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Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

 

Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert

 

Herausgegeben von Arne Burchartz, Hans Hopf und Christiane Lutz

Volker Langhirt

Psychoanalytische Familientherapie

Bedeutung und Anwendung in der Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030846-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030847-3

epub:    ISBN 978-3-17-030848-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030849-7

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Psychoanalytische Familientherapie
  3. 2 Theoretischer Exkurs
  4. 2.1 Familie – eine Suchbewegung?
  5. 2.2 Familie noch im Trend?
  6. 2.3 Der Antagonismus zwischen Familie und Gesellschaft
  7. 2.3.1 Anforderungen an die Familientherapie
  8. 2.3.2 Beispiele dialektischer Prozesse zwischen Familie und Gesellschaft
  9. 2.4 Welche Folgerungen ergeben sich in der Arbeit mit Familien?
  10. 3 Psychoanalytischer Exkurs
  11. 3.1 Freud und die Familientherapie
  12. 3.1.1 Psychoanalyse und Familie
  13. 3.1.2 Psychoanalytische Familientherapie
  14. 3.1.3 Die Kinderanalyse und die Einbeziehung der Familie
  15. 3.1.4 Kinderanalytische Sichtweisen der Bedeutung des Einbezugs der familiären Welt des Kindes oder des Jugendlichen
  16. 4 Exkurs zur psychoanalytischen Familientherapie
  17. 4.1 Familientherapeutische Pioniere
  18. 4.1.1 Boszormenyi-Nagy
  19. 4.1.2 Horst Eberhard Richter
  20. 4.1.3 Helm Stierlin
  21. 4.1.4 Eckhard Sperling
  22. 4.1.5 Die weitere Entwicklung
  23. 5 Exkurs zum Alltag der Familientherapie
  24. 5.1 Kinderanalytisch/familientherapeutischer Alltag
  25. 5.2 Was zeichnet den psychoanalytischen Familientherapeuten aus?
  26. 5.3 Welche Familie ist geeignet für eine Familientherapie?
  27. 5.4 Übertragung und Gegenübertragung in der Familientherapie
  28. 5.5 Familientherapie bei Trennungs-/Scheidungshintergrund
  29. 5.6 Väter in der Familientherapie
  30. 5.7 Jugendliche und Familientherapie
  31. 5.8 Die Bedeutung der Geschwister in der Therapie
  32. 5.9 Schule und Familientherapie
  33. 5.10 ADHS unter familientherapeutischen Gesichtspunkten
  34. 5.11 Familientherapie und Sexualität
  35. 5.12 Veränderte Lebensformen, neue Störungsbilder, Herausforderung für die Familie und für den Familientherapeuten.
  36. 5.12.1 Trennungssituation
  37. 5.12.2 Das Auseinanderbrechen der alten Welt
  38. 5.12.3 Regenbogenfamilien
  39. 5.12.4 Familientherapie und Transsexualität
  40. 5.12.5 Kinder nach medizinisch-assistierter Reproduktion
  41. 5.13 Familiengeheimnisse
  42. 5.14 Abschließende Überlegungen
  43. 5.15 Nebeneinander oder Gegeneinander von psychoanalytischer und systemischer Familientherapie
  44. 5.16 Kinderanalyse und Familientherapie oder Kinderanalyse versus Familientherapie?
  45. Literaturverzeichnis
  46. Stichwortverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

Als mich Herr Dr. Hopf fragte, ob ich interessiert an der Abfassung des kleinen Bandes der Familientherapie sei, regte sich sehr schnell mein Interesse. Selbstverständlich fragte ich mich, ob es nicht Berufenere in der Tradition der psychoanalytischen Familientherapie gebe. Jedoch erschien mir meine Position, in beiden Bereichen, der Kinderanalyse und der psychoanalytischen Familientherapie, tätig zu sein, als äußerst reizvoll zur Gestaltung des vorliegenden Textes.

Insbesondere die Aktualität gesellschaftlicher Prozesse und deren Einfluss auf mein psychoanalytisches Denken und Arbeiten waren ein ständiger Wegbegleiter beim Schreiben.

Ich möchte hier im Besonderen meiner Frau und meinen Kindern danken, die mich wieder einmal bei meinem Schaffen unterstützten. Sie nahmen meine unterschiedlichen Stimmungen in Kauf, halfen mir in schwierigen Situationen.

Die Familie ist eben ein sicherer Hafen, notwendig in seiner Bedeutung und unverändert in ihrem Stellenwert individueller und gesellschaftlicher Entwicklung.

Das Schreiben dieses Textes regte auch die familiäre Diskussion an, die in vielen Stunden gemeinsamen Austausches und unterschiedlicher Standpunkte ihren Ausdruck fand.

Herr Dr. Hopf unterstützte mich jederzeit mit seiner fachlichen Kompetenz und seiner sehr persönlichen Art, für die ich ihm herzlichst danke und auf künftigen weiteren Austausch mit ihm hoffe.

 

Dr. Volker Langhirt

Aschaffenburg, im Juli 2017

 

1          Psychoanalytische Familientherapie

 

 

 

Die Aufgabe, als Kinderanalytiker und psychoanalytischer Familientherapeut ein Buch über die Familientherapie zu schreiben, stellt eine Herausforderung dar. Baethge (1981) formuliert dieses scheinbare Dilemma so:

»[…] kann er plötzlich zwischen sämtlichen Stühlen sitzen […] er selbst muß sich fragen, welches seine therapeutische Identität eigentlich ist.« (ebd. S. 159)

Baethges Frage beantworte ich persönlich mit meiner psychoanalytischen Identität und deren Vielfalt.

Beide psychotherapeutischen Bereiche haben bislang selten gemeinsame Schnittmengen gesucht und in ihren Publikationen bzw. theoretischen Überlegungen thematisiert. So fiel mir bei der Recherche auf, dass im Bereich der Kinderanalyse kaum Literatur zur psychoanalytischen Familientherapie erhältlich ist. Verwunderlich, da insbesondere für die Kinderanalyse von Anfang an das familiäre Bezugssystem des Kindes ein wesentlicher Aspekt des psychotherapeutischen Prozesses ist. Dennoch sind bislang theoretische Überlegungen und praktische Erfahrungen der psychoanalytischen Familientherapie nur in bescheidenem Maß in die Inhalte der kinderanalytischen Ausbildungen integriert. Ich habe mich gefragt, welche Gründe hierfür maßgeblich sind. Gehe ich von meinem eigenen Werdegang aus, erschien es mir zunächst überflüssig, eine zusätzliche familientherapeutische Ausbildung zu absolvieren. Die Einbeziehung der Eltern in den kinderanalytischen Prozess stellte für mich eine Selbstverständlichkeit dar. Ich ging davon aus, dass ich als Kinderanalytiker familientherapeutische Überlegungen in der Auseinandersetzung und Betrachtung der dargestellten Konfliktebenen in den getrennten Elterngesprächen generell berücksichtigte. Zunehmend stellte ich fest, dass ich in der Einbeziehung der Eltern an Grenzen kam. Die Beratung der Bezugspersonen, der Eltern, wie sich dies kassenrechtlich formuliert, gab zwar Anhaltspunkte für den kinderanalytischen Prozess, ich sah jedoch zunehmend die Notwendigkeit eines erweiterten Settings für die Bearbeitung der intrapsychischen und interpsychischen Konfliktebenen, wie sie von der psychoanalytischen Familientherapie diskutiert werden. Vor diesem persönlichen Werdegang möchte ich das Zusammenspiel beider Therapiekonzepte, aber auch deren Grenzen aufzeigen. Es stellt zudem mein persönliches Plädoyer dar, die Bedeutung der psychoanalytischen Familientherapie im Therapiealltag zu unterstreichen und sie aus ihrem stiefmütterlichen Dasein, das sie meiner Meinung nach führt, in die Betrachtung aktueller kinderanalytischer Behandlung zu rücken. Die Blütezeiten und das Schattendasein der Familientherapie stehen im engen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Diskurs der Familie.

Ich wage zu behaupten, dass die Kinderanalyse ohne die Methodik der psychoanalytischen Familientherapie auf die Möglichkeit einer Erweiterung ihres therapeutischen Bezugsrahmens verzichtet. Sicherlich gibt es hierzu andere Sichtweisen, Psychoanalyse zeichnet sich eben durch Vielfalt aus. Die Relevanz der Familientherapie steht zum einen in einer Analogie zum gesellschaftlichen Veränderungsprozess familiärer Bedeutung, zum anderen in einem Spannungsverhältnis zum traditionellen psychoanalytischen Verständnis. Dies bietet eine gute Überleitung, sich zunächst der Familie und ihren Veränderungen im gesellschaftlichen Prozess zuzuwenden. Ich werde versuchen, familientherapeutische Gedanken, Techniken und Arbeitsweisen innerhalb des kinderanalytischen Behandlungsprozesses zu veranschaulichen. Ich möchte die Kluft zwischen beiden Therapieformen überbrücken bzw. verringern, die Psychoanalytische Familientherapie mehr in den Fokus bringen und mögliche synergetische Effekte zur Disposition stellen.

Ich möchte noch kurz zu der inhaltlichen Gestaltung der folgenden Seiten meine Absicht erklären:

Es war ein persönliches Anliegen, mich in meinen Darstellungen mit theoretischen Ausführungen, die zudem in zahlreichen Veröffentlichungen wiedergegeben werden, zurückzuhalten und den Fallbeispielen und damit der Praxis breiten Raum zu geben. Durch die Kasuistik geraten Problembereiche in den Fokus, die bisher nicht wahrgenommen werden konnten.

»Die eigentliche wissenschaftliche Leistungsfähigkeit von Fallstudien für allgemeine Erkenntnisse besteht vielmehr darin, diese zu erweitern, gegebenenfalls zu korrigieren, besteht mithin in der Funktion der Theoriebildung.« (Fatke, 1997, S. 63)

»Die Kasuistik als Verfahren will – im Unterschied zur Deduktion – mithilfe einer möglichst exakten Beschreibung von Einzelfällen, deren Gemeinsames ermitteln, und als Methode will sie konkrete Erscheinungen und allgemeine Normen und Prinzipien fassen, ordnen, abgrenzen, beurteilen, um das Gemeinsame als das Regelhafte formulieren zu können« (Fatke, 1997, S. 64)

Von Anfang an wurden Fallstudien in der Psychoanalyse als Forschungsinstrument betrachtet. Wegner (1998) sieht in der Psychoanalyse die Gefahr, die Tradition von Fallstudien aufzugeben. Für ihn bieten Einzelfallstudien die Möglichkeit, seltene aber wichtige Phänomene zu untersuchen (ebd. S. 11).

»[…] verdichtete Zusammenfassungen einer Interaktionsgeschichte […]« (Wegner, 1998, S. 23), die versuchen, »[…] Bereiche menschlichen Erlebens aus einem interaktionellen Kontext darstellbar zu machen, um auf ihre psychische Kraft, Wirksamkeit und Bedeutung hinweisen zu können« (ebd. S. 23).

Die Falldarstellung ist immer von den Vorkenntnissen desjenigen geleitet, der den Fall präsentiert. Falldarstellungen reduzieren sich nicht nur auf die Präsentation des Falls, sondern beinhalten auch dessen interpretierende Erarbeitung.

Fallstudien bieten die Gelegenheit, unterschiedliche Sichtweisen zu diskutieren und den Leser anzuregen, aus eigener Erfahrung die Fälle zu vergleichen, zu erweitern oder auch kritische Standpunkte anzubringen. Ich hoffe, den Leser zu einer ähnlichen »Spurensuche« zu motivieren. Die Gliederung des Buchs vollzieht sich von den anfänglichen Versuchen, der Familie in ihrer Funktion näher zu kommen, zu den wesentlichen Spannungsverhältnissen familiärer Systeme in Bezug auf gesellschaftliche Anforderungen, ihre stetigen Veränderungen, dem aktuellen Zeitgeist entsprechend, weiter zur familientherapeutischen historischen Entwicklung und schließlich hin zu praktischen familientherapeutischen Alltagssituationen. Mir ist bewusst, dass bestimmte Bereiche, die auch den Leser interessieren könnten, nicht berücksichtigt sind. Dieser Band enthält eine kleine Auswahl der Übersicht familientherapeutischen Arbeitens. Ich wünsche mir, dass die spannungsreiche Konstellation zwischen Kinderanalyse und psychoanalytischer Familientherapie durchgängig im Text zu spüren ist und den Leser zu weiterer Diskussion anregt.

 

2          Theoretischer Exkurs

 

 

2.1       Familie – eine Suchbewegung?

 

Ich werde mich hier nicht soziologischen Thesen der Definition der Familienkonstellation widmen, sondern beziehe mich in meinen Darstellungen familientherapeutischen Arbeitens auf Familien mit mindestens zwei Generationen.

Unsere Vorstellung von Familie klingt einfach und ist dennoch in der Definition äußerst vielfältig. Der Einzelne verbindet subjektive und unterschiedliche Sichtweisen und Erlebnisse mit seiner eigenen Familiengeschichte.

Wie nähere ich mich nun einem solch vielschichtigen Thema, das in dieser Art und Weise äußerst komplex determiniert ist?

Zunächst einmal überlege ich, was ich persönlich mit dem Begriff Familie verbinde.

Kindheitserinnerungen werden wach, frühere Erlebnisse mit Eltern und Geschwistern sind spontan gegenwärtig. Die Kindheit, das Jugendalter, die Beziehungen zu meinen Eltern und meinen Geschwistern leben in meinen Erinnerungen auf, teilweise sind sie auch Verdrängungen unterworfen. Ambivalente Gefühle prägen die Auseinandersetzung mit der familiären Thematik. Empfindungen von Geborgenheit, Halt und Sicherheit wie auch Strebungen nach Autonomie, Dominanz und konflikthafte Rollenverteilungen sind damit verbunden. Zudem strömen permanent sich verändernde gesellschaftliche Werte und Anforderungen in das Familiensystem ein, die das familiäre Klima und den beziehungsdynamischen Aspekt beeinflussen oder verändern. Mein Familienalltag von damals ist mit meinem heutigen nicht mehr vergleichbar. Meine Söhne stehen anderen gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen gegenüber als ich früher als Junge. Der Diskurs zwischen den Generationen im Kontext der Familie ist allgegenwärtig. Kindheits- und Erwachsenenperspektive wechseln im Erleben der Beteiligten. Jeder war Kind und ist Erwachsener, hat eigene Erfahrungen mit diesen unterschiedlichen Rollenzuweisungen gemacht. Die Wahrnehmung und Bearbeitung dieser dialektischen Prozesse sind wesentliche Aufgaben der familientherapeutischen Arbeit.

Cierpka, dessen Wirken in Heidelberg ich später noch beschreiben werde, hat wesentliche Überlegungen zum Zugehörigkeitsgefühl zur Familie geliefert (vgl. Cierpka, 2002). Die Psychoanalyse hat kaum theoretische Arbeiten über die Familie als innerpsychische Repräsentanz geliefert. Das Familiengefühl etabliert sich durch unbewusste Motive, die an der Entstehung der Familie maßgeblich beteiligt sind. Z. B. beeinflussen eigene Erfahrungen in der Herkunftsfamilie das aktuelle Beziehungssystem der Familie. Theorieleitende Überlegungen sind die aufeinander bezogenen Konzepte der Dyade, der Triade und der Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt. In der Folge etabliert sich beim Kind ein inneres Konzept der Familie, das nicht nur auf Fantasien und Projektionen beruht. Die tagtäglichen Familieninteraktionen etablieren die Adaption des Kindes an das familiäre System, mit dem es sich identifiziert. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Identifizierungen, »[…] einer inneren »Landkarte« der interpersonalen und intrapsychischen Realität« (ebd. S. 81), gewinnt das Kind im Laufe seiner Entwicklung eine Familienidentität, die ihm eine Zukunftsperspektive über die Frage der eigenen Familie bietet.

 

2.2       Familie noch im Trend?

 

Die Familie ist ständigen Veränderungen und Zuschreibungen unterworfen und phasenweise im Dissens mit gesellschaftlichen Erwartungen, die zu Konflikten und Anpassungsleistungen führen. Wechselnde Rollenbilder des Elternpaares, veränderte Sozialisationsinstanzen, z. B. in Form der frühen Kinderbetreuung oder strukturellen Veränderungen des Bildungsprozesses, beeinflussen heute die familiären Interaktionen.

Die Vielfältigkeit familiärer Zusammensetzung im Sog gesellschaftlicher Veränderungen erfordert einen sich ständig erneuernden Definitionsprozess der Familie. Patchworkfamilien, Einelternfamilien, Migrationsfamilien, Regenbogenfamilien, um nur einige zu nennen, stellen tradierte Familienbilder infrage, erfordern Flexibilität und erweitern unser Verständnis von Familie.

Wieso setzt man sich heute überhaupt noch mit dem Begriff der Familie auseinander, in Zeiten, die sich vordergründig mit der Selbstbestimmung des Einzelnen und der Auflösung von Familie auseinandersetzen?

Trennung/Scheidung, eine zunehmend außerfamiliäre Orientierung, Karrierestreben, Geburtenrückgang und andere gesellschaftliche Entwicklungen zeigen auf den ersten Blick, dass die Familie an Bedeutung verliert.

Ein ständiger Wandel gesellschaftlicher Werte durchzieht das System Familie. Begriffe der Souveränität, Autonomie und Selbstbestimmung sind aktuell gesellschaftlich hoch im Kurs. Das souveräne Subjekt, das sich eigenverantwortlich und autonom darstellt und der aktuellen gesellschaftlichen Idealisierung entspricht, steht im Kontrast zum familiären System (vgl. Schäfer und Thompson, 2009, S. 23). Dies hat eine Veränderung der familiären Beziehungsdynamik zur Folge, die ständigen Herausforderungen unterworfen ist.

Zusammenfassung

Die Familie ist ein sehr komplexes Gebilde, das sich aus entsprechenden individuellen Entwürfen konstituiert. Zudem steht die Familie im engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Besonders an die Familientherapie werden durch sich ständig verändernde Familienformen hohe Ansprüche gesetzt.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

Ich empfehle den Aufsatz von Cierpka (2002) zum Thema des Familiengefühls. Schäfer und Thompson (2009) haben sich der gesellschaftlichen Idealisierung des Subjekts gewidmet.

Weiterführende Fragen

•  Ist die Familie im kinderanalytischen Alltag tatsächlich noch ein wesentlicher Bezugspunkt?

•  Wie sieht es mit der Reflexion des Kinderanalytikers mit der eigenen familiären Identität und seiner Herkunftsfamilie aus?

•  Ist der Kinderanalytiker den sich ständig verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewachsen?

2.3       Der Antagonismus zwischen Familie und Gesellschaft

2.3.1     Anforderungen an die Familientherapie

Ich möchte in diesem Zusammenhang beispielhaft den oftmals propagierten Rollenwechsel von Mutter und Vater bzw. Mann und Frau aufgreifen. Die gesellschaftliche Rollenvorgabe mündet teilweise in ein Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Veränderung und familialer Identität. In der Familientherapie zeigen sich die Konfliktebenen der Familieninteraktionen, die sich vor dem Hintergrund der Dissonanz gesellschaftlicher Anforderungen an die flexible Rollengestaltung und aus dem Streben nach traditioneller familiärer Kernstruktur ergeben. Im Zuge der Gleichberechtigung besteht heute eine wesentlich vielfältigere Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Individuums, das heißt beider Elternteile. Dies bietet den Kindern die Möglichkeit, familiäre Vielfältigkeit kennenzulernen, die Familie als Kernstruktur bleibt jedoch erhalten. Kinder können zum Beispiel durchaus von den vielfältigen Beziehungsebenen und sozialen Interaktionen in Patchworkfamilien profitieren.

Herr K. schildert im therapeutischen Prozesses seine eigene Familiengeschichte. Sein Vater führte mit dessen beiden Brüdern ein größeres Industrieunternehmen und war die ersten sieben Lebensjahre des Patienten kaum verfügbar bzw. innerhalb der Familie nicht präsent. Der Betrieb scheiterte, sein Vater übernahm fortan die Kindererziehung des Patienten und seines Bruders. Die Mutter musste arbeiten gehen, um die finanzielle Situation der Familie zu gewährleisten. Herr K. berichtet, dass er seine Mutter aufs Schmerzlichste vermisste, obwohl sein Vater sich die größte Mühe gab und er ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Vater hatte. Sein Vater habe nie über Gefühle geredet oder ihn in die Arme genommen, wie seine Mutter das getan hat. Herr K. führte dies auf die damalige Zeit, genauer gesagt die Zeit vor 40 Jahren, zurück.

Ist diese Konstellation tatsächlich auf frühere Zeiten, in denen die Familie über traditionell konservative, weniger flexible Rollenzuschreibungen definiert wurde, zurückzuführen?

Ich denke nicht. Ein kurzes Beispiel hierfür:

Kai wird aufgrund seiner Ängstlichkeit zur Therapie angemeldet. Er könne nachts nicht schlafen, habe ständig Angst um seine Mutter. Seine Mutter meint, Kai sei nicht wie andere Jungen in seinem Alter. Der Vater, Lehrer, übernahm sehr schnell die Erziehung des Patienten aufgrund der Möglichkeit einer Beurlaubung. Die Mutter, Rechtsanwältin, ging im ersten Lebensjahr des Patienten ihrer Tätigkeit wieder nach. Der Vater erinnert im familientherapeutischen Setting an seine Überforderung im gesellschaftlichen Kontext. Er fühlte sich deplatziert in den Kinder- und Säuglingsgruppen, auf dem Spielplatz und bei sonstigen Aktivitäten, da dort in der Regel nur Mütter verweilten und diese mütter-/frauenspezifische Themen besprachen. Er zog sich daraufhin oft mit seinem Sohn zurück. Er bedauere sehr, dass er seine Vorstellung väterlicher Präsenz gegenüber seinem Sohn nicht zeigen konnte. Kais Mutter zeigt sich demgegenüber von dem männlichen Part innerhalb der Familie sehr enttäuscht. Ihre Erwartungen ihrem Mann gegenüber bezüglich der Kindererziehung haben sich nicht erfüllt.

Die beiden Fallvignetten zeigen, trotz des zeitlichen Abstands von 40 Jahren, die Bedeutung der familiären Kernstruktur und deren Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Familienmitglieder. Ein Wechsel bzw. Tausch der geschlechtsspezifischen Rollen kann, je nach Disposition der jeweiligen Familie, unterschiedliche Folgeerscheinungen auf der interpsychischen wie intrapsychischen Ebene zeigen. Es könnte für die Zukunft der Familientherapie eine wichtige Aufgabe darstellen, aus dem familientherapeutischen Alltag Überlegungen zu den Einflussfaktoren bestimmter gesellschaftlich-familiärer Konfliktebenen zu diskutieren. Ich möchte jedoch nochmals betonen, dass meine Darstellung nicht tendenziell die Ablehnung notwendiger gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zum Inhalt hat. Hier würde ich mich in eine wenig erträgliche Diskussion einordnen, die polarisiert und ein beengtes Verständnis für Familieninteraktionen zeigt. Die deutlich erhöhte Zahl »erstversorgender« Väter, Kinderkrippen und das veränderte Rollenmodell in Form gleichberechtigter beruflicher Werdegänge sind durchaus zeitgemäße Möglichkeiten für die Familie, vielfältigere Konzepte der Familienplanung als früher zu entwickeln und zu verfolgen. Gesellschaftlich kaum diskussionsfähig ist jedoch die Tatsache, dass die Familie bzw. die Beteiligten mit dieser Situation in einen Konflikt geraten können. Familien, die sich zu traditionellen familiären Rollen bekennen, schildern in der Familientherapie oftmals ihren Konflikt, von der Umwelt als konservativ, traditionell oder sich neuen Möglichkeiten verweigernd entwertet bzw. diffamiert zu werden. Die sich in der Folge einstellenden Rechtfertigungsversuche der Familie zeigen den gesellschaftlichen Druck einer Rollenzuschreibung, die auf die Familie wirkt. Scheinbar fällt es der Familie heute schwer, sich gegen die aktuelle gesellschaftliche Erwartung zu stellen und als gesellschaftliche Keimzelle ihren eigenen familiären Vorstellungen zu entsprechen. Ein gutes Beispiel liefert hierbei die Krippenbetreuung, die mittlerweile von nahezu allen gesellschaftlichen und politischen Lobbys gefordert wird. Einerseits bietet sie die Möglichkeit, veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entgegenzukommen, andererseits zeigen sich die Defizite, die dann öffentlich nicht in einer Diskussion, sondern oftmals in einem Streitgespräch münden. Dabei stellt sich doch eigentlich die Frage nach der Bedeutung des Kindes und seiner Entwicklung in unserer Gesellschaft. Deutlich wird, dass die Binnenstruktur der Familie in einer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Ideal steht. Jedoch sollten wir uns hier nicht täuschen, dass aktuelle Veränderungen ohne Konflikte von den jeweiligen Familienmitgliedern vollzogen werden könnten.

Frau J., alleinerziehend, meldet ihre Tochter in der Praxis an. Es gebe viele Schwierigkeiten in der Beziehung miteinander, der Kontakt zum Vater bestehe nur sporadisch. Die Mutter berichtet, dass ihre Tochter ein Schreikind war. Schon in der Schwangerschaft trennte sich ihr Partner von ihr, ihre Ideen und Wunschvorstellungen von einer eigenen Familie waren zusammengebrochen. Sie hatte große Schuldgefühle gegenüber ihrer Tochter, dieser keinen »richtigen« Vater und keine normale Familie bieten zu können. Sie zog sich mit ihrer Tochter daraufhin zurück. Sie erinnert sich an ihre gemeinsame frühe Zeit, in der sie von ständigen Ängsten geplagt war, dass die Nachbarschaft über sie verächtlich redete oder sich aufgrund der nächtlichen Unruhe, da ihre Tochter nachts ständig schrie, beschwerte. Sie schämte sich zutiefst, da sie nach außen keine Familie darstellen konnte. Sie selbst empfinde ihr Familienkonzept als gescheitert, ihrer Meinung nach werde sich daran auch nichts mehr ändern. Sie selbst halte es zeitweise nicht mehr aus, dass ihre Umwelt kaum Rücksicht auf ihre Problematik nehme. Sie habe das Gefühl, als Mutter und als Frau versagt zu haben. Sie habe noch heute große Schuldgefühle gegenüber ihrer Tochter, da sie diese so früh in eine Krippe geben musste. Obwohl die Krippe durchaus fachlich kompetent war, hatte sie sich diese frühe Zeit mit ihrem Kind anders vorgestellt.

Kein Einzelfall im therapeutischen Alltag. Die oftmals viel diskutierte Normalität von Einelternfamilien bzw. Trennungs-/Scheidungskonstellationen mündet teilweise vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte in Konflikte, beispielsweise in Dissonanz mit dem eigenen Selbstkonzept. Das Beispiel von Frau J. zeigt, dass gesellschaftliche Erwartungen, die sich auf das Funktionieren und die Anpassung an die facettenreichen Beziehungsmodelle konzentrieren, erhebliche Verunsicherungen und Schamgefühle auslösen. Ein Scheitern an diesen gesellschaftlichen Vorgaben kann zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung führen.

2.3.2     Beispiele dialektischer Prozesse zwischen Familie und Gesellschaft

Die Komplementarität mütterlicher und väterlicher »Welt« versus die Tendenz der Gleichsetzung oder Negation elterlicher Differenz im Zuge emanzipatorischer Prozesse

Zunehmend etablieren sich gleichberechtigte berufliche Werdegänge zwischen Mann und Frau. Dem Spagat zwischen mütterlicher Rolle und beruflicher Karriere soll die Möglichkeit des Rollentauschs in Form von Elternurlaub, auch der Väter, Abhilfe schaffen. Dies bietet dem Kind die Möglichkeit einer veränderten, der Kindesentwicklung zuträglichen Beziehungserfahrung zum Vater.

Herr W. nimmt zögerlich Kontakt mit der Praxis auf. Es gehe ihm nur allgemein um Erziehungsfragen, schildert er den Grund seiner Anmeldung. Eine typische Anmeldung eines Vaters, distanziert und sachlich, die emotionale Betroffenheit bleibt zunächst im Hintergrund. Im Verlaufe des Erstgespräches wird seine Problematik deutlich. Herr W., ein äußerst erfolgreicher Wirtschaftsingenieur hat aus Rücksicht auf seine Frau, Juristin, die Möglichkeit eines Erziehungsurlaubs gewählt. Seine Frau musste in ihrer Kanzlei recht schnell wieder beruflich tätig werden, insofern blieb dem Paar keine andere Möglichkeit zur Erziehung der drei Kinder im Alter von einem, drei und fünf Jahren. Herr W. stammt aus Norddeutschland, seine Familie bewirtschaftet seit Generationen ein landwirtschaftliches Gut. Er selbst habe es aus eigenen Kräften geschafft, eine akademische Karriere zu verfolgen. Ein gewisser Stolz ist bei ihm zu spüren. Er habe mit seiner Frau gemeinsam entschieden, dass er in den Erziehungsurlaub gehe. Bis zu diesem Punkt ein Verlauf, der der heutigen Entscheidungsvielfalt familiärer Entwicklung entspricht.

Weshalb denn nun die Anmeldung?

Herr W. berichtet von seinem persönlichen Scheitern als Vater. Er und seine Frau haben sich ihre drei Kinder gewünscht und sind auf das Land gezogen, da die Familie sehr naturverbunden ist. Er jedoch habe nach einem Jahr Erziehungsurlaub aufgegeben, da er sich völlig am Ende fühlte und die väterliche Beziehung zu seinen Kindern seiner Ansicht nach verloren habe. Er hatte das Gefühl, dass seine Frau alles besser mache und wesentlich emotionalere Beziehungen zu den Kindern herstellen könne. Es sei sehr schlimm für ihn gewesen, dass seine Kinder oftmals äußerten, er solle wieder gehen. Seine Frau habe dann ihre berufliche Tätigkeit unterbrochen und habe sich der Erziehung der Kinder gewidmet. Er habe eine Anstellung in der Forschung gefunden, fühle sich aber insgesamt sehr unzufrieden. Er komme damit nicht klar, dass seine Vorstellung von sich als Vater und seiner jetzigen Familie gescheitert sei. Er denke über seine Herkunftsgeschichte nach, die ihn in seinem Vatersein gehemmt habe. Vorsichtig, fast schuldhaft, schildert er, dass er in seinem damaligen Beruf sehr zufrieden gewesen sei und eigentlich seine berufliche Karriere zugunsten seiner Frau und seiner Kinder aufgeben musste. Seine Kränkung ist spürbar. Auch den Mehrverdienst seiner Frau empfinde er für sich als persönliche Demütigung. Er erlebe sich in seiner männlich/väterlichen Entwicklung als ungenügend und gescheitert.

Meiner Meinung nach belegt diese Fallvignette die Schwierigkeiten, traditionelle Rollen auszutauschen. Die eigene Herkunftsgeschichte ist entscheidend an der Flexibilität der familiären Rollenzuordnung beteiligt. Herr W. konkurriert als Vater mit der Mutterrolle seiner Frau und erlebt sich in der Beziehung zu seinen Kindern als defizitär. Die Reaktionen seiner Kinder werden von ihm als Zurückweisung der väterlichen Rolle interpretiert. Zudem scheint er mit seinen Erwartungen vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und der aktuellen Familiensituation in einen Konflikt zu geraten. Auch er, wie viele andere Väter, kritisiert fehlende gesellschaftliche Vorgaben für diese veränderten Rollenzuschreibungen. Die frühen Lebensbedingungen der Kinder bzw. deren Versorgung ist nach wie vor mütterlich/weiblichen Attributen zugeordnet, Männer in der Erziehung sind trotz aller reformerischen Entwicklungen eine noch seltene Erscheinung. Es gibt kaum männliche Identifikationsmöglichkeiten extrafamiliär, zumindest bis zum Grundschulalter. Männer bzw. Väter empfinden sich hier oftmals als gesellschaftlich geächtet. Auch fehlt ein gesellschaftlicher Diskurs, um solche Veränderungsprozesse auf eine gesicherte Basis zu stellen und umzusetzen. Die Symptome solch spannungsreicher Beziehungskonstellationen sind im familientherapeutischen Arbeiten deutlich spürbar.

Vor dem Hintergrund einer nach wie vor kontrovers geführten öffentlichen Debatte bestehender gesellschaftlicher Unterschiede zwischen Mann und Frau ist der Diskurs einer fördernden Verknüpfung zwischen traditioneller Rollenzuweisung und notwendiger Veränderung erschwert.

Die Notwendigkeit der Generationenschranke versus die Tendenz, gleichberechtigte und partnerschaftliche Beziehungsstrukturen zwischen Kindern und Eltern zu etablieren

Älterwerden, Grenzen setzen und ähnliche Phänomene sind heutzutage scheinbar Prozesse, die mit zunehmenden Kränkungen verbunden sind. Eltern besetzen Bereiche, die eigentlich den Jugendlichen vorbehalten sind und orientieren sich am Ideal der ewigen Jugend.

»Wir haben keine Geheimnisse voreinander…«

»Wir müssen die Badezimmertür nicht abschließen…«

»Wir sind nicht prüde…«

Diese und andere Aussagen sind heute oft anzutreffende Konzepte von Familien, die in die Therapie kommen. Zum Beispiel die sexuelle Entwicklung der heranwachsenden Kinder, einhergehend mit dem Rückzug und einer klaren Generationenschranke, ist für die betroffenen Eltern eine schwierige Thematik. Diffuse Grenzen, Gleichberechtigung, Liberalisierung und sexuelle Freizügigkeit erschweren zunehmend eine klare Positionierung innerhalb der Familie. Die Unterschiedlichkeit der Generationen und damit die Besetzung und Abgrenzung eigener Räume wird erschwert.

Familie J. ist in einem psychotherapeutischen Behandlungsprozess aufgrund der seit vielen Jahren anhaltenden Eheschwierigkeiten und der massiven Ängste der zwölfjährigen Paulina. Paulina und ihre Mutter sind ein eingeschworenes Team, der Dritte kommt schnell in die Rolle des Störenfrieds bzw. des Fremden. Ich möchte hier nicht weiter auf die Triangulierungsstörungen eingehen, sondern das Generationenkonzept dieser Familie schildern. Die Mutter avanciert zur besten Freundin bzw. Therapeutin der Tochter, Grenzen zwischen Tochter und Mutter sind nicht mehr spürbar. Zeitweise füllt Paulina den defizitären Bereich bei der Mutter aus, wird unbewusst zur Partnerin. So diskutiert die Mutter offen über die körperlichen Veränderungen ihrer Tochter, Geheimnisse gebe es kaum. Beide verbünden sich gegen den Vater, der der Fremdling in der Familie ist. Paulina schläft seit vielen Jahren regelmäßig bei der Mutter, der Vater hat sich in ein eigenes Zimmer zurückgezogen. Paulinas Mutter ist stolz auf ihre Gemeinsamkeit als jung wirkende Mutter, die ähnliche Interessen wie ihre Tochter habe. So gehen sie gemeinsam ins Fitnesscenter und schauen gemeinsam Kinofilme an. Paulina selbst ist vordergründig stolz auf die jugendlichen Interessen ihrer Mutter, vermisst aber grundsätzlich elterlichen Halt und Orientierung. Der Leser kann sich sicher vorstellen, wie störend der therapeutische Prozess zunächst auf die Binnenstruktur der Familie wirkt. Die Veränderung zu klaren familiären Positionen löst bei allen Beteiligten große Ängste aus.

Aus Sicht der Familiendynamik erscheint es zwingend notwendig, die unterschiedlichen Sichtweisen der Generationen zu betonen und voneinander abzugrenzen. Gesellschaftliche Leitbilder der ewigen Jugend bestimmen zunehmend das Familienkonzept, das sich in der postmodernen Gesellschaft wesentlich verändert hat. Die Verantwortung der älteren Generation, der jüngeren Generation den Einstieg in die Kultur zu ermöglichen, gerät zunehmend gegenüber dem gesellschaftlichen Ideal der Gleichsetzung, des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern, in den Hintergrund. Die Etablierung der Generationenschranken, der unterschiedlichen Sichtweisen und des Diskurses zwischen den Generationen ist ein steter und existenzieller Prozess jeglicher Familiendynamik und in der Folge auch ein Grundelement familientherapeutischen Arbeitens.

Die Trennungsthematik der Familie versus die Tendenz diffuser Bindungen, die eine Trennung erschweren bzw. nicht ermöglichen, z. B. die Loslösung von Adoleszenten (vgl. Stierlin, 1978)

Familien zeigen heutzutage zunehmend ein kompliziertes Geflecht gegenseitiger Bindungen. Die Loslösung einzelner Familienmitglieder verläuft zunehmend konflikthaft, ist teilweise problematischen Interaktionen unterworfen. Beispielsweise die wichtige Bedeutung der Peergroup, die eine Trennung zwischen Jugendlichen und Eltern ermöglicht, gerät aufgrund der wachsenden Bedeutung der sozialen Medien in den Hintergrund. Zunehmend gestaltet sich die Beziehung zur Gleichaltrigengruppe vorwiegend medial, ohne persönlichen Kontakt. In den psychotherapeutischen Praxen sind die aktuellen Interaktionsformen der Jugendlichen, aber auch ihrer Eltern, via Facebook, Whats App und anderer sozialer Medien obligatorisch. Der intime Raum der persönlichen Begegnung weicht der Veröffentlichung subjektiver Erlebensinhalte und die Möglichkeiten korrespondierender lebendiger (Live-)Begegnungen verlieren scheinbar an Attraktivität. Zudem verschwinden gesellschaftliche Vorgaben, um Jugendliche bei der Etablierung eigener Lebenskonzepte zu unterstützen.

Familie S. meldet sich zur Familientherapie an. Anmeldegrund sind unerträgliche Dissonanzen zwischen den Eltern und ihrem Sohn, dem 18-jährigen Andreas. Nach Ansicht der Eltern nistet sich Andreas zu Hause ein, ohne seinen Verpflichtungen der Familie gegenüber nachzukommen. Dies hört sich zunächst wie in unzähligen anderen Familien an. Andreas scheint jedoch sehr konflikthafte Bindungen zu seinen Eltern aufgebaut zu haben. Er hatte und hat wenige soziale Kontakte, seiner eigenen Ansicht nach war er immer sehr stark an seine Eltern gebunden. Seine Eltern haben ihn sehr behütet, mittlerweile habe er massive Aggressionen auf diese. Beide Eltern meinen, entscheidende Fehler in der Erziehung von Andreas gemacht zu haben. Andreas Mutter verbindet mit Trennungen massive eigene Ängste, ihre Eltern waren getrennt. Sie hat seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater. Andreas Vater habe große Probleme mit seinen Eltern, es bestehe seit einigen Jahren ebenfalls kein Kontakt mehr. Andreas Eltern hatten den Wunsch nach sehr engen Bindungen innerhalb ihrer Familie. Sie konnten auf das normale Bedürfnis ihres Sohnes, sich zu lösen, nicht entsprechend reagieren. Andreas versuchte, sich selbst zu bestätigen und eigene Wege zu gehen, die sich höchst gefährlich gestalteten und in der Regel scheiterten. Sexuelle Kontakte wurden ohne Grenze und Schutz gelebt, männliche Rituale wurden extrem ausgelebt und führten zeitweise zu lebensbedrohlichen Situationen. Andreas hat kein Konzept, einen eigenständigen Weg zu gehen und sich von seinen Eltern zu lösen. Er ist gefangen in einer Spirale von Schuld und Aggression und zieht sich weiter im elterlichen Hause zurück.

Das geschilderte Fallbeispiel macht nochmals deutlich, wie konträr die notwendigen Loslösungs- bzw. Trennungsprozesse innerhalb der Familie verlaufen können. Die Loyalität der einzelnen Familienmitglieder ist sehr stark an das jeweilige Familienkonzept, vor dem Hintergrund generationenübergreifender Transformationen, gebunden. Boszormenyi-Nagy (2001, S. 71) beschreibt die Dynamik entsprechender Beziehungen, die auf Loyalität innerhalb der Familie aufgebaut sind. Die Familie entwickelt eigene Regeln, die unausgesprochen sind und über Generationen hinweg transportiert werden. Jedes Familienmitglied muss sich mit diesen Regeln identifizieren. Das Beispiel von Andreas zeigt, wie hochambivalent die Beziehungsstrukturen innerhalb seiner Familie verlaufen. Er fühlt sich nach wie vor zur Treue verpflichtet, den Erwartungen seiner Eltern zu entsprechen. Loslösungsversuche scheitern, da sie sehr schnell von den Eltern als schuldhaft dem Familiensystem gegenüber bewertet werden. Die Herkunftsgeschichte beider Eltern setzt unbewusst Trennungs- und Verlustängste frei, die durch überzogene Bindungswünsche beantwortet werden. Andreas katapultiert sich für Momente aus dem familiären Beziehungsgeflecht, kann sich jedoch auf Dauer nicht dem Sog der familiären Bindungswünsche entziehen. Die Aufgabe von Andreas Familie besteht darin, miteinander ein Beziehungssystem zu etablieren, in dem die Loyalitätsverpflichtungen ausgewogen sind und den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder entsprechen (ebd. S. 78).

Das traditionelle familiäre Dreieck versus veränderte Familienformen, z. B. Einelternfamilien, Regenbogenfamilien u. a.