Prädiktor für die individuellen körperlichen und geistigen Fähigkeiten einer Person geschweige denn für ihre Fahreignung bzw. Fahrtüchtigkeit. Neben dem biologischen Alter gibt es noch weitere Faktoren, die einen Einfluss auf das Fahrverhalten haben. Hierzu gehören neben den sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen auch das Selbstbild einer Person über die eigene Leistungsfähigkeit und Fahrtüchtigkeit, Strategien, die viele ältere Autofahrer bewusst oder unbewusst einsetzen, um mögliche Funktionsbeeinträchtigungen zu kompensieren, und nicht zuletzt auch die Persönlichkeit, Emotionen und Motivation einer Person.

Merke

Altersbedingte Veränderungen in sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen unterliegen einer großen inter- und intraindividuellen Variabilität, die auf verschiedene internale und externale Faktoren zurückzuführen ist.

2.1       Persönlichkeit, Emotion und Motivation

Das Fahrverhalten einer Person wird unter anderem durch ihre Persönlichkeit, Emotionen und Motivation beeinflusst. Diese drei Faktoren können sich somit auch auf die Fahreignung beziehungsweise Fahrtüchtigkeit einer Person auswirken.

2.1.1     Persönlichkeit

Persönlichkeitseigenschaften sind mehr oder weniger stabile individuelle Eigenschaften eines Menschen, die sein Handeln und somit auch das Verhalten beim Autofahren beeinflussen. Das derzeit anerkannteste Modell der wichtigsten Persönlichkeitseigenschaften, der sogenannten Big Five, geht von fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit aus: Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit), Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus), Extraversion (Geselligkeit), Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit). Persönlichkeitseigenschaften ändern sich (wenn auch im geringen Maße) mit zunehmendem Alter. In einer umfangreichen Querschnittsstudie mit über 10 000 Teilnehmern zeigte sich, dass Neurotizismus, Extraversion und Offenheit im höheren Alter etwas geringere Ausprägungen haben als bei Jüngeren (Costa et al. 1986). In einer Meta-Analyse von Längsschnittstudien zeigte sich, dass Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität vor allem im Alter von 50 bis 70 Jahren ansteigen (Roberts et al. 2006). Specht et al. (2011) fanden bei einer großen Stichprobe von 14 718 Personen die höchsten Werte für emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit und Verträglichkeit bei Personen im Alter von 40 bis 60 Jahren und niedrigere Werten bei Menschen über 60 Jahren. Die Gewissenhaftigkeit stieg indessen kontinuierlich mit dem Alter an. Für den Verkehrskontext sind dies insgesamt positive Veränderungen; vor allem der Anstieg der Gewissenhaftigkeit mit dem Alter sollte zu einem Rückgang riskanter Fahrweisen, zu einer verstärkten Regelkonformität und zur Vermeidung riskanter Strecken führen. Ein größeres Ausmaß an Verträglichkeit geht mit einem eher kooperativen (Fahr-)Verhalten und einem niedrigeren Unfallrisiko einher (z. B. Skippon et al. 2010). Der Rückgang der Offenheit in höherem Alter könnte jedoch zu einer geringeren Akzeptanz von technischen Verbesserungen und Assistenzsystemen bei Älteren führen, mit denen mögliche Leistungsbeeinträchtigungen kompensiert werden könnten

Abgesehen von den Dimensionen der Big Five gibt es weitere Persönlichkeitseigenschaften, die das Fahrverhalten beeinflussen können, wie v.a. Risikofreudigkeit und Impulsivität. Beide hängen stark mit der Unfallrate zusammen (Owsley et al. 2003). Die Risikofreudigkeit sinkt mit zunehmendem Alter ab (Deakin et al. 2004). Dies gilt sowohl im Laborversuch als auch im Alltag, und insbesondere im Verkehrskontext: Ältere Autofahrer lehnen typische riskante Fahrverhaltensweisen wie das Fahren mit hoher Geschwindigkeit eher ab (z. B. Jansen et al. 2001). Die Impulsivität ist dagegen bei Älteren eher stärker ausgeprägt (Morales-Vives und Vigil-Colet 2012), was sich durch eine Abschwächung inhibitorischer Kontrollfunktionen erklären lässt (Hasher et al. 1991).

Weitere Persönlichkeitseigenschaften, die eine wichtige Rolle für das Mobilitätsverhalten und das Unfallrisiko älterer Autofahrer spielen, sind Selbstwirksamkeit und die Handlungskompetenzerwartung in komplexen und riskanten Verkehrssituationen (Rudinger 2015a).

2.1.2     Emotion