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Vincent Andreas lebt als freier Autor und Regisseur in Berlin. Neben Erzählungen, Film- und Hörspieldrehbüchern für Erwachsene schreibt er Kinder- und Jugendliteratur.

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1. Abendrot

2. Große Enttäuschung

3. Ein böses Zeichen

4. Rätsel um Mikosch

5. Die ungarischen Reiter

6. Ein gutes Zeichen

7. Eine gute und eine schlechte Nachricht

8. Im Osten der wilden Puszta

9. Der Sturm

10. Hilfe für die Csikós

11. Den Wilderern auf der Spur

12. Entwischt

13. Das Versteck der Wilderer

14. Mikoschs Entscheidung

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Gedämpftes Rattern erfüllte das Zugabteil. Draußen vor dem Fenster flog die Landschaft vorüber: sanfte Hügel, Getreidefelder, Flüsse, Seen und Wälder, und über allem schien an einem wolkenlosen Himmel eine goldene Sommersonne.

Bibi Blocksberg, die kleine Hexe aus Neustadt, sah dösend hinaus. In der Ferne tauchten die ersten Ausläufer eines Gebirges auf.

„Irgendwo weit, weit dahinter“, dachte sie, „da liegt Ungarn.“

Vom Hinausschauen wurde sie schläfrig. Die Augen fielen ihr zu.

Plötzlich fühlte sie, wie jemand sie rüttelte.

„He, Bibi! Nicht schlafen!“

Bibi rieb sich die Augen. Vor ihr stand ihre Freundin Tina und erinnerte sie daran, dass sie in den Speisewagen gehen wollten.

Speisewagen? Ach ja, das Abendessen! Jetzt erst fiel Bibi auf, was für einen Hunger sie hatte!

„Ich bin schon unterwegs!“, rief sie, sprang auf und angelte den Rucksack mit ihrem Portemonnaie aus der Gepäckablage. Tina öffnete die Abteiltür, und Bibi folgte ihrer Freundin hinaus auf den Gang.

Bibi war in Hochstimmung. Ferien in Ungarn waren einfach das Größte! Begeistert hatten sie und Tina deshalb auch eine Einladung des Grafen Falko von Falkenstein angenommen. Sie sollten das Wildpferd Ákos zum Gestüt Szendrö begleiten. Der Hengst gehörte einem Freund des Grafen und wurde auf dem Gestüt für die Zucht gebraucht.

So lang die Reise nach Ungarn auch war, sie gehörte für Bibi einfach zu den Ferien dazu. Vorfreude war schließlich die schönste Freude, und wie immer genoss sie jede Minute der Bahnfahrt.

Tina war dieses Mal allerdings sehr bedrückt. Ihre Reise hatte nämlich einen Schönheitsfehler: Tinas Freund Alexander von Falkenstein durfte nicht mit dabei sein. Wegen seiner schlechten Schulnoten hatte sein Vater darauf bestanden, dass er in den Ferien mit einem Privatlehrer büffelte. Erst hatte Alex heftig protestiert, doch der Graf war unerbittlich geblieben und hatte am Ende sogar damit gedroht, seinen Sohn auf ein Internat zu schicken.

So fuhren die beiden Freundinnen nun ohne Alex nach Ungarn, ein Umstand, der Tina die ganze Ferienstimmung zu trüben schien. Bibi hatte sich fest vorgenommen, ihre Freundin aufzumuntern. Sicherlich vermisste Tina ihren Freund, aber auf dem Gestüt Szendrö gab es genug, was sie ablenken würde – nicht zuletzt das Wildpferd Mascha, das Tina von ihrem letzten Aufenthalt in Szendrö bereits kannte.

„Komm, Tina“, sagte Bibi und hakte sich bei ihrer Freundin unter, „gleich gibt es unser ungarisches Lieblingsgericht!“

„Mmmh, ja, jetzt ein schönes scharfes Gulasch!“, schwärmte Tina.

Bibi grinste. Endlich war es ihr geglückt: Seit ihrer Abfahrt aus Falkenstein hatte Tina zum ersten Mal gelächelt!

Im Speisewagen war noch ein Zweiertisch am Ende des Abteils frei.

„Jó estét kivánok!“, begrüßte sie ein freundlicher Kellner. „Ich wünsche einen guten Abend, die Damen. Darf ich Sie zu Ihrem Platz geleiten?“

Bibi und Tina schmunzelten über die förmliche Anrede und genossen es, zu den freien Plätzen geführt zu werden. Der Kellner rückte ihnen sogar die Stühle zurecht. Die Freundinnen setzten sich, und da sie bereits wussten, was sie essen wollten, gaben sie gleich ihre Bestellung auf.

Durch das Fenster sah Bibi, dass sie schon mitten in den Bergen waren, die eben noch in weiter Ferne gelegen hatten. Gerade in diesem Moment wand sich der Zug leicht schlingernd in einem steilen Bogen eine Steigung hinauf. Kurz darauf servierte ihnen der Kellner zwei Teller mit dampfendem Gulasch. Mit einem „Jó étvágyat“ wünschte er ihnen einen guten Appetit, verbeugte sich und ging dann zu vier Gästen am Nachbartisch, die bezahlen wollten.

Plötzlich wurde das leise Stimmengemurmel von einem lauten Ruf übertönt.

„Mann, Steve, was is ’n das? Hier ist ja alles voll!“

Bibi drehte sich um. Drei Männer hatten den Speisewagen betreten.

„Mach dir mal nicht ins Hemd, Kalle“, sagte der eine von ihnen, der mit „Steve“ angesprochen worden war. „Ich regel das schon.“

Er war ein breitschultriger Kerl mit Stiernacken und wie die beiden anderen etwa Mitte zwanzig. An seinem feisten Hals blinkte eine Goldkette. Die dünnen blonden Haare auf seinem runden Kopf begannen sich bereits zu lichten.

Seine beiden Kumpane wirkten neben ihm eher schmächtig. Der eine, den Steve mit Kalle angeredet hatte, war lang und dünn. Sein grell gemustertes Hemd hatte er weit aufgeknöpft. Der andere, ein kleiner drahtiger Kerl mit eng stehenden, stechenden Augen, trug einen ausgebeulten Jogginganzug.

„Du weißt doch“, raunte der dritte Kalle lachend zu, „Steve regelt immer alles.“

„Hast recht, Johnny“, rief Kalle, und die drei gingen zum Nachbartisch von Bibi und Tina.

Dort hatten die vier Gäste gerade bezahlt, was Steve gesehen hatte.

„Nu machen Sie mal ’n bisschen schneller“, schnauzte er sie an. „Quatschen können Sie auch woanders.“

Tina verdrehte die Augen. „Das sind ja drei ganz sympathische Typen“, flüsterte sie Bibi zu.

Die vier Gäste waren bereits aufgestanden. Sie warfen Steve, Kalle und Johnny empörte Blicke zu, sagten aber nichts weiter und verließen den Speisewagen. Die drei Männer fläzten sich auf die freien Stühle, und Steve schnipste ungeduldig nach dem Kellner.

„Am besten beachten wir sie gar nicht“, meinte Bibi.

Doch das war gar nicht so leicht. Nachdem der Kellner mit sichtlich pikierter Miene die Bestellung aufgenommen hatte, unterhielten sich die drei Männer weiter in einer solchen Lautstärke, dass Bibi und Tina sie nicht überhören konnten. Sie sprachen über ihre letzte Reise nach Kanada.

„Den Braunbären haben wir’s ordentlich gegeben, was?“, lachte Kalle.

„Klar, Mann, erinnert ihr euch noch an den kleinen Grizzly, wie dumm der aus der Wäsche geguckt hat, als er in der Falle saß?“, tönte Johnny.

Bibi blieb ihr letzter Bissen im Hals stecken. Die drei hatten wild lebende Bären gejagt! Und bezeichneten dies als „Abenteuerreise“! Wenn Bibi das richtig verstanden hatte, heizten sie dabei in einem Jeep durch die Gegend, stellten Fallen auf und jagten unschuldige Tiere!

„Aber die Wildpferde sind ein anderes Kaliber“, mahnte Steve. „Die sollen verdammt schnell sein! Da musst du sehen, wie du hinterherkommst.“

„Pah!“, schnaubte Johnny. „Ich kann’s kaum erwarten, dass mir einer von den Gäulen vors Lasso kommt!“

Bibi konnte kaum fassen, was sie da eben gehört hatte. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Im Augenwinkel sah sie, dass es Tina genauso ging. Wütend starrte Bibis Freundin zum Nachbartisch hinüber – und das hatte nun auch Steve bemerkt.

„Gibt’s ’n Problem, Rotschöpfchen?“, fuhr er Tina an.

„Allerdings!“, konterte Tina. Bibi konnte ihr anhören, wie wütend sie war. „Jagd auf Wildpferde machen – das ist ja wohl das Allerletzte!“

Die drei Männer lachten nur höhnisch.

Bibi spürte, wie in ihr die Wut aufstieg. Am liebsten würde sie die drei Männer in dicke, fette Kröten verwandeln. Leider hatte sie Graf Falko von Falkenstein ihr großes Ehrenwort geben müssen, auf der Fahrt nicht zu hexen. Doch je mehr die drei am Nebentisch lachten, umso schwerer konnte sie sich beherrschen.

„He, Blondi!“, rief Steve jetzt auch noch herüber. „Was guckst ’n du so blöd?“

Heimlich streckte Bibi ihre Finger unter der Tischplatte aus. Dann flüsterte sie: „Eene meene Tier in Nöten, die drei Männer sind jetzt ...“

Tina unterbrach sie hastig: „Bibi! Nicht! Denk daran, was du versprochen hast.“

Gerade noch rechtzeitig brach Bibi die Hexerei ab, und Tina winkte schnell den Kellner heran. Die beiden Freundinnen bezahlten. Als sie den Speisewagen verließen, konnte Bibi es nicht lassen und drehte sich noch einmal mit finsterer Miene zu den drei Männern um.

„Schönen Abend noch, Blondi!“, rief Steve ihr mit feistem Grinsen hinterher.

Mit einem lauten Rums schob Bibi die Abteiltür hinter sich zu.

Die beiden Freundinnen hatten sich noch immer nicht beruhigt, als der Zug eine halbe Stunde später einen längeren Zwischenhalt in einem Bergdorf einlegte, um die Lok auszuwechseln. Bibi und Tina hatten vor ihrer Abfahrt mit dem Zugbegleiter vereinbart, dass sie während des Aufenthalts nach dem Wildpferd sehen wollten. Tina steckte ein paar Leckerlis ein und ging mit Bibi hinaus auf den Bahnsteig. Der Zugbegleiter wartete schon auf sie. Er führte sie zum Transportwaggon am Ende des Zuges und öffnete den Mädchen die Tür. „Bitte sehr, die Damen“, sagte er. Wie der Kellner im Speisewagen machte auch er eine kleine höfliche Verbeugung.

„Köszönöm“, antwortete Bibi, die sich an das ungarische Wort für „danke“ erinnerte.

Als sie mit Tina in den Waggon kletterte, wurden die beiden von einem freudigen Wiehern begrüßt. Ákos prustete und schnaubte. Bibi tätschelte dem Hengst den Hals, und Tina gab ihm die Leckerlis.

„Ja, mein tapferer Ákos!“, raunte Bibi ihm zu.

Mit dem Pferd war alles in Ordnung. Ákos schien kein bisschen nervös zu sein. Bibi und Tina wussten, dass er schon öfter mit dem Zug transportiert worden war. Eine solche Fahrt machte ihm offenbar nicht das Geringste aus.

Dass hingegen mit Bibi und Tina nicht alles in Ordnung war, schien er zu spüren. Nachdem er die Leckerlis verputzt hatte, stupste er Bibi und Tina mit seiner feuchten Schnauze aufmunternd an.

„He, nicht schubsen!“, protestierte Bibi lachend.

Tina sah Ákos tief in die dunkelbraunen Augen.

„Dass jemand Jagd auf so ein liebes Tier machen kann“, murmelte sie.

Bibi hatte das Gleiche gedacht. Die Freundinnen wurden von dem Zugbegleiter darauf aufmerksam gemacht, dass die Reise gleich weitergehen würde. Sie mussten wieder in ihren Waggon zurück. Bibi und Tina drückten und herzten Ákos zum Abschied und wünschten ihm eine gute Nacht.

Tina atmete die klare frische Bergluft ein, als sie mit Bibi am Zug entlang zurücklief.

„Irgendwie geht in diesen Ferien alles schief“, seufzte sie. „Erst darf Alex nicht mit, und dann treffen wir diese drei schrecklichen Typen im Speisewagen!“

Die Glocke eines Kirchturms schlug neun Uhr. Ihr Klang hallte von den Bergen wider. Bibis Blick schweifte über die Abhänge. Die Sonne stand tief und tauchte die Gipfel in ein leuchtendes Rot. Es sah aus, als würden sie glühen.

„Guck doch mal, wie schön das aussieht!“, versuchte Bibi ihre Freundin aufzumuntern. Ihr fiel ein Sprichwort ein, und sofort wurde ihr wieder leichter ums Herz. „Weißt du nicht, was das rote Glühen bedeutet? ‚Abendrot – Schönwetterbot’! Das ist bestimmt ein gutes Zeichen!“

Damit gelang es Bibi heute zum zweiten Mal, Tina zum Lächeln zu bringen.

„Du wirst sehen“, meinte Bibi zuversichtlich, „auch ohne Alex werden das ganz tolle Ferien auf dem Gestüt Szendrö!“

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Während der Zug in der Nacht ohne weiteren Zwischenhalt durch die Berge fuhr, schliefen Bibi und Tina friedlich in ihrem Abteil und träumten von ihren Ferien auf dem Gestüt Szendrö, von der wilden Puszta und von ihren Pferden.

Am nächsten Morgen wachte Bibi von einem Kitzeln in der Nase auf. Der Vorhang stand einen Spalt weit offen, und ein Sonnenstrahl fiel Bibi direkt ins Gesicht. Mit einem „Ha…ha…hatschi!“ fuhr sie hoch. Gleich war sie hellwach. Sie sprang aus dem Bett und zog die Vorhänge auf.

Draußen glitzerte das Wasser eines riesigen Sees in der Morgensonne. Endlos erstreckten sich seine Ufer bis zum Horizont. Segelboote glitten durch die sanften Wellen. Vor den Fenstern des Zuges flogen zwei Schwäne einen weiten Bogen und setzten auf der Wasseroberfläche zur Landung an.

Bibi kannte den See. Es war der Balaton, der Plattensee, im Westen Ungarns. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie Kérekes erreicht hatten. Trotzdem war Bibi schon ganz aufgeregt.

„Aufwachen, Tina!“, rief sie und rüttelte ihre Freundin. „Wir sind in Ungarn!“

Tina reckte und streckte sich. Als ihr Blick aus dem Fenster fiel, war auch sie gleich putzmunter.

Die beiden Freundinnen gingen in den Waschraum. Als sie kurz darauf zu ihrem Abteil zurückkehrten, kam ihnen der Zugbegleiter mit seinem Snackwagen im Gang entgegen. Mit einem fröhlichen „Jó reggelt!“ wünschte er ihnen einen guten Morgen. „Was darf es sein, die Damen?“, fragte er. „Ein kleines Frühstück?“

Das war jetzt genau das Richtige, fanden Bibi und Tina. Der Zugbegleiter reichte ihnen belegte Brötchen und zwei große Becher mit Kakao, und die Freundinnen nahmen am Fenster ihres Abteils Platz.

Gerade fuhr der Zug über eine Brücke, und Bibi und Tina konnten weit unten das tiefblaue Wasser der Donau erkennen. Nur wenig später breitete sich vor ihnen die weite Ebene der Puszta aus.

Einige Male hielt der Zug in kleineren Ortschaften, doch endlich wurde über Lautsprecher auf Ungarisch, Englisch und Deutsch der nächste Halt angekündigt: Kérekes!