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Philipp Kuwert Michael Meyer zum Wischen (Hrsg.)

Jacques Lacan

Eine Einführung für die therapeutische Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032061-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032062-8

epub:   ISBN 978-3-17-032063-5

mobi:   ISBN 978-3-17-032064-2

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Inhalt

 

  1. Vorwort aus Sicht des stationären Klinikers
  2. Philipp Kuwert
  3. Vorwort aus Sicht des niedergelassenen Psychotherapeuten
  4. Michael Meyer zum Wischen
  5. 1 Das Glück der Ruhe opfern
  6. Birgit Meyer zum Wischen
  7. 2 Die Bedeutung der Vorgespräche und die Zukunft der Psychoanalyse
  8. André Michels
  9. 3 Zur Theorie und Klinik der Neurosen
  10. Kai Hammermeister
  11. 4 Fragmente einer Liebe – Zum Übertragungskonzept der Psychoanalyse bei Freud und Lacan
  12. Edith Seifert
  13. 5 Grenzfälle – Struktur und Singularität in der Klinik von »Borderlinern«
  14. Michael Meyer zum Wischen
  15. 6 Psychose und Perversion
  16. Franz Kaltenbeck
  17. 7 Kinderpsychoanalyse mit Lacans Konzeptualisierung
  18. Annemarie Hamad
  19. Stichwortverzeichnis
  20. Personenverzeichnis
  21. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

Vorwort aus Sicht des stationären Klinikers

Philipp Kuwert

In einer Zeit, die scheinbar zunehmend von Prozessen der Desintegration und Sehnsucht nach unterkomplexen Scheinlösungen geprägt wird, ist es an der Zeit, eine solche historische Scheinlösung zu beenden: die Vertreibung des politisch unkorrekten Lacan und seiner Denkweisen aus den deutschsprachigen Fachgebieten der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin. »Phantasma«, »Begehren«, »Objekt klein a«, »Signifikant«, und »Analysant« – es ist die z. T. sehr sperrige und gleichwohl gerade dadurch auch geheimnisvoll anziehende Art der Lacan’schen Formulierungen, die den Zugang gleichermaßen erschweren und doch neugierig machen. Während die von ihm begründete Strömung der Psychoanalyse international auch therapeutisch florierte, hat sein damaliger Ausschluss aus der IPA in Deutschland für die psychotherapeutischen Fächer dazu geführt, dass seine fruchtbaren Theorien und die klinische Praxis nahezu keinen Zugang zu den institutionalisierten Ausbildungsgängen fanden. Das scheint sich jedoch in den letzten Jahren gelockert zu haben. Das Begehren setzt sich durch, und niemand muss an den staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten mehr hinter vorgehaltener Hand sagen, dass er oder sie mit dem unkonventionellen Franzosen »liebäugelt«. Gleichwohl ist es bislang völlig undenkbar, in den Genuss einer offiziellen Lehranalyse zu kommen, in der die nur scheinbar skandalöse und tatsächlich durchaus kluge Praxis des Skandierens geübt wird, also der deutenden Beendigung der jeweiligen Analysestunde zu einem signifikanten Moment und nicht an ein quantitatives Paradigma geklammert nach 50 Minuten. Es gibt also noch viel zu tun, und dieses Buch soll einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Analyse nach Lacan den ihrem Potential entsprechenden Platz in den klinischen Fächern wieder einnehmen kann.

 

Vorwort aus Sicht des niedergelassenen Psychotherapeuten

Michael Meyer zum Wischen

Im deutschsprachigen Raum wird das Werk Lacans oft als intellektuell unzugänglich angesehen, eher zur Philosophie gehörig und klinisch wenig brauchbar. Im Gegensatz hierzu ist die lacanianische Psychoanalyse in den romanischen Ländern, auch in Mittel- und Südamerika, in der klinischen Praxis sehr präsent, in Praxen, Krankenhäusern und verschiedenen sozialen Institutionen. Anlass und Ziel dieses Buches ist es, die klinische Relevanz der Theorie Lacans auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich zu machen und sein Interesse zu wecken, in sein Denken und die mit ihm verbundene Praxis intensiver einzusteigen.

Unser Band beginnt mit Birgit Meyer zum Wischens Text Das Glück der Ruhe opfern, einer Parabel auf das, was von Lacan als Begehren des Analytikers bezeichnet wurde. Dieses Begehren richtet sich als Motor der psychoanalytischen Kur auf die Kräfte von Begehren und Trieb aus, die im Unbewussten des Analysanten »arbeiten«, wie in der Sage einst die Heinzelmännchen in Köln die Arbeit verrichteten. Eine solche Ausrichtung der Kur ist einer ichpsychologischen Position entgegengesetzt und zielt nicht auf Ruhe und Stabilisierung, sondern auf Aufbrechen imaginärer Sicherheiten, wie sie vor allem in Neurose und Perversion vorherrschen. Allein so werden Verschiebungen, neue Triebschicksale möglich.

Weiter geht es mit dem Beitrag von André Michels Die Bedeutung der Vorgespräche und die Zukunft der Psychoanalyse. In seinem Text wird die ethische Dimension schon des Beginns der Analyse deutlich, die darin besteht, sich dem Diskurs des Anderen, dem Unbewussten, öffnen zu können. Dies ermöglicht einen Neuanfang, der für die Analyse konstitutiv ist und sie von jedem gewöhnlichen Gespräch unterscheidet. Michels legt auf die zeitliche Logik der Analytischen Kur besonderen Wert und grenzt diese von ihrer positivistischen Begründung ab. Der Umgang mit der Zeit ist eine besondere Verantwortung des Analytikers und unterscheidet seine Praxis von jeder normierbaren »Technik«.

Kai Hammermeisters Kapitel Zur Theorie und Klinik der Neurosen grenzt sehr klar eine Freud und Lacan folgende und auf die Struktur bezogene Diagnose von einer deskriptiven Klassifikation ab, die sich im Aufzählen von Symptomen verliert. Hammermeister macht dabei den bereits bei Freud vorhandenen Begriff der (Neurosen-)Wahl stark, der sich bei Lacan generell auf die Struktur des Subjekts bezieht und sich bei der Neurose auch auf die Unterscheidung von Hysterie und Zwang erstreckt. Genau dieses Moment der Wahl ist auch die Voraussetzung der Modifikation der Struktur im Verlauf der psychoanalytischen Kur. Diese betrifft damit in besonderer Weise die Art, wie das Subjekt Lust erlebt und sein Begehren ausrichten kann. Dimensionen, die die heutige psychiatrische Diagnostik verfehlt.

In Fragmente einer Liebe – Zum Übertragungskonzept der Liebe bei Freud und Lacan geht Edith Seifert auf den unlösbaren Zusammenhang zwischen Liebe und Übertragung ein und untersucht in Hinblick auf die Geschichte der Entwicklung der Theorie der Übertragung von Freud zu Lacan, wie unterschiedliche Auffassungen von der Liebe die Handhabung der Übertragung in der Kur beeinflussen. Geht es darum, dass der Analysant vom Analytiker das passend erhält, was er bisher nicht bekam oder ihm verweigert wurde? Oder geht es um einen anderen Umgang mit dem Mangel in der Liebe, der zu einer Modifikation im Verhältnis des Analysanten zum Anderen, wie zum – verlorenen – Objekt führt? Bei Seifert findet sich die Formulierung von der »Atopie des Eros«, die der Analytiker zu berücksichtigen hat, will er nicht der Illusion erliegen, für den Analysanten das umfassend gute Objekt, bzw. der alles Übel heilende Andere zu sein, den dieser nicht hatte (und den es nach Lacan nicht geben kann).

In seinem Beitrag GrenzfälleStruktur und Singularität in der Klinik von »Borderlinern« setzt sich Michael Meyer zum Wischen für einen Grenzgang zwischen strukturaler Klinik und Singularität ein, wie er sich in besonderer Weise bei der sogenannten Borderline-Pathologie findet. Er wendet sich dabei sowohl gegen eine pauschale Ablehnung dieser Diagnose als auch gegen den Versuch der Einführung einer neuen generalisierbaren Klassifizierung. Meyer zum Wischen unterstreicht den klinischen Wert der Atopie, eines fundamentalen Mangels an Verortung in der Struktur, wie wir ihn in unseren Praxen mehr und mehr finden. Dieses Phänomen stellt auch das Monopol des »Namens-des-Vaters« als Dreh- und Angelpunkt unserer Differentialdiagnose in Frage und lenkt die Aufmerksamkeit auf begrenzte Formen der Verwerfung der Kastration, wie sie vor allem in Folge von Traumatisierungen auftreten können. Diese Atopie erscheint aber nicht nur als Schwierigkeit für die Subjektivierung des Analysanten, sie kann auch Ausgangspunkt einer kreativen Neuschöpfung werden, die Lacan als Sinthom bezeichnete.

Franz Kaltenbeck beleuchtet aus der strukturalen Perspektive Lacans das vielschichtige Verhältnis von Psychose und Perversion, wobei er sich auf seine Erfahrungen in der Forensik stützen kann. Das perverse Phantasma kann ein letztes Bollwerk gegen den Einbruch des Wahns sein und ersetzt in nicht wenigen Fällen den karenten Namen-des-Vaters. Kaltenbeck unterstreicht dabei, wie das Phantasma in Wahn umschlagen kann. Auch in seinem Beitrag wird deutlich, dass die Lacan’sche Differenzierung der drei klinischen Strukturen die Betrachtung von deren komplexem Zusammenwirken nicht behindert, sondern sogar fördert.

Annemarie Hamads Aufsatz zur Kinderpsychoanalyse mit Lacans Konzeptualisierung arbeitet das Besondere der Kinderanalyse in einer Lacan’schen Perspektive heraus und situiert sie im Hinblick auf die Ansätze Anna Freuds und Melanie Kleins. Sie führt uns in die Lektüre Lacans des Falles Dick von Melanie Klein ein, wobei deutlich wird, wie der Ausgang dieser Analyse von einer Verknüpfung von Symbolischen und Imaginären bestimmt wurde. So legt Hamad in ihrer Theoretisierung der kinderanalytischen Praxis auch besonderen Wert auf die Verknüpfung der drei Register des Realen, Symbolischen und Imaginären, die sogenannte borromäische Klinik. Durch eine Fallvignette mit einem autistischen Mädchen macht sie deutlich, wie die Analytikerin durch Übertragung in den Prozess dieser Subjektivierung des Kindes einbezogen ist, hier durch gemeinsames Zeichnen.

Die Autorinnen und Autoren des Buches machen mit der Verschiedenartigkeit ihrer Artikel deutlich, dass es keine allgemeine klinische Theorie nach Lacan, aber sehr wohl zentrale Konzepte (der Andere, Objekt klein a, der Signifikant, RSI etc.) gibt, mit denen es sich in der Praxis auch mit schwierigen Patienten und Analysanten gut arbeiten lässt. Diese Konzepte bedürfen weiterer Ausarbeitung und der Auseinandersetzung mit den Begriffen der anderen Ausrichtungen der Psychoanalyse.

 

 

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Das Glück der Ruhe opfern

Birgit Meyer zum Wischen

Freud schreibt im Unbehagen in der Kultur1 vom Glück der Ruhe. Er identifiziert dort das Programm des Glücks mit dem Lustprinzip und stellt das Glück der Ruhe in den Kontext von Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen und Abwendung von der Außenwelt. Exemplarisch für das dazu notwendige Ertöten der Triebe und das Aufgeben aller anderen Tätigkeiten führt er Intoxikation und Yogapraxis, also Askese, an. Diese sollen Beispiele dafür sein, wie man das Glück der Ruhe erwerben kann. Ein Zitat aus dem Unbehagen: »Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe. Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man diese Aufgabe für sich allein lösen will. Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg, indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur übergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit Allen am Glück Aller.«2 Soweit Freud.

Das Glück der Ruhe ist bei Freud also ein einsames, passives, und damit sicher nur ein sehr eingeschränktes Glück. Der Asket opfert also eher der von ihm angestrebten Ruhe das Glück. Umgekehrt liegt nahe, dass man, um eine Möglichkeit auf Glück im eigentlichen Sinn zu haben, das Glück der Ruhe opfern muss, weil man sonst immer nur Ruhe, Triebstagnation, hätte, ohne Glück. Lacan hat sich mit der logischen Struktur des vel, des Oder, beschäftigt, die hier ins Spiel kommt.3 Es ist die Struktur des Subjekts des Unbewussten schlechthin. Dieses besondere vel nennt Lacan ein vel der Entfremdung. Die Wahl zwischen den zwei Termen, also Glück oder Ruhe, führt dazu, dass man immer denselben eliminiert, egal welchen man wählt. Die Konsequenz ist ein »Weder das eine, noch das andere«. Die Wahl der Ruhe lässt nur ein sehr beschädigtes Glück übrig, die Wahl des Glücks zieht mit der Ablehnung der Ruhe ein Verfolgen der sehr ungewissen Glücksmöglichkeiten in der Beziehung zu den anderen nach sich. Das Glück entzieht sich also in beiden Fällen. Aber was dann? Die Würfel scheinen demnach von vornherein gefallen, aber es handelt sich trotzdem um keine rein willkürliche Wahl, sondern um eine von einem velle, einem Wollen, durchdrungene, eine Trennung gewissermaßen, die gewollt ist.

Sie kennen bestimmt die Kölner Sage von den Heinzelmännchen, diesen kleinen Männlein, die fleißig nachts im Verborgenen die Arbeit der schlafenden Handwerksleute tun, die wiederum gar nicht arbeiten, weil, eh sie erwachen, ihr Tagewerk schon gemacht ist.4 Die Heinzelmännchen, die in der Sage übrigens nackt sind, bekommen sie nie zu Gesicht, nur das Produkt ihres Schaffens: das fertige Haus, die gebackenen Brote usw.

Diese Bewegung des Auftauchens, Arbeitens und sich Wiederentziehens, die die Heinzelmännchen uns vorführen – erinnert das nicht an das Unbewusste, das mit den Heinzelmännchen doch die Eigenschaft teilt, zu verschwinden, sobald man meint, es zu fassen zu kriegen?

Ein Aufklaffen, ein Pulsieren. In der psychoanalytischen Arbeit muss man immer auf Tuchfühlung sein mit dieser Struktur des Unbewussten.

In Die Stellung des Unbewußten sagt Lacan: »Der Platz, um den es hier geht, ist der Eingang zu jener Höhle, hinsichtlich dessen Platon uns bekanntlich zum Ausgang führt, während man sich vorstellt, den Analytiker eintreten zu sehen. Damit ist es jedoch nicht so einfach, denn es handelt sich dabei um einen Eingang, zu dem man gerade immer in dem Augenblick kommt, wo geschlossen wird […].«5

Aber das heißt nicht, dass nichts zu machen ist. Die Heinzelmännchen-Geschichte endet mit dem Einfall eines neugierigen Schneidersweibs, das Erbsen ausstreut, um die Heinzelmännchen ins Schlittern zu bringen und einmal zu gucken, was sie da so treiben (und es gibt auch etwas zu sehen: Sie sind nackt!). Die kleinen Männlein kommen also angetippelt, rutschen auf den Erbsen aus, die Schneidersfrau richtet die Lampe auf sie, was zur Folge hat, dass die Männchen flüchten, so schnell sie können: »Sie springt hinunter auf den Schall / Mit Licht: husch husch husch husch! – verschwinden All!«6

Jetzt ist es aus mit dem Glück der Ruhe, der Oblomowerei der Zimmerleute, Bäckermeister, Fleischer, Küfer und Schneider: »Man kann nicht mehr wie sonsten ruh’n, / Man muß nun Alles selber thun!« Ein Akt der Subjektivierung, der vermutlich sogar in direktem Zusammenhang mit der Motivation, der Wahl dieses Aktes steht: genau dieses und kein anderes Opfer. Die Schneidersfrau opfert das Glück der Ruhe für sich und die anderen; die »schöne Zeit« kommt nicht wieder, aber sie hat durch ihre Neugier die Heinzelmännchen zum Stolpern gebracht, immerhin: »Die gleiten von Stufen / Und plumpen in Kufen, / Die fallen, / Mit Schallen, / Die lärmen und schreien / Und vermaledeien!«

Ist nicht das Schneidersweib hier von so etwas wie dem Begehren des Analytikers geleitet? Da, wo es hapert, tut sich etwas vom Unbewussten auf, so ähnlich formuliert es Lacan. Die Heinzelmännchen-Geschichte ist – wie sie merken – eine richtige »Fall-Geschichte«, denn das Eingreifen des Schneidersweibs führt zu einem radikalen Schnitt; der Eingriff bringt etwas zu Fall: das Glück der Ruhe. Das ist ein gewaltsamer und sogar auch ein destruktiver Akt, wie auch in der Analyse die Kunstbildung des Symptoms zerstört wird. Aber es endet nicht alles, sondern es wird etwas verlagert, verschoben, umverteilt, nämlich die Arbeit, die einmal mehr zu tun ist.

Sowohl die intensive als auch die extensive psychoanalytische Arbeit glückt vielleicht dann nur, wenn es gelingt, dieses Glück und die damit verbundenen Sicherheiten zu opfern.

1     Freud, S. (1974/1930). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 419–506.

2     Freud, S. (1974/1930). Das Unbehagen in der Kultur, a. a. O., S. 435.

3     Vgl. Lacan, J. (1987/1964). Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim/Berlin, S. 220–224, sowie Lacan, J. (1991/1966). Die Stellung des Unbewußten. In Schriften II (3. Aufl.). Weinheim/Berlin, S. 205–230, hier S. 220 ff.

4     Kopisch, A. (1836). Die Heinzelmännchen zu Köln. In: Gedichte. Berlin, S. 98–102. Weyden, E. (1826). Cöln’s Vorzeit. Cöln am Rhein, S. 200–202.

5     Lacan, J. (1991/1966). Die Stellung des Unbewußten, a. a. O., S. 216.

6     Kopisch, A. (1836). Die Heinzelmännchen zu Köln, a. a. O.

 

 

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Die Bedeutung der Vorgespräche und die Zukunft der Psychoanalyse

André Michels

Die Vorgespräche stehen am Anfang des psychoanalytischen Prozesses, den sie in seinem zeitlichen Ablauf mitbestimmen. Sie erlauben dem angehenden Analysanten, einen »Sinn« für das zu entwickeln, was in ihm und durch ihn spricht, für eine Determinierung seines Sprechens und Symptoms jenseits dessen, was er bis dahin über sich in Erfahrung bringen konnte.

Zunächst gilt es seine Frage, d. h. Anfrage (demande) an den Analytiker zu artikulieren; ein Faktor, der umso aktueller ist, als sich viele Analytiker über eine mangelnde Nachfrage beklagen. Ein Wiederaufleben des »Interesses« an der Psychoanalyse bedarf einer neuen Aufmerksamkeit für das konstitutive Moment des Anfangens, aus dem die Vorgespräche bestehen. Sie führen die Dimension der Übertragung ein, welche die Psychoanalyse als einen zeitlichen Prozess instituiert und eine rationale Grundlage für die Frage ihrer Beendbarkeit schafft.

Anfangen

Um welches Anfangen handelt es sich? Einige Analysen erweisen sich als nicht abschließbar, weil sie nicht richtig in Gang gekommen sind; andere kommen nicht voran, weil sie nicht wirklich angefangen haben. Die Vorgespräche sind eine Herausforderung, sowohl an den Analysanten als auch an den Analytiker, der in seiner Fähigkeit gefordert wird, sich auf die Dimension des Anderen einzulassen, sie überhaupt wahrzunehmen, die Singularität eines Sprechens zu erkennen, d. h. anzuerkennen.

Welches ist sein Bezug zum Unbewussten? Inwiefern ist es ihm gelungen, das in der eigenen Analyse Erfahrene lebendig zu erhalten oder mit neuem Leben zu erfüllen? Inwiefern ist er in der Lage, auf das Neue, Anfängliche zu hören, das in jedem wahren Sprechen spricht? Besteht nicht das Besondere seiner Position darin, dass sie nie als gesichert gilt, schon gar nicht durch ein Diplom oder einen Studienabschluss? Von vornherein weiß er nicht, ob es ihm gelingen wird, in diesem bestimmten Fall, seinen Platz als Analytiker zu finden oder einzunehmen.

Das Spezifische der analytischen Praxis besteht darin, die Bedingungen eines Sprechens zu schaffen, das vom Unbewussten zeugt. Jene gilt es gegenüber einem Umfeld zu behaupten, das sich durch seinen Anspruch auf »Wissenschaftlichkeit« auszeichnet, dem vorwiegend unter der Form des Positivismus’ sowohl die akademische Welt als auch eine breite Öffentlichkeit verfallen ist. Die Herausforderung an die Psychoanalyse ist umso größer, als durch die Psychotherapiegesetze in vielen westlichen Ländern eine neue Situation entstanden ist, in der ihre Eigenart zu verschwinden droht: Von vielen kaum noch erkannt, wird sie ihr vom Gesetzgeber weitgehend aberkannt, ja abgesprochen, und von den psychoanalytischen Instituten nicht zur Genüge hervorgehoben.

In diesem ihm nicht unbedingt wohlwollend gesinnten Umfeld findet der Analytiker eine Orientierung zunächst in seinem eigenen Zugang zum Unbewussten, der Quelle, aus der er schöpft. Jede Analyse stellt ihn erneut vor die Frage, wie er selbst zur Analyse gekommen ist, wie er zum Analytiker geworden ist; ein Prozess, der sich für ihn als nicht abschließbar erweist. Ist die Analyse nun »endlich«, »unendlich«7 oder beides zugleich? Wird die Analyse erst dadurch abschließbar, dass sie beim Analytiker nicht zum Abschluss kommt? Um welche Form des Schließens handelt es sich dabei? Ist es eine Funktion des Schnitts, der Skandierung, als welche Lacan die Deutung versteht?

Ent-lernen

Mit jeder Analyse wiederholt sich für den Analytiker sein eigenes »Unterwegs«8 zum Unbewussten, zur Sprache, als einem ganz eigenartigen Sprechen. Es ist eine Wiederholung, die jedes Mal anders ist, die etwas Anderes bewirkt oder zu Wort kommen lässt, aus dem das Sprechen stammt. Es ist ein Wieder-holen, das sich nur in actu vollzieht, worin der »analytische Akt«9 besteht.

Der Analytiker ist, im wahren Sinn des Wortes, ein »Anfänger«, oder er versucht es zu sein. Besteht für ihn der größte Anspruch nicht darin, den Bezug zum Anfangen, Anfänglichen aufrechtzuerhalten, d. h. das längst Bekannte anders oder wie neu zu hören, sehen, verstehen? Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung des polnischen Komponisten Krystof Penderecki, dass es ihn viel Zeit und Kraft gekostet habe, um von seinen Meistern zu lernen, dass es aber eine weitaus schwierigere Aufgabe war, all das wieder zu ent-lernen, was er so mühsam erworben hatte. Zu dem so oft zitierten Aphorismus Goethes’: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen« 10, stellt diese Überlegung sowohl einen Gegensatz als auch ein zusätzliches Moment dar.

Die Herausforderung der Psychoanalyse überschneidet sich mit jener der Kunst: »Wie die Voraussetzungen des Neuen schaffen?« Um darauf antworten zu können, genügt das Erlernte nicht, sondern es bedarf der Fähigkeit, darüber hinauszugehen, ggf. darauf zu verzichten. Ent-lernen, auf Seiten des Analytikers, heißt, seine Praxis so lebendig, so erfindungsreich wie möglich gestalten, um auf die Singularität eines Sprechens, das Neue, Unbekannte einer Aussage oder Anfrage (demande) eingehen zu können. Diese wird heute oft anders als noch vor einiger Zeit formuliert und daher nur allzu leicht überhört. Sie gilt es wahrzunehmen; an den Analytiker richtet sich die Erwartung, auf jede Systematik, Voreingenommenheit, Vorentscheidung im Denken und Handeln zu verzichten.

Er ist dazu aufgefordert, sich von den Vorstellungen und Vorurteilen seiner Zeit, die Analyse betreffend, zu distanzieren. Oft unterliegt er, ohne es zu wissen, einem dominanten Diskurs, der in seinem Umfeld vorherrschenden doxa (Meinung), die einen klaren Gegensatz zur epistemé (Wissenschaft) darstellt, an der er sich zu orientieren sucht. Er ist dann wie ein Gefangener eines nicht nur von den modernen Medien, sondern auch von den Lehranstalten, Akademien, sogar den psychoanalytischen Instituten, verbreiteten Imaginären. Von Anfang an ist er nicht nur mit dem singulären Sprechen des Analysanten konfrontiert, sondern ebenso mit einem auf ihn projizierten Bild oder Ideal, mit einer diskursiven Strömung, die in unserem szientistischen Zeitalter kaum etwas vom Unbewussten hören will.

Zeit-gabe

In seinem 1913 erschienenen Beitrag Zur Einleitung der Behandlung geht Freud auf die Irrungen (errements) – nicht unbedingt Irrtümer – ein, die einem zu Beginn einer Analyse begegnen können und vor denen er warnen möchte. Ob er uns davor bewahren kann, sei dahingestellt. Es ist die Rede von einer »Probezeit«11, die u. a. den Zweck erfüllt, die Neurose von der Psychose zu unterscheiden und keine falschen therapeutischen Hoffnungen zu wecken. Er ist kein Befürworter von »lange(n) Vorbesprechungen vor Beginn der analytischen Behandlung«12; ganz im Gegensatz zu Lacan, der sich, d. h. dem Analysanten, wie er sagt, mit zunehmender Erfahrung mehr Zeit gibt, um wirklich beginnen zu können, um zu vermeiden, dass eine Analyse im Sand verläuft. Ist es heute nicht so, dass viele erst mit der Zeit auf den Weg der Analyse gebracht werden können, auf den Punkt einer ersten Manifestation des Unbewussten, sei es unter der Form einer Fehlhandlung, eines Traums, Witzes oder Versprechers?

In jedem Fall gilt es, die Zeit richtig einzuschätzen, jene, in der wir leben, sowie jene, die der angehende Analysant braucht, um den Weg zu einem eigenen Sprechen zu finden. Dieses unterscheidet sich von einem gemeinsamen oder gemeinen Gespräch, einer bloßen Unterhaltung. Es ist die Zeit, deren er bedarf, um etwas von sich, über ein gewisses Maß hinaus preiszugeben. Es kann sowohl einen Verzicht als auch eine Gabe bedeuten. Ein VerzichtanderesGabeMaß