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Bernd Ahrbeck

Der Umgang mit Behinderung

Besonderheit und Vielfalt, Gleichheit und Differenz

3., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

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3., aktualiserte Auflage 2017

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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-032906-5

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pdf:       ISBN 978-3-17-032907-2

epub:    ISBN 978-3-17-032908-9

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Inhaltsverzeichnis

 

  1. Vorwort
  2. 1 Personengruppen, Institutionen und fachliche Ordnung
  3. 2 Von der Integration zur Inklusion
  4. 3 Empirische Erkenntnisse
  5. 4 Inklusion – ein schillernder Begriff
  6. 5 »Es ist normal, anders zu sein« – Ist es normal, anders zu sein?
  7. 6 Dekategorisierung oder sonderpädagogischer Förderbedarf?
  8. 7 Der Ressourcen-Ansatz: Stärken, nichts als Stärken
  9. 8 Grenzen des Möglichen und goldene Fantasie
  10. 9 Abschließende Überlegungen
  11. Literatur

 

Vorwort

 

 

Dieses Buch beschäftigt sich mit dem pädagogischen, vornehmlich schulischen Umgang mit Menschen, die eine Behinderung aufweisen. Bereits diese Formulierung ist nicht ganz unproblematisch: Der Behinderungsbegriff, auf dem eine spezielle pädagogische Förderung basiert, umfasst sehr unterschiedliche Beeinträchtigungen, die sich zumindest auf den ersten Blick nicht zwanglos unter diese Kategorie subsumieren lassen. Körperliche und geistige Behinderungen, Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit, Blindheit und Sehbehinderung stehen neben sprachlichen Behinderungen, solchen des Lernens und Störungen, die im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung anzusiedeln sind. Mit dieser Aufzählung deutet sich an, wie sehr die damit verbundenen Problemlagen variieren. Sie können an modifizierbare oder unveränderliche organische Bedingungen gebunden sein, vom gelungenen oder misslungenen Einsatz technischer Hilfsmittel abhängen und entscheidend durch äußere Barrieren beeinflusst werden. Bei anderen Betroffenen spielen diese Faktoren keine oder nur eine geringe Rolle. Ihre Beeinträchtigungen spiegeln im weiteren Sinne ein soziales Schicksal wieder, zum Beispiel als Folge eines geringen soziokulturellen Anregungsmilieus wie bei den meisten lernbehinderten und vielen sprachbehinderten Kindern. Schüler mit Verhaltensstörungen bilden eine davon abzugrenzende Gruppe: Im Mittelpunkt ihrer Beeinträchtigung steht sehr häufig eine ungelöste innere Konflikthaftigkeit, aus der ein problematisches Verhalten resultiert. Oft sind auch sie besonderen sozialen Belastungen ausgesetzt. Insofern ist der gängige sozialrechtlich gefasste Behinderungsbegriff weit gespannt, er umfasst auch Phänomene wie seelische und chronische körperliche Erkrankungen. Letztlich handelt es sich um einen »gesetzes- und verwaltungstechnische[n] Begriff«, der »verteilungspolitischen Zwecken dient« (Bleidick 2006, 80).

Wie sich Behinderungen in der Lebensspanne entwickeln, hängt unter anderem von der sozialen Einbettung dieser Personengruppe ab. Vor allem sozial und psychologisch geprägte Beeinträchtigungen können endgültig überwunden werden. Viele organisch bedingte Behinderungen führen bei entsprechender Förderung zu relativ geringen Einschränkungen im weiteren Leben, sofern die benötigte Assistenz verfügbar ist und ein wirkungsvolles Eingliederungsbemühen besteht. Andere Gruppen behinderter Menschen sind ihr Leben lang in einem starken Maß auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, ein selbständiges Leben können sie nur begrenzt führen.

Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von sozialer Teilhabe und Partizipation ist deshalb von großer Bedeutung – im vorschulischen ebenso wie im schulischen und nachschulischen Bereich. Menschen mit einer Behinderung sollen so wenig wie möglich in eine soziale Randposition gebracht werden, die sie beeinträchtigt und schädigt. Darin besteht Einigkeit. Sehr unterschiedliche Auffassungen existieren allerdings darüber, wann und unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Den Hintergrund dafür bildet ein erheblicher Spannungsbogen, der keine einfachen Lösungen zulässt. Auf der einen Seite steht das Gleichheitsprinzip, das sich auch auf Kinder mit Behinderungen erstreckt, auf der anderen Seite das Faktum ihrer Besonderheit.

Mit der (schulischen) Inklusion ist eine neue Leitidee entstanden, die den öffentlichen wie fachlichen Diskurs seit längerem dominiert. Sie beruft sich unter anderem auf internationale Deklarationen wie die »UN-Behindertenrechtskonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (2006), die weltweite Geltung beanspruchen. Was unter Inklusion verstanden werden soll, ist allerdings fachlich weitgehend ungeklärt, zumal sich dieser Begriff in der Behindertenrechtskonvention nur selten findet. Eine allgemein anerkannte Definition fehlt bis heute.

Gleichwohl erfährt dieser Begriff eine bestimmte öffentlichkeitswirksame Auslegung, die selbstgewiss vorgetragen wird und den Anschein erweckt, als sei sie alternativlos, weil sie von vermeintlich unumstößlichen Erkenntnissen und zwingenden gesellschaftlichen Notwendigkeiten ausgeht. Inklusion bedeutet demnach schulisch, dass eine Gemeinsamkeit aller Schülerinnen und Schüler entstehen muss, die niemanden ausschließt und auf institutionelle Differenzierungen soweit irgend möglich verzichtet. Der soziale Ort wird dadurch zu einem entscheidenden Thema, so dass Behinderung in einem veränderten Licht erscheint. Sie gilt nur noch als eine Form der Besonderheit, die im Rahmen einer fast unendlichen Vielfalt des Menschlichen auftritt. Beispiele dafür sind das Geschlecht, die ethnische und soziale Herkunft, Armut oder Reichtum, religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Neigungen, Körpergewicht. Menschen mit Behinderung verlieren dadurch an gezielter Aufmerksamkeit, Behinderung wird unbedeutender und nebensächlicher.

Damit wird eine Setzung vorgenommen, die sich häufig auf die Menschenrechte beruft (»Inklusion als Menschenrecht«), durchaus mit dem Ziel, sich dadurch unangreifbar zu machen. So, als beinhalte sie etwas vollkommen Selbstverständliches, das gestützt auf die UN-Behindertenrechtskonvention nicht mehr hinterfragt werden darf. Und in der Tat: Diese Sichtweise wirkt bis weit in das akademische Milieu hinein, auch in die Allgemeine Pädagogik und die Sonderpädagogik. Letztlich wird auch dort angenommen, sie beschreibe ein erfüllbares Ideal und biete eine realistische Perspektive, wie Inklusion umgesetzt werden kann.

Eine kritische Reflexion darüber erfolgt sehr viel seltener, als es wünschenswert wäre. Die Folge davon ist, dass die Gefahren, die mit dieser Entwicklung einhergehen, nicht deutlich genug hervortreten. Sie sind ganz beträchtlich: Der Blick auf Kinder und Jugendliche, die eine Behinderung haben, wird nämlich in einseitiger Weise eingeschränkt, man könnte auch sagen halbiert. Er richtet sich vor allem auf die Außenwelt, eine behindernde Umwelt, die in vielen Lebensbereichen zweifelsfrei existiert. Mit der weitgehenden Fixierung auf die soziale Situation gerät aber die Person selbst in den Hintergrund. Ihre inneren Schwierigkeiten, höchst persönlichen Konflikte und Lebenseinschränkungen werden zu einem Randthema. Vor allem tritt sie in ihrem Eigenwillen zurück, in ihrer Sperrigkeit, in jenen Formen der Besonderheit, die eine tiefgehende, über das Alltägliche hinausgehende Auseinandersetzung erfordern. Der allfällige und gut gemeinte Verweis auf die Normalität des Andersseins greift dabei ebenso zu kurz wie die Forderung nach Anerkennung von Vielfalt. Unter dem Rubrum »Es ist normal, anders zu sein« plädieren radikale Vertreter des Inklusionsbegehrens für eine Auflösung klassischer Behinderungskategorien. Mit der Begründung, diese Begriffe seien auf unerträgliche Weise etikettierend und diskriminierend, ihr Gebrauch führe eindeutig und ausschließlich zu schädigenden Folgen. Dieses Argument erstreckt sich auch auf andere, weniger grob gefasste, feiner verästelte Kategorien, die sich fachspezifisch mit persönlichen Besonderheiten beschäftigen. Stattdessen sollen Problemlagen gelöst werden, die sich nicht mehr primär am Individuum festmachen. Systemische Fragen geraten somit in den Mittelpunkt des Interesses.

Die Anerkennung von Anderssein und die Akzeptanz von Vielfalt werden allerdings dann zu einem schalen Unternehmen, wenn nicht mehr benannt werden darf, worum es dabei eigentlich geht. Wenn also dem, was anerkannt und akzeptiert werden soll, zuvor der begriffliche Boden entzogen wurde. Wie soll man in der pädagogischen Arbeit Menschen mit Behinderungen anerkennen, die primär auf ihre soziale Stellung und ihre gesellschaftliche Position reduziert werden? Wie soll man ihnen achtend begegnen, wenn sie nur noch als ein diffuser Teil einer Vielfalt in Erscheinung treten? Wenn bereits das Beschreiben von Unterschieden als ein abwertender Akt gilt, in Unkenntnis der doppelten Bedeutung des Begriffs der Diskriminierung?

Anerkennen kann man nur das, was man zur Kenntnis nehmen darf, was keinem Benennungsverbot unterliegt. Schwieriges anzunehmen ist nur dann möglich, wenn man um das Schwierige weiß. Dazu gehört ein geschulter Blick auf die schulische und außerschulische Lebenssituation der betroffenen Kinder und gleichermaßen die Achtung vor den schwerwiegenden Lebenseinschränkungen, vor der Last und dem Leid, die mit Behinderungen verbunden sein können. Es bedarf einer Hinwendung zur Person in ihrer lebensgeschichtlichen Einmaligkeit, unter Achtung ihrer speziellen inneren Situation und möglicher ungelöster innerer Verstrickungen. Vor allem ist die Einsicht vonnöten, dass hier komplexe, oft in sich widersprüchliche Problemfelder vorliegen, die einer kenntnisreichen, oft fachlich hoch elaborierten Antwort bedürfen.

Ein fachspezifisches Beispiel mag dies verdeutlichen. Zu den schwierigsten pädagogischen Aufgaben, an denen Lehrerinnen und Lehrer häufig scheitern, oftmals wohl auch scheitern müssen, gehört der Umgang mit massiv verhaltensgestörten Schülerinnen und Schülern. Zumal dann, wenn sie in ihrer persönlichen Entwicklung stark beeinträchtigt sind und eine aufgeheizte aggressive Problematik im Vordergrund steht, die sich vornehmlich nach außen, mitunter aber auch gegen die eigene Person richtet. Die dahinter stehenden Beweggründe sind oft schwer nachvollziehbar. Sie weisen weit über ihr soziales Schicksal hinaus und erfordern eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Innenleben dieser Personengruppe. Mit ihren inneren Konflikten, verinnerlichten Bindungserfahrungen und möglichen Traumatisierungen, mit der daraus resultierenden Beziehungsdynamik und ihren interpersonellen Folgen. Erst dadurch kann in der Beziehung mit dem Kind gearbeitet und zielgerichtet pädagogisch gehandelt werden.

Ohne intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik und den Rückgriff auf einen anspruchsvollen Theoriekorpus wird dies nicht gelingen. Und auch nicht, ohne dass über unzureichende persönliche Kräfte, erschöpfte Selbsthilfemöglichkeiten und bestehende Defizite, manchmal auch krankhafte Lebenseinschränkungen gesprochen wird. Eine unbestimmt bleibende Anerkennung der Person, die von ihren oft tragischen Verstrickungen nichts weiß, ist dabei wenig hilfreich. Ebenso wie ein abstraktes Normalitätstheorem und eine Dekategorisierung, die den Betrachter begriffs- und fassungslos vor diesen Phänomenen stehen lassen. Ein unspezifischer, allenfalls mit einer alltagspsychologischen Begrifflichkeit untersetzter Zugang kann einer übertriebenen Angst von Etikettierung und Diskriminierung Rechnung tragen; hilfreich für die betroffenen Kinder ist er nicht – auch wenn er sich seiner weltanschaulichen Korrektheit rühmen mag.

Das gilt gleichermaßen für Kinder, deren Behinderungen in anderen sonderpädagogischen Fachdisziplinen aufgehoben sind. Auch ihre Lebens- und Lernsituation zeichnet sich, bei sehr unterschiedlich gelagerten Fragestellungen und Problematiken, durch eine anspruchsvolle Komplexität aus, die keine schlichten Vereinfachungen erlaubt.

»Von den Stärken der Kinder ausgehen«, so lautet eine gängige Losung, die in der Wertehierarchie der Sonderpädagogik seit längerem einen hohen Rang einnimmt. Der Ressourcen-Ansatz ist das entsprechende wissenschaftliche Referenzsystem dazu, das im Inklusionsdiskurs freudig aufgenommen wird. Er soll zu einem grundlegenden pädagogischen Wandel führen und garantieren, dass Kinder mit Behinderungen und ihr soziales Umfeld auf eine neue Art und Weise wahrgenommen werden. Nicht mehr Schwächen und Defizite sind demnach von pädagogischem Interesse, sondern das, was die Beteiligten bereits können, ihre versteckten Potenziale und verborgenen Kräfte, kurz: ihre Ressourcen. Dem wird die »Defizitorientierung« der bisherigen Sonderpädagogik gegenübergestellt: Sie habe sich, so lautet der Vorwurf, überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich mit dem Unzureichenden und Nichtvorhandenen beschäftigt. Sie gelte es nunmehr endgültig zu überwinden – gestützt auf die feste Überzeugung, Kinder mit Behinderungen könnten dadurch vor Vorurteilen und negativen fachlichen Bewertungen geschützt werden. Der Blick auf die Ressourcen genießt eine so hohe Priorität, dass er häufig zur einzig legitimen Wahrnehmungshaltung erklärt wird. Von individuellen Schwächen, unzureichenden Potenzialen und vorhandenen Defiziten darf deshalb kaum noch gesprochen werden, fast so, als existierten sie nicht mehr. Hilfsbedürftigkeit und Ohnmacht, Angewiesensein und Leid werden in der Folge zu Themen, die an den Rand des fachlichen Diskurses geraten.

Damit liegt eine einseitige, mitunter sogar fast spaltend anmutende fachliche Ausrichtung vor, die zu einer unschönen Simplifizierung pädagogischer Sachverhalte führt. Sie trivialisiert die inneren Lern- und Entwicklungsbedingungen von Kindern ebenso wie die ihres schulischen und außerschulischen Umfeldes. Die pädagogische Beziehung reduziert sich nur noch auf eine Dimension, die durch die Auseinandersetzung mit vorhandenen Stärken und leicht weckbaren Potenzialen geprägt ist. Die Überforderungen, die sich daraus für beide Seiten ergeben, sind ebenso absehbar wie unvermeidlich, und auch, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit dadurch zu verarmen droht. Eine kritische Auseinandersetzung darüber ist bisher nur selten erfolgt.

Eine Reflektion über das Verhältnis von Besonderheit und Gleichheit, Vielfalt und Differenz kann nicht nur anhand leitender Begrifflichkeiten geführt werden. Sie bedarf auch einer Betrachtung der Gegebenheiten vor Ort. In diesem Sinne wird zunächst über schulisch relevante Behinderungsformen berichtet, eine Bestandsaufnahme der institutionellen Rahmenbedingungen der pädagogischen Arbeit vorgenommen und Veränderungen im Versorgungssystem skizziert. Eine Analyse ausgewählter empirischer Untersuchungen zur Integration und Inklusion schließt sich an. Sie ergibt, bei teils widersprüchlicher Ergebnislage, ein sehr differenziertes Bild. Mit unterschiedlichen Beschulungsformen sind, wie gezeigt wird, jeweils spezifische Vor- und Nachteile verbunden. Ein durchgängiger Vorteil eines einzigen Systems für alle Schülergruppen lässt sich nicht verzeichnen, auch wenn dies kontrafaktisch bildungspolitisch gern behauptet wird. Es wird deshalb auch nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention dafür plädiert, institutionelle Fragen in erster Linie unter pädagogischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Dazu bedarf es eines differenzierten Systems, das unterschiedliche pädagogische Settings zulässt und fördert. Dass eine gemeinsame Beschulung immer dann bevorzugt werden sollte, wenn sie der Entwicklung des Kindes faktisch dienlich ist, steht dabei außer Frage. Die entscheidende Größe ist jedoch die Qualität der pädagogischen Arbeit vor Ort: Sie wird zurzeit durch politisch wie fachlich bedenkliche Entwicklungen ernsthaft gefährdet. Und auch durch eine ideologisch geprägte, moralisch überhöhte Ansprüchlichkeit, die a priori zu wissen glaubt, was für jedes einzelne Kind gut ist.

Die hier aufgeworfenen Themen bedürfen einer weiterführenden Auseinandersetzung, die im Folgenden anhand einiger besonders prononcierter Beiträge zur Integrations- und vor allem Inklusionsdebatte geführt wird. Die vorgestellten, manchmal ein wenig extrem anmutenden Positionierungen und Desiderate ermöglichen es, bedenkliche Entwicklungen herauszustellen, die sich als überaus wirkungsmächtig erweisen. Um die ihnen innewohnenden Gefahren klar zu benennen, bedienen sich die vorliegenden Ausführungen einer deutlichen Sprache. Sie spitzen ihrerseits zu, sind jedoch gleichermaßen von der Absicht getragen, eine integrierende Mitte im fachlichen Dialog dort wiederherzustellen, wo sie verloren zu gehen droht.

 

 

 

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Personengruppen, Institutionen und fachliche Ordnung

 

Menschen mit Behinderungen hat es immer gegeben, in Ausformungen, die uns bis heute bekannt sind – etwa Blindheit, Gehörlosigkeit, körperliche oder geistige Behinderung. Aber erst mit der Aufklärung entstand das Bemühen um eine pädagogische Förderung, mit recht unterschiedlichen Entwicklungslinien, abhängig von der Art der Behinderung. Bereits im 18. Jahrhundert finden sich Schulklassen für Taubstumme und Blinde, Ende des 19. Jahrhunderts dann auch solche für körperbehinderte und lernbehinderte Kinder, gefolgt von einer breiten institutionellen Differenzierung in den letzten 100 Jahren mit Schulen für sprachbehinderte, sehbehinderte, schwerhörige und verhaltensgestörte Kinder. Die schulisch am längsten vernachlässigte Gruppe bilden Kinder mit einer geistigen Behinderung, die in den alten Bundesländern erst seit den 1970er Jahren flächendeckend beschult wurden. Noch ein Jahrzehnt später erfolgte eine Beschulung von Kindern mit schwerer und mehrfacher Behinderung.

Diese Entwicklung korrespondiert mit einem wachsenden wissenschaftlichen Interesse an den genannten Personengruppen, vor dem Hintergrund einer disziplinären Ausdifferenzierung und der Zuordnung einzelner Behinderungen zu spezifischen Wissenschaftssystemen. In der Folge hat sich auch die sonderpädagogische Lehrerausbildung in einem hohen Ausmaß spezialisiert und professionalisiert. Fast alle Bundesländer bieten sonderpädagogische Studienstätten mit unterschiedlichen Fachrichtungskombinationen an, wobei nur ein geringer Teil der Ausbildungsorte über das gesamte Fächerspektrum verfügt. Nur wenige andere Nationen kennen eine derartige wissenschaftlich fundierte Differenzierung mit eigenständigen universitären Ausbildungsgängen und einer entsprechend hoch qualifizierten Ausbildung.

Ob sich dieses Niveau auch zukünftig bewahren lässt, ist allerdings nicht gesichert. Eine ernste Bedrohung entsteht dadurch, dass einzelne Bundesländer Fachrichtungen aufgeben oder sie zusammenlegen, damit ein breites Spektrum von Kindern bei gemeinsamer Beschulung sonderpädagogisch betreut werden kann. Das führt, wie später ausgeführt wird, zu einer inhaltlichen Verflachung und dazu, dass die Qualität der Arbeit vor Ort sinkt. Lehrinnen und Lehrer werden dadurch in systematischer Weise Belastungen ausgesetzt, die sie auch bei bestem Willen kaum noch bewältigen können (Ahrbeck & Fickler-Stang 2015; Dederich 2015; Willmann 2014b).

Hinzu kommt ein quantitatives Problem. Seit vielen Jahren reichen die vorhandenen sonderpädagogischen Kapazitäten nicht aus. Eine bemerkenswerte Anzahl von Lehrerstellen, die sich sonderpädagogischen Aufgaben widmen, ist nicht mit einschlägig qualifizierten Mitarbeitern besetzt. Die einzelnen Bundesländer variieren diesbezüglich erheblich.

Als sonderpädagogische Förderschwerpunkte hat die Kultusministerkonferenz (KMK 2016, 123 ff.) benannt:

•  Lern- und Leistungsverhalten, insbesondere des schulischen Lernens, des Umgehen-Könnens mit Beeinträchtigungen beim Lernen

          Kinder und Jugendliche, die besondere Schwierigkeiten im Lernen aufweisen, bedürfen einer speziell auf ihre Lernsituation abgestellte Vermittlung unterrichtlicher Inhalte. Wichtig ist dabei, dass ihnen anregende Erfahrungsräume zur Verfügung gestellt werden und sie auf ein ermutigendes Lernmilieu stoßen.

•  Sprache, des Sprechens, des kommunikativen Handelns, des Umgehen-Könnens mit sprachlichen Beeinträchtigungen

          Kinder, die in der Aneignung und Verwendung von Sprache beeinträchtigt sind, sollen in speziell ausgewählten Sprachlernsituationen gefördert werden. Frühzeitige Interventionen sind häufig notwendig, damit sichergestellt wird, dass der Schriftspracherwerb möglichst ungehindert erfolgt. Insbesondere ist dafür Sorge zu tragen, dass alltagstaugliche dialogische Kommunikationsräume entstehen, die subjektiv als sinnhaft erlebt werden.

•  Emotionale und soziale Entwicklung, des Erlebens und der Selbststeuerung, des Umgehen-Könnens mit Störungen des Erlebens und des Verhaltens

          Dieser Förderschwerpunkt konzentriert sich auf eine (Nach-)Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die in der Regel psychosozial schwer beeinträchtigt sind und erhebliche Verhaltensprobleme aufweisen. Sie bedürfen in einem besonderen Maße einer persönlichen Zuwendung und der intensiven Auseinandersetzung mit ihrer inneren Problematik. Häufig ist eine Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen wie der Jugendhilfe notwendig.

•  Geistige Entwicklung, des Umgehen-Könnens mit geistiger Behinderung

          Die Förderung dieser Personengruppe weist einen starken lebenspraktischen Bezug auf, mit dem Ziel, dass Fähigkeiten erworben werden, die ein möglichst eigenständiges Leben ermöglichen. Häufig ist eine über die Schulzeit hinausgehende lebenslange Betreuung und Unterstützung unerlässlich.

•  Körperliche und motorische Entwicklung, des Umgehen-Könnens mit erheblichen Beeinträchtigungen im Bereich der Bewegung und mit körperlicher Behinderung

          Die sonderpädagogische Förderung dient der Ausweitung von Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten zu einer möglichst selbständigen Lebensgestaltung unter Nutzung spezieller Hilfsmittel. Eine psychologische Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen ist in diesem Förderschwerpunkt von besonderer Bedeutung.

•  Sehen, der visuellen Wahrnehmung, des Umgehen-Könnens mit einer Sehschädigung

          Eine möglichst optimale Erschließung der Umwelt, die Erhöhung der Mobilität und die Bewältigung des Alltagslebens gehören zu den zentralen Zielen der sonderpädagogischen Förderung. Sie muss sich speziell auf die Gegebenheiten des Einzelfalles einstellen, die erheblich variieren können, zum Beispiel in Abhängigkeit vom Restsehvermögen. Auch nimmt die Behinderungsbewältigung einen großen Raum ein.

•  Hören, der auditiven Wahrnehmung und des Umgehen-Könnens mit einer Hörschädigung

          Diese sehr heterogene Gruppe soll kommunikativ darauf vorbereitet werden, dass sie an der Welt der Hörenden und ihren kulturellen Errungenschaften partizipieren kann. Neben der Beherrschung der Lautsprache spielt für eine Teilgruppe auch die Förderung gebärdensprachlicher Kommunikation eine wichtige Rolle. Sie kann für eine Identitätsbildung unerlässlich sein.

•  Langandauernder Erkrankung und beim Umgehen-Können mit einer lang anhaltenden Erkrankung

          Die Förderung findet im Einzel- oder Gruppenunterricht statt. Sie soll eine der Person angemessene Lernentwicklung sichern und Belastungen reduzieren, die sich aus der Krankheitssituation und der Einschränkung des Lebensfeldes ergeben.

•  Autismus

          Der Förderschwerpunkt Autismus, der erst seit 2014 aufgeführt wird, nimmt eine Sonderposition ein. Er unterscheidet sich von den anderen Schwerpunkten darin, dass er keiner speziellen Schulform zugeordnet wird. Unterschiedliche Orte kommen je nach den individuellen Gegebenheiten in Frage.

Bedacht werden muss dabei, dass nicht jede Behinderung zwangsläufig einen sonderpädagogischen Förderbedarf nach sich zieht. Viele Kinder mit Behinderungen bedürfen keiner speziellen schulischen Förderung. Ihre Probleme sind anders gelagert. Zum Teil erhalten sie außerhalb der Schule die Unterstützung, die sie benötigen, etwa in Form von Therapien, fachärztlichen oder sozialpädagogischen Hilfen. Teilweise sind sie auch darauf nicht oder nur marginal angewiesen.

Hinsichtlich der Zahl der Schüler, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugesprochen wird, ergibt sich folgende Verteilung: Die weitaus größte Gruppe bilden Kinder mit Beeinträchtigungen des Lernens (37,7%), gefolgt von den Förderschwerpunkten »Geistige Entwicklung« (16,1%), »Emotionale und soziale Entwicklung« (16,1%) und »Sprache« (10,8%). Um kleinere Populationen handelt es sich bei den Schwerpunkten »Körperliche und motorische Entwicklung« (7,0%), »Hören« (3,6%), Sehen (1,6%) sowie »Kranke Kinder« (2,2%). Die übergreifende Kategorie LES (Lernen, emotional-soziale Entwicklung; Sprache) kommt mit 2,2% hinzu. Sie wurde im Jahr 2013 von der Kommission für Statistik der Kultusministerkonferenz eingeführt. Ohne Zuordnung zu den genannten Förderschwerpunkten bleiben 2,7% der Kinder mit Förderbedarf.

Gegenüber 2005 hat sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen bis 2014 (letzter Erhebungstand) deutlich reduziert (48,1% vs. 37,7%), im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung ist er stark angestiegen, von 9,5% auf 16,11% (KMK 2016, 3). Damit setzt sich ein langanhaltender Trend fort: Im Jahr 1991 erhielten noch 57,3% der Kinder den Förderbedarf Lernen, im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung waren es nur 5,2  % (KMK 2002, 3). Hier ist also die höchste Steigerungsrate zu verzeichnen, mehr als eine Verdreifachung im Zeitraum von 23 Jahren. In allen anderen Bereichen halten sich die Verschiebungen in einem moderaten Rahmen.

Die relative Anzahl der im schulischen Rahmen als besonders förderbedürftig geltenden Kinder hat im Laufe der Zeit kontinuierlich zugenommen. Im Jahr 2000 betrug sie noch 5,3%, gegenwärtig liegt sie bei 7% aller Schülerinnen und Schüler (KMK 2002, VII bzw. 2016, XIV).1

Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland damit eine mittlere Position ein. Länder wie Island (24,3%), Schottland (14,9%), Litauen (11,9%) und die Slowakei (10,4%) führen die Reihung an. In Schweden (1,4%), Luxemburg (1,5%), Spanien (2,4%) und Italien (2,6%) sind die Förderquoten besonders gering (EADSNE 2012, 7–77). Ob dem jeweils gleiche Bewertungsmaßstäbe zugrunde liegen, darf bezweifelt werden; ebenso wie bei den Integrations- beziehungsweise Inklusionsquoten der einzelnen Länder.

Gegenwärtig besuchen in Deutschland 65,9% der Kinder mit Behinderungen eine Sonderschule, das sind 4,6% aller Schüler (KMK 2016, 5). Nach den letzten Daten der European Agency for Development in Special Needs Education (2012) weist nur Belgien im flämischen und französisch sprachigen Landesteil höhere Quoten auf (5,5%/4,8%), die Slowakei (3,8%) und Lettland (3,7%) verfügen ebenfalls über viele spezielle Einrichtungen (EADSNE 2012, 7–77). In den meisten europäischen Ländern liegen die Sonderschulbesuchsquoten deutlich niedriger, zum Teil unter einem Prozent. Dafür werden Schüler mit Behinderung dort in großer Zahl »in Sonderklassen oder speziellen Lerngruppen an allgemeinen Schulen« (Speck 2006, 41) untergebracht. In Finnland sind es zum Beispiel 2,7% aller Schülerinnen und Schüler neben den 1,1% Sonderbeschulten, in Dänemark 3%, die zu den 1,9% Schülern hinzukommen, die auf eine spezielle Schule gehen.

Das heißt also mitnichten, dass diese und andere europäische Länder auf besondere Beschulungsformen verzichten. Eine vollständig inklusive Beschulung existiert nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2011) bisher in keinem Land der Welt, übrigens auch nicht in Italien, obgleich dies häufig behauptet wird (Anastasiou u. a. 2015). In einigen Ländern mit langer Integrationserfahrung wird wieder verstärkt auf spezielle Beschulungsformen zurückgegriffen, zum Beispiel in Norwegen (Kokkersvold 2012; Ogden 2012) oder Schweden (Barow 2011). Einiges spricht dafür, dass sich eine vollständige Inklusion, eine ›full inclusion‹, wie es im angloamerikanischen Sprachraum heißt, nur unter ganz erheblichen Schwierigkeiten realisieren lässt oder flächendeckend sogar gänzlich unmöglich ist (vgl. Warnock 2005).

Gleichwohl sind die Differenzen, die sich in den Sonderbeschulungsquoten zeigen, erheblich. Dazu tragen unterschiedliche Bildungshistorien und regionale Besonderheiten bei und zudem, dass nicht durchgängig von gleichen Begrifflichkeiten (»Was ist Behinderung?«, »Was ist Integration/Inklusion?«) ausgegangen wird. So ist zum Beispiel der amerikanische Blindheitsbegriff sehr viel weiter gefasst als der deutsche. Und das Integrationskriterium für Schüler mit emotional-sozialem Förderbedarf gilt anderswo bereits dann als erfüllt, wenn die Kinder einen gemeinsamen Schulkomplex besuchen (Willmann 2011).