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Die Bibelzitate wurden den folgenden Bibelübersetzungen entnommen:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe,
© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GNB)

Neue Genfer Übersetzung, © 2011 Genfer Bibelgesellschaft (NGÜ)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt Stuttgart © 1999 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart (EÜ)

Elberfelder Bibel, © 2006 R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten (ELB)

Der Herausgeber dankt folgenden Quellen, die Kopien von Briefen zur Verfügung
stellten, für ihre Kooperation:

Maryknoll Mission Archives

Syracuse University Libraries: James Luther Adam Papers, Special Collections Research Center,
Syracuse University Librairies

Indiana University: Dan Wakefield Papers, Lilly Library

Swarthmore College: Swarthmore College Peace Collection

Madonna House Archives

The Fred Rogers Company

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Hoffer & Stoughton Ltd.
unter dem Titel „Love, Henri. Letters on the Spiritual Life“.

© The Henri Nouwen Legacy Trust, 2016

Copyright der deutschen Ausgabe © 2017 adeo Verlag

in der Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-86334-783-3

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

adeo-verlag.de

Für Sue Mosteller

Inhalt

Vorwort von Anselm Grün

Vorwort von Brené Brown

Einleitung

Teil 1: Dezember 1973–1985

Teil 2: 1986–1989

Teil 3: 1990–199

Nachwort von Sue Mosteller

Dank

Anmerkungen

Vorwort

von Anselm Grün

Als ich die vielen Briefe las, die Henri Nouwen an seine Freunde und an Menschen geschrieben hat, die bei ihm Rat und Hilfe suchten, hatte ich ihn bildlich vor Augen.

Ich bin Henri Nouwen zweimal begegnet. Einmal bei einem Treffen in einem kleinen Kreis von Priestern und Psychologen in Freiburg. Damals habe ich ihn als einen absolut authentischen Menschen erlebt. Als einen, der keine pauschalen Lösungen hatte, sondern der gemeinsam mit anderen nach Wegen suchen wollte, wie man so von Gott sprechen kann, dass es Menschen im Inneren berührt. Und ich habe erlebt, wie er auch mein Herz berührte, weil er sein eigenes, verwundetes Herz offengelegt hat. Ich kannte ihn als einen berühmten Autor, aber ich traf einen Menschen, der sich seiner eigenen Wahrheit stellte und von seinen inneren Kämpfen sprach.

Die Art und Weise, wie er sich ganz und gar den Nöten und Schmerzen seiner Mitmenschen zuwendete, erlebe ich auch in seinen Briefen. Immer geht er konkret auf das Problem und die Sehnsucht seines Gegenübers ein. Und er öffnet sich, schreibt von seinen eigenen Verwundungen und Sorgen. Er versteht die Einsamkeit, die Trauer, den Schmerz bei einer Trennung, weil er all diese Gefühle oft genug selbst schmerzlich durchlitten hat.

Dabei geht er auch auf theologische und geistliche Fragen ein und beschreibt mit großer Klarheit, worum es ihm in seinem eigenen Leben geht. Er ist dabei nie dogmatisch, sondern immer persönlich. Er traut seinem eigenen Gefühl.

Seinen Briefen spürt man den großen Respekt vor der geistlichen Tradition und eine große Liebe zur Kirche ab. Weil er um seine eigene Verwundbarkeit weiß, urteilt er nie über andere Menschen. Er ermutigt stattdessen diejenigen, die in der Kirche arbeiten, vor allem auf ihre Beziehung zu Jesus zu achten. Die Eucharistie, die Feier des heiligen Abendmahls, als die eigentliche Quelle zu sehen, aus der sie schöpfen. Und er wird nicht müde, seinen Freunden immer wieder zu schreiben, dass sie in allem nie vergessen sollen: „Gott liebt dich bedingungslos. Gottes Liebe umgibt dich. Sie ist wie ein schützender und heilender Raum, in dem du dich geborgen fühlen kannst und in dem eine Wunden heilen.“

Ich wünsche den Lesern, dass sie sich durch die Worte Henri Nouwens in ihrem Herzen berühren lassen, dass sie in seinen Worten seine Liebe spüren. Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod bekommen seine Briefe aufs Neue Bedeutung. Hier schreibt einer, der alles Leid überwunden hat und Ihnen so die Hoffnung vermittelt, dass auch Sie durch das Leid hindurch Gottes Licht und Herrlichkeit erfahren. Schon jetzt und dereinst, wenn auch Sie unverhüllt Gottes Liebe schauen werden.

Anselm Grün

Vorwort

von Brené Brown

Lieber Henri,

ich beginne meinen Brief so, wie du alle deine Briefe beginnst – mit einer Danksagung. Ich bin zutiefst dankbar für die mutige und verletzliche Art, wie du dein Leben geführt hast, für deine Fähigkeit, uns im Alltäglichen das Göttliche zu zeigen, und für dein Engagement, das ewige menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit zu heiligen.

Als ich gebeten wurde, das Vorwort zu diesem Buch zu schreiben, sagte ich ohne Zögern zu. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich es aus großzügigen Gründen tat, doch das wäre nicht wahr. Ich habe im letzten Jahr eine Glaubenskrise durchgemacht, und als ich diese Anfrage erhielt, ging ich aus eigennütziger Verzweiflung darauf ein. Es ging nicht darum, dich zu ehren, sondern um meine Hoffnung, du könntest mir aus dem heraushelfen, was du eine geistliche Wüste nennen würdest.

Ironischerweise konnte ich das Manuskript, als ich es in Händen hielt, mehrere Wochen lang nicht lesen. Es wurde so schlimm, dass allein ein flüchtiger Blick darauf schon Angst in mir hervorrief. Die Kombination aus deinen Worten und meinen Bedürfnissen schien zu verletzlich zu sein, um anzufangen. Doch als das Datum der Veröffentlichung nahte und die allerletzte Abgabefrist ins Haus stand, begann ich schließlich, deine Briefe zu lesen.

Ich muss zugeben, dass meine Ängste durchaus berechtigt waren. Wie die Liebe selbst sind deine Briefe anspruchsvoll und großzügig, glühend und sanft, und sowohl ein Aufruf zu radikaler Vergebung als auch zu disziplinierter Verantwortlichkeit. Meine Angst verwandelte sich langsam in Hoffnung, als ich Gott und meine eigenen Kämpfe in jedem einzelnen Brief wiedererkannte.

Ich rang lange mit der Frage, wie ich dieses Vorwort schreiben sollte. Der erste Entwurf war ein kühl-akademischer Text, geschrieben von meinem inneren „wissenschaftlichen Verletzlichkeitssucher“. Das gab mir ein Gefühl der Sicherheit, insbesondere, da ich meine Fähigkeit infrage stellte, etwas zu formulieren, das dieses Buches würdig wäre. Doch ich wollte dich nicht studieren – ich wollte mit dir in Verbindung sein. Ich glaube nicht, dass du eine distanzierte Analyse geschätzt hättest. Ich denke, du hättest meine Angst direkt durchschaut. So wie du möchte ich „verletzlich mit den Verletzlichen leben“.

Die Wahrheit ist: Wie die meisten Menschen bin auch ich müde. Ich fühle mich allein und überfordert, und ich verbringe sehr viel Zeit damit, meine Dämonen zu analysieren und dann zu überkompensieren, anstatt einfach auf Gott zu hören, Gott zu lieben und die Menschen um mich herum zu lieben, wie er es mir aufgetragen hat. Du erklärst immer wieder und auf vielfältige Weise, dass Letzteres einfacher, aber zugleich weitaus schwieriger ist, und dass es zwei Dinge erfordert: Zuhören und Zeit.

Ich habe keine verdeckte thematische Analyse deiner Briefe durchgeführt, doch ich bin im Herzen Wissenschaftlerin, und wenn du mich gefragt hättest, welche übergreifenden Themen in all den Briefen zu erkennen sind, dann würde ich zwei nennen:

1. Gott lieben und auf ihn hören.

2. Auf Gott ausgerichtete Zeit in unserem Leben schaffen.

In fast jedem Brief – ungeachtet der unterschiedlichen Themen und Inhalte – forderst du dazu auf, sich Zeit zu nehmen für das Hören, das Beten, die Einsamkeit, die innere Einkehr und das Nachdenken.

Ich verstehe, was du vorschlägst, aber das Problem ist, dass wir keine Zeit haben. Keine Zeit zum Beten. Keine Zeit, Briefe zu schreiben. Keine Zeit, still zu sein. Keine Zeit für Verbundenheit mit Gott. Du bist erst vor etwas mehr als 20 Jahren aus diesem Leben geschieden, doch in Bezug auf Zeit hat sich in den letzten zwei Dekaden Grundlegendes geändert. Wir haben nun E-Mails. Und Smartphones. Und SMS. Wir tun alles gleichzeitig und terminieren unsere Zeit mit den Menschen, die wir lieben, mithilfe von Kalender-Apps.

Auch das Zuhören ist eine Herausforderung geworden. Ich vermute, dass du ruhiger leben konntest als wir, und dabei denke ich nicht nur an deine Zeit im Kloster. Die Welt ist heute so viel lauter als früher. Es gibt so viel Geschrei. Um das konstante Trommelfeuer des Lärms zu überleben, haben wir aufgehört zuzuhören. Ich weiß, dass das gefährlich ist, aber es ist eine Art Selbstschutz. Der Gedanke an stille innere Einkehr ist für viele von uns beängstigend geworden. Sie erfordert eine aufmerksame Offenheit und Einsichtsfähigkeit, die wir nicht gelernt haben.

Die Kombination aus Zeitmangel und mangelndem Zuhören macht es uns fast unmöglich, mit Gott, mit uns selbst und miteinander in Verbindung zu sein.

Du schriebst: „Wir sollten in der Gegenwart leben, wo die Liebe uns berühren kann.“ Als ich diesen Rat in einem deiner Briefe las, musste ich weinen. Denn genau das möchte ich. Genau das wollen und brauchen wir alle, jeder von uns, über alle falschen Trennwände der Religion, der Rasse, des Geschlechts, der Orientierung, der sozialen Klasse und des Landes hinweg – wir alle sehnen uns danach, die Liebe zu berühren und von der Liebe berührt zu werden. Und nun erinnerst du uns mit deinen Briefen daran, was es bedeutet, „jenseits des Vertrauten zu leben und Jesus radikaler nachzufolgen“. Es bedeutet unbequemen, chaotischen, vorbehaltlosen Mut. Wir müssen uns Zeit nehmen, und wir müssen zuhören.

Du hast mich gefragt, ob ich bereit bin, Gott, den Menschen, die ich liebe und selbst der Erfahrung des Leids das Kostbarste und Unwiederbringlichste zu widmen, was wir besitzen – Zeit. Meine Antwort lautet Ja. Ich möchte mir Zeit nehmen. Für Gott. Für die Liebe. Für die innere Einkehr. Für das Geheimnisvolle. Für die Gerechtigkeit. Und für die Weisheit, die aus dem Schmerz wächst.

Du hast mich gefragt, ob ich bereit bin, auf die Weisheit zu hören, die nur durch Stille und Gebet hervorgebracht wird. Ich weiß, dass ich dazu Hilfe benötige, und es wird nie perfekt sein, aber ich bin bereit, mich darauf einzulassen.

Ich werde meinen Brief so beenden, wie du deine Briefe beendet hast – mit dem Versprechen, für dich und unsere geteilte Treue zu beten und mit der Bitte, dass du für mich betest und mich weiterhin in die Gegenwart Gottes hinaufhebst. Übrigens, Henri, du brauchst mir nicht zurückzuschreiben. Deine zeitlosen Worte und dein liebevoller Geist sind stille Gebete, die für immer in meinem Herzen leben werden.

In Liebe,

Brené

Einleitung

Als Henri Nouwen 1996 starb, hatte er 39 Bücher und Hunderte von Artikeln über das spirituelle Leben und das verfasst, was er seine „Abenteuer mit Gott“1 nannte. Darüber hinaus hinterließ er eine ganze Schatzkiste voll persönlichen Dokumenten. Der größte Teil dieser geheimen Vorratskammer besteht aus privatem Schriftverkehr.

Henri erhielt im Laufe seines Lebens mehr als 16000 Briefe. Er hob jede Postkarte, jeden Brief, jedes Fax und jede Glückwunschkarte auf, die er in seinem Briefkasten fand. Und er antwortete auf jede einzelne Zuschrift. Sich um seine Korrespondenz zu kümmern war für ihn ein wesentlicher Bestandteil seines Arbeitstages. Der große Umfang seines Schriftverkehrs erforderte sogar die Einstellung eines Assistenten, der die eintreffende Post sortierte, vorab las und die Briefe besonders kennzeichnete, die einer sofortigen Beantwortung bedurften. Danach las Henri die Briefe selbst und beantwortete sie meist mithilfe eines Diktiergeräts, dessen Aufzeichnungen später abgetippt wurden. Briefe an enge Freunde schrieb er von Hand, wobei er oft eine Postkarte aus seiner umfassenden Sammlung benutzte. Seine Handschrift war akkurat und fließend. Er fertigte nie Entwürfe an und nahm nur selten Korrekturen vor.

Kurz nachdem ich im Sommer 2000 meine Arbeit als Henris Archivarin aufgenommen hatte, brachte man mich in die Mansarde eines Hauses von L’Arche Daybreak, der Gemeinschaft in der Nähe von Toronto, in der Henri zuletzt gelebt hatte. Ich kletterte eine steile Treppe zu besagter Mansarde hinauf und stieß auf etwa ein Dutzend Archivschränke – groß, klein, in verschiedenen Farben –, die in der Mitte des Raumes in einer Reihe standen. An den Wänden und in den Ecken stapelten sich Kisten, die alle mit Briefen gefüllt waren.

In den darauffolgenden 15 Jahren kennzeichnete, nummerierte und katalogisierte ich jedes Blatt dieser beachtlichen Sammlung. Es war eine riesige Aufgabe, die ich jedoch mit der Zeit zu lieben lernte.

Die Briefe sind nun Bestandteil der Henri J. M. Nouwen Archives and Research Collection an der University of St. Michael’s College von Toronto. Sie sind in neuen, säurefreien Ordnern und Kisten archiviert, die insgesamt eine Reihe von fast 20 Metern Länge ausmachen!

Die Mehrzahl der Briefe in diesem Buch wurde aus den Dokumenten ausgewählt, die den Nouwen Archives vom Henri Nouwen Letter Project gestiftet wurden. Einige Briefe stammen aus Henris persönlichem Archiv, die meisten jedoch kommen von den ursprünglichen Empfängern. In den mehr als 20 Jahren seit seinem Tod wurden über 3000 Briefe aus den Häusern, Büros, Kellern und Dachböden seiner Schreibpartner zusammengetragen.

Die meisten Briefe dieses Buches wurden den Nouwen Archives mit der Erlaubnis zur Veröffentlichung übergeben. Es wurde jede Anstrengung unternommen, alle Verfasser der hier erwähnten Briefe zu kontaktieren, um sie über die Veröffentlichung zu informieren. In einigen Fällen wurden auf Wunsch Namen oder andere Details geändert, um die Privatsphäre der betreffenden Personen zu schützen.

Die Jahre der Arbeit haben sich gelohnt, und nun ist der Zeitpunkt gekommen, die Briefe zu veröffentlichen. Der erste Band erschien in der englischen Originalausgabe zu Henris 20. Todestag im Jahr 1996. Dieses Buch soll sein Erbe sowohl für die ursprünglichen Empfänger als auch für eine neue Generation von Menschen zugänglich machen, die geistlich auf der Suche sind. Er ist ein Vermächtnis seines tiefen Wunsches, mit anderen Menschen verbunden zu sein, von dem Bewusstsein getragen, dass jede wahrhaftige Begegnung zwischen Menschen auch eine Begegnung mit Gott ist.

Zwar waren die Briefe ein vertrauter Austausch zwischen zwei Menschen, doch sie sind von bleibendem Wert für uns alle. Denn es war Henris tiefste Überzeugung, dass unsere Gebrochenheit, unsere Unsicherheiten, unsere Ecken und Kanten von größter universaler Bedeutung sind, und deshalb teilte er sie in seinen Briefen großzügig mit anderen.

Für Henri war das Briefeschreiben fester Bestandteil seiner Freundschaften. Nur wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1996 schrieb er Folgendes in sein Tagebuch: „Heute Nachmittag habe ich eine Menge Postkarten geschrieben. Während des Schreibens empfand ich eine tiefe Liebe zu allen Freunden, denen ich schrieb. Mein Herz war von Dankbarkeit und Zuneigung erfüllt, und ich würde am liebsten jeden meiner Freunde umarmen und ihn wissen lassen, wieviel er mir bedeutet und wie sehr ich ihn vermisse.“2

Er maß Worten große Bedeutung bei, wenn es darum ging, der Einsamkeit etwas entgegenzusetzen. „Ich möchte dir sagen, wie heilsam und tröstend deine freundlichen und liebevollen Worte für mich sind“,3 schrieb er beispielsweise an seinen Freund Jim. Für ihn hatten Worte die Macht, Leben zu spenden, und wenn sie liebevoll waren, konnten sie eine Quelle der Gnade sein. „Dein Brief ist eine wahre Oase in meiner Wüste“4, vertraute er seinem Freund an.

Henri schrieb ausführliche und sehr ehrliche Briefe. Menschen, die seinen Rat suchten, antwortete er nie beurteilend oder tadelnd, sondern nutzte vielmehr Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung, um seine Aussagen zu illustrieren. Gleichzeitig konnte er durchaus anspruchsvoll, ja sogar fordernd sein. Er rief die Briefempfänger dazu auf, Entscheidungen treu zu bleiben, die sie getroffen hatten, und ermutigte sie, ausdauernd im Gebet zu sein, die Gemeinschaft zu suchen und Solidarität mit den Armen zu zeigen. Er warnte vor den Versuchungen, die jemanden vom „schmalen Pfad“ abbringen könnten, und wies nachdrücklich darauf hin, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der anderen zu berücksichtigen.

Er hatte die Gabe des intensiven Zuhörens. Wenn er einen schmerzerfüllten Brief gelesen hatte, konnte er die inneren Qualen des Schreibers erkennen und voller Mitgefühl antworten. „Du bist gehört worden. Du bist geliebt. Du bist nicht allein!“, war stets seine vorbehaltlose Botschaft.

Nachdem eine Frau einen Brief von Henri erhalten hatte, in dem er ihre Frage beantwortet hatte, wie sie mit ihrer sterbenden Mutter umgehen sollte, schrieb sie zurück: „Ich bin Ihnen so dankbar dafür, dass Sie mir geholfen haben, einen Sinn in meiner Lebensreise zu erkennen. (…) Mein Herz ist von Dank erfüllt, wenn ich an den Trost denke, den Sie mir während der Krankheit meiner Mutter und nach ihrem Tod im letzten Monat geschenkt haben. (…) Sie haben mir Entschlossenheit und Mut gegeben, den Schmerz auszuhalten und mit meiner Mutter gemeinsam auf Gott zu warten. Diese Erfahrung hat mich verändert, und ich möchte Ihnen dafür danken, denn Sie haben mir geholfen, ihr Leid mitzutragen und auf diese Weise wirklich an ihrer Seite zu sein. (…) Verstehen Sie, warum ich mich Ihnen so verbunden fühle? Sie haben mir geholfen, mitten im Leid zu hoffen und mir nicht etwas anderes zu wünschen, und ich glaube, ich habe tatsächlich gelernt, im Leben meiner Mutter und meines Vaters präsent zu sein, von denen ich zuerst von Gott erfuhr.“5

Henri schuf einen sicheren Ort für Verletzlichkeit, weil er sich selbst und anderen gegenüber immer ehrlich war. „Ihnen ist wahrscheinlich bewusst“, schrieb er an eine Frau, die mit einer chronischen Krankheit zu kämpfen hatte, „dass ich nicht auf alle Ihre Fragen eine Antwort habe. Ich empfinde Ihre Fragen eher als eine Einladung zu einer Beziehung zwischen zwei suchenden Christen denn als Bitte darum, von mir belehrt zu werden.“6

Als ich darüber nachdachte, welche Briefe in diesem Band erscheinen sollten, ließ ich mich von der Frage leiten: Was brauchen die Menschen heute?

Die Zeiten, in denen wir leben, haben sich geändert – heute gibt es E-Mails und SMS, flüchtige Formen der Kommunikation. Nur wenige Menschen schreiben noch Briefe auf Papier – doch unsere Herausforderungen sind die gleichen: Verlust, Krankheit, Ungerechtigkeit, das Finden und Verlieren der Liebe, Karriere, Konfliktbewältigung, der Umgang mit unseren Emotionen und die Bewältigung von Selbstzweifeln. Henri war fest davon überzeugt, dass wir gerade in diesen schwierigen Momenten letztendlich Gott finden. Gerade in den großen Fragen – wer ist Gott und was ist der Sinn unseres Lebens? – werden wir dazu getrieben, uns selbst und Gott besser kennenzulernen.

Henris Antworten an seine Briefpartner sind so nachhaltig, weil sie auf seine eigenen Lebenserfahrungen zurückgreifen. So schrieb er einem Freund: „Die Aufforderung Jesu, mein Leben für andere zu geben, ging für mich von jeher über das physische Märtyrertum hinaus. Ich habe diese Worte stets als Aufforderung begriffen, meine eigenen Kämpfe, Zweifel, Hoffnungen, Ängste und Freuden, meine Schmerzen und meine Glücksmomente anderen Menschen als Quelle des Trostes und der Heilung zur Verfügung zu stellen. Für Christus Zeugnis abzulegen bedeutet für mich, zu bezeugen, was ich mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört und mit meinen eigenen Händen berührt habe.“7

Während viele von uns ihre Verletzlichkeiten und Schwächen lieber verbergen, nutzte Henri die seinen als Ausdruck der Solidarität mit seinen Freunden und Lesern.

Die Briefe in diesem Buch zeichnen 22 Jahre der Lebensreise Henris nach – von seiner Zeit als Lehrer über ein Intermezzo als Trappisten-Mönch bis zu der Erfahrung als Missionar in Lateinamerika und schließlich als Seelsorger in einer Gemeinschaft mit behinderten Menschen. Ungeachtet seines äußeren Erfolgs und seiner Beliebtheit litt er unter dem, was er „seine Dämonen“ nannte – Einsamkeit, Ruhelosigkeit, Depressionen und das Gefühl der Ablehnung. Doch gerade die Art, wie er mit diesen lebenslangen Kämpfen umging, macht ihn zu einem so inspirierenden Vorbild für uns. Er lebte mutig und selbstkritisch und lernte mit der Zeit, seinen Schmerz anzunehmen und schließlich durch ihn erlöst zu werden. Er wusste, dass die einzige Möglichkeit, aus dem Leid herauszufinden, darin besteht, es durchzustehen.

Doch woher kamen seine „Dämonen“? Sein frühes Leben war von den größten Möglichkeiten und Privilegien geprägt. Selbst die Besetzung Hollands durch die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs ließ seine Familie relativ unberührt. Er studierte Theologie, Philosophie und Psychologie bei den bedeutendsten Lehrern seines Heimatlandes und der Vereinigten Staaten. Er hatte einen neugierigen Verstand und das Auge eines Künstlers.

Was ihm Kummer bereitete, war sein innerer Zwiespalt bezüglich der Frage, wie er sein Leben führen sollte. Als junger Mann hörte er zwei Stimmen in seinem Innern:

„Eine Stimme sagte: Henri, sorg dafür, dass du es allein schaffst und eine unabhängige Person wirst. Sorg dafür, dass ich stolz auf dich sein kann. Und eine andere Stimme sagte: Henri, egal, was du tust – auch wenn es etwas sein sollte, was in den Augen der Welt nicht besonders interessant ist –, sei gewiss, dass du immer ganz nah am Herzen Jesu bleibst, ganz nah an der Liebe Gottes.“8

Er war hin- und hergerissen zwischen den Imperativen der Aufstiegs- und Abstiegsmobilität. Als Katholik empfand er das Leben als Kampf zwischen den Wünschen seines irdischen Vaters und denen seines himmlischen Vaters. Konnte er beiden gefallen? Verdiente er es, geliebt zu werden? Seine Gefühle der Unzulänglichkeit wurden durch eine außergewöhnliche emotionale Sensibilität verschärft, die ihn für die Härten des Lebens verwundbar machte.

Eine enge Freundin, Sue Mosteller, Schwester des St. Joseph-Ordens in Toronto, schrieb: „Er ist wirklich ein Mann, dessen Herz so offen und verletzlich ist, so empfänglich und so gebend, dass unser eigenes kleines Herz Verbundenheit und Sicherheit empfindet, wenn er zu uns spricht und uns dazu auffordert, ebenso zu wachsen. Es ist die Wahrhaftigkeit seines Herzens, die wir erkennen, mit der wir uns identifizieren und die wir nachzuahmen versuchen.“9

Er kämpfte auch mit widerstreitenden Gefühlen bezüglich seiner Sexualität. Der Ruf zum priesterlichen Zölibat forderte einen hohen Preis. Sein Wunsch nach einer „einzigartigen Freundschaft“10 stand im Konflikt mit seinem Gelübde, sein Herz nur Jesus allein zu geben. Er erkannte seine Homosexualität niemals in der Öffentlichkeit an, denn er war der Ansicht, dies würde seine eigentliche Mission überschatten, Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen.11 Er verließ die Kirche jedoch auch nicht, wie es viele katholische Geistliche seiner Generation taten.

Seine Briefe zeugen von dem schmerzlichen Bemühen, diese Wahl treu zu leben. Zum Ende seines Lebens hin schrieb er: „Meine Sexualität wird bis zu meinem Tod eine große Quelle des Leidens sein. Ich glaube nicht, dass es irgendeine ‚Lösung‘ dafür gibt. Der Schmerz ist wahrhaftig der meine und ich muss ihn mir zu Eigen machen. Jede ‚Beziehungslösung‘ wäre ein Desaster. Ich fühle mich zutiefst von Gott dazu berufen, meinem Gelöbnis entsprechend zu leben, auch wenn viel Schmerz damit verbunden ist. Doch ich vertraue darauf, dass dieser Schmerz Frucht bringen wird.“12

Er konnte seine inneren Kämpfe nie völlig überwinden. Trotz seines tiefen Einblicks in Einsamkeit und Stille hielt ihn die Geschäftigkeit sein Leben lang in Atem. Er war häufig erschöpft, kümmerte sich jedoch selten angemessen um sich selbst. Bei all seiner Fähigkeit, Menschen in ihren Krisen aufmerksam zuzuhören, konnte er mit den Menschen um sich herum sehr ungeduldig sein. Seine Sehnsucht nach menschlicher Zuneigung und seine gelegentlichen Anwandlungen der Selbstablehnung machten ihn zu einem bedürftigen und anspruchsvollen Freund. Doch zum Ende seines Lebens hin hatte er gelernt, seinen „unlösbaren Kampf“ 13zu akzeptieren:

„Ich weiß, dass ich mich meiner Bedürfnisse nicht zu schämen brauche und dass meine Dämonen nicht wirklich Dämonen, sondern getarnte Engel sind, die es mir ermöglichen, großzügig zu lieben, meinen Freunden treu zu sein, den vielfältigen Formen des menschlichen Leids gegenüber sensibel zu sein und mein Priestertum mit Mut und Vertrauen auszuüben.“

In seinen letzten Lebensjahren wurden seine Briefe kürzer und leichter. Man spürt in ihnen eine zunehmende Fähigkeit, sich „kindlich“ zu freuen und zu staunen. So schrieb er an einen Freund, der mit dem Älterwerden kämpfte:

„Ich persönlich glaube, dass es eine echte Gnade sein kann, älter zu sein. Nachdem man so viel vom Leben gesehen und so viel geschafft hat, gibt es noch immer die Möglichkeit, in eine zweite Kindheit hineinzuwachsen, eine zweite Naivität. Ich finde, das ist eine aufregende Chance, und ich bete, dass Gott dir gestatten möge, in diese neue Lebensweise hineingeboren zu werden.“14

Jeder Brief in diesem Band erzählt eine Geschichte. Gemeinsam dienen sie als Erinnerung daran, dass Frieden und innere Freiheit erreichbar sind. Henri betrachtete unsere Kämpfe nicht als zu lösende Probleme, sondern als Türen, durch die wir gehen müssen, um Großzügigkeit und Feinfühligkeit zu lernen. Wenn wir unsere Kämpfe gut ausfechten, dann bewegen wir uns von einem beengten Leben hin zu einem Leben der Weite und Fruchtbarkeit.

Henri war der Überzeugung, dass unser Ziel darin besteht, aus dem Haus der Angst in das Haus der Liebe überzuwechseln:

„Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht innere oder äußere Angst verspüren, Befürchtungen und Sorgen haben. Diese dunklen Kräfte haben unsere Welt in einem solchen Maß durchdrungen, dass wir ihnen nie völlig entkommen können. Und doch ist es möglich, diesen Kräften nicht ausgeliefert zu sein, nicht in ihrer Nähe zu verweilen, sondern vielmehr das Haus der Liebe als unser Zuhause zu wählen. Diese Wahl wird nicht ein für alle Mal getroffen, sondern durch ein spirituelles Leben, beständiges Gebet und das Atmen von Gottes Atem beständig erneuert. Durch das spirituelle Leben bewegen wir uns nach und nach vom Haus der Furcht zum Haus der Liebe.“15

Als in der Komplexität der menschlichen Seele bewanderter Psychologe deckt Henri unsere verborgenen Beweggründe auf. Als Seelsorger ruft er uns dazu auf, auf einer höheren Ebene die geistliche Dimension des Lebens zu würdigen. Als Mitwanderer auf der Pilgerreise erkennt er unser unvollkommenes Leben an und lässt unseren Schwächen und schlechten Entscheidungen Raum.

Seine Briefe haben die Art, wie ich mit meinen eigenen Kämpfen umgehe, grundlegend verändert. Ich hege die Hoffnung, dass Sie dieselbe Erfahrung machen.

Gabrielle Earnshaw

29. Februar 2016

Toronto, Kanada

Teil 1

Dezember 1973–1985