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Urban Wiesing

Indikation

Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die ärztliche Praxis

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033010-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033011-5

epub:   ISBN 978-3-17-033012-2

mobi:   ISBN 978-3-17-033013-9

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

1 Einleitung

2 Indikation in der gegenwärtigen Literatur

2.1 Indikation in der Literatur

2.2 Indikation und Medizinethik: Ist die Indikationen wertbehaftet oder nicht?

2.3 Der englische Sprachgebrauch

2.4 Indikation und Medizinrecht

2.5 Indikation im Umfeld von anderen Themen

2.6 Zusammenfassung: Indikation in der gegenwärtigen Literatur

3 Indikationsstellung, Indikationsregel und Indikationsgebiet

3.1 Medizin als praktische Wissenschaft

3.2 Differenzierungen

3.3 Was ist eine Indikationsstellung?

3.4 Indikationsstellung: Wertbehaftet oder nicht?

3.5 Die Elemente einer Indikationsstellung

3.6 Welche Informationen muss eine Indikationsstellung enthalten, welche sollte sie enthalten?

3.7 Was wird gesagt mit einer Indikationsstellung?

3.8 Was bedeutet eine gestellte Indikation für den Arzt und den Patienten?

3.9 Eigenschaften einer Indikationsstellung

3.10 Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Indikationsstellung in der Diagnostik und Therapie

3.11 Indikationsregel: Was ist eine Indikationsregel?

3.12 Welche Eigenschaften besitzen Indikationsregeln?

3.13 Wie entsteht eine Indikationsregel?

3.14 Wer ist zuständig für Indikationsregeln?

3.15 Indikationsregeln und ihr Bezug zur Zeit

3.16 Unterschiede und Gemeinsamkeiten: Diagnostische und therapeutische Indikationsregeln

3.17 Indikationsgebiet

3.18 Der Unterschied zwischen einer Indikationsregel und einem Indikationsgebiet

3.19 Das Verhältnis von Indikationsregel, Indikationsstellung und Indikationsgebiet

3.20 Urteilskraft in der Medizin

3.21 Die Rückwirkung der Indikationsstellung auf die Indikationsregel

3.22 Pluralität der Indikationssysteme, Indikation in der ›Schulmedizin‹ und der ›alternativen Medizin‹

4 Die Indikation als Pflicht und Grenze?

4.1 Die Indikation als Grenze?

4.2 Die Indikation als Pflicht? Die Medizin ohne Krankheitsbezug

4.3 Wunschmedizin oder Medizin ohne Krankheitsbezug?

4.4 Indikation, Heilauftrag und ärztliche Tätigkeit

5 Indikation und die ärztliche Profession

5.1 Der ärztliche Beruf und das antizipatorische Systemvertrauen

5.2 Profession und Ethik: Das antizipatorische Systemvertrauen

5.3 BIID – Die Probe aufs Exempel

5.4 Die Zukunft der Medizin: Orientierung an Krankheit, Natürlichkeit oder Leiden?

6 Welchen Einfluss nimmt die evidence based medicine auf die Indikation?

6.1 Eine Definition

6.2 Welchen Einfluss nimmt die EBM auf Indikationsregeln und Indikationsgebiete?

6.3 Welchen Einfluss nimmt die EBM auf die Indikationsstellung?

6.4 Was heißt indicare im Zeitalter der EBM? Indicans – indicatio – indicatum

7 Indikation und personalisierte Medizin

7.1 Zur Begrifflichkeit

7.2 Das Verhältnis der personalisierten Medizin zur evidence based medicine

7.3 Wie wirkt sich die personalisierte Medizin auf die Indikationsstellung aus?

7.4 Indikationsregeln und Indikationsgebiete in der personalisierten Medizin

7.5 Von einer »empirischen Heilkunst« hin zu einer »rationalen, molekularen Wissenschaft«?

8 Indikation und Ökonomie

8.1 Die neue Situation: Überversorgung

8.2 Medizin und Ökonomie

8.3 Gebotene versus inakzeptable Ökonomisierung der Medizin

8.4 Zweck und Mittel in der Medizin

8.5 Kann die Indikation als Korrekturinstrument dienen?

9 Zusammenfassung

9.1 Medizin als Wissenschaft

9.2 Indikation im medizinischen Alltag und in der Literatur

9.3 Unterscheidungen

9.4 Indikation und Werte

9.5 Indikationsstellung

9.6 Unterschiedliche Verbindlichkeit für Arzt und Patient

9.7 Eigenschaften einer Indikationsstellung

9.8 Indikationsregeln und Indikationsgebiete

9.9 Indikation in der Medizin ohne Krankheitsbezug

9.10 Begrenzungen durch Indikation und die ärztliche Profession

9.11 Indikation: evidence based medicine und personalisierte Medizin

9.12 Die Ökonomisierung der Medizin und die Indikation

9.13 Praktische Konsequenzen

9.14 Eine Definition

9.15 Die Zukunft der Medizin

10 Indikation: Epilog

11 Literaturverzeichnis

Sachregister

 

Vorwort

 

 

 

Ein Vorwort bietet üblicherweise Gelegenheit, sich in Kürze zum Entstehen und zum Hintergrund eines Buches zu äußern und – vor allem – zu danken. Hat man bereits ein Buch geschrieben (und darin ein Vorwort verfasst), dann ist nicht auszuschließen, dass im bereits publizierten Vorwort wesentliche Aspekte der Entstehung auf den Punkt gebracht worden sind. Denn Bücher entstehen auch schon mal unter ähnlichen Bedingungen. Genauso ist es im vorliegenden Fall. Ich kann mich redlicherweise nur selbst zitieren, wollte ich den Entstehungsprozess dieses Buches in wenigen Worten charakterisieren. Ein wörtliches Selbstzitat ist zwar ungewöhnlich, gleichwohl nicht ungebührlich und in diesem Falle schlicht angemessen, weil es die gegenwärtige Situation des Schreibens in einer Universität treffend kennzeichnet:

»Es gehört zu den weit verbreiteten, viel beklagten und im Grunde paradoxen Erscheinungen einer akademischen Laufbahn, dass mit der Übernahme einer Professur die Zeit für wissenschaftliche Forschung zu einem äußerst knappen Gut wird. So ist es auch mir ergangen, und dieses Buch ist unter ständigem Bemühen entstanden, den aufdringlichen administrativen Verpflichtungen nicht allzu viel Zeit zu gewähren und die Konzentration zum Schreiben gegenüber der ansteckenden Zerstreutheit des Tagesgeschäftes zu schützen. Dass es nun fertiggestellt ist, freut mich umso mehr. Und wie die meisten Bücher ist es nicht ohne Unterstützung entstanden – ich bin zu Dank verpflichtet.« (Wiesing 2004, S. V.)

So ist es mir ergangen, genauso ergeht es mir derzeit und ich möchte auch diesmal Dank sagen: den Mitgliedern des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, die mir stets hilfreich zur Seite standen, wenn mich die Arbeit an diesem Buch vom Tagesgeschäft abhielt, und die eine erste Version des Buches kritisch unter die Lupe genommen haben, namentlich Dr. Daniel Becker, Prof. Dr. Hans-Jörg Ehni, Dr. Richard Kühl, Isabell Schneider und PD Dr. Henning Tümmers. Ohne ein funktionierendes Institut hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Frau Jeannie Braun danke ich für eilige Erledigung von allfälligen Literaturwünschen.

Frau Dr. Gabriele Sutor von der LVA-Klinik Norderney möchte ich danken, weil sie mir Räumlichkeiten in nördlicher Abgeschiedenheit zur Verfügung stellte; sie ermöglichten mir fruchtbare Arbeitszeiten. Dem Kohlhammer Verlag, namentlich Frau Dr. Annegret Boll, danke ich für die Betreuung bei der Drucklegung. Das Land Baden-Württemberg gewährte mir durch seine Regelungen ein Forschungsfreisemester und das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald ein Senior-Fellowship; beides beförderte mein Vorhaben nachdrücklich. Ihnen gilt mein herzlicher Dank, wie auch der Ludwig-Sievers-Stiftung, die die Publikation mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt.

Meiner Familie danke ich, dass sie mich in jeder Hinsicht unterstützt und gelegentlichen Mangel an Konzentration auf das Alltägliche nicht nur geduldet hat.

 

Urban Wiesing

Greifswald, im August 2017

 

1          Einleitung

 

 

 

Im Jahre 2009 hat der Deutsche Bundestag in einem Gesetz zu Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten festgeschrieben, dass der Arzt die Indikation für eine medizinische Maßnahme zu prüfen habe. Sofern sich ein Patient1 nicht mehr selbst zu einer Therapie äußern könne, gilt demnach u. a. Folgendes: »Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die […] zu treffende Entscheidung.« (§ 1901b, Absatz 1, Satz 1-2 BGB) Dieser Paragraf mag auf den ersten Blick nicht weiter verwundern. Er mag in Gesetzesform gießen, was allemal guter klinischer Praxis entspricht. Genau besehen enthält er jedoch einige konfliktträchtige und medizintheoretisch hochbrisante Aspekte – insbesondere zum Thema ›Indikation‹.

 

Zunächst einmal mutet es merkwürdig an, dass der Gesetzgeber den Ärzten vorschreibt, was seit den Hippokratischen Schriften zu den selbstverständlichen Bestandteilen der ärztlichen Tätigkeit gehört, nämlich zu prüfen, welche Maßnahme indiziert ist. Wer wollte das Gegenteil behaupten? Sollte ein Arzt etwa nicht prüfen, welche Maßnahme indiziert ist? Wohl kaum! Doch damit stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber die Ärzte auf Selbstverständliches zu verpflichten für nötig befunden hat. Was mag ihn bewogen haben? Bei der Komplexität von Gesetzgebungsverfahren lässt sich diese Frage retrospektiv zumeist nur mit Mutmaßungen beantworten. In diesem Fall ist jedoch anzunehmen, dass der Gesetzgeber der Einschätzung folgte, es bedürfe der gesetzlichen Erinnerung an das Selbstverständliche. Das unterstreicht nicht zuletzt der erläuternde Einschub »im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten«. Der Gesetzgeber ging wohl davon aus, dass Ärzte zu Unrecht Indikationen stellen und zu häufig das technisch Machbare für indiziert halten, eben ohne »den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten« zu berücksichtigen. Er hielt es offensichtlich nicht nur für geboten, auf das unstrittige Erfordernis einer Indikation hinzuweisen, sondern zugleich korrigierend anzuführen, was dabei zu berücksichtigen sei.

 

Und in der Tat, die klärende Erläuterung des Gesetzgebers erweist sich keineswegs als abwegig, denn was unter einer Indikation zu verstehen ist, ist offensichtlich umstritten, wie bereits eine oberflächliche Betrachtung der Literatur bestätigt. Der Gebrauch des Begriffes ›Indikation‹ ist »in der medizinischen Umgangssprache außerordentlich vage, unpräzise und teilweise widersprüchlich« (Schwarz 1993, S. 2), und zu Recht ist die Rede von einer »seltsamen Unbestimmtheit«, wenn es festzustellen gilt, »wie der behandelnde Arzt in seinem Denkprozess zur Indikation kommt« (Holtappels 2010, S. 1). In der Medizin wird zwar ständig von ›Indikation‹ gesprochen, dabei aber ganz Unterschiedliches gemeint und Unterschiedliches praktiziert. Kurzum: Der Gesetzgeber mahnt wohl aus gutem Grund einen angemessenen Gebrauch der Indikation an.

 

Darüber hinaus folgt genau besehen aus dem Paragrafen 1901b eine Konsequenz, die man in ihrer Tragweite für die Arzt-Patient-Beziehung nicht unterschätzen darf. Ein Arzt hat nach dessen Wortlaut die Indikation zu stellen und mit dem Betreuer des Patienten nur die Maßnahmen zu erörtern, die indiziert sind, nicht jedoch die Indikationsstellung. Allein zuständig für die Indikation ist demnach der Arzt, und in der Entscheidungsfolge ist zunächst eine Indikation zu stellen, anschließend das Indizierte zu besprechen. Das Gesetz erwähnt den Patientenwillen erst bei den zu erörternden, also indizierten Maßnahmen. Dabei hatte der Gesetzgeber eigentlich mit der Novelle zu Patientenverfügungen oder anderen Willensäußerungen des Patienten das dialogische Prinzip einführen wollen. Demnach habe der Arzt mit dem Betreuer bzw. dem Bevollmächtigten und den Angehörigen – sofern es die Dringlichkeit der gebotenen Intervention erlaubt – den mutmaßlichen Willen anhand früherer Äußerungen des Patienten zu erörtern. Nach Wortlaut des Paragrafen 1901b gilt die Verpflichtung zum Dialog jedoch nicht für die Indikationsstellung, sondern nur für die indizierten Maßnahmen.

 

Wenn ausschließlich der Arzt zuständig ist für die Indikation, dann kann er allein durch die Feststellung, dass etwas nicht indiziert ist, bestimmte Maßnahmen von der Erörterung mit Angehörigen, Betreuern bzw. Bevollmächtigten ausnehmen. So begrenzt er die zu diskutierenden Maßnahmen – und damit die Auswahl der möglicherweise später durchzuführenden. Doch ist diese Aufgabenteilung stets gerechtfertigt? Schließlich ist eine Indikation keineswegs stets über jeden Zweifel erhaben, nicht selten ist sie diskussionswürdig. Außerdem beinhaltet sie Elemente, auf die der Arzt keinen direkten Zugriff hat, sondern die von anderen übermittelt werden müssen. Womit begründet sich dann aber die alleinige ärztliche Zuständigkeit für die Indikation? Der Paragraf 1901b drängt auf eine Klärung, wer bei der Indikationsstellung welche Verantwortung trägt und was alles besprochen werden soll.

 

Die bedeutendste Konsequenz aus dieser Lesart wäre eine legitime Verweigerung einer Intervention ärztlicherseits, sofern sie nicht indiziert ist. Ausschließlich aufgrund seiner Fachkenntnisse darf ein Arzt, egal welche individuellen Präferenzen ein Patient auch besitzen möge, eine Therapie verweigern, sofern sie nach seinem Urteil nicht ›indiziert‹ ist. Und zwar – davon muss man ausgehen – nicht nur, wenn der Patient sich nicht mehr äußern kann, wie es der eingangs zitierte Paragraf regelt, sondern stets. Diese Verweigerung mag sicher in vielen Fällen unstrittig sein, aber auf welchen Argumenten beruht sie? Es gilt dabei zu bedenken, dass manche Indikation ein ungewisser Grenzfall ist. Überdies wäre zu klären, inwieweit individuelle Präferenzen des Arztes bereits in die Auswahl der Maßnahmen einfließen, die als indiziert gelten. Hinter dieser Frage schimmert der Vorwurf des Paternalismus. Der Arzt könnte für den Patienten sinnvolle Maßnahmen vorenthalten.

 

Der neue Paragraf des Betreuungsrechts mit seinen Ausführungen zur Indikation verweist somit auf durchaus gravierende Probleme der Medizin, die zu klären – so die Worte des Juristen Gunnar Duttge – auch »um des fundamentalen Selbstverständnisses ärztlicher Berufung willen« (Duttge 2006, S. 479) geboten ist. Ganz in diesem Sinne veranlassten die juristischen Unklarheiten zur ›Indikation‹ Verrel 2010 zu dem Kommentar: »Einer höchstrichterlichen Klärung harren jetzt noch die Maßstäbe und die Bedeutung der medizinischen Indikation« (S. 675). Dem mag man zustimmen. Doch die vorliegende Untersuchung ist von der festen Überzeugung getragen, es möge der höchstrichterlichen Klärung eine medizintheoretische vorangehen.

 

Diese ist dringend geboten. Denn bereits eine erste Sichtung der Literatur zum Thema ›Indikation‹ stößt auf augenfällige Diskrepanzen. In den Klassikern der Medizintheorie des 20. Jahrhunderts führt der Begriff ›Indikation‹ nur ein Schattendasein, sofern er überhaupt Erwähnung findet. Die Autoren jedoch, die sich explizit – und vor allem in jüngerer Zeit – mit der ›Indikation‹ befassen, schreiben dem Begriff entweder eine zentrale, an Bedeutung kaum zu überbietende Funktion im ärztlichen Entscheidungsprozess zu oder das krasse Gegenteil: Sie wollen ihn abschaffen. Dieser Kontrast wirft Fragen auf. Handelt es sich bei der Indikation um einen verzichtbaren oder unverzichtbaren Begriff, beschreibt er Bedeutendes im ärztlichen Denken und Handeln oder sind andere Begriffe besser geeignet, diese Tätigkeit zu strukturieren und zu normieren?

 

Anlass zur vorliegenden Untersuchung der ›Indikation‹ gibt es also mehrfach. Sie teilt sich in folgende Abschnitte: Zunächst sei der Forschungsstand zur Wortfamilie ›Indikation‹ geklärt und die unterschiedlichen Bedeutungen der einzelnen Begriffe seien genauer untersucht. Im zweiten Abschnitt folgt eine begründete Definition von Indikation, wobei zu unterscheiden ist zwischen einer Indikationsstellung, einer Indikationsregel und einem Indikationsgebiet. Ihre Elemente und deren komplexe Verknüpfung seien jeweils dargelegt. Überdies seien die Funktion einer Indikationsstellung in der Entscheidungsfindung sowie ihr Verhältnis zu Indikationsregel und Indikationsgebiet geklärt. Insbesondere wäre klarzustellen, welche präskriptiven und welche deskriptiven Anteile in eine Indikationsstellung einfließen. Handelt es sich auch um einen kryptonormativen Begriff, der in seinem Gebrauch der Gefahr unterliegt, durch versteckte normative Anteile ethische Fragen der Medizin zu verschleiern? Wie verhält es sich mit den Anteilen in der Indikationsstellung, die wissenschaftsfähig sind, und solchen, die es nicht sind? Nicht zuletzt wäre zu klären, wer zuständig ist, eine Indikation zu stellen. Diese Themen laufen letztlich auf die fundamentale medizintheoretische Frage hinaus: Braucht die Medizin einen Begriff von ›Indikation‹? Es ist zwar unstrittig, dass er eine wichtige Rolle im ärztlichen Alltag einnimmt. Zu klären ist jedoch, was er bedeutet und welche Rolle er vernünftigerweise einnehmen soll.

 

Der dritte Teil dieser Abhandlung verweist auf Herausforderungen und Konsequenzen für den Indikationsbegriff. Die Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten in Bereichen ausgeweitet, in denen man häufig nicht mehr von der Therapie einer Krankheit sprechen kann, wie beispielsweise der kosmetischen Chirurgie. Es stellt sich die Frage, ob damit eine Indikationsstellung überflüssig geworden ist oder ob eine abgewandelte Form von Indikation auch dort genutzt werden sollte? Dies zu klären geht einher mit der Frage, inwieweit die Indikation an einen Krankheitsbegriff gebunden ist, wohlwissend, dass letzterer durchaus umstritten ist.

 

Die Fragestellungen verweisen gleichermaßen auf das Selbstverständnis der Medizin als Profession. Was bedeutet es für die Profession, wenn sie sich in Bereiche vorwagt, die nicht durch eine ›klassische‹ medizinische Indikation geprägt sind? Inwieweit ist die Indikation für die Profession der Ärzte notwendig, selbst wenn sie sich in Bereiche vorwagt, die keinen Bezug zum einem Krankheitsgeschehen haben, beispielsweise die kosmetische Chirurgie? Die ärztliche Profession legt großen Wert darauf, im Gegensatz zu einem Gewerbe als ein freier Beruf anerkannt zu werden. Unterscheidet sich der Arztberuf von anderen Berufen dadurch, dass stets eine Indikationsstellung in die Legitimation der Handlungen einfließen muss? Die Untersuchung zur ›Indikation‹ will auf diese Weise auch einen Beitrag zu einem tragfähigen Professionsverständnis leisten.

 

Gleiches gilt für das epistemologische Selbstverständnis der Medizin. Die Bedeutung und Funktion der Wortfamilie dürfte ohne einen geklärten wissenschaftstheoretischen Status kaum zu bestimmen sein. Umgekehrt steht zu vermuten, dass ein reflektierter Indikationsbegriff Wertvolles zum Selbstverständnis der Medizin beitragen kann. Dies gilt es auch für die evidence based medicine (EBM) und die sogenannte personalisierte Medizin zu untersuchen. Abschließend sei die Funktion der Indikation im Rahmen der beklagten Ökonomisierung geklärt. Angesichts einer Steigerung von Interventionen, ohne dass medizinische Gründe dafür angeführt werden könnten, sei untersucht, ob sich die Indikation als begrenzendes Instrument einer unangemessenen Ökonomisierung eignet.

 

Die Begriffe Indikation, Indikationsstellung, Indikationsregel und Indikationsgebiet sollen hier einer grundlegenden medizintheoretischen und ethischen Untersuchung unterzogen werden, um begründete Empfehlungen für den praktischen Umgang mit den Begriffen herzuleiten und die Konsequenzen für weitere Bereiche der Medizin herauszuarbeiten. Die ermittelten Resultate sollen konstruktiv in eine reflektierte und vertretbare Nutzung münden, die Auswirkungen auf wichtige Entwicklungen der Medizin wie der evidence-based medicine und der personalisierten Medizin seien untersucht. Die vorliegende Studie beabsichtigt nicht, die juristischen Fragen zur Wortfamilie ›Indikation‹ zu klären. Dies muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. Jedoch erweisen sich juristische Abhandlungen, Urteile und Gesetze als hilfreich für die hier zu beantwortenden medizintheoretischen und ethischen Fragen. In diesem Sinne sei darauf zurückgegriffen. Die hiesigen medizinethischen Abschnitte wollen keine ›neue‹ Medizinethik entwickeln, sondern klären, welche ethischen Anteile die einzelnen Begriffe der Wortfamilie besitzen und wie die weithin unstrittigen ethischen Prinzipien der Medizin mit den Begriffen verwoben sind.

 

Dieses Buch widmet sich einem eher speziellen Thema der Medizintheorie. Doch der Versuch, die ›Indikation‹ genauer zu erforschen, berührt zwangsläufig weitere, gleichwohl gewichtige Bereiche der Medizin, darunter nicht zuletzt die Frage, wie sich die Medizin in Zukunft entwickeln soll. Die Beschäftigung mit der Indikation führt zu Themenfeldern, die weit über die unmittelbare Bedeutung der Wortfamilie ›Indikation‹ hinausreichen. Sie erlaubt damit einen gewissen Überblick zur Medizintheorie und berührt notwendigerweise Bereiche von zentraler Bedeutung für ein reflektiertes und argumentativ begründetes Selbstverständnis der Medizin. Mit einer Untersuchung zur ›Indikation‹ lässt sich insofern die gegenwärtige Medizin charakterisieren – wie sie ist und wie sie sein sollte. Das sei hier versucht. Die Studie geht zudem von der Überzeugung aus, dass die Tradition einer deutschsprachigen Theorie der Medizin, die mit Autoren wie Richard Koch, Karl Eduard Rothschuh, Nelly Tsouyopoulos, Wolfgang Wieland, Richard Toellner und anderen verbunden ist, dringend einer Ergänzung in Bezug auf die Begriffsgruppe ›Indikation‹ bedarf.

1     Ausschließlich aus Gründen der Lesbarkeit wird hier das generische Maskulinum verwendet. Es sind beide Geschlechter gemeint, sofern nicht anders erwähnt.

 

2          Indikation in der gegenwärtigen Literatur

 

 

 

Ohne Zweifel: Die Wortfamilie ›Indikation‹ und mit ihr die Begriffe ›Indikationsstellung‹, ›Indikationsregel‹ und ›Indikationsgebiet‹ finden zahllose Anwendungen in der Medizin und gehören zu den selbstverständlichen Begriffen des medizinischen Alltags. Sie sind dort nicht wegzudenken. Eine Sichtung der Begriffsfamilie in der klinischen, medizintheoretischen, medizinethischen und medizinrechtlichen Literatur der Gegenwart eröffnet jedoch ein hoch interessantes Phänomen, nämlich eine doppelte Diskrepanz. Neben ganz unterschiedlichen Vorstellungen zum Inhalt wird den Begriffen auf der einen Seite höchste Bedeutung beigemessen, auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die die Indikation abschaffen wollen. Zudem sind die Begriffe in der Medizin zwar allgegenwärtig, finden aber in zahlreichen Werken, insbesondere in Übersichtswerken und Lehrbüchern der genannten akademischen Disziplinen, höchst selten Erwähnung. Was hat es mit diesen Unverhältnismäßigkeiten auf sich?

2.1       Indikation in der Literatur

Der Begriff ›Indikation‹ kommt so gut wie in jedem deutschsprachigen medizinischen Lehrbuch und Lexikon vor, wird in diesen Zusammenhängen allerdings nur selten erläutert. Es bestätigt sich: Indikation oder Kontraindikation werden »weitgehend als selbstverständlich vorausgesetzt« (Schwarz 1993, S. 1). Ihre Nutzung wird hingegen nicht sonderlich hinterfragt. Dem liegt offensichtlich eine Einschätzung zugrunde, die Hartmann in Bezug auf den Begriff ›Indikation‹ geäußert hat: »[…] wir [die Ärzte] können mit ihm umgehen, weil wir es täglich üben. Er ist auch ein originär ärztlicher Begriff.« (Hartmann 1983, S. 157) Der tägliche Umgang mit dem Begriff ›Indikation‹ sei nicht in Abrede gestellt, doch können die Ärzte auch angemessen mit ihm umgehen?

 

Die oben angeführte Diskrepanz zwischen häufiger Erwähnung und expliziter Erläuterung lässt sich auch am Deutschen Ärzteblatt belegen. Von 1996 bis Januar 2016 publizierte es 216 Artikel mit dem Stichwort »Indikation«. Doch nur ganz wenige2 widmen sich der Problematik der Indikation an sich. Die weit überwiegende Zahl der Beiträge beschäftigt sich mit der Frage nach den Indikationsgebieten bestimmter Interventionen. Das offizielle ärztliche Standesblatt verdeutlicht einmal mehr: Die Indikation ist offensichtlich ein häufig genutzter Begriff in der Medizin, jedoch nur selten das Objekt von Untersuchungen.

 

Die wenigen Autoren, die sich ausdrücklich mit dem Begriff beschäftigen, schreiben ihm zumeist eine Bedeutung zu, die nicht zu überbieten ist. So stellt beispielsweise Neitzke fest: »Der Begriff ›Indikation‹ ist von zentraler Bedeutung für die Medizin.« (Neitzke 2008, S. 53; so auch Ott und Fischer 2015) Auch Schwarz 1993 hat keinen Zweifel, dass »Indikationsaussagen als explizite oder implizite Normierungen den Kern der Medizin als klinischer Handlungswissenschaft« bilden (S. 57; so auch Stock 2009, S. 299). Für Maio (2015) ist die Indikation »ein Zentralstück ärztlicher Entscheidungsvorgänge« (S. 433), für die Bundesärztekammer (2015) »ein grundlegender ärztlicher Entscheidungsprozess« (S. 5) und eine »unabdingbare Voraussetzung für begründetes ärztliches Handeln« (S. 9). Sie stelle zudem eine »zentrale vertrauensstiftende Säule ärztlichen Handelns« (ebd.) dar. Für Eichinger (2013) »kommt der Indikation eine Schlüsselstellung zu« (S. 145). Salloch (2011, S. 108), geht davon aus, dass der Indikation im Rahmen der ärztlichen Entscheidungsfindung eine vergleichbare Bedeutung zukommt wie dem Prinzip der Selbstbestimmung des Patienten. Nach den Worten von Raspe (1995) »ordnet, lenkt und legitimiert die individuelle Indikationsstellung das ärztliche Handeln, so dass es lege artis vonstattengehen kann« (S. 23)3. »Ordnet, lenkt und legitimiert« – diese Funktion ist an Bedeutung im ärztlichen Denken und Handeln kaum zu überbieten, allenfalls durch Holtappels Worte: Er geht davon aus, dass die »Indikation das A und O – will sagen: der Anfang und das Ende – jeder therapeutischen Maßnahme« ist (Holtappels 2010, S. 7).

 

Die wenigen expliziten Untersuchungen zur Indikation geben sich zudem höchst bedenklich, sofern Änderungen an deren enormer Bedeutung, ja Unverzichtbarkeit für die ärztliche Handlung auch nur zur Diskussion stehen. Die Bundesärztekammer sieht mit Besorgnis, dass angesichts von vermehrten ärztlichen Maßnahmen im Bereich der sogenannten wunscherfüllenden Medizin »die Indikation ein Stück weit ihre Leitfunktion eingebüßt« habe (Bundesärztekammer 2015, S. 271). Für Damm (2009) ist es angesichts des wachsenden Marktes von Schönheitsoperationen und sonstigen ärztlichen Betätigungen ohne eigentliche Indikation eine »Schicksalsfrage« der modernen Medizin, »ob und in welchem Maße medizinisches Handeln überhaupt noch an eine spezifische medizinische Indikation im traditionellen Verständnis gebunden bleibt« (S. 188). Auch dürfe ein Arzt – so Stock (2009) – selbst bei nachdrücklicher Bitte des Patienten nicht auf eine Indikationsstellung verzichten: »Die Pflicht, eine Indikation zu stellen, ist […] nicht dispositiv.« (S. 299)

 

Doch wie sieht es mit den Übersichtswerken aus, die sich dem ärztlichen Denken und Handeln widmen? Wie erwähnen sie den unverzichtbaren Begriff ärztlichen Handelns? Rothschuhs »Prinzipien der Medizin« von 1965 thematisieren die Indikation nur im Glossar, v. Uexküll und Wesiak (1998) erwähnen die Indikation in ihrer »Theorie der Humanmedizin«. nicht einmal dort, trotz des Untertitels »Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns«. Dies gilt auch für die »Prinzipien der Medizin« von Gross et al. (1998), die »Medizinphilosophie« von Borck (2016), Rager (1994) und die medizintheoretischen Bücher, die die Diagnose in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen und von großer Bedeutung für die deutschsprachige Medizintheorie des 20. Jahrhunderts waren, z. B. Wieland (2004) (Erstauflage 1975) oder Koch (1920). Letzterer zählt die Indikation nicht zu den »Grundbegriffen der Heilkunde: Krankheit, Gesundheit, Heilung, Behandlung, Diagnose und Prognose« (Koch 1920, S. 133), ohne dass es Anhaltspunkte dafür gäbe, dass der Begriff ›Indikation‹ in einem der genannten Begriffe aufgehen würde. Die Übersicht von Engelhardt und Schipperges (1980) zu den »inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert« verzeichnet ebenfalls keine bedeutenden Werke zur Indikation. Insofern bietet sich eine augenfällige Diskrepanz: Auf der einen Seite fehlt der Begriff fast vollständig in den Übersichtswerken, auf der anderen können die Spezialuntersuchungen seine Bedeutung gar nicht hoch genug preisen.

2.2       Indikation und Medizinethik: Ist die Indikationen wertbehaftet oder nicht?

In den medizinethischen Publikationen findet die ›Indikation‹ in letzter Zeit vermehrt Beachtung, vor allem, weil man sich die Frage stellt: Inwieweit ist eine Indikation wertbehaftet oder inwieweit handelt es sich um eine wissenschaftlich neutrale Feststellung? Hier gehen die Einschätzungen weit auseinander und ebenso die daraus zu ziehenden Konsequenzen. So unterscheidet Neitzke (2008) zwischen einer medizinischen und einer ärztlichen Indikation. Letztere besäße eine kaum zu überbietende Funktion für die Ethik: »Die ärztliche Indikation ist das Tor, durch das die Ethik Eingang findet in den überindividuell-rationalen Prozess ärztlicher Entscheidungsprozesse.« (S. 54)4 Eine ähnliche These vertrat Anschütz bereits gut zweieinhalb Jahrzehnte zuvor: »Die Indikationsstellung ist jedoch der einzige Ort, wo in den fast zwanghaften naturwissenschaftlich logischen Gedankengang von Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.« (Anschütz 1982, S. 3)5 Auch Illhardt 1983 verweist auf die normativen Anteile, die unabdingbar zu einer Diagnose hinzukommen müssen, wenn man eine Indikation stellen will. Eine Diagnose sei die Beschreibung eines Ist-Zustandes, eine Indikation weise auf einen Soll-Zustand, und deswegen müsse sie zwangsläufig normative Elemente enthalten.

 

Weitere Autoren bejahen einen Einfluss von Wertüberzeugungen auf die Indikation. Nach Raspe ist er nicht nur für die Indikationsstellung, sondern auch für abstrakte Indikationsregeln unvermeidlich. Er ist überzeugt, »dass sich IR [Indikationsregeln] niemals und nirgendwo ohne vielfältige Rekurse auf Werte und Normen etablieren lassen, eine Tatsache, die mir den Mut nimmt, an einen normativ bereinigten Begriff von Indikationsregel (und damit auch von Indikationsstellung) zu glauben« (Raspe 1995, S. 22).6 Sahm (2008) besitzt gleichermaßen keinen Zweifel an den »normativen Anteilen« einer Indikation (S. 124; siehe auch Müller-Busch 2010, Salomon 2010, Jonsen et al. 2006, S. 23, Möller 2010). Salloch (2011) spricht bei der Indikation von einer Berücksichtigung der »Interessen des Patienten« (S. 109), und auch für Dörries (2015) enthält die Indikation »patientenspezifische Bewertungen« (S. 20). Eichinger (2013) geht davon aus, dass zur Indikationsstellung auch »die subjektive Dimension der Befindlichkeit und der Wertvorstellungen des Patienten« gehört (S. 145, ähnlich auch Bünte 1985, S. 21). Für Neitzke (2015) lässt sich die Indikation »teilweise nur unscharf von Aspekten der Patientenautonomie und des Patientenwillens abgrenzen« (S. 91). Alt-Epping und Nauck (2012) betrachten den Patientenwunsch gar als »indikationsdefinierenden Co-Faktor«: Der Patientenwunsch könne »unter bestimmten, definierten Umständen […] in den Indikationsbegriff mit seinem derzeitigen Verständnis subsumiert werden« (S. 27). Eickhoff (2014) geht im Zusammenhang mit der Therapiebegrenzung noch weiter: »[…] die Indikation hängt unter Umständen allein am mutmaßlichen Willen des Patienten« (S. 87).7 Damit wäre »unter Umständen« das indiziert, was der Patient mutmaßlich will. Die Indikationsstellung würde demnach ausschließlich auf dem Respekt der Selbstbestimmung des Patienten beruhen. Doch damit stellt sich sogleich die Frage, ob sich der Begriff der Indikation nicht auflösen würde.

 

Das wäre einem anderen Autor gar nicht so unrecht – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Marckmann (2015) geht ebenfalls davon aus, dass in die Indikationsstellung Werte einfließen, kommt aber zu einer erstaunlichen Konsequenz. Was zahlreichen Autoren als Grund zur Freude dient, weil die Präferenzen der Patienten somit Einzug in die ärztliche Entscheidung finden, führt Marckmann zu ganz anderen Konsequenzen: »Genau diese Verbindung von empirisch-deskriptiven und normativen Anteilen macht die medizinische Indikation aber problematisch, da die in der Indikationsstellung zugrundeliegenden Werturteile in der Regel nicht expliziert und oft nicht bewusst getroffen werden. So kann der Eindruck entstehen, es handele sich bei der Indikationsstellung um ein rein auf medizinischem Fachwissen beruhendes Urteil, dessen Richtigkeit nur innerhalb der ärztlichen Expertise bestimmt werden kann.« (S. 113) Genau das sei aber nicht der Fall und führe deshalb zu einem inakzeptablen Paternalismus. Marckmanns Antwort: »Das Konzept der medizinischen Indikation ist aus ethischer Sicht nicht zu retten.« (S. 123) Es sei eine »konzeptionell saubere und ethisch angemessene Lösung (nur?) unter Verzicht auf den kryptonormativen Begriff der Indikation möglich« (S. 117).8

 

Für Robert M. Veatch (1991) sinkt die Bedeutung der Indikation interessanterweise durch den Einfluss der Ethik, insbesondere wegen der Selbstbestimmung des Patienten. Weil es letztlich bei ärztlichen Entscheidungen auf die Präferenzen und die Zustimmung des Patienten zu einer Intervention ankomme, verschwinde die Bedeutung der Indikation: »The notions […] of treatments being ›medically indicated‹ or ›treatment of choice‹ […] all collapse in a conceptual muddle« (S. 264). Das wiederum sieht sein amerikanischer Kollege Franklin G. Miller (1993) ganz anders und verweist auf Differenzierungen. Auch wenn die maßgebliche Rolle der Selbstbestimmung unbestritten sei, komme der Indikation gerade für eine gute Aufklärung – und damit für die Selbstbestimmung eines Patienten – höchste Bedeutung zu: »In order to exercise their autonomy rationally, patients need to know what treatment, if any, is medically indicated for their condition.« (S. 98) Insofern käme der Indikation in der ärztlichen Entscheidungsfindung keineswegs eine mindere Bedeutung aufgrund ethischer Erwägungen zu; sie sei überdies der Aufklärung vorzuschalten. Veatch und Miller gehören zudem zu den wenigen englischsprachigen Autoren, die sich der indication widmen.

 

Die bislang zitierten Autoren – bis auf Miller – gehen somit alle davon aus, dass Präferenzen und Wertungen des Patienten in die Indikationsstellung einfließen. Die meisten sehen das positiv, Marckmann hingegen als Grund, die Indikation abzuschaffen, und Veatch als ursächlich für deren »collapse«. Doch nicht alle Autoren sind der Überzeugung, dass die Indikation von den Wertungen des Patienten beeinflusst werden soll. Im Gegenteil, hierzu gibt es völlig konträre Vorstellungen. Der Wikipedia-Artikel zum Begriff ›Indikation‹ stellt fest, dass keinerlei ethische Aspekte in der Indikation enthalten sind: »Verwaltungstechnische, weltanschauliche, finanzielle, juristische oder andere nicht-medizinische Gründe bildet der Begriff Indikation in seiner grundlegenden Bedeutung nicht ab.« (Wikipedia o. J., zustimmend Hauck 2013, S. 3334) Auch für Möller (2010) steht fest: »Bei der Indikation handelt es sich […] um eine willensunabhängige Behandlungsgrenze« (S. 132).

 

In diese Richtung argumentieren auch Müller-Oerlinghausen und Linden (1981): »Die Frage nach der Indikation ist aus klinischer Sicht damit letztlich identisch mit der Frage nach dem Wirknachweis therapeutischer Interventionen« (S. 210). Auch für Putz und Gloor (2011) ist eine Intervention indiziert, wenn sie »aus ärztlicher Sicht unter Abwägung von Nutzen und Schaden, bezogen auf den konkreten Handlungsfall, gemeinhin sinnvoll« ist (S. 247; in diesem Sinne auch Dietl und Böhm 2012). Damit ist also nicht gemeint, was der Patient als sinnvoll ansieht (das wäre dann seine Wertung), sondern was die Medizin ›gemeinhin‹ so bewertet. An anderer Stelle spricht Putz von »medizinischer Gebotenheit (Indikation)« (Putz 2015, S. 20) Hier finden individuelle Einschätzungen des Patienten, gar sein (mutmaßlicher) Wille, keine Erwähnung.

 

Dies bekräftigt auch die Bundesärztekammer, verweist allerdings mit Nachdruck auf die jeweils individuell zu stellende Indikation, unter Berücksichtigung »der unverwechselbaren Person des Patienten und seine[r] lebensgeschichtliche [n] Situation mit all den daran anknüpfenden Annahmen über die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen der Maßnahme« (Bundesärztekammer 2015, S. 269). Die zu berücksichtigende Individualität begrenzt sich demnach auf die Wirkungen der Maßnahmen; von den Präferenzen des Patienten ist keine Rede.

 

Die höchst unterschiedlichen Überzeugungen zum Einfluss von Wertvorstellungen oder Wille des Patienten auf die Indikationsstellung wirken sich auch auf die Rolle des Patienten bzw. Bevollmächtigten aus. Für Sahm 2008 besteht kein Zweifel, dass die Indikationsstellung »ein dialogischer Prozess« ist: »Aufgrund ihrer Kenntnis der medizinischen Sachverhalte müssen Ärzte die Indikation im Gespräch mit Patienten oder deren Stellvertretern ›entwickeln‹.« (S. 124; so auch Müller-Busch 2010, Beckmann 2010, Alt-Epping und Nauck 2012) Der Grund dafür liege in einem Anteil der Indikationsstellung, der sich auf Werte beziehe: »Indikationsstellung ist ein auf fachlichem Wissen basierendes wertendes Urteil« (Sahm 2008, S. 124). Doch welchen Einfluss hat dieses Gespräch mit dem Patienten auf die Zuständigkeit für die Indikationsstellung? Bleibt es dabei, wie es vor allem Juristen fordern, die sich nicht zuletzt auf den eingangs erwähnten § 1901b Abs.1 BGB beziehen? »Die Indikationsstellung fällt in die alleinige Kompetenz des Arztes«, erklärt Verrel (2009, S. 78) mit Bezug auf Borasio (2006). Oder was folgt daraus, dass die Indikation »im Gespräch mit Patienten oder Stellvertretern« zu stellen ist? Ergibt sich zumindest eine Teilzuständigkeit für den Patienten? Wenn der Arzt zuständig sein sollte, müsste man angesichts der gegenwärtigen Arbeitsteilung dann die Zuständigkeit nicht auf das behandelnde Team erweitern (Holm 2011, siehe auch Dörries 2015, S. 21, Hunstorfer und Wallner 2016, S. 818)?

 

Fassen wir zusammen: Die Mehrheit der medizinethischen Autoren geht davon aus, dass die Indikation selbst oder deren Rolle in der ärztlichen Entscheidungsfindung erhebliche ethische Aspekte besitzen. Gleichwohl, das ist hoch kontrovers. Daneben findet sich bei den medizinethischen Aspekten der Indikation ein ähnliches Missverhältnis zwischen Standardwerken und Untersuchungen, wie es bereits bei den medizintheoretischen Werken festzustellen war. Bei einer Übersicht medizinethischer Standardwerke wird man interessanterweise feststellen, dass die Indikation »schlichtweg nicht vorkommt« (Dörries 2015, S. 14). Die Bücher schweigen zum Thema ›Indikation‹ (Schöne-Seifert 2007), erwähnen allenfalls die ›kindliche Indikation‹ beim Schwangerschaftsabbruch (Pöltner 2002, S. 148, Waibl 2004), die Herausforderungen für die ›Indikation‹ bei der wunscherfüllenden Medizin (Maio 2014) oder äußern sich anlässlich der Grundlagen des Arzt-Patient-Verhältnisses mit nur einem, zudem höchst fragwürdigen Satz zur Indikation: »Ein Patient kann übrigens dann nur rechtskräftig in eine vorgeschlagene Maßnahme einwilligen, wenn dafür auch eine ärztliche Indikation besteht.« (Wiesemann und Biller-Andorno 2005, S. 19)9 Haben die Übersichtswerke einen bedeutenden Aspekt der medizinischen Ethik vergessen oder haben die Autoren übertrieben, die die Indikation als das Eingangstor für die Ethik in das Arzt-Patient-Verhältnis betrachten (Anschütz 1982, Illhardt 1983, Neitzke 2008)?10

2.3       Der englische Sprachgebrauch

Interessant in diesem Zusammenhang ist ein ganz anderer Gebrauch des Begriffs im englischsprachigen Raum. Dort findet sich keine mit der deutschsprachigen Diskussion vergleichbare Auseinandersetzung zur ›indication‹.11 Und ›indication‹ ist auch nicht der maßgebliche Ort für die ärztliche Entscheidung, sondern wird zuallermeist in einem semiotischen Sinne genutzt: als Fakten, die etwas anzeigen, die auf etwas hinweisen. So definieren Jonsen et al. (2015) die indication wie folgt: »Medial indications are the facts and their interpretations about the patient’s physical and/or psychological condition that provide a reasonable basis for the physician’s clinical judgments aiming to realize the overall goals of medicine: prevention, cure, and care of illness and injury.« (S. 12.) ›Indications‹ sind demnach Fakten und deren Interpretation in Bezug auf das ärztliche Urteil, nicht aber die eigentliche Entscheidung für den Vorschlag zu einer Intervention. Eine ›indication‹ liefert eine Basis für das klinische Urteil, ist aber nicht das klinische Urteil, ist nicht ›physician’s clinical judgment‹. Insofern deckt dieses Verständnis weniger von der ärztlichen Entscheidungsfindung ab.12 Die in Deutschland mit dem Begriff verhandelten Probleme werden im englischsprachigen Raum eher unter medical decision making subsummiert. Entsprechend erwähnen die englischsprachigen Sammelwerke und Enzyklopädien zur Medizintheorie oder Medizinethik den Begriff ›indication‹ nicht oder nur am Rande13, ebenso die Bücher zum medical decision making14. Sie bearbeiten zentrale Elemente dessen, was im deutschen Sprachraum als Indikationsstellung gilt, nur ohne den englischen Begriff ›indication‹.

2.4       Indikation und Medizinrecht

Zurück zum deutschsprachigen Raum, der eine weitere interessante Unstimmigkeit aufweist, und zwar in den Übersichtswerken zum Medizinrecht (Suhr 2015, S. 112-162). Sie schreiben der ›Indikation‹ gleichermaßen ganz unterschiedliche Bedeutungen zu. Bei Laufs et al. (2009) nimmt die Indikation eine zentrale Rolle ein, insofern sie die erste von drei Bedingungen darstellt, die zur Legitimität einer ärztlichen Handlung erfüllt sein müssen: »Zuerst indes erfordert der ärztliche Eingriff eine Indikation« (S. 17). Überdies müsse das informierte Einverständnis vorliegen und die Handlung lege artis durchgeführt werden. Auch Stock (2009) betont die unverzichtbare Rolle der Indikation für die Legitimation des ärztlichen Handelns und will eine abgewandelte Form von Indikation für die kosmetische Chirurgie etablieren, was Suhr (2015) zu Widerspruch veranlasst. Andere Übersichtwerke hingegen erwähnen die Indikation nicht (Deutsch 1997, Dettmeyer 2001) oder nur im Zusammenhang mit dem Indikationsmodell beim Schwangerschaftsabbruch (Ratzel und Lippert 1998). Im Bereich des Medizinrechts scheint jedoch ein deutliches Bewusstsein vorhanden zu sein, dass es sich bei dem Begriff der ›Indikation‹ um einen zentralen Begriff der Medizin handelt und dass hier noch Vieles im Unklaren liegt. Wohl deswegen fordert Verrel (2010) die – bereits erwähnte – höchstrichterliche Klärung (S. 675).

2.5       Indikation im Umfeld von anderen Themen

evidence basedmedicine