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Kinder sind toll – bis auf die Trotzphase?

Das Leben mit Kindern ist wundervoll. Es birgt einen besonderen Zauber, diese kleinen Menschen beim Großwerden zu begleiten. Jeden Tag erleben wir, wie sich unser Baby weiterentwickelt und die Welt mehr und mehr wahrnimmt. Es lernt, sich zu drehen, zu krabbeln, zu laufen. Verzückt lauschen wir den ersten Worten, filmen die ersten unsicheren Schritte und schicken voll Stolz Fotos von unserem reizenden Nachwuchs an Freunde und Familie. Es könnte so schön sein!

Doch auf einmal ändert sich alles mit dem ersten kindlichen »Nein« oder einem schlichten, aber energischen »Ich!«. Manchmal beginnt das schon in der Babyzeit, wenn das Kind auf einmal Dinge erkunden möchte, die wir nicht für seine kleinen Hände vorgesehen hatten. Wenn sich das Kind dann plötzlich auf den harten Fußboden wirft und umherrollt oder mit Armen und Beinen um sich schlägt, erkennen wir es kaum wieder. Gerade eben war es noch ein niedliches, zufriedenes Baby und nun wird das Zusammenleben zu einem Drahtseilakt. Hat das Kind bisher immer freudig unseren Ideen zugestimmt oder sich zumindest ablenken lassen, tritt es nun bestimmt für seine eigenen Wünsche ein.

Als Eltern sind wir es gewohnt, die Richtung vorzugeben und den Tag nach unseren Vorstellungen zu strukturieren. Doch auf einmal ist dies nicht mehr problemlos möglich, denn das Kind bringt seine ganz eigenen Vorstellungen in das Familienleben ein und vertritt sie mal lauter, mal leiser.

Diese Seite der kindlichen Entwicklung wird gewöhnlich nicht mehr liebevoll dokumentiert, denn sie stört das bisher harmonische Familienleben. Vielen Eltern erscheint die Autonomiephase als die schwierigste Zeit der frühen Kindheit.

Je näher der zweite Geburtstag des Kindes rückt, desto mehr beginnen viele Eltern, sich vor den ersten Autonomiebekundungen des Kindes zu fürchten, da sie ja von allen Seiten hören, wie anstrengend diese Zeit sei. So manche Familie macht sogar schon früher die Erfahrung, dass das Kind einen eigenen Willen hat, den es durchsetzen möchte. Oft heißt es nun, das Kind wolle Grenzen austesten oder es gehe um ein Machtspiel und man müsse es in die Ecke stellen oder mit anderen Strafen erziehen.

Doch die Autonomiephase, wie man die Zeit der beginnenden Eigenständigkeit nennt, ist eine wichtige Phase der kindlichen Entwicklung, die wir nicht unterdrücken sollten, denn sie hat Auswirkungen auf das gesamte Leben, vor allem auf den Umgang mit Stress und Konflikten. Kinder lernen in dieser Zeit, sich selbst zu regulieren – zunächst mithilfe der Erwachsenen, später eigenständig. Wir Eltern stehen in dieser Phase nicht, wie oft behauptet wird, hilflos neben dem wütenden Kind, sondern unterstützen seine soziale Kompetenz und seine ganzheitliche Entwicklung, wenn wir es gut begleiten.

Es gibt einen großen Baukasten an Hilfsmitteln, mit denen Eltern gut durch die Autonomiephase kommen können. Anfangen sollten wir immer mit dem Verständnis der individuellen Entwicklung und Denkweise unseres Kindes. So erfahren wir, worum es wirklich geht in einem Konflikt. Wenn wir wissen, wie unser Kind denkt und handelt und warum, können wir unseren Alltag so gestalten, dass das Kind mehr Möglichkeiten der Teilhabe hat und weniger Konflikte auftreten, sei es beim Anziehen oder beim Essen. Es ist gar nicht so schwer, dem Kind mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen, und entlastet uns als Eltern schließlich sogar.

Mit einigen guten »Geheimzutaten« für unseren Familienalltag und dem Weglassen einiger »Negativzutaten« können wir unsere Kinder liebe- und verständnisvoll durch die Autonomiephase begleiten, ohne uns selbst zu sehr zu verbiegen.

 

»Wir registrieren jeden Meilenstein der motorischen Entwicklung und jedes neue Wort, doch an die nicht minder beeindruckende Entwicklung der emotionalen Fähigkeiten verschwenden wir kaum Gedanken. Dabei ist dieser Aspekt der kindlichen Entwicklung in vielfacher Hinsicht der wichtigste von allen, weil er das entscheidende Fundament legt, auf dem jede andere geistige Fähigkeit gedeiht.«

Lise Eliot

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Vielleicht interessiert Sie, wer ich bin?

Als Diplom-Pädagogin und Familienbegleiterin arbeite ich seit vielen Jahren mit Eltern von der Zeit der Schwangerschaft bis hinein in die ersten Lebensjahre des Kindes. In Kursen, Beratungen und nicht zuletzt online durch meinen Elternblog habe ich in den vergangenen zehn Jahren viele Einblicke in unterschiedliche Familienleben erhalten. Mit Kindern im Alter von acht, vier und eineinhalb Jahren habe ich auch persönlich die Autonomiephase schon zwei Mal durchlebt und stehe mit meinem dritten Kind gerade wieder am Anfang einer neuen gemeinsamen Reise durch diese Zeit. Jedes Mal verläuft diese Phase ein wenig anders, denn jedes Kind bringt ein anderes Temperament mit und hat andere Bedürfnisse und Fähigkeiten der Regulation.

Mit meinem ersten Kind erlebten wir in all den Jahren eine einzige Situation, in der es sich auf den Fußboden warf und schreiend umherrollte. Mein zweites Kind hatte von Beginn an ein anderes Temperament und hat mir die Augen geöffnet für eine Sichtweise dieser Phase, die ich vorher nicht einnehmen konnte, da ich zu sehr von dem beeinflusst war, was gewöhnlich über »das Trotzen« zu lesen ist. Wir standen an der Supermarktkasse – der Klassiker! – und mein Zweieinhalbjähriger wollte sich dort an den Süßigkeiten bedienen. Ich war jedoch damit nicht einverstanden und erklärte kurz und knapp, die Süßigkeiten sollten zurückgelegt werden. Mein Kind stampfte wütend auf, warf die Süßigkeiten auf den Boden und schrie: »Ich! Will! Aber! Nicht!« »Oh bitte, trotz jetzt hier nicht herum!«, sagte ich. Die prompte und schlichte Antwort war: »Nein, du trotzt, Mama!« Und damit hatte mein Sohn gar nicht so unrecht.

 

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Die Autonomiephase

WAS BEDEUTET »TROTZEN«?

Den vielleicht größten Fehler, den wir machen können, ist, die Autonomiephase als »Trotzen« zu bezeichnen. Denn damit beschränken wir unseren Blick auf das Kind und grenzen unsere Handlungsmöglichkeiten ein. Doch wenn wir verstehen, warum unsere Kinder so sind, wie sie sind, können wir zusammen mit ihnen Lösungen entwickeln, um einen entspannten Weg zu finden. Wir stehen gerade erst am Anfang dieses Lebensabschnitts. Wer jetzt schon einen guten Weg findet, hat es in den folgenden Jahren leichter.

»Trotzen« ist kein Fehlverhalten

Über viele Jahrzehnte hinweg haben wir eine völlig falsche Perspektive auf das vermeintliche Trotzverhalten von Kindern vermittelt bekommen. Denn es ist keineswegs ein Fehlverhalten, sondern ein wichtiger und notwendiger Entwicklungsschritt des Kindes.

Dem Duden zufolge ist Trotz ein »hartnäckiger [eigensinniger] Widerstand gegen eine Autorität aus dem Gefühl heraus, im Recht zu sein«. Trotz ist nach dieser Definition also ein bewusster und vehement vorgebrachter Starrsinn.

So sehr wir diesen Eindruck vielleicht in einem solchen Moment mit unserem Kind auch haben mögen, sind wir damit dennoch aus zwei wichtigen Gründen auf dem Holzweg: Der erste Grund besteht darin, dass das Verhalten des Kindes sinnvoll und in Hinblick auf seine Entwicklungsbedürfnisse genau richtig ist. Der zweite Grund ist, dass es keinesfalls bewusst gegen uns ankämpft, da es dazu von seinem Entwicklungsstand her gar nicht in der Lage ist. Die Grundannahmen über die Trotzphase, die uns viele Jahre gesellschaftlich eingetrichtert wurden, sind schlichtweg falsch.

Deswegen fällt es uns auch so schwer, einen guten gemeinsamen Weg durch diese Zeit zu finden – uns fehlen das Verständnis und die Vorbilder. Anders als die gängige Trotzdefinition es uns vermuten lässt, geht es im Verhalten unseres Kindes nicht in erster Linie um die Auflehnung gegen eine Autorität. Es ist – wie wir sehen werden – kein Machtspiel. Unsere Kinder zeigen mit einem Wutanfall auch weder schlechte Manieren, noch wollen sie uns auf der Nase herumtanzen.

»Trotzen« ist kein Fehlverhalten des Kindes. Unsere Kinder zeigen ein Verhalten, das Kinder überall auf der Welt in dieser Art zeigen und das selbst bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Schimpansen, zu finden ist. Auch wenn wir als Eltern manchmal das Gefühl haben, nur unser eigenes Kind würde sich so benehmen und nur wir hätten dieses schwere Los des wütenden Kleinkindes zu tragen, sind wir damit keineswegs allein.

Eltern überall auf der Welt haben Kinder, die ihren Unmut mit Schreien, Weinen, Schlagen oder Umherrollen auf dem Fußboden kundtun. Führen wir uns dies vor Augen, wird uns klar: Irgendetwas an diesem Verhalten muss sinnvoll sein, wenn Menschen auf der ganzen Welt es im gleichen Entwicklungsalter zeigen. Die Natur toleriert nur selten Verhaltensweisen, die unnütz für die Entwicklung wären.

Kinder wollen Eltern nicht erzürnen

Zudem können wir sicher sein, dass Kinder einen inneren Antrieb zum Überleben haben, der ihr Verhalten uns Erwachsenen gegenüber mitbestimmt: Solange sie noch klein sind, sind sie auf den Schutz, die Pflege und Zuwendung ihrer Bindungspersonen angewiesen.

Kinder gehen eine Bindung ein zu den nahestehenden Personen, die sie umsorgen. Je nachdem, wie sich die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind gestaltet, können unterschiedliche Bindungsmuster entstehen. Damit sind verschiedene Formen gemeint, wie Kinder und Eltern miteinander umgehen: ob sich die Kinder sicher fühlen und auf ihre Bedürfnisse prompt und richtig eingegangen wird oder ob ihre Bedürfnisse oft übergangen werden und sie sich weniger sicher angenommen fühlen.

Diese Bindungsmuster haben einen Einfluss darauf, wie das Kind die Welt wahrnimmt und weitere Lernerfahrungen darin macht. Sie wirken sich auch auf seinen Schulerfolg und seine Freundschaften aus. Und auch wenn das Bindungsmuster, das ein Kind durch die Interaktion mit den Eltern erwirbt, nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt ist, hat es über viele Jahre einen Einfluss auf das Erleben und Wahrnehmen des Kindes.
In Bezug auf das »Trotzen« ist das Wissen um die Existenz der Bindung deswegen wichtig, weil die Art, wie wir Erwachsene mit den negativen Äußerungen unseres Kindes umgehen, sich auf die Bindung auswirkt. Dabei ist das Kind, ganz gleich wie wir auf sein Verhalten reagieren, auf uns Erwachsene angewiesen und stellt eine Bindung zu uns her. Vereinfacht ausgedrückt, sind Kinder auch dann mit ihren Eltern verbunden, wenn diese kein positives Erziehungsverhalten zeigen, sie vielleicht sogar misshandeln oder missbrauchen.

Weil sie in vielen Bereichen noch lange Zeit Unterstützung benötigen, gefährden sie diese Verbindung nicht und halten sie selbst dann aufrecht, wenn Eltern ein äußerst negatives Verhalten zeigen, das sich langfristig schädlich auf die psychische und physische Gesundheit des Kindes auswirkt. Deswegen haben auch Kinder aus gewalttätigen Familienkonstellationen eine Bindung zu ihren Eltern.

Dies verdeutlicht uns: Wenn ein Kind ein Verhalten zeigt, das uns verzweifeln lässt, macht es dies nicht zwangsläufig, um uns zu ärgern – besonders nicht in der frühen Kindheit. Es wäre evolutionär nicht sinnvoll, wenn kleine Kinder sich so verhalten würden. Wir brauchen daher ein Erklärungsmodell, das dem Handeln des Kindes einen plausiblen Grund gibt. Das Kind verfolgt mit seinem Handeln ein Ziel, das uns Erwachsenen vielleicht manchmal nicht einleuchtet oder das wir uns erst später erklären können. Aber auch wenn wir es nicht sofort erkennen, hat das kindliche Verhalten einen Sinn.

Kurze Übersicht zur Bindungstheorie

Die Bindungstheorie geht auf den britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby zurück: Er fand heraus, dass frühe Umwelterlebnisse und Bindungserfahrungen die psychische Entwicklung des Kindes beeinflussen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachtete er die Auswirkungen von Trennung und Verlust der Bindungspersonen auf Kinder und stellte in einer Untersuchung für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fest, dass fehlende Beziehungen und Bindungen gravierende Auswirkungen auf Kinder haben können – bis hin zum Tod des Kindes. 1970 entwickelte seine Mitarbeiterin Mary Ainsworth den »Fremde-Situation-Test«, der zur Bestimmung des Bindungsmusters diente: Neben dem sicheren, unsicher-vermeidenden und unsicher-ambivalenten beschrieb sie das desorganisierte Bindungsmuster von Kindern traumatisierter Eltern. Die Erkenntnisse von John Bowlby und Mary Ainsworth waren wegweisend für ein neues Bild des Kindes und sind noch heute Basis für viele Untersuchungen. Heute ist bekannt, dass die Bindungsmuster der frühen Kindheit nicht ein Leben lang bestehen bleiben müssen, sondern veränderbar sind. Doch ihr Einfluss auf die kindliche Entwicklung ist sicher.

Was kleine Kinder wirklich wollen

Betrachten wir das Ziel der meisten Handlungen in dieser Zeit, wird schnell klar, dass viele Wutsituationen aus zwei Gründen entstehen:

Das Kind fordert Selbstständigkeit ein, die wir ihm nicht zugestehen wollen oder können: »Ich will das alleine machen!« – »Ich möchte aber noch spielen!«

In den Augen des Kindes gibt es eine ungerechte Verteilung von Ressourcen: »Ich will auch …« – »Ich will nicht teilen!«

Diese beiden großen Themen passen auf den ersten Blick vielleicht nicht zusammen, ergänzen sich jedoch auf den zweiten Blick hervorragend.

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Auch wenn Kinder in der Autonomiephase verstärkt Selbstständigkeit einfordern, so sind sie doch nach wie vor auf Geborgenheit, Nähe und die liebevolle Zuwendung ihrer Bezugspersonen angewiesen.

Selbstständigkeit

Im ersten Lebensjahr erwirbt das Kind die grundlegenden Fähigkeiten, die es für das Leben benötigt. Es beginnt die Umgebungssprache zu verstehen und erste Worte darin mitzuteilen und lernt, sich fortzubewegen. In dieser Zeit lassen wir unserem Kind meist noch viel Spielraum, um diese Kompetenzen zu erwerben. Erst wenn es krabbelt und nach Dingen fasst, die es nicht erreichen soll, greifen wir mit einem »Nein!« ein. Hier treffen verschiedene Vorstellungen aufeinander. Oft reagieren schon Babys mit Verärgerung darauf, wenn ihnen Dinge untersagt werden, doch lassen sie sich noch leichter ablenken und trösten als ein Kleinkind.

In den folgenden Jahren baut das Kind seine Grundfertigkeiten weiter aus: Die Feinmotorik wird präziser, die Grobmotorik erweitert sich und das Kind lernt, sich immer besser sprachlich auszudrücken. Für die Verfeinerung all dieser Bereiche ist es darauf angewiesen, sich aktiv mit der Welt auseinanderzusetzen: Es muss Treppen laufen können, Freiraum zum Springen haben, mal mit Schwung und großen Bewegungen und mal mit kleinen Strichen malen können. Es muss singen, lachen, tanzen dürfen. Auch wenn wir unserem Kind viele – vor allem schlechte – Erfahrungen abnehmen möchten, ist es wichtig, dass es diese Lernerfahrungen selbst machen kann. Nur so kann es Fähigkeiten ausbauen, die es in dieser Welt benötigt. Es wird nicht lernen, sich selbst anzuziehen, wenn es dazu keine Möglichkeiten hat. Und es wird nicht lernen, sich bei einem Sturz gut abzurollen, wenn wir es nicht auch mal hinfallen lassen.

Für uns Eltern ist es manchmal schwer einzuschätzen, was das Kind schon kann. Manchmal sind wir dazu verleitet, dem Kind bestimmte Sachen zu untersagen, weil es noch zu klein ist oder für die Aufgabe einfach zu viel Zeit aufwenden müsste, die wir gerade nicht haben. Wir unterbinden ein Verhalten aus für uns verständlichen Gründen. Doch für das Kind, das seinen eigenen Plan hat und die entsprechenden Kompetenzen erwerben möchte, ist diese Einschränkung frustrierend: Es hat das dringende Bedürfnis, sich mit dieser Sache zu beschäftigen, und möchte sich in seinem Entwicklungsdrang nicht behindern lassen. Wie wir noch sehen werden, kann es unsere Perspektive oft noch gar nicht einnehmen und widersetzt sich nicht absichtlich dem, was wir sagen, sondern versteht unseren Standpunkt wirklich nicht.

Der innere Bauplan unserer Kinder, der ihnen im Alter von zwei bis vier Jahren vorgibt, ganz besonders auf Selbstständigkeit zu beharren, kommt nicht von ungefähr. Evolutionär betrachtet, hat das kindliche Verhalten in genau dieser Zeit einen besonderen Sinn. Dazu brauchen wir nur die Rahmenbedingungen von Steinzeitkindern zu betrachten: Sie wurden in diesem Alter abgestillt und mussten lernen, sich selbst zu versorgen. Dieses evolutionäre Erbe tragen unsere Kinder noch immer in sich; ihr heutiges Verhalten geht auf die Bedürfnisse von damals zurück. Weil es damals ein Überlebensvorteil war, Dinge selbst erledigen zu können, fordern unsere Kinder dies auch heute noch ein – auch wenn wir uns heute viel länger und ausgiebiger um sie kümmern, als es unsere Vorfahren taten.

Im zweiten Kapitel (siehe > ff.) werden wir uns mit der Entwicklung und den Bedürfnissen in der frühen Kindheit noch genauer befassen und daraus mögliche Handlungsmuster für den Alltag ableiten.

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Nach dem Abstillen versucht das Kind mehr als zuvor, auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen, um sich mit aller Energie seine Ressourcen zu sichern. Das erklärt zum Teil sein vermeintlich schwieriges Verhalten in der Trotzphase.

Bestmögliche Versorgung

Der Blick in die Vergangenheit liefert auch in Hinblick auf das Bedürfnis nach Ressourcen eine sinnvolle Erklärung für das kindliche Verhalten: Während das Steinzeitkind auf der einen Seite seine Kompetenzen ausbaute, wurde es auf der anderen Seite durch die Mutter, die vielleicht schon das nächste Geschwisterkind erwartete, nicht mehr so versorgt wie zuvor. Und auch wenn es einerseits viele Dinge zunehmend allein erledigen konnte, war es andererseits weiterhin auf seine erwachsenen Bezugspersonen angewiesen. Es musste sicherstellen, dass seine Bedürfnisse nicht überhört und weiter erfüllt werden würden. In einer größeren Gruppe musste es lernen, sich durchzusetzen und auf sich aufmerksam zu machen. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster beschreibt dieses kindliche Verhalten, in dem es um die Sicherung der Ressourcen in der Abstillzeit geht, als Abstillkonflikt. Auch Ergebnisse moderner Forschung passen zu dieser Annahme: Das Liebeshormon Oxytocin, das unter anderem beim Körperkontakt und beim Stillen ausgeschüttet wird, unterstützt die Selbstlosigkeit der Mutter, wodurch sie ihr Verhalten auf das Wohlergehen des Kindes ausrichtet. Das Stillhormon Prolaktin führt laut dem Gynäkologen Michel Odent (siehe Buchtipp >) zu »Geisteszuständen von Untergebenheit und Unterwerfung«. Stillt die Mutter, stellt sie sich dank der Hormone ganz auf das Baby ein. Nach der Stillzeit muss sich das Kind zunehmend selbst um die Erfüllung seiner Bedürfnisse kümmern und diese einfordern.

Das kindliche Gehirn kann nicht anders

Um das kindliche Verhalten zu verstehen, ist es auch wichtig, sich mit den Verarbeitungsmöglichkeiten des kindlichen Gehirns zu befassen. Denn anders, als wir oft annehmen, können Kinder in emotionalen Situationen noch nicht bewusst und überlegt reagieren.

Wenn wir ehrlich sind, fällt es uns selbst ja in einigen Situationen ebenfalls schwer. Auch hier sehen wir, dass das kein Fehlverhalten ist, sondern eine sehr sinnvolle Einrichtung der Natur – die uns Eltern heute nur manchmal in Schwierigkeiten bringt.

Wie Erwachsene Gefühle wahrnehmen

Um den Nutzen des schnell reagierenden emotionalen Gehirnareals zu verstehen, sollten wir zunächst den Aufbau des Gehirns und seine Verarbeitungsprozesse betrachten.