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Dieses Buch widme ich meinen Eltern, Erika und Dieter, und meinen Geschwistern, Markus, Thorsten und Stefanie, die damals zu Hause fünf Tage durch die Hölle gegangen sind und das bis heute nicht vergessen können. Ich hatte nie den Mut, ihnen die ganze Geschichte zu erzählen. Dies soll das Buch nun ändern.

Ein ganz besonderer Dank gilt allen, die meiner Familie in diesen traumatischen Tagen beigestanden haben.

Ohne die mentale und emotionale Unterstützung, die Gebete und Hilfe jedwelcher Art wäre das Durchhalten der Situation schier unmöglich gewesen.

Diana Müll

Vorwort

Warum dieses Buch?

Die Fakten sind bekannt. In unzähligen Filmen, Dokumentationen, Büchern und Artikeln kann man sie bis heute nachlesen. Wir möchten die menschliche Geschichte zwischen den allgemein bekannten Geschehnissen erzählen.

Über 80 Menschen wurden an diesem 13. Oktober 1977 unfreiwillig zu Opfern, zu Geiseln, sie wurden tyrannisiert und mit dem Tode bedroht. Jeder von ihnen trägt auf die eine oder andere Weise bis heute an diesem albtraumhaften Erlebnis. Jeder von ihnen könnte seine eigene Geschichte erzählen und sie wären alle unvergleichlich individuell.

Diana Müll ist eine von ihnen und für sie ist dieses Buch nach mehr als 30 Jahren eine letzte Therapie. Eine Chance, dem Erlebten, das sie hier zum ersten Mal so ausführlich wie noch nie in ihrem Leben schildert, noch einmal zu begegnen und es damit im besten Falle wieder ein Stück mehr zu verarbeiten. Begleiten wird sie diese Erfahrung noch für den Rest ihres Lebens, aber sich ihr in dieser Weise zu stellen und sie in allen schmerzhaften Details aus dem Dunkel des Verdrängens zu holen, war ein Wunsch und ein Weg, der ihr geholfen hat.

Ich lernte Diana Müll anlässlich eines Features kennen, dass ich mit ihr für das Radio machte. Dafür führten wir ein Interview über etwa zwei Stunden. Diese Begegnung mit ihr und ihrer Geschichte hat mich nachhaltig berührt und beschäftigt. Viele Interviews hatte sie bis dahin schon gegeben, in Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen, und das tat sie auch bei mir mit einer professionellen Distanz, die das ganz persönliche Leid, die Angst und die Ohnmacht, die sie als junge Frau von 19 Jahren damals durchlebt hatte, nur ansatzweise erahnen ließ.

Im Anschluss kam in ihr der immer stärker werdende Wunsch auf, ihre Erlebnisse in einem Buch zu schildern. Dafür suchte sie einen Autor. Für mich bot sich damit nicht nur eine spannende Aufgabe, sondern die große Herausforderung, diesen Weg in die Vergangenheit mit ihr gemeinsam zu gehen und zu versuchen, mich in die Gefühle, die Todesangst und den immer währenden Schrecken hineinzuversetzen, um das eigentlich Unvorstellbare in Worte zu fassen.

Wir verbrachten in den kommenden Jahren unzählige Stunden damit, in Interviews diesen Weg nachzuzeichnen, uns ihrer ganz persönlichen Geschichte zu nähern, und immer wieder blieb bei mir diese Frage: Wie kann ein Mensch eine solche Tortur physisch und psychisch überleben? Darauf gibt es sicher mehr als eine Antwort und bestenfalls ist es uns gelungen, mit dem Buch eine für den Leser erkennbare Möglichkeit zu finden.

Die größte Bereicherung an dieser Arbeit war für mich die Erkenntnis, die sich wie ein roter Faden durch Diana Mülls Geschichte zieht, dass der unbedingte Wille zum Überleben auch in den scheinbar ausweglosesten Situationen immer einen Platz für Hoffnung lässt.

Christine Bode

Oktober 2011

13. Oktober
Der Weg ins Dunkle

Mit quietschenden Reifen hielt der klapprige graue Kleinbus vor dem Terminal am Flughafen von Palma. Dabei war der Wagen auch so schon auffällig genug. Auf seinem Dach war ein riesengroßer grau-weißer Zeppelin montiert, der quasi die ganze Länge des fahrbaren Untersatzes ausmachte. Mit großen schwarzen Lettern war unübersehbar der Name »Graf Zeppelin« auf den grau lackierten Untergrund gepinselt.

Wer allerdings glaubte, dieser kuriose Aufbau sei ein Werbegag für eine Flugschule, lag falsch. Jeder Einwohner, aber auch jeder Tourist, der schon mehr als einmal auf Mallorca gewesen war, wusste, dass das »Graf Zeppelin« nicht nur eine, sondern die angesagteste Diskothek in Palma war.

Auch ich hatte dort in der vergangenen Woche die Nächte durchgefeiert und durchgetanzt, zusammen mit sieben anderen jungen Frauen, alle zwischen 16 und 20 Jahren alt. Alle hatten wir eines gemein: In einem vorhergehenden Urlaub auf Palma, in diesem Sommer 1977, hatte jede von uns einmal die wöchentliche Gaudi-Misswahl im »Graf Zeppelin« gewonnen und war zur Schönheitskönigin gekürt worden. Für uns junge Mädchen war das natürlich ein Riesenspaß gewesen, der dann, als wir schon längst wieder zu Hause waren, noch übertroffen werden sollte.

Denn Manfred und Uschi Riek, die Besitzer des »Graf Zeppelin«, beide ausgewanderte Deutsche in den 30ern, hatten alle Schönheitsköniginnen dieser Saison eingeladen, auf ihre Kosten noch mal für eine Woche nach Palma zu fliegen.

Die Einladung war sicher nicht ganz uneigennützig, denn die Misswahlen im »Graf Zeppelin« waren ein echter Publikumsmagnet und nun konnte Manfred damit werben, dass sich in dieser Woche gleich acht Schönheitsköniginnen auf einmal in seinem Laden tummelten. Wie auch immer, für mich war das natürlich die Sensation, denn von meinem kleinen Gehalt – ich hatte zu Hause in Giessen gerade einen neuen Job begonnen – hätte ich mir einen weiteren Urlaub nicht leisten können.

Unsere Gastgeber hatten uns in dieser Woche mit einem Rundumprogramm nach Strich und Faden verwöhnt und weil sie zudem auch ein sorgsames Auge auf uns junge Hühner hatten und für uns immer ansprechbar waren, hatte der Aufenthalt bei ihnen schon fast etwas familiäres. Tagsüber Wasserski oder Bootstouren auf dem Meer, abends Gratisdrinks und jede Menge Spaß im »Graf Zeppelin«. Unsere Hotelbetten erreichten wir kaum vor vier oder fünf Uhr morgens.

Die letzte Nacht vor unserem Abflug hatten wir alle durchgemacht, denn zu Hause wartete jetzt wieder der Job, die Ausbildung oder die Schule und da wollten wir natürlich jede freie Minute mitnehmen. Entsprechend übernächtigt und völlig überdreht flossen dann beim Abschied von unserer Gastgeberin Uschi die Tränen. Keiner wollte wirklich weg. In den vergangenen acht Tagen hatten wir jede Menge Leute kennengelernt, sowohl Einheimische als auch andere Touristen, und so nahm das Verabschieden kein Ende.

Gegen 13.00 Uhr an diesem sonnigen Donnerstag sollte unser Flieger nach Frankfurt gehen und wir waren schon verdammt spät dran. Schließlich musste uns Uschi wie eine aufgescheuchte Schar von Hühnern zusammentreiben und eigenhändig ins Auto setzen, sonst wäre aus unserer Abreise gar nichts mehr geworden. Wie hätte sie in diesem Moment auch ahnen können, dass ein verpasster Flieger, im Gegensatz zu dem, was uns an Bord erwarten würde, so ziemlich das kleinste Problem der Welt gewesen wäre.

Nachdem Manfred ordentlich Gas gegeben und die Strecke zum Flughafen mit acht völlig überdrehten und kichernden Weibern wahrscheinlich in Rekordzeit zurückgelegt hatte, waren wir nun endlich da. Jetzt sprangen alle aus dem Wagen. Im Laufschritt rannten wir in die Abflughalle und dann das: Die Schalter waren bereits geschlossen. Das Flugzeug sei längst startklar, erklärte eine leicht gereizte Check-in-Mitarbeiterin mit missbilligendem Gesichtausdruck. Doch sie hatte eben unseren Manfred noch nicht in Fahrt erlebt. Der fackelte nicht lange, ließ sich ihren Vorgesetzten geben und verschwand mit dem Mann in einem Büro. Nach kurzem Wortwechsel war alles klar. Wir wurden ruckzuck durch die Kontrollen gewunken und hetzten dann über die Gangway. Gerade so konnten wir Manfred noch über die Schulter ein »Tschüss und Dankeschön« zurufen, dann war er schon aus unserem Blickfeld verschwunden.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich plötzlich, dass wir nicht die einzigen Nachzügler waren. Mit uns hastete ein weiteres Pärchen in Richtung Flugzeug. Wie wir konnten auch sie fast unbehelligt die Kontrollen passieren, weil der Flieger eben längst startbereit war und wir alle nun so schnell wie möglich an Bord kommen sollten. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich nur wenig später herausstellen sollte.

Ich schätzte die beiden auf Mitte bis Ende 20. Wie ich erfuhr, waren sie nur wenig älter als wir. Beide sahen ausländisch aus, aber zuordnen konnte ich sie nicht. Sie war eine kleine, hübsche, zierliche Frau mit feinen Gesichtszügen und halblangem schwarzen Haar. Er war auch nicht besonders groß, aber drahtig und schlank. Dicke pechschwarze Haare umrahmten sein Gesicht mit den dunklen Augen und einem Schnauzer, sein Blick war durchdringend. Das Auffälligste an dem Fremden aber war sein Jackett: für die Hitze viel zu warm, aus dicker Baumwolle und lila kariert. Es hätte einem Komiker bei einem Bühnenauftritt alle Ehre gemacht, aber an ihm sah es einfach nur völlig deplatziert und unfreiwillig komisch aus.

Überdreht und albern wie wir waren, mussten wir selbst im Eilschritt gleich ein paar lästerliche Bemerkungen darüber loswerden und liefen kichernd die letzten Meter zum Flieger. Später habe ich mich immer wieder gefragt, ob der Mann möglicherweise registriert hatte, dass auch ich mich über ihn lustig gemacht hatte. Denn schließlich war er es, der uns nur wenig später in eine tagelange Hölle aus Terror und Todesangst schicken sollte.

In der Maschine angekommen, bedachte uns so mancher der Passagiere mit entnervtem Blick, denn schließlich hatten alle auf uns warten müssen. Uns ließ das völlig kalt. Wir waren nach wie vor in Feierlaune und hatten auch nicht vor, uns die verderben zu lassen.

Meinen Platz fand ich relativ weit hinten in der Economyclass. Ich setzte mich an den Gang und ließ Martina den Mittelplatz. Sie war auch eine der Schönheitsköniginnen, kam aus Dortmund und war in dieser ausgelassenen Woche auf Mallorca meine Freundin geworden.

Mit ihren knackigen 16 war Martina drei Jahre jünger als ich. Ihre Eltern hatten eine gut gehende Kneipe, in der sie aushalf und sich so nach der Schule ein wenig Geld verdiente. Eine Lehre hatte sie noch nicht in Sicht, und dazu drängte sie auch niemand. Sie war wohl eher der Typ »verwöhntes Einzelkind«, aber unheimlich lebensfroh, lustig und großzügig. Weil ich viel weniger Geld im Urlaub ausgeben konnte, hatte sie mich immer wieder eingeladen, ohne dafür irgendetwas zu erwarten.

Keine von uns acht Schönheitsköniginnen hatte vor unserer Ankunft in Palma die anderen gekannt. Doch als ich Martina sah, da hatte es irgendwie auf Anhieb gestimmt. Ich spürte so etwas wie eine Seelenverwandtschaft mit dieser außerordentlich hübschen, hochgewachsenen, jungen Frau. Mit ihr hatte ich in dieser ausgelassenen Urlaubswoche das Hotelzimmer geteilt und wir waren schnell so unzertrennlich geworden wie siamesische Zwillinge. Wir waren beide genauso verrückt auf Partys und Tanzen, wir flirteten auf Teufel komm raus, hatten zusammen jede Menge Spaß und waren eigentlich nie vor Tagesanbruch im Bett. Nicht einmal hatte es in diesen acht Tagen irgendwelche Misstöne zwischen uns gegeben, auch wenn ich die größere Klappe hatte und der ansonsten viel stilleren Martina mit meinem ewigen Geplapper bestimmt manches Mal auf den Nerv gegangen bin.

Unsere Lufthansamaschine, die »Landshut«, startete jetzt durch, und als sie den festen Boden verließ und in die Luft stieg, war es wieder da: dieses kribbelnde, teils aufregende, teils beängstigende Gefühl, wenn die Schubkraft einen förmlich in den Sitz drückt. Die Bordbesatzung stellte sich vor, die Stewardessen demonstrierten die Sicherheitshinweise, wir warteten nur auf den Servierwagen und als er endlich kam, genehmigten wir uns erst einmal ein Gläschen Sekt. Als die Lichter für das Anschnallen in der Konsole über uns erloschen, kamen gleich ein paar von den anderen Mädels aus ihren Sitzen zu uns rüber, damit wir uns besser unterhalten konnten. Wir plauderten belangloses Zeug bis unser Blick erneut auf den Ausländer im lila karierten Sakko fiel. Er und seine zierliche Begleiterin saßen in der gegenüberliegenden Sitzreihe hinter uns. Klar, dass es nicht lange dauerte und wir wieder mit albernen Bemerkungen über das sonderbare Outfit des Mannes loslegten.

Dann kam das Essen und lenkte uns davon ab. Martina und ich hatten unsere Tabletts auf dem Klapptisch gerade aufgemacht, eines von den Mädels stand noch immer bei uns, sie hatte sich im Gang an meinen Sitz gelehnt und einen Ellbogen auf die Kopfstütze gelegt, als sie urplötzlich einen derben Stoß von hinten bekam und fast auf meinem Essen landete.

Erschrocken sahen wir auf und erkannten das ausländische Pärchen, das wild gestikulierend in Richtung erster Klasse rannte. Die zierliche Frau vorneweg und er, dessen Jackett uns eben noch so amüsiert hatte, hinterher. Dann sah ich es, der Mann hatte eine Pistole in der Hand und außerdem ein graues eiförmiges Ding, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Erst später wusste ich dann, dass das eine Handgranate war. Ich starrte jetzt jedoch nur auf die Pistole und in meinem Kopf explodierten die Gedanken.

Für mich war klar: Die beiden waren irgendwie in Streit geraten und jetzt wollte er sie erschießen. Doch warum?

Sie hatten sich doch noch nicht einmal unterhalten. Die ganze Zeit, als wir uns über ihn lustig gemacht hatten, hatten die zwei nur still nebeneinander gesessen. Was war geschehen?

Dann fiel mir ein: Jemand hatte mir mal erzählt, wenn einer im Flugzeug einen Schuss abfeuert, der nach außen dringt und die Hülle verletzt, dann stürzt die Maschine sofort ab. Ich wurde panisch. Würde dieser Wahnsinnige es wirklich riskieren? Wenn er schiesst, hoffentlich trifft er dann auch sie und nicht das Flugzeug. Wir konnten nicht reden, wir waren einfach im Schockzustand und starrten nur auf die beiden Rücken, die dann schnell aus unserem Blickfeld verschwanden, ohne dass ein Schuss fiel. Offenbar waren sie vorne angekommen, denn jemand brüllte auf einmal so bestialisch laut über die Bordanlage, dass wir alle wie vom Schlag getroffen zusammenfuhren. Ich starrte Martina nur fassungslos an. Ein Kauderwelsch aus Englisch mit arabischem Akzent prasselte auf uns nieder, das einzige Wort, das ich verstand, war »Hijacking«.

Mir blieb fast das Herz stehen. Mein Verstand weigerte sich hartnäckig, das Geschehen als Realität anzuerkennen. Es konnte doch nur ein schlimmer Traum sein. Nicht mehr, auf keinen Fall mehr!

Mein Englisch war schlecht. Ich stieß Martina in die Rippen, die leichenblass neben mir saß. Sie sollte für mich das unerträgliche Gebrüll übersetzen, doch da war es auch schon vorbei. Dann ging alles ganz schnell.

Der Vorhang zur ersten Klasse im vorderen Teil des Flugzeugs wurde aufgerissen und wie Vieh wurden die Passagiere, die dort gesessen hatten, zu uns nach hinten getrieben. Diese Gesichter, erstarrt in Fassungslosigkeit, Angst und Schrecken, kann ich bis heute nicht vergessen.

Hinter ihnen eine relativ große, arabisch aussehende Frau, untersetzte Figur, lange, dicke, schwarze Haare und große, dunkle, durchdringende Augen. Sie zielte mit einer Pistole auf die Menschen und gab die Kommandos. In der anderen Reihe machte ein kleinerer, ebenfalls dunkelhaariger Mann mit eher südländischem Aussehen denselben Job, auch er war schwer bewaffnet. Sie stießen die Männer, Frauen und Kinder in die leer stehenden Sitze. Die jungen kräftigeren Männer wurden durchsucht und mussten sich dann direkt ans Fenster setzen, damit sie keinesfalls schnell aus den Sitzreihen herauskommen konnten.

Mein Blick hing an den Waffen unserer Entführer. Ich war wie erstarrt, wie eingefroren in diesem Moment, den ich nicht fassen konnte, nicht wahrhaben wollte.

Außer den gebrüllten Kommandos der beiden Araber, die wie Hagelkörner auf uns einprasselten, war kein Laut zu hören. Noch nicht einmal die Kinder weinten.

Als Nächstes mussten wir unsere Tabletts in den Gang werfen. Die Stewardessen sammelten Gabeln und Messer ein. Auch unser Handgepäck, unsere Pässe und Personalausweise mussten wir abgeben. Alles wurde in die erste Klasse verfrachtet, wo ja nun keiner mehr saß.

Für einen unbeteiligten Betrachter wäre der Blick in unsere Kabine sicher ein groteskes Bild gewesen: Wir saßen dort, eingepfercht in symmetrische Sitzreihen, dutzende Menschen mit hocherhobenen Händen, bewegungslos, erstarrt in Angst, wie Schaufensterpuppen oder Crashtest-Dummys in einer absurden Vorstellung. Für uns war es eine Realität, in der wir noch nicht angekommen waren.

Alle vier Entführer hatten sich in den beiden Durchgängen zur ersten Klasse aufgestellt, bewaffnet mit Pistolen und Handgranate. Einen Finger immer am Abzugsring ließen sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es ernst meinten. Unser »alter Bekannter« hatte längst sein kariertes Jackett abgestreift und war nun ohne Zweifel als Anführer der Truppe zu erkennen.

Sein ganzer drahtiger und durchtrainierter Körper sprühte förmlich Funken vor Aggressivität. Seine dunklen, durchdringenden Augen waren ständig in Bewegung. Sie schienen alles zu erfassen, jede noch so kleine Bewegung in den Reihen, wenn jemandem die hocherhobenen Hände zu erlahmen drohten oder man versuchte, den steif werdenden Rücken durch eine veränderte Sitzposition zu entlasten.

Sofort hastete er durch die Reihen, drohte mit seiner Pistole, schlug mit dem Knauf auf Passagiere ein oder trat sie mit den Füßen. Mal gezielt, mal willkürlich, ein Wahnsinniger, ein Unberechenbarer mit einer irren Mission.

Jetzt griff er nach dem Mikrofon der Chefstewardess und schrie in seinem gebrochenen Englisch mit aller Gewalt hinein. Aus den Lautsprechern dröhnte nur ein verzerrtes Krächzen. Ich dachte, mein Kopf platzt.

Schließlich nahm sich eine der Stewardessen, die blonde Gaby Dillmann, ein Herz und erklärte ihm, dass er leiser sprechen müsse, sonst könne man ihn nicht verstehen.

Sich zu zügeln, fiel ihm sichtlich schwer, aber es gelang. Es folgte eine politische Rede, in der er die Zustände in Palästina anprangerte, die Israelis verteufelte und klar machte, er und seine Kameraden wollten dies nicht länger hinnehmen.

Sie hätten sich nun mit ihren deutschen Brüdern und Schwestern von der RAF (Rote Armee Fraktion) verbündet und wollten sie mit Hilfe der Entführung freipressen, um gemeinsam den Kampf gegen den deutschen und israelischen Faschismus zu führen. Uns hätten sie ausgesucht, weil wir allesamt Faschisten und Schweine seien. Uns ginge es gut, wir hätten Geld und keine Probleme, deshalb sollten wir nun mal sehen, wie es sich anfühlte, unterdrückt zu sein und wir sollten uns endlich mal Gedanken um die Probleme in Palästina machen.

Da ich wenig verstand, musste Martina immer wieder flüsternd übersetzen, was der Mann, der sich Captain Mahmud nannte, dort ins Mikrofon schrie. Als ich die Worte RAF und Terrorismus hörte, da sackte meine mühsam bewahrte Hoffnung auf den Nullpunkt.

In den letzten zwei Stunden hatte ich mir immer noch einreden können, es ginge um Geld, irgendjemand würde zahlen und wir kämen bestimmt bald frei. Doch jetzt wurde selbst mir, als politisch wenig interessierte 19-jährige bitter klar: das hier ist ganz und gar ernst.

Auch wenn man zu dieser Zeit im sogenannten »heißen Herbst« 1977 in Deutschland nicht regelmäßig Nachrichten sah oder anderweitig am politischen Geschehen teilnahm, so war doch auch mir bewusst, dass der RAF-Terrorismus, der gerade mit der Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer in Deutschland die Schlagzeilen beherrschte, eine Bedrohung war, die tödlich enden konnte.

Ich hörte nicht mehr zu, in mir zog sich alles zusammen, die Angst schnürte mir die Kehle zu. Was ich noch wusste war, dass Schleyer schon über einen Monat in RAF-Gefangenschaft war, die Bundesregierung gab nicht nach. Wieso sollte sie es also bei uns tun.

Mein Blick ging rüber zu Martina, die rechts von mir am Fenster saß und ich erschrak noch einmal.

Rein äußerlich waren wir beide grundsätzlich verschiedene Typen. Martina legte ausgesprochen viel Wert auf ihr Äußeres und scheute weder Zeit noch Mühe, sich optisch in Szene zu setzen. Ihre feinen, langen, blonden Haare drehte sie täglich auf Lockenwickler, um ihnen mehr Volumen zu geben. Auch ging sie niemals ungeschminkt aus dem Haus. Lippenstift, Kajal und Lidschatten gehörten zum Standardprogramm. Ich war mit meinen 1,68 Metern fast einen Kopf kleiner als sie. Mein leicht dunkler Teint, meine braunen Augen und mein dickes, langes, fast schwarzes Haar ließen eher meinen mexikanischen leiblichen Vater als meine deutsche Mutter vermuten.

Jetzt, nach den ersten Stunden des Schreckens war diese fröhliche und lebenslustige Martina kaum wiederzuerkennen. Kreidebleich, völlig in sich zusammengefallen, mit zittrigen Händen saß sie da, das Augen-Make-up von Tränen verwischt, das blonde Haar hing strähnig um die Schultern.