ROSS MACKENZIE

Aus dem Englischen von Anne Brauner

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Widmung

Prolog: Der Laden, der wie aus dem Nichts auftauchte

1. Eine Zufallsbekanntschaft

2. Der Stammkunde

3. Aus dem Hinterhalt

4. Das Ungeheuer

5. Hinter den Türen

6. Ein Handel mit Lucien Silver

7. Premierenabend

8. Ein neuer Plan

9. Das Buch der Wunder

10. Das Mädchen an der Tür

11. Der glühende Dolch

12. Spannungen

13. Die goldene Regel

14. Waffenruhe

15. Im Fantastischen Basar

16. Die Einladungen

17. Geister

18. Am Scheideweg

19. Vermisst

20. Blut und Schnee

21. Angst

22. Hände in der Dunkelheit

23. Etwas Neues

24. Gerettet

25. Das Nichts

26. Unerwarteter Besuch

27. Die Wahrheit

28. Wieder vereint

29. Gestohlen

30. Die Bibliothek der Seelen

31. Memorium

32. Mr. Silvers Geheimnis

33. Haarspalterei

34. Böses Blut

35. Die Herausforderung

36. Daniel gegen Vindictus

37. Blätter im Wind

Impressum

Leseprobe

Für Aileen, Selina und Mollie, meine Sunshine-Girls,

die jeden Tag heller erscheinen lassen.

Und für Lucy Nicholson.

Der Laden erschien wie aus dem Nichts zur Zeit der Dämmerung an einem kühlen Novembermorgen.

Die Nachricht verbreitete sich im Dorf wie ein Lauffeuer, und am Mittag brodelte es in der Gerüchteküche.

«Gestern lagen noch vier Geschäfte nebeneinander. Heute sind es fünf!»

«Hast du gehört? Der Laden liegt zwischen dem Metzger und dem Eisenhändler …»

«Das Mauerwerk ist schwarz wie die Nacht, aber im Licht glitzert es ganz komisch!»

Als es Abend geworden war, scharte sich eine neugierige Menge um das geheimnisvolle Gebäude. Die Wartenden drängelten, um besser sehen zu können, tauschten sonderbare und wundervolle Theorien über die Herkunft des Geschäftes aus und überlegten, was es dort wohl zu kaufen gäbe. Währenddessen versuchten sie, einen Blick durch die verdunkelten Fensterscheiben zu werfen.

Das Geschäft war tatsächlich aus pechschwarzen Steinen erbaut, die im Schein der Gaslaternen glänzten und funkelten. Ein goldenes Gitter, das so fein und verschlungen geschmiedet war, als hätte eine wundersame Spinne ihr Netz gewoben, versperrte den Zugang. Über den Fenstern stand in verschnörkelten Buchstaben geschrieben: 

Als sich am Eingang plötzlich etwas rührte, ging ein aufgeregtes Raunen durch die Menge. Dann wurde es wieder still, und diese Stille war so tief und schwer, dass sie wie Nebel in der Luft hing. Schwungvoll wurde die Ladentür geöffnet. Das feine goldene Gitter zerfiel zu Staub, der im Winde verwehte.

Auf einmal waberten hundert verschiedene Gerüche durch die Luft: Es duftete nach gerösteter Kokosnuss und Brot im Ofen; nach salziger Meeresbrise und frisch gefallenem Regen; nach Lagerfeuer und schmelzendem Eis.

Dann flatterte eine Taube aus dem dunklen Laden hoch in den Himmel; ihre weißen Flügel leuchteten vor dem schwarzen Hintergrund. Verzückt beobachteten die Zuschauer, wie die Taube immer höher stieg und in der Nacht verschwand. Alle holten scharf Luft, als der dunkle Himmel in Licht und Farbe explodierte, die sich zu einer Botschaft aus herrlichem Feuerwerk vereinten. In Funken und Blitzen stand geschrieben:

DAS WUNDERREICH VON NIRGENDWO IST NUN GEÖFFNET.

BRINGEN SIE FANTASIE MIT.

Die Nachricht blieb so lang am Himmel stehen, bis alle sie gelesen hatten. Dann fielen die Worte in einem goldenen Lichterregen hinunter, bis die Menschen fröhlich juchzend versuchten, die Funken aufzufangen.

Alle, die sich vor dem Wunderladen versammelt hatten, waren wie verzaubert, denn ein solches Schauspiel hatten sie noch nie erlebt. Im Gänsemarsch gingen sie zu dem Geschäft, berührten das glänzende schwarze Gestein und betrachteten staunend ihre Fingerspitzen. Dann traten sie ein, voller Neugier auf das, was sie erwartete.

Zwei Tage später, als der Laden bereits wieder verschwunden war, kam ein Fremder in die Stadt. Er war höflich und bezahlte für seine Unterkunft mit knisternden Geldscheinen. Doch er hatte etwas an sich – möglicherweise, weil er ungewöhnlich groß war, oder lag es doch an dem gierigen Blick seiner blauen Augen? –, das die Dorfbewohner in Unruhe versetzte.

Er fragte unermüdlich nach einem Geschäft aus schwarzem Mauerwerk.

Doch der hochgewachsene Fremde fand keinen einzigen Menschen, der sich an den Wunderladen erinnern konnte.

Am nächsten Tag war er ebenfalls verschwunden und jegliche Spur dieser ungewöhnlichen Ereignisse schwand aus der örtlichen Geschichte.

Diejenigen, die das Geschäft betreten hatten, konnten sich nicht im Mindesten daran erinnern, was sie drinnen gesehen hatten. Sie hatten sogar den Eintrittspreis vergessen – das winzige bisschen ihrer selbst, das sie für einen Blick auf die versteckten Wunder und Geheimnisse des Zauberladens bezahlt hatten.

Bringen Sie Fantasie mit, hatte der Schriftzug am Himmel verlangt.

Glasgow, Gegenwart

«Achtung! Lassen Sie mich durch!»

«Hey!»

«Pass doch auf, Junge!»

«Tschuldigung!»

Daniel Holmes raste durch die vielen Menschen, die an diesem Samstag in Glasgow einkaufen gingen. Er drängelte, schlängelte und boxte sich durch. Seine Lunge brannte und seine Beine taten weh, doch er blieb nicht stehen. Er musste weiterrennen, weil Spud Harper und seine Bande hinter ihm her waren. Und im Kinderheim wusste jeder, dass man nicht langsamer werden durfte, wenn Spud Harper es auf einen abgesehen hatte.

Daniel bog an einem Metzger links ab und wäre beinahe in einer blutroten Pfütze ausgerutscht. Alte Häuser mit Modegeschäften, Restaurants und Cafés säumten die schmale Straße. Von oben beobachteten aus Stein gehauene Engel und Wasserspeier das Geschehen.

Daniel sah sich hektisch um. Wo sollte er hin? Wie weit war es wohl bis zum Busbahnhof? Er stellte sich vor, wie er in einen Bus sprang, der ans Meer fuhr, von wo er auf einem Boot forttuckern und Glasgow und das St.-Catherine’s hinter sich lassen konnte. Hauptsache, er war irgendwo, wo es keinen Spud Harper gab.

«Jammerst du nicht nach deinem Vater?», schrie Spud hinter ihm in der Menge. «Letzte Nacht hast du im Schlaf wieder wie ein Baby geschrien. Alle haben dich gehört! ‹Daddy! Daddy! Du darfst nicht sterben, Daddy!› Ha ha! Keine Angst, Kleiner, wenn wir mit dir fertig sind, hast du endlich Grund zum Heulen!»

Spud und seine Bande waren größer als Daniel – sie waren auch schneller und stärker. Früher oder später würden sie ihn einholen. Er hetzte über die Straße in den nächstbesten Laden und knallte die Tür hinter sich zu. Keuchend hielt er sich die Seiten und beobachtete die Straße durch die verdunkelte Scheibe in der Tür, während er selbst von außen nicht zu sehen war. Als Spud und seine Leute vorbeirannten, riefen sie:

«Wo ist er hin? Wo ist der kleine Schisser?»

«Er muss hier irgendwo sein!»

Daniel ließ die Schultern sinken, schloss die Augen und holte tief Luft. Es roch nach einer Mischung aus Möbelpolitur, Staub und geschmolzener Schokolade. Erst als er die Augen wieder öffnete, merkte er, wo er gelandet war.

Der Laden war die reinste Wunderhöhle. Wohin er auch sah, am liebsten hätte er alles angefasst und mitgenommen. Im Schein eines prasselnden Feuers glänzten Gegenstände aus Gold, Silber und Kristallglas. Fein geschnitzte Standuhren und in Holz gefasste Spiegel standen und hingen in verschiedenen Größen und Ausführungen an den Wänden. In einem Aquarium flitzten winzige Fische wie Kupferstreifen durchs Wasser. Es gab Porzellanpuppen und Holzsoldaten, verrostete Schwerter und ausgestopfte Tiere, deckenhohe Bücherstapel und Edelsteine, die in ihrer Tiefe silbern erglühten. In einer Ecke thronte ein ausgestopfter Eisbär wie ein Wachtposten. Selbst die Staubkörner leuchteten in einem Streifen Sonnenlicht wie Sterne.

«Wie bist du hereingekommen? Wir haben geschlossen!»

Daniel zuckte zusammen. In der hintersten Ecke stand ein mächtiger Schreibtisch, dessen Füße zu Adlerklauen geschnitzt waren und an dem ein kleiner, gut aussehender Mann saß. Er trug einen verstaubten Anzug und die wild zerzausten braunen Locken fielen ihm in die Stirn. Seine Hand schwebte mit einem Füllfederhalter über einem zerlesenen alten Buch, und als er Daniel musterte, hatten seine Augen die Farbe von Gewitterwolken.

«Tut mir leid», sagte Daniel. «Ich wollte nicht stören. Aber ich bin auf der Flucht.» Das Buch auf dem Schreibtisch zog ihn magisch an, zumal es auf dem körnigen dunklen Holz bebte, als wäre etwas in den Seiten verborgen, das unbedingt hinauswollte.

Der Mann im Anzug runzelte die Stirn und sah von Daniel zu dem Buch und wieder zurück. Dann schlug er das Buch zu, legte es in eine Schublade, schloss sie ab und ging an Daniel vorbei zur Tür.

«Hier, siehst du?» Er zeigte auf das Schild an der Tür, auf dem GESCHLOSSEN stand. «Geschlossen.» Er drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür. «Ich hätte schwören können, dass ich abgeschlossen habe.» Er wandte sich wieder Daniel zu und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. «Wer verfolgt dich denn?»

«Große Jungs. Aus meinem Kinderheim.»

Der Mann zog die Augenbrauen hoch.

«Du bist Waise?»

Daniel nickte.

Das Feuer loderte knisternd auf.

«Was ist mit deinen Eltern passiert?», fragte der Mann.

Seltsam, dass ihn ein Fremder danach fragte, doch da er nicht wollte, dass der Mann ihn hinauswarf, antwortete Daniel.

«Mein Dad war Fischer. Ist auf See geblieben. Meine Mum hat ihn nur um wenige Jahre überlebt.»

Der Ladeninhaber schien mit der Antwort zufrieden.

«Und wieso sind die großen Jungs hinter dir her?», fragte er weiter. «Es muss doch einen Grund geben.»

Daniel verschränkte die Arme. «Die sind hart drauf, das ist der Grund. Spud und seine Leute meinen, dass sie im Heim das Sagen haben. Sie bestehlen die anderen Kinder – nehmen ihnen Dinge weg, die ihnen wichtig sind, Erinnerungen an ihre Eltern und so. Und keiner wehrt sich. Ich konnte es irgendwann nicht mehr ertragen und bin der Bande gefolgt. So habe ich herausgefunden, wo sie die Beute versteckten, und habe allen Kindern ihre Sachen zurückgegeben. Dann habe ich den anderen erklärt, dass Spud und seine Bande einpacken können, wenn alle zusammenhalten. Das hat ihm gar nicht gefallen.»

Der kleine Mann in dem staubigen Anzug schob die Unterlippe vor und nickte mit einem verstohlenen Lächeln. «Ah. Mobbing, verstehe. – Wie heißt du?»

«Daniel. Daniel Holmes.»

«Soso, Daniel Holmes, zufällig weiß ich, wie sich das Leben im Schatten eines Tyrannen anfühlt. Da haben wir etwas gemeinsam.»

«Echt?»

«Hmm, hmm. Weißt du was? Du kannst hier warten, bis Spud und seine Jungs wieder weg sind.»

«Danke, Sir.»

«Kein Problem», sagte der Mann im Anzug. «Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich habe zu tun.»

Er wandte sich ab und ging zu einem tiefroten Samtvorhang im hinteren Teil des Ladens. Er hob die Hand, hielt dann aber inne.

«Was ist dein Lieblingstier, Daniel?»

«Mein Lieblingstier?» Daniel dachte nach. «Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen seltsam», sagte er, «aber ich mag Elstern. Angeblich gibt es keine schlaueren Vögel.»

«Ach ja?», erwiderte der Mann. «Ist das wahr?»

«Das habe ich jedenfalls gehört.»

«Sehr gut», sagte der Ladenbesitzer leise schmunzelnd. «Jetzt muss ich aber wirklich weitermachen.»

«Wiedersehen», sagte Daniel. «Hey, vielleicht komme ich noch mal wieder und kaufe etwas.»

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. «Sei dir da nicht so sicher. Wir haben nur sehr wenige Stammkunden.»

Mit diesen Worten verschwand er hinter dem Vorhang.

Als Daniel durch das sepiabraune Fenster schaute, sah die Welt wie ein altmodisches Foto aus. Es hatte angefangen zu regnen und Glasgow versank in dicken grauen Tropfen. Auf der Straße bildeten sich die ersten Pfützen.

Spud Harper und seine Bande waren längst weg, doch Daniel wollte sich noch einmal ausführlich umsehen. Er ging zu einem Tisch mit Zinnsoldaten und nahm zwei Figuren in die Hand. Dann inszenierte er einen imaginären Kampf zwischen Spud Harper und sich selbst.

Sein Zinnsoldat wollte Spud gerade vom Tisch fegen, als er ein zartes Flattern hörte. Daniel legte die Figuren hin und richtete den Blick auf den roten Vorhang weiter hinten. Beim nächsten Flattern kräuselte sich der Vorhang.

Plötzlich schäumte der rote Samt und unter lautem Flügelschlag schossen zwei silberne Vögel hinter dem Vorhang hervor. Daniel duckte sich schnell, und die Vögel flogen quer durch den Laden zu einem Bücherstapel, auf dem sie sich niederließen.

Es waren Elstern. Doch solche Elstern hatte Daniel noch nie gesehen.

Sie waren aus hellem, glänzendem Silber.

Jede Feder war so fein wie flaumiges Eis, in dem sich die Flammen des Kohlefeuers spiegelten. Die Silberelstern betrachteten Daniel mit funkelnden Rubinaugen und neigten den Kopf.

«Wie? Was?», flüsterte er und schlich langsam auf sie zu, um sie nicht zu verscheuchen. Als er vor ihnen stand, streckte er die Hand aus. «Seid ihr echt?»

Als er über das kühle Silber eines Flügels strich, kreischte der Vogel beleidigt und flog, gefolgt von seinem Zwilling, zurück zu dem roten Vorhang. Doch als sie an dem üppigen roten Stoff angelangt waren, flogen sie nicht weiter hindurch, sondern zerplatzten mit einem hellen Blitz in einem Schauer winziger Rubine.

Daniel bekam den Mund nicht mehr zu.

«Was ist da draußen los?», hörte er den Ladenbesitzer von der anderen Seite des Vorhangs rufen. «Was war das für ein Geräusch? Wehe, es ist etwas kaputtgegangen!»

Da Daniel auf einmal verunsichert war und nicht mehr richtig wusste, was er gesehen hatte und wo er eigentlich gelandet war, lief er zur Tür. Als er in den Regen hinausrannte, klingelte leise ein Glöckchen.

Im nächsten Moment kam der Mann in dem alten verstaubten Anzug durch den Vorhang und ließ den Blick durch das Geschäft schweifen. Er bückte sich, hob die Elsternrubine auf und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann schloss er die Hand zur Faust, und als er sie wieder öffnete, saßen die Elstern auf seiner Hand. Ihr silberner Glanz erstrahlte im Raum.

Der Mann ließ die Vögel frei und sah zu, wie sie im Kreis flogen, ehe sie sich wieder auf dem Bücherstapel niederließen. Dann lächelte er breit und listig und verschwand erneut hinter dem Vorhang.

Daniel kehrte schon am nächsten Tag zu dem Laden zurück. Er konnte einfach nicht anders.

Nach einigem Nachdenken hatte er sich ein wenig dafür geschämt, dass er in Panik davongelaufen war. Mittlerweile war er der Ansicht, dass es sich um einen Trick oder eine Illusion gehandelt hatte, was sonst? Aber nun wollte er unbedingt wissen, wie der Ladeninhaber es angestellt hatte, die Elstern so echt wirken zu lassen.

Beim Frühstück strengte er sich an, Spud Harper nicht zu beachten, der während der gesamten Mahlzeit vom anderen Ende des Speisesaals drohend gestikulierte. In dem Gedränge nach dem Frühstück unterzutauchen war kein Kunststück; Daniel flitzte zwischen den Kindern durch zur Küche, deren Hintertür stets offen stand, um die Essensdünste entweichen zu lassen.

Die Welt badete im Sonntagssonnenschein, und der Himmel war unendlich blau. Daniel ging den Weg vom Vortag zurück, vorbei am Metzger, wo es nach Sägemehl und rohem Fleisch roch. Als er wieder in der Straße mit den Wasserspeiern war, fürchtete er einen Augenblick lang, er hätte sich das alles nur eingebildet. Doch das schwarze Mauerwerk glänzte in der Sonne, und ein goldenes Schild prangte über dem gewölbten Eingangstor.

Das Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN hing noch immer in der Tür, und Daniel starrte es an, während er mit sich haderte, ob er eintreten sollte. Obwohl er genau wusste, dass er den Laden meiden sollte, konnte er einfach nicht widerstehen. Mit zitternden Händen griff er nach der Klinke; die Tür war nicht abgeschlossen und warme Luft hüllte ihn ein, als er eintrat. Drinnen sah es genauso aus wie am Vortag, doch der Inhaber und die silbernen Vögel waren nirgends zu entdecken. Daniel untersuchte den Bücherstapel, auf dem die Elstern gesessen hatten, und ging dann vorsichtig zu dem roten Samtvorhang, vor dem die Vögel in Rubine zerplatzt waren. Das Licht war schlecht, und er musste auf die Knie gehen, wenn er am Boden etwas sehen wollte.

Absolut keine Spur von Rubinen …

Der Samtvorhang bewegte sich, und Daniel starrte auf ein Paar graue Lederschuhe. Als er den Kopf hob, sah er direkt in gewittergraue Augen, die ihn nicht losließen, nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde.

Keiner sagte etwas.

Der Ladenbesitzer runzelte die Stirn und rieb sich die Schläfen. Dann öffnete und schloss er mehrmals den Mund, ohne jedoch etwas zu sagen. Schließlich drehte er sich blinzelnd um und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Allerdings steckte er gleich darauf wieder den Kopf in den Laden, um nachzusehen, ob Daniel noch da war, und stellte sich dann ganz nah vor ihn. Er beugte sich zu ihm hinunter, sodass sie sich in die Augen sahen. Der Mann roch wie die Seiten in einem alten Buch.

«Was kann ich für dich tun?», fragte er gelassen, doch sein Blick ließ vermuten, dass sich in seinem Kopf ein Donnerwetter zusammenbraute.

«Äh …», sagte Daniel. «Ich wollte mich nur noch einmal umsehen. Darf ich?»

Der Mann verrenkte sich den Hals, bis sein Gesicht noch näher vor Daniels schwebte. Mit zusammengekniffenen Augen flüsterte er: «Du kannst dich an das Geschäft erinnern?»

«Ja, klar, ich war doch gestern erst hier …»

Der Mann packte sein Handgelenk und zerrte ihn zu seinem Schreibtisch. «Setz dich», sagte er und drückte Daniel auf einen Holzstuhl, während er sich an den Sekretär setzte und die Handflächen aneinanderlegte. «Woran kannst du dich erinnern?», fragte er. «Ich will es ganz genau wissen.»

«An … an alles: an die Bücher und die Spiegel und die Standuhren … daran, dass wir miteinander gesprochen haben … an die Silberelstern …»

Der Mann unterbrach ihn mit erhobenem Zeigefinger. Er ließ den Blick hektisch durch den Laden schweifen.

«Wie ist das möglich?», fragte er.

«Es tut mir leid», sagte Daniel verwirrt. «Habe ich etwas ausgelassen? Wie ist was möglich?»

Der Mann sprang auf.

«Aus welchem Kinderheim kommst du?», fragte er.

«St. Catherine’s», antwortete Daniel. «Es liegt nur ein paar Straßen weiter.»

Der Mann nickte. «Ist dir schon mal etwas Sonderbares passiert? Flackernde Lichter, explodierende Spiegel, irgendetwas in dieser Richtung?»

«Nein! Wieso?»

«Nur so.» Der Mann winkte lässig ab. Doch dann zog er Daniel vom Stuhl und drängte ihn zur Tür. «Also, Daniel Holmes … wir haben geschlossen, wie man an dem Türschild lesen kann. Deshalb solltest du jetzt gehen.»

«Aber …»

Daniel wurde auf die Straße geschubst – höchst verblüfft von diesem Erlebnis. Der Ladeninhaber musterte ihn noch kurz durch die Schaufensterscheibe und zog sich zurück.

Mit den Händen in den Taschen schlenderte Daniel die Straße entlang und kickte einen Stein vor sich her. Hätte er sich im richtigen Augenblick umgedreht, so hätte er vielleicht gemerkt, dass die Tür zum Wunderreich von Nirgendwo einen Spaltbreit geöffnet wurde und eine aschgraue Hand zwei silberne Vögel in die Luft warf. Möglicherweise wäre ihm auch aufgefallen, dass diese Vögel von Dach zu Dach flogen und auf steinernen Engeln landeten, um ihn auf dem Heimweg ins St. Catherine’s auf Schritt und Tritt zu beobachten.

Spud Harper hatte die unangenehme Eigenschaft, niemals aufzugeben. Wenn er einen Groll gegen jemanden hegte, und sei er noch so gering, trug er ihn so lange mit sich herum, bis die Sache erledigt war. Bis. Die. Sache. Erledigt. War. Das wusste Daniel genau wie alle anderen. Obwohl er Spud ein Schnippchen geschlagen hatte, indem er ins Wunderreich von Nirgendwo geflüchtet war, passte er seitdem besonders gut auf.

In den folgenden Tagen blieb er die ganze Zeit im St. Catherine’s. Sobald er allein in einem Gang oder auf dem Spielplatz war, fürchtete er, dass Spud über ihn herfallen könnte. Das geschah nicht, jedenfalls nicht so.

Der Montag verging. Nichts passierte.

Und der Dienstag.

Der Mittwoch verlief genauso.

Je mehr Zeit verging, umso klarer schien, dass Spuds Rache fürchterlich ausfallen würde.

Donnerstag.

Am letzten Donnerstag im Monat gab es am St. Catherine’s stets Feueralarm, und zwar sofort nach dem Mittagessen – man konnte die Uhr danach stellen. Als Daniels Klasse sich nach der Pause wieder setzte, forderte ihr Lehrer, Mr Pimm, sie gar nicht erst auf, die Bücher aufzuschlagen. Und pünktlich gellten wenige Minuten später die schrillen Sirenen. Die Schüler gingen im Gänsemarsch hinaus und verließen mit den anderen Klassen, die sie im Flur trafen, das Schulgebäude.

Daniel sank das Herz in die Hose, als neben ihm ein großer Junge auftauchte und Smitty, der Größte aus Spuds Bande, ihn von oben herab anlächelte.

«Kein Wort, Kleiner, sonst setzt es was.»

Er packte Daniels Arme, während die Lehrer darauf achteten, alle Schüler nach draußen zu bringen, und schleppte ihn durch den Gang zur Turnhalle.

Smitty zerrte Daniel in die Mitte der Halle, wo Spud ihn bereits erwartete und ihm sein Sommersprossengesicht entgegenreckte.

«Du denkst wohl, ich hätte dich vergessen, was?», sagte er. «Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich einfach so davonkommen lassen?»

Daniel schwieg und sah Spud hasserfüllt an.

«Ich sag dir, wie es jetzt läuft», sagte Spud. «Du klaust das ganze Zeug wieder zurück, das ich den anderen mühsam abgeknöpft habe. Wenn nicht, gibt’s für jedes Teil, das fehlt, eins in die Fresse. Hier kommst du nicht weg, höchstens durch die Hintertür auf der Bühne …»

Daniel trat Smitty hart auf den Fuß. Der große Kerl heulte auf und lockerte den Griff seiner Arme, sodass Daniel sich losreißen und nach hinten rennen konnte.

«Hey! Komm sofort zurück!»

Daniel raste die Stufen zur Bühne hinauf und tauchte unter dem Vorhang durch. Die ganze Zeit hörte er Spuds schwere Schritte hinter sich. Der war ihm dicht auf den Fersen, verfolgte ihn über die Bühne und eine Treppe hinunter bis in einen engen Gang.

«Diesmal entkommst du mir nicht, Danny-Boy», brüllte Spud. «Jetzt bist du fällig!»

Daniel lief so schnell, dass seine Füße kaum den Boden berührten, und sprintete durch den Notausgang auf den Parkplatz hinter dem St. Catherine’s und weiter durch das Tor auf die angrenzenden Straßen. Dort drängte er sich durch die Büroangestellten, die wegen der Sonne ihre Mittagspause ins Freie verlegt hatten.

Nachdem er sich umgeblickt hatte, legte er noch einen Gang zu und raste zwischen zwei Bürogebäuden hindurch. Wie eine Pistolenkugel schoss er auf der anderen Seite wieder hinaus.

«Daniel!», schrie Spud. «Stehen bleiben. Gleich bist du …»

Der Rest des Satzes wurde von einer Hupe übertönt, und Daniel begriff in einem dieser seltsamen Augenblicke, in denen plötzlich alles ganz langsam geschieht, dass er auf die Straße gelaufen war.

Er hörte Reifen quietschen und sah das Auto auf sich zurasen. Als der Fahrer ihn entsetzt durch die Windschutzscheibe anschaute, war Daniel klar, dass er nicht mehr rechtzeitig stehen bleiben oder auf die andere Straßenseite gelangen konnte. Er würde hier und jetzt auf dieser Straße sterben.

Aus dem Augenwinkel sah er einen silbernen Blitz.

Jemand drückte auf den Knopf, und die Welt drehte sich wieder. Alles erwachte kreischend zum Leben, und ehe das Auto ihn überfuhr, wurde er von etwas anderem umgeworfen. Nach der harten Landung richtete er seinen leicht verschwommenen Blick zum wolkenlosen Himmel.

Jemand in grauem Anzug beugte sich über ihn, doch er konnte nichts verstehen, die Stimme war viel zu weit weg.

Daniel wollte am liebsten schlafen; und schon versank seine Welt in der Dunkelheit.

Edinburgh, im Dezember 1878

Um Punkt fünf Minuten vor Mitternacht klopfte jemand an die Tür des Castlefoot-Heims für Waisenknaben.

Zunächst reagierte niemand. Der Besucher wartete geduldig und schnipste die Schneeflocken von seinem Mantel, doch nach einer Weile schlug er noch drei Mal laut mit der silbernen Spitze seines Gehstocks an die Tür.

Eine weitere Minute verging, bevor hastige Schritte und ein klimpernder Schlüsselbund zu hören waren; die schweren Riegel wurden zur Seite geschoben.

Der gedrungene Mann, der die Tür öffnete, war im Nachthemd. Da er zur Fettleibigkeit neigte, konnte man nur an seinem gestutzten Bart erkennen, wo das Kinn in den Hals überging.

«Womit kann ich dienen?», fragte er und sah den Besucher stirnrunzelnd über seine Brille hinweg an.

Der Mann im Mantel fragte zurück: «Sind Sie der Vorsteher dieser Waisenanstalt?»

«In der Tat», antwortete der Heimleiter. «Und wer sind Sie, bitte?»

Der Besucher, der eine Stufe unter ihm gestanden hatte, trat an die Tür, sodass sie auf gleicher Höhe waren. Er war überdurchschnittlich groß – über einsachtzig – und hatte breite Schultern und ein kantiges Kinn. Sein kurz geschnittenes silbernes Haar und sein Spitzbart glänzten im warmen Schein der Straßenlaternen. Die eisblauen Augen strahlten kühl.

«Ich bin wegen des Jungen hier», sagte er kaum hörbar.

Nach kurzem Zögern riss der Vorsteher die Augen auf.

«Ja», erwiderte er. «Bitte kommen Sie doch herein. Das Wetter ist ungemütlich, wärmen Sie sich auf.»

Der große Mann nickte knapp und betrat das Waisenhaus. Draußen im Schnee konnte es nicht kälter sein.

«Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Mister …»

«Sharpe. Vindictus Sharpe. Nein danke, ich möchte so schnell wie möglich den Jungen sehen.»

«Ich bitte um Verzeihung, Mr Sharpe», sagte der Heimleiter, «aber Sie hätten sich wirklich einen besseren Zeitpunkt aussuchen können.»

«Das Spital legt Wert darauf, dass der Junge möglichst unbemerkt bleibt», entgegnete der große Besucher. «Solche Fälle erregen Aufsehen. Es sei denn, es ist Ihr ausdrücklicher Wunsch, dass alle Welt von der … Befindlichkeit des Jungen erfährt?»

Der Heimleiter schüttelte den Kopf. «Aber nein, so ist es gut!»

«In Ordnung», sagte Vindictus Sharpe. «Der Junge … war von Geburt an in dieser Anstalt?»

Der Vorsteher nickte. «Mehr oder weniger.»

«Und kam es in regelmäßigen Abständen … zu diesen Vorfällen?»

Wieder nickte der Vorsteher, der verändert schien, seit es um den Jungen ging. Er machte einen erschrockenen, fast gequälten Eindruck.

«Glauben Sie, dass Sie etwas dagegen tun können?», fragte er und rang die Hände.

Mr Sharpe zog eine Augenbraue hoch. «Kann ich mit ihm reden?», fragte er.

Der Heimleiter holte eine Lampe, führte Vindictus Sharpe durch die Eingangshalle zu einem Hausmeisterverschlag und nahm einen großen Schlüssel von einem Haken an der Wand. Dann gingen sie durch einen langen Gang mit imposanten Porträts früherer Vorsteher und Wohltäter des Heims.

«Geben Sie gut acht», mahnte der Vorsteher, als sie eine dunkle Wendeltreppe hinunterstiegen. Unten ging es in einem neuen Gang weiter, der nur von einer einsamen Gaslampe erleuchtet wurde. Es roch nach Schmutz und Moder sowie flüchtig nach Desinfektionsmitteln.

«Sie halten ihn hier unten?», fragte Mr Sharpe.

Als der Heimleiter sich zu ihm umdrehte, war sein Gesicht eine weiße Maske der Scham. «Wir haben keine andere Wahl», behauptete er und fügte entschuldigend hinzu: «Wir geben ihm genug zu essen und lassen ihn einmal die Woche an die frische Luft. In dieser Stadt gibt es viele Kinder, denen es schlechter ergeht.»

Mr Sharpe würdigte ihn keiner Antwort.

Am Ende des Gangs lag eine Tür. Der Heimleiter steckte den verrosteten Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn hin und her, bis das Schloss endlich nachgab. Als er die Klinke herunterdrücken wollte, legte Mr Sharpe seine behandschuhte Hand auf seine.

«Ich denke, von hier an übernehme ich die Angelegenheit», sagte er.

Der Vorsteher sah ihn betroffen an. «Allein? Sind Sie sicher?»

«Sie können gern hier warten», erwiderte Vindictus Sharpe. «Aber wenn ich mir ein Bild von dem Jungen machen soll, muss ich unter vier Augen mit ihm reden.»

Trotz der Kälte musste sich der Heimleiter einen Schweißtropfen von der Nasenspitze wischen.

«Nun gut», sagte er. «Wenn es denn wirklich nötig ist. Aber ich bleibe vor der Tür stehen, für den Fall, dass Sie mich brauchen sollten.»

Es zuckte um die Mundwinkel des Besuchers. Vielleicht war das ein Lächeln, doch er wandte sich bereits der Tür zu, ehe der Vorsteher seine Miene deuten konnte. Dann drückte er die Klinke herunter und öffnete vorsichtig die Tür.

Der Raum war klein und rechteckig und nur spärlich mit einem schmalen gusseisernen Bett und einem Bücherregal aus Holz möbliert, in dem zahlreiche, unterschiedlich dicke und große Bücher standen.

Ein Junge mit einem zotteligen Haarschopf saß am Fußende des Bettes. Er mochte zehn Jahre alt sein und war beinahe zum Skelett abgemagert. Auf den ersten Blick wirkte er recht unscheinbar auf seinen Besucher, dem nur seine Augen auffielen, weil sie an das wütende Grau eines Gewitterhimmels am Meer erinnerten.

Mr Sharpe schloss die Tür vor dem neugierigen Heimvorsteher und wandte sich dann wieder dem Kind zu.

«Bringen Sie mich fort?», fragte der Junge.

Der Mann wischte ein Stäubchen von dem silbernen Stockgriff. «Kommt drauf an», antwortete er und zeigte auf das Bücherregal. «Du liest wohl gern?»

Der Junge nickte. «Sehr gern. Die Worte führen mich in meinen Gedanken an andere Orte, weit weg von hier.»

Vindictus Sharpe warf einen genaueren Blick auf die Bücher. Er entdeckte Kindergeschichten wie Alice im Wunderland oder Die Schatzinsel, aber auch andere Bücher, die für Kinder weniger geeignet waren.

«Das hast du auch alles gelesen?», fragte er und tippte mit dem Stock auf Shakespeares Gesamtwerk.

Wieder nickte der Junge.

Vindictus Sharpe neigte den Kopf. «Ich bin beeindruckt. Sag mir eins: Du weißt, dass der Vorsteher Angst vor dir hat?»

Das Grau in den Augen des Jungen wurde intensiver und dunkler. «Alle haben Angst vor mir. Das sollten sie auch.»

«Ach ja, und warum?», fragte Mr Sharpe.

Der Junge musterte ihn kühl. «Weil ich etwas kann, das sie nicht können», sagte er. «Ich kann etwas, das sonst niemand kann.» Er zeigte mit dem Kopf zur Tür. «Für die bin ich ein Ungeheuer.»

Vindictus Sharpe verzog keine Miene.

«Lass mich mal sehen», sagte er.

Der Junge warf einen Blick auf das Bücherregal, und sofort fing es an zu wackeln. Bücher fielen auf den Boden, und dann sauste ein in grünes Leder gebundenes Buch aus dem Regal, als wäre es geworfen worden. Dieses Buch landete nicht auf dem Boden, sondern schlug sich wie von selbst auf und flatterte wie ein komischer Vogel über Mr Sharpes Kopf im Kreis.

Nach einer halben Minute fiel es dumpf auf den Steinboden.

Mr Sharpe war immer noch die Ruhe in Person, aber der Junge merkte, dass er ihn auf eine andere Art ansah.

«Alles in Ordnung?», rief der Heimleiter aus dem Kellergang. Weder der Junge noch sein Besucher würdigten ihn einer Antwort.

«Warum haben Sie keine Angst vor mir?», fragte der Junge.

Als Mr Sharpe nicht antwortete, fiel dem Jungen erst auf, wie strahlend blau seine Augen waren.

Ohne Vorwarnung stiegen die restlichen Bücher aus dem Regal in die Höhe und kreisten schwungvoll durch den kleinen Raum. Sie stießen nie zusammen, obwohl es sehr viele waren.

Erstaunt riss der Junge Mund und Augen auf, während er unverwandt zuschaute, bis Mr Sharpe zum Bücherregal blickte. Innerhalb weniger Sekunden standen die Bücher wieder an ihrem ursprünglichen Platz.

Vindictus Sharpe strich eine Falte in einem seiner Lederhandschuhe glatt. Dann sah er mit seinen blauen Augen in die grauen des Jungen.

«Ich habe keine Angst vor dir», sagte er, «weil ich auch so ein Ungeheuer bin.»

Früh am nächsten Morgen stattete ein Arzt aus dem städtischen Spital dem Waisenhaus einen Besuch ab. Man hatte ihn gebeten, einen Blick auf einen der Jungen zu werfen – ein Kind, das in unerklärliche und teilweise gewalttätige Geschehnisse verwickelt gewesen war. Als der Heimleiter ihn die enge Treppe hinunter in den dunklen Gang führte und die Tür aufschloss, konnte er ihm nicht erklären, wo der Junge geblieben war und warum mehrere Bücher aus dem Regal fehlten.

Sofort wurden alle Türen des Waisenhauses abgeschlossen, das gründlich durchsucht wurde. Doch von dem Kind fehlte jede Spur – es war einfach verschwunden.

Der Vorsteher erinnerte sich nicht daran, dass er die Tür auch in der vergangenen Nacht aufgeschlossen hatte. Er hatte Vindictus Sharpe in seinem feinen Anzug ebenso vergessen wie die Tatsache, dass er ihn zu dem Jungen geführt hatte. Selbstverständlich hatte er auch keine Erinnerung daran, wie er ihm geholfen hatte, die Habseligkeiten des Jungen zusammenzupacken, oder daran, dass er die beiden höchstpersönlich zur Tür gebracht hatte.

In dieser Nacht und in allen darauffolgenden Nächten träumte der Heimleiter, wie ein Mann mit einem Jungen im Schneegestöber davonging. Er konnte noch so schnell rennen, er holte sie nie ein.

Daniel öffnete die Augen einen Spaltbreit und verzog das Gesicht, als sein Zimmer von Sonnenschein durchflutet wurde. Während er sich hinsetzte und die Augen rieb, fügten sich die verschwommenen Bilder in seinem Kopf langsam zu einem Ganzen.

Er lag in einem kleinen, bequemen Bett in einer gemütlichen Dachkammer. Es gab zwei Türen, eine stand auf. Durch die offene Tür konnte Daniel Vogelgezwitscher und plätscherndes Wasser hören. Er rutschte zur Bettkante und schwang die Beine unter der dicken Daunendecke hervor auf den Boden. Seine nackten Füße sanken in den flauschigen Teppich.

Plötzlich hatte er wieder alles vor Augen: wie er durch Glasgow rannte, Spud dicht auf seinen Fersen, wie sehr er erschrocken war, als das Auto auf ihn zuraste, und wie schlimm er hingefallen war.

Er stand auf und ging auf wackeligen Beinen zu einem kleinen Spiegel, der zwischen den beiden Türen an der Wand hing. Er hätte Kratzer und Schrammen erwartet, doch sein Spiegelbild hatte nicht den Anschein, dass er irgendwie verletzt sein könnte. Eine schreckliche Angst stieg in ihm auf. Und wenn das Auto ihn doch überfahren hatte?

Bin ich tot?

Daniel hatte keine Zeit, dieser Frage nachzugehen, da sich am Fenster etwas bewegte – ein Mädchen starrte ihn durch die Scheibe an.

Als sie zur Tür ging, wich Daniel erschrocken zurück, bis sie auf der Schwelle stand und sich die langen wilden Locken aus der Stirn strich. Sie hatte die Arme verschränkt und musterte ihn mit ihren grauen Augen.

«Na, hast du ein Nickerchen gemacht?», fragte sie. «Hattest du es hübsch gemütlich?» Sie sah sich um und schüttelte den Kopf. «Unglaublich. Das Zimmer ist schöner als meins!»

«Wer bist du?», fragte Daniel. «Und wo bin ich? Bin ich … tot?»

Das Mädchen kniff die Augen zusammen und ging weiter in das Zimmer hinein.

«Tot? Was redest du denn da? Warum solltest du tot sein?»

Daniel blinzelte. «Aber … aber ich stand mitten auf einer viel befahrenen Straße! Ein Auto fuhr direkt auf mich zu …»

Das Mädchen tippte mit dem Fuß auf den Boden. «Dann hat er dich wohl gerettet. Ich frage mich nur, warum. Wie heißt du eigentlich?»

«Daniel», sagte Daniel. «Wen meinst du? Wer hat mich gerettet?»

Doch das Mädchen öffnete bereits die blaue Tür, die bisher geschlossen gewesen war.

«Das ist alles sehr merkwürdig», sagte sie. «Hier kommt nie jemand hin.» Sie betrachtete ihn mit schmalen Augen. «Jedenfalls niemand, der echt ist. Bleib hier. Ich höre mal, was hier los ist.»

Bevor Daniel nach ihrem Namen fragen konnte, schlüpfte sie durch die blaue Tür. Er hätte auch gern erfahren, warum sie ihn so interessant fand und was es zu bedeuten hatte, dass niemand Echtes jemals herkam.

Daniel klopfte sich auf die Brust. Er fühlte sich echt genug an. Jedenfalls fühlte er sich auf keinen Fall tot an. Andererseits: Woher sollte er wissen, wie sich das anfühlte? Er schaute auf die Tür, hinter der das Mädchen verschwunden war, und wollte die Klinke herunterdrücken. Doch die Tür war abgeschlossen. Also ging Daniel zu der zweiten, offenen Tür mit der Aussicht auf eine Hügelkuppe. Vor ihm erstreckten sich unter einem klaren blauen Himmel wie ein Flickenteppich Felder vor einem angrenzenden Wald. Die Luft war warm und es duftete nach Honig.

Über eine schmale Holztreppe gelangte er auf eine Wiese mit hüfthohem Gras. Jetzt begriff er, dass er in einem hölzernen Wohnwagen geschlafen hatte – wie sie das fahrende Volk in seiner Vorstellung bewohnte, oder Zirkusleute in früheren Zeiten. Der Wohnwagen war in einem dunklen, schimmernden Blau gestrichen, das mit goldenen Schnörkeln verziert war. Dann fiel ihm etwas auf: Wenn das hier alles echt war, wie konnte das Mädchen dann durch eine Tür im Inneren des Wagens verschwinden?

Daniel hatte Durst; seine Zunge klebte am Gaumen. Er ging zu dem Bach, bückte sich und trank etwas Wasser. Es war eiskalt und klar, wahrscheinlich das Beste, was er je getrunken hatte.

«Ah! Wieder wach, wie ich sehe!»

Von der Stimme überrumpelt, spuckte Daniel Wasser, drehte sich um und fiel über seine eigenen Füße ins Gras, als er einen Blick auf einen verstaubten grauen Anzug erhaschte.

«Oh, wie anmutig!», sagte der Mann im Anzug. «Gleich kommt jemand vom Königlichen Ballett, um dich anzuwerben.»

Daniel rappelte sich auf und rieb sich den Ellbogen. Er hatte den Eigentümer des Wunderreichs von Nirgendwo sofort erkannt. «Sie! Wie kommen Sie denn hierher? Beziehungsweise, wie bin ich hierhergekommen? Ist das alles ein Traum?»

Der Mann in dem staubigen Anzug kratzte sich an der Nase. Seine zerzausten Haare wehten im Wind. «Wir träumen alle, Daniel Holmes, jeder auf seine Weise. Komm doch bitte mit.» Mit diesen Worten ging er zu der kleinen Holztreppe und betrat den Wohnwagen.

Daniel folgte ihm eilig.

«Moment! Wo ist das Mädchen?», fragte er, sobald sie drinnen waren.

«Das Mädchen?», sagte der Mann. «Denk nicht mehr an sie, du hast Wichtigeres zu tun.» Er öffnete die blaue Tür und wies in das schattige Dunkel dahinter. «Hier lang. Es gibt für alles eine Erklärung.»