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JÜDISCHER
ALMANACH

der Leo Baeck Institute

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Familie

Herausgegeben von Gisela Dachs
im Auftrag des
Leo Baeck Instituts Jerusalem

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

INHALT

Zu diesem Almanach

Jonathan Boyarin Familien: gestern, heute – und morgen?

Hanno Loewy Die Hirschfelds oder: Was ist eine Familie?

Alfred Bodenheimer Enterbte Väter?

Diane L. Wolf Familienerinnerungen. Das Trauma der versteckten Kinder

Susanne Urban »Denken Sie daran, dass die kleinste Einzelheit eine wichtige Spur bedeuten kann …«

Michael Wuliger Irgendwo im Nirgendwo

Jennifer Bligh Familiengeheimnisse. Die Geschichten meines Vaters

Patricia Paweletz Meine Reise zu Gaby Glückselig

Anita Haviv-HorinerIMA

Ellen Presser Die Hochzeit meines Bruders

Yael Neeman Wir waren die Zukunft

Tobias Ebbrecht-Hartmann Erbe

Ruvik Rosenthal Die Bruderschaft der Trauernden

Assaf Uni Eizellenspenden und Spermaentnahmen – Familienglück in Israel und Deutschland

Michael Wex Der wundersame Kugel meiner Mutter – eine Familiengeschichte

Zu den Autorinnen und Autoren

ZU DIESEM ALMANACH

Die Familie nimmt im Judentum einen zentralen Platz ein. Davon zeugen allein schon die vielen Witze über die Mischpoche, voller Klagen über deren unausweichliche Prägungskraft und Distanzlosigkeit. Um die einem so nahe Stehenden dreht sich einfach alles. Diesem lebensbestimmenden, vielseitigen und streitbaren Thema ist dieser Almanach gewidmet. Er handelt von lauter Familiengeschichten, die ihren Schwerpunkt immer wieder woanders haben. Es geht um Familienbande und Familienbiografien, um von Verfolgung und Verlust geprägte Kindheitserfahrungen, um Familientreffen und die nie aufhörende Suche nach Angehörigen. Beschrieben werden auch die Rolle von Frauen, von Nachwuchs und Vaterfiguren, ebenso wie gut gehütete Familiengeheimnisse, deren Aufdeckung Identitäten radikal veränderte.

Wenn wir uns mit einem emotional, politisch und historisch so aufgeladenen Thema wie der jüdischen Familie befassen, dürfen wir keine einfachen Geschichten erwarten. Daran erinnert Jonathan Boyarin in seinem Eröffnungsbeitrag, der sich neben einem historischen Rückblick auch mit der Zukunft jüdischer Familienformen beschäftigt. Diese liegt aus seiner Sicht in der Vielfalt und ist zudem einem permanenten Wandel unterworfen. Er sieht dabei die Grenzen, die liberale Juden von der großen Mehrheit der nicht-jüdischen Homo sapiens trennen, immer mehr verschwimmen.

Hanno Loewy widmet seinen Essay der Frage, ob es heute noch so etwas wie Familienverbände gibt, die sich, über 8viele Generation hinweg »etwas zu sagen haben« – und findet eine konkrete Antwort in den Treffen der über den ganzen Erdball verstreuten Nachkommenschaft der Familie Hirschfeld, die ursprünglich aus dem kleinen österreichischen Ort Hohenems stammt. Juden kehren somit immer wieder an einen Ort zurück, um den »Ursprung« ihrer Familie zu feiern und zelebrieren eine Kontinuität, die den Katastrophen und Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts ebenso getrotzt hat, wie den kleinen Eifersüchteleien und Missverständnissen, die an jeder Kleinfamilie zerren.

Oft ist es erst die Ankunft eines eigenen Kindes, welche überhaupt Bewusstsein für eine solche Kontinuität schafft. Damit stellt sich dann nämlich auch die Frage nach der Rolle der Eltern als Übermittler von Tradition, Wissen und Werten. In diesem Zusammenhang untersucht Alfred Bodenheimer die sich ständig gewandelten und weiter wandelnden Vaterfiguren im säkularen Judentum. Er sieht diese »postpatriarchale Epoche«, in der Väter ihre familiäre Rolle stärker und weniger hierarchisch wahrnehmen, dabei als Chance, dass diese Väter sich tatsächlich wieder mit den Traditionen beschäftigen, zu Lernenden werden, um fehlendes Wissen aufzuholen.

Was aber, wenn die eigene Kindheit einem Waisendasein gleichkam, weil sie von mörderischer Bedrohung überschattet war? Wenn man sich als Kind von seinen Eltern verabschieden musste, um zu überleben und sich plötzlich bei Fremden wiederfand, an einem anderen Ort, wo das Leben völlig anders war? Diane Wolf hat in Holland während der Shoah versteckte jüdische Kinder viele Jahrzehnte später nach ihren Gefühlen befragt und fand deren komplexe Familienerinnerungen geprägt von einer Mischung aus Angst, Unruhe, Einsamkeit, Verzweiflung, Leid, aber auch Trost, Liebe, Wärme oder Glück.

9Die Übriggebliebenen erfuhren nach Ende des Krieges relativ schnell, wie groß die Zahl der ermordeten Juden Europas war. Viele wussten oder ahnten, dass es ein ungeheuerliches Glück sein würde, jemanden aus der Familie wiederzufinden. Auch wenn Rettung die Ausnahme gewesen war, wollten viele Überlebende glauben, dass irgendwo irgendwelche Angehörigen überlebt hatten. Diese Hoffnung war – und ist – ein Element ihres Lebens nach dem Überleben. Susanne Urban schreibt darüber, wie Kinder, Enkel und Urenkel bis heute weiter nach ihren Verwandten suchen, für sie, mit ihnen oder nach deren Ableben.

Das Interesse an der eigenen Familiengeschichte treibt aber auch jene um, deren Vorfahren sich damals in sicheren Gefilden befanden. Michael Wuliger, Jahrgang 1951, wollte seine Wurzeln suchen, als er sich jüngst von Berlin auf den Weg nach Ungarn machte, um an den Ort zurückzukehren, an dem vor mehr als hundert Jahren sein Urgroßvater gelebt hatte, bevor er in die USA auswanderte. Er erzählt von dieser seltsamen Reise, die er als jüdischen Genealogietourismus bezeichnet.

Manche wohlgehüteten Familiengeheimnisse werden mit ins Grab genommen. In solchen Fällen erfahren Nachkommen erst spät, als Erwachsene, wie es um ihre tatsächliche Herkunft steht. Wie Jennifer Bligh, die nach dem Tod ihres Vaters erfuhr hat, dass dieser nicht ein Nachkomme des berühmten Kapitäns der Bounty war, sondern ein Shoah-Überlebender, der in der Bundesrepublik Deutschland lebenslang sein Judentum verbarg. Sie erzählt, wie es ihr im Alter von 32 Jahren gelang, zu ihrer neuen Identität zu finden.

Ganz ohne jüdische Wurzeln und familiär vorbelastet mit einem Großvater bei der Waffen-SS, zeigte die Familientherapeutin Patricia Paweletz schon als Jugendliche ein tie10fes Interesse an den Geschichten von Zeitzeugen der Shoah. Hingezogen zu diesen Biografien, begann sie betagte deutschsprachige Überlebende regelmäßig in New York zu besuchen. Ihr Beitrag beschreibt eine Form von Wahlverwandtschaft, die sich aus diesen Treffen ergeben hat.

An einer eigenen klaren Identität hat es Anita Haviv-Horiner nie gemangelt, umso mehr aber an lebenden Verwandten. Als Tochter zweier Überlebender gehört sie der zweiten Generation an, früh geprägt von einem Gefühl existenzieller Einsamkeit. Sie berichtet wie erst ihr Umzug von ihrem Geburtsland Österreich nach Israel neue Energien in ihr Leben brachte und wie ihr eigenes Mutterdasein sie dort schließlich geerdet hat.

Die Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit heißt aber nicht, dass die Verwandtschaft im konkreten Fall leicht auszuhalten wäre. Besonders grenzübergreifende Zusammenkünfte sind nicht nur anregend, sondern fördern auch kulturelle Gräben zutage. In ihrem feinfühligen Essay schreibt Ellen Presser über die Hochzeitsfeier ihres Münchner Bruders, die in Tel Aviv, der Geburtsstadt der Braut, ausgerichtet wurde.

Eine Kindheit in Israel bringt ganz eigene Prägungen mit sich. Das wiederum gilt ganz besonders für jene, die in einem Kibbuz mit kollektiven Schlafsälen aufgewachsen sind. Man wollte so die Kinder aus der Bürgerlichkeit der Familie lösen und sie vor ihr beschützen. Von ihren eigenen Erfahrungen mit diesem sozialistischen Experiment erzählt Yael Neeman. Dabei vergleicht sie die Sehnsucht mancher Kibbuzkinder nach der Familie, die sie nie hatten, mit der »Sehnsucht nach einer Idee, von der wir nicht die geringste Ahnung hatten und haben, wie, sagen wir mal, die Sehnsucht der Diasporajuden nach Jerusalem«.

Wer in Israel aufwächst, befindet sich in sicherer geogra11fischer Distanz zu den Tatorten der Shoah. Die eigene Familiengeschichte reicht aber oft bis dort hinein. Das hat in den vergangenen Jahren zunehmend zu dem Versuch geführt, diesem Erbe filmisch nachzuspüren. Tobias Ebbrecht-Hartmann analysiert in seinem Beitrag, wie NS-Vergangenheit, aber auch die Erinnerung an das Vorkriegsleben ihrer Großeltern für junge israelische Filmemacher zu einem wichtigen Ausgangspunkt ihres Schaffens wurde, das oftmals einer detektivischen Ermittlungsarbeit gleicht.

Um anwesende Abwesenheit geht es auch in dem Beitrag des israelischen Autors Ruvik Rosenthal, dessen Familie aus Deutschland stammt. Seinen Vater, einen vergessenen Berliner Dichter, verlor er mit vier Jahren im Land der Verheißung, in derselben Woche, in der sein Bruder Gidi zur Welt kam. Gidi wiederum fiel im Jom-Kippur-Krieg. Rosenthal beschreibt den Schmerz einer »trauernden Familie« und rückt dabei die Geschwisterbande in den Vordergrund.

Erlittene Verluste wenigstens ein ganz kleines bisschen auszugleichen, spielt auch eine Rolle bei dem hohen Stellenwert von Nachwuchs – im Judentum ohnehin verankert – besonders in Israel. Für Israelis, die heute zwischen Berlin und der Mittelmeerküste hin- und herpendeln, offenbaren sich in dieser Hinsicht tiefe Gräben. Assaf Uni schreibt über den unterschiedlichen Umgang mit Kinderwunsch in seiner Heimat Israel und in Deutschland.

Um ersehnte Nachkommen geht es auch am Schluss dieses Bandes in dem literarischen Beitrag von Michael Wex. Der Protagonist dieser wundersamen Familiengeschichte ist ein nahrhafter Kugel, dessen Einsatz ein Eheleben rettet.

Die Bilder stammen von der israelischen Fotografin Vardi Kahana. In ihrem Projekt »One Family« fotografierte sie 12vier Generationen ihrer Familie, die in ihrer Vielfalt ein Kaleidoskop der jüdisch-israelischen Identität darstellt.

 

Gisela Dachs

Jerusalem/Tel Aviv13

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Familie Barak: Meine Kusine Libi mit ihrem Mann Naftali und ihren zehn Kindern, Petach Tikwa 199314