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Autismus Konkret

 

Hrsg. von Vera Bernard-Opitz

 

•  Lernen mit ABA und AVT – Applied Behavior Analysis und Autismusspezifische Verhaltenstherapie (Vera Bernard-Opitz/Christos Nikopoulos)

•  Anders denken lernen – Kognitive Verhaltenstherapie bei Autismus-Spektrum-Störungen (Jed Baker)

•  Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen (Vera Bernard-Opitz)

•  Verstehen über’s Sehen – Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (Anne Häußler)

•  Lernen im Sekundentakt – Präzisionslernen bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (Kerry Milyko)

•  Lernen durch Apps (N.N.)

•  Lernen durch Videomodellierung (Christos Nikopoulos)

•  Lernen von Spiel und Beziehungen von Gleichaltrigen: Integrierte Spielgruppen (Pamela Wolfberg)

•  Nur dabei sein reicht nicht – Lernen im inklusiven schulischen Setting (Brita Schirmer)

•  Lernen im Alltag – Natürliches Lernen (Hans-Rüdiger Röttgers & Katrin Rentmeister)

•  Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen – Eine Spurensuche (Hans-Ulrich Bernard)

•  Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten bei Autismus-Spektrum-Störungen (Luise Poustka & Boris Rothermel)

Hans-Ulrich Bernard

Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen

Eine Spurensuche

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032033-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032034-5

epub:   ISBN 978-3-17-032035-2

mobi:   ISBN 978-3-17-032036-9

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Inhaltsverzeichnis

 

  1. Vorwort zur Reihe »Autismus Konkret«
  2. Vorwort zu diesem Band
  3. 1 Einführung
  4. 2 Autismus: Viele verschiedene Krankheiten? Viele Ursachen?
  5. 3 Grundlegende Argumente für Vererbung von Autismus: Zwillingsforschung
  6. 4 Eine kurze Einführung in die Molekulargenetik und ihre Bedeutung für ASS
  7. 5 Beispiele fünf gut verstandener Gene, die eine Rolle in syndromischen Autismus-Spektrum-Störungen spielen
  8. 6 Suche nach ASS-Risikogenen in idiopathischen ASS Patienten
  9. 7 Überlappen die genetischen Ursachen von ASS mit denen anderer psychischer Störungen?
  10. 8 Umwelteinflüsse
  11. 9 Der Nutzen von Tiermodellen für ASS Forschung und Behandlung
  12. 10 Epidemie des Autismus oder Epidemie der Diagnose?
  13. 11 Konsequenzen, DNA Diagnose, Hoffnungen, Zusammenfassung
  14. 12 Glossar
  15. 13 Literatur
  16. 14 Zum Autor

 

Vorwort zur Reihe »Autismus Konkret«

Das afrikanische Sprichwort »It takes a village to raise a child«/Deutsch: »Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen«« gilt sicherlich auch für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS). Und vielleicht braucht es sogar mehr als ein Dorf: nämlich das Wissen von Spezialisten in verschiedenen Ländern, die sich Autismus Spektrum Störungen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ziel unserer Reihe »Autismus Konkret« ist es daher, das Wissen internationaler Experten zu relevanten Themen zu bündeln und Eltern, Therapeuten, Lehrer und anderen Fachkräften dieses Wissen in leicht verständlicher Form und so konkret wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Oft ist es nicht einfach, Betroffenen mit ASS zu helfen. Eltern und Fachkräfte wissen, dass Zeit besonders kostbar ist, wenn es darum geht, effektiv Veränderungen zu bewirken. Daher sollten Erklärungsmodelle und Hilfen bewährt und wissenschaftlich anerkannt sein. Wir haben daher Kollegen in Deutschland, Österreich, England und den USA gebeten, ihr Spezialwissen über bestimmte evidenzbasierte und praxiserprobte Therapiemethoden in kurzer, konkreter Form mit unseren Lesern zu teilen.

Hierbei wird ein Einblick in folgende Themen gegeben: Lernen durch ABA und AVT, Anders denken lernen – Kognitive Verhaltenstherapie zum Abbau von Frustration und Ängsten und zum Aufbau von sozialen Fähigkeiten, Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen, Lernen im Alltag, Präzisionslernen, Lernen durch Apps, Lernen durch visuelle Hilfen, Lernen durch Videomodellierung, Integrierte Spielgruppen, Lernen im inklusiven schulischen Setting, Medikamentöse Hilfe und die Suche nach den Ursachen.

 

Wir hoffen, dass die Bände unserer Reihe »Autismus Konkret« Eltern und Kollegen helfen, Ursachen besser zu verstehen und wissenschaftlich anerkannte Therapiemethoden kennenzulernen. Hierbei wünschen wir, dass jeder Praxisband der Serie einen Beitrag leistet, therapeutische Hilfen für Betroffene mit ASS konkreter zu machen und Kindern und Jugendlichen mit ASS eine echte Chance zu geben, sich so zu entwickeln, dass eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auch tatsächlich möglich wird. Und dazu braucht es sicher »Mehr als ein Dorf«.

 

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe, Irvine, Juni 2017

 

Vorwort zu diesem Band

 

Vorrangiges Ziel unserer Buchserie »Autismus Konkret« ist es, neue therapeutische Ansätze bei Autismus Spektrum Störungen (ASS) vorzustellen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder deutlich, wie verschiedene Symptombilder und Ausprägungsgrade unter diesem Krankheitsbild zusammengefasst werden. Viele Eltern, Verwandte, Therapeuten und Betroffene stellen sich die Frage, welche Ursachen zu so unterschiedlichen Krankheitsbildern geführt haben können. Hierbei besteht die Gefahr, die Schuld für die Erkrankung in längst verworfenen Spekulationen zu suchen, wie etwa Erziehungsfehlern, Folgen von Impfungen bzw. bereitwillig Ernährung oder Umweltgifte zu verdächtigen.

Dagegen stellt dieses Buch den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über die Ursachen von ASS vor. Dabei wurde der Versuch unternommen, die meist schwer verständliche Fachliteratur allgemeinverständlich darzustellen. Es werden die häufigsten Unsicherheiten und Fragen beantwortet, wie »Ist ASS eine Erbkrankheit?«, »Gibt es ASS Risikogene?«, »Gibt es auch in Verwandten von Betroffenen ASS-Symptome?«, »Welchen Einfluss haben Umweltfaktoren, wie Virusinfektionen oder die Einnahme bestimmter Medikamente während der Schwangerschaft?«, »Was wissen wir von autistischen Mäusen oder Affenmodellen?«, »Kann ASS besser durch genetische Befunde erklärt werden als durch die Beschreibung der Krankheitssymptome?«.

Hans-Ulrich Bernard macht deutlich, dass ASS vermutlich aus hunderten verschiedenen Krankheiten besteht. Basierend auf dem schnellen Fortschritt der Genetik in den letzten Jahren besteht dabei die Hoffnung, dass diesen verschiedenen Krankheiten, ihrer Diagnose und ihrer Behandlung in Zukunft mit zunehmender Präzision nachgegangen werden kann.

 

Hans-Ulrich Bernard hat an der Universität Göttingen Molekularbiologie studiert und an der National University of Singapore sowie der University of California Irvine über Fragen der Virologie und Krebsentstehung gearbeitet. Außerhalb seines Labors bemüht er sich mit Schriften wie diesem Buch, wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten Leserkreis zugänglich zu machen.

 

Ich bin dem Autor – als meinem langjährigen Ehemann – sehr dankbar, dass er – endlich auch einmal! – sein Fachwissen meinem Spezialgebiet zur Verfügung stellt.

 

Vera Bernard-Opitz, Irvine, Juli 2017

 

 

 

 

 

1          Einführung

 

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei etwa 1 % aller Kinder auftritt. Besonders betroffen sind die sozialen Fähigkeiten sowie die verbale und nicht-verbale Kommunikation. Mangel an Flexibilität, stereotype und ritualisierte Verhaltensweisen sind weitere Auffälligkeiten. Um die unterschiedlichen Schweregrade und kognitiven Fähigkeiten anzudeuten, wird statt der Bezeichnung »Autismus« im Regelfall der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« (Abk: ASS) benutzt.

Autismus kann mit geistiger Behinderung oder Down-Syndrom, aber auch mit Epilepsie, Aufmerksamkeits- und Zwangsstörungen überlappen. Darüber hinaus kann eine autistische Symptomatik auch gemeinsam mit bestimmten Krankheitsbildern auftreten, wie Rett- oder Fragiles-X-Syndrom. Wenn Autismus als »Komorbidität« (Begleiterkrankung) auftritt, spricht man von »syndromischem Autismus« (Noterdaeme, 2009). Wenn Autismus primäres oder alleiniges Krankheitsbild ist, liegt ein »idiopathischer Autismus« vor. Soweit bekannt, existieren ASS in allen Ländern bzw. ethnischen Gruppen. In entwickelten Ländern wird dabei von einer hohen und möglicherweise steigenden Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) ausgegangen.

Seit Jahrzehnten ist die Frage nach Ursachen von ASS Gegenstand intensiver Untersuchungen. Erklärungen wurden in Erziehungsfehlern vermutet, in Fehlernährung, Giftstoffen, Infektionskrankheiten, und Nebenwirkung von Impfungen. Es steht heute fest, dass einige dieser Vermutungen Irrtümer waren, die zum Teil – wie bei der Impfdebatte - nachlässig oder vorsätzlich ausgestreut wurden. Andere, wie etwa manche Infektionskrankheiten, sind mögliche, aber noch wenig verstandene Begleitfaktoren der Entwicklung zum Autismus.

Es gilt heute als abgesichert, dass ASS durch Erbfaktoren, also »Gene« oder »genetische Faktoren« bedingt wird. Diese können allerdings durch Umweltfaktoren beeinflusst sein.

Dieses Buch fasst unser heutiges Wissen über die Erbfaktoren von ASS sowie vermutete Wechselwirkung mit Umweltfaktoren zusammen. Gegenüber anderen Erklärungen hat die genetische Analyse den Vorteil, mit großer Effizienz und objektiv durchführbar zu sein. So ist es mit Hilfe moderner DNA-Technologien und computerbasierter Auswertung möglich, das Erbgut eines autistischen Patienten und seiner Eltern mit vertretbarem Arbeitsaufwand und Kosten zu analysieren. Das Ergebnis sind Kataloge von hunderten von genetischen Veränderungen, die spezifisch in Patienten mit ASS gefunden wurden. Es lässt sich belegen, dass diese Veränderungen die Entwicklung von ASS verursachen, u. a. dadurch, dass viele der betroffenen Gene für Proteine kodieren, die eine neuronale Funktion haben. Auf diese unterschiedlichen Funktionen wird später ausführlich eingegangen werden (image Kap. 5 und image Kap. 6). Auch können gezielte Veränderungen derselben Gene in Mäusen und Affen ASS-ähnliche Symptome in diesen Tieren auslösen.

Mit den derzeitigen Forschungsansätzen kann die Molekularbiologie wichtige Beiträge zur Klärung der Entwicklung von ASS liefern.

Das Wissen um genetische Grundlagen schützt gegen falsche Schuldzuweisungen und therapeutische Irrwege, und öffnet den Zugang zu molekularer Diagnose und rationaler Pharmakotherapie.

Dieses Buch will Ärzten, Psychotherapeuten, Pädagogen, Studenten und naturwissenschaftlich interessierten Eltern und Laien einen Einblick in den derzeitigen Wissensstand der Ursachen des Autismus vermitteln. Es wird dabei versucht, die schwer verständliche Sprache der Primärliteratur in zugänglichere, aber nichtsdestotrotz präzise Darstellungen zu übersetzen. Hiermit soll ein Grundlagenwissen geschaffen werden und eine Neugier auf die zu erwartenden brisanten Entwicklungen der kommenden Jahre.

In diesem Buch ist von den Ursachen und von der Ätiologie des Autismus die Rede. Es muss betont werden, dass diese beiden Begriffe hier im Wesentlichen gleichbedeutend gebraucht werden – nämlich im Sinne der Identifikation von genetischen oder umweltbedingten Auslösern der Entwicklung von ASS. Ein solcher Auslöser kann eine molekulare Störung der Differenzierung von Neuronen sein. Diese kann sekundäre Folgeschäden haben, wie etwa mikroskopisch beobachtbare neuroanatomische Veränderungen. Solche neuroanatomischen Veränderungen können mit biochemisch messbaren Veränderungen von Neurotransmittern einhergehen. Darüber hinaus kann eine funktionelle Magnetresonanztomographie Änderungen der neuronalen Aktivität erfassen. All diese sekundären Ereignisse sind natürlich auch »Ursachen von ASS«, aber eben nicht die primären Störungen. Sie werden deshalb in diesem Buch nur am Rande behandelt. Der interessierte Leser wird auf Zusammenfassungen in deutsch- und englischsprachigen Handbüchern verwiesen (Bölte, 2009a; Fatemi, 2015).

 

 

 

 

 

2          Autismus: Viele verschiedene Krankheiten? Viele Ursachen?

 

Die Forschung und Beschreibung einer spezifischen Krankheit ist selten einfach und geradlinig.

Zum Beispiel ist »Grippe« definiert durch eine bestimmte Ursache, nämlich eine Infektion mit dem Influenza-Virus, verbunden mit einer ähnlichen Symptomatik verschiedener Patienten. Nun decken aber Symptome und Krankheitsverlauf der Grippe ein weites Spektrum ab, das von einer harmlosen »Erkältung« bis zum tödlichen Verlauf reicht. Auch werden grippeähnliche Krankheitsbilder durch Infektion mit anderen Viren und Bakterien verursacht. Die Diagnose »Grippe« ist also streng genommen nur durch Nachweis des Erregers zu belegen.