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Inhalt

Kapitel Null

Dank

Spurensuche

Grenzlandschicksale

Eine Reise ins Totenreich

Beispiel Verdun, die »Blutmühle«

Mein Luxemburger Großvater Jean Mohr – 60 Jahre zu früh auf der Welt

Die legendäre Cavalcade von Remich

Zweiter Weltkrieg und ein deutsch-luxemburgisches Familienschicksal

Die Familie und Hitler

Mein lebenslanges Trauma: der schlimmste Bombenangriff auf Köln

Mein Vater, der Pechvogel

Die Nachkriegszeit

Kommunion im Sauerland

Zurück in Luxemburg: glückliche Kindheit?

Abenteuer Schule

Der Vorletzte boxt sich durch

Bock auf alles, nur nicht auf die Schule

Wie elektrisiert an den Limpertsberg

Zwischen Logarithmen, Ellen und Martine Carol

Wie eine Binsenweisheit dem ganzen Leben die Richtung gibt: Über Ursache und Wirkung

Unbändige Experimentierfreude

Maloche im Hüttenwerk

Ein Deal fürs Leben

Viele Hindernisse auf dem Sprung nach Köln

»Junge, wir haben kein Geld«

Jede Menge Leichtigkeit, Humor und Überraschungen – genau der richtige Kosmos

Als möblierter Herr bei Frau Keilhack

Auch Spicken hat seinen Preis

Vektorrechnung und Federico Fellini – alles für die Leidenschaft

Im Zug von Trier nach Köln: Meine intellektuelle Geburtsstunde

Vorbild Immanuel Kant

Wissenschaft und Technik sind für den Menschen da – nicht umgekehrt

Die Prophezeiung erfüllt sich: Familiengründung mit Hindernissen

Eine neue Welt tut sich auf

Über Bonn nach Köln

Der Kampf einer jungen Familie

Stürmische Zeiten in den 60er-Jahren – Ein bisschen 68 und glückliche Fügungen

Drillinge der Moderne

Pariser Intermezzo

Für die Studenten – und für Europa

KOKAIN-Ball – ein Karnevalsball der ganz besonderen Art

Prägende Begegnung mit der Marktwirtschaft

Bei Felten & Guilleaume: Die »Schäl Sick« ist doch nicht schäl

Aus Theorie wird Ernst: Meine Zeit als Lehrer

Programmierter Unterricht ohne Computer

Unterrichtsfach Zeitgeschichte

Eine Frage nach dem Nutzen

Autorität in der Schule?

Schicksalhafte Begegnung am Römerturm

Die Fernseh-Jahre

Die 70er: Einstieg beim WDR – Zimmer mit Badewanne

Die 80er: »Alles Käse und dabei selbst gemacht«

Die 90er: Mit Riesenschritten ins neue Jahrtausend

Die Sache mit der Wissenschaft

Erste Impulse: Am Anfang steht die Neugier

Wissenschaft und Gesellschaft: Fortschritt für alle

Schuldenbremse – aber bitte nicht bei Bildung und Wissenschaft

Nachhaltigkeit und Technikfolgenabschätzung

Vorbilder

Erfüllte Prophezeiungen

Fazit und Ausblick

Wissenschaftsjournalismus (WPK) oder: Wissen darf niemals Herrschaftswissen werden

Plädoyer für eine liberale Gesellschaft

Früher Lehrmeister:
Alfred Müller-Armack

Freiheit, die ich meine

Frieden

Populismus

Bildung

Jean Pütz im Gespräch: Über die Liebe, die Arbeit und was sonst noch alles im Leben wichtig ist

»Make love, not war«

Meine soziale ökologische Marktwirtschaft

Über Ruhestand und Unruhestand – Tipps für ein spannendes, entspanntes Altern

Kapitel Null

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich könnte plakativ mit meinem mir zugewiesenen Spruch beginnen: »Ich hab’ da mal was vorbereitet.«

Aber so einfach mache ich es mir nicht. Denn die Vorbereitung zu diesem Buch dauerte etwa zehn Jahre. Natürlich fand ich mich nicht für so wichtig, dass meine Autobiografie überhaupt jemanden interessieren würde. Als die Pensionierung am Horizont sichtbar wurde, glaubte ich, bald in Vergessenheit zu geraten. Das ist leider vielen meiner Kollegen widerfahren, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin. Obwohl sie – was ihre journalistische Arbeit betrifft – Pioniere waren. Ich denke da zum Beispiel an Alexander von Cube, Hans Ahlborn vom Fernsehen oder Dieter Thoma, Klaus Jürgen Haller und Michael Franzke vom Hörfunk. So ist es mir immer noch ein Rätsel, weshalb das Sprichwort »Aus den Augen, aus dem Sinn« offenbar auf mich nicht zutrifft.

Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem weinenden deshalb, weil ich immer wieder gegen meinen Willen von der Boulevardpresse hervorgekramt werde. Mit einem lachenden, weil ich gelegentlich noch in Diskussionen oder von mir produzierten Beiträgen meine Überzeugungen öffentlich darlegen kann. Lebenslang bin ich ein Überzeugungstäter. Niemand kann mich daran hindern, mich öffentlich entweder über Schönes zu freuen oder über zeitgeschichtliche Entwicklungen, die mir gegen den Strich gehen, zu ärgern. Bei allem geht es mir darum, auf Zusammenhänge hinzuweisen, die mir für künftige Entwicklungen bedeutsam erscheinen.

Letzteres ist auch der Grund dafür, weshalb ich es als Verpflichtung empfinde, mein persönliches Schicksal mit der Zeitgeschichte zu verknüpfen und dieses für die Nachwelt festzuhalten. Ehrlich gesagt, auch um meinen Kindern und Kindeskindern die Begründung dafür zu liefern, dass dieser eigenartige Vater und Großvater mit dem Schnäuzer nicht nur im stillen Kämmerlein arbeitete, sondern mit der Öffentlichkeit ein lustvolles Spiel trieb. Alle sollen wissen, dass es heute möglich ist, sich mit Vernunft, Glück und persönlichem Ehrgeiz ein Leben aufzubauen, das in den vorherigen Jahrhunderten unmöglich gewesen wäre. Ich hoffe, es wird mir in diesem Buch gelingen, davon eine Andeutung zu vermitteln.

Das führt unweigerlich zu der Frage: Was ist überhaupt Glück? Natürlich spielt dabei auch der Zufall eine wesentliche Rolle. Eines der lesenswerten Bücher des Nobelpreisträgers Jacques Monod trägt den Titel Zufall und Notwendigkeit. Ich gehe nicht so weit wie er, der Biochemiker und Genforscher, der den göttlichen Einfluss völlig verneint. Aber es ist schon faszinierend, wenn man bedenkt, dass das Geschehen der Erde im Universum nur einen winzig kleinen Zufallsmoment darstellt. Das Geschehen im unendlichen Weltraum wurde und wird nur von drei Grundkräften in perfekter Selbstorganisation geprägt: der Gravitation, das heißt der Schwerkraft, der elektromagnetischen Kraft, die uns unmittelbar umgibt, sowie der Kernkraft. Menschen, die an Gott glauben, sehen darin das Genie des Schöpfers. Der sogenannte moderne Mensch glaubt, er könne alles planen, vergisst aber, dass sein Gehirn auch Bestandteil dieses Zufallsprinzips ist. Am Anfang war das Chaos, oder – wie es der geniale Hoimar von Ditfurth in seinem Buch Am Anfang war der Wasserstoff formulierte – unter dem Einfluss der universellen Kräfte entstand eine gewisse Ordnung. Und genauso bildeten sich auch die Gehirnzellen, die dem Homo sapiens die Möglichkeit gaben, seinen eigenen winzig kleinen Kosmos zu schaffen. Dass er sich dabei völlig überschätzt, könnte einmal sein Schicksal bedeuten. Schon das Alte Testament warnt vor dieser Aussicht, indem es vom Turmbau zu Babel berichtet. Dort ist von dem Versuch der Menschen, Gott gleichzukommen, ebenfalls die Rede sowie von einer grandiosen Sprachverwirrung, die schließlich das Projekt scheitern lässt.

Diese faszinierende Geschichte hat mich dazu gebracht, intensiv darüber nachzudenken, wie etwas Ähnliches verhindert werden kann. Meine Antwort – und die finden Sie vielfältig in diesem Buch – lautet: Das von Menschen geschaffene Wissen muss für jedermann zugänglich sein! Auch für solche Bürger, die diese Einsicht nicht besitzen. Wissen darf niemals nur Herrschaftswissen sein. Dieses wurde zu einem Leitmotiv, das mich letztlich zum Wissenschaftsjournalismus geführt hat.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb ich meine Biografie geschrieben habe. Das Motto »bad news are good news« geistert inzwischen schon durch alle Kulturen und gibt die Richtung vor: Nur schlechte Nachrichten finden jene Aufmerksamkeit, die sich die Medienmacher erhoffen. Sie bringen Auflage und Quote, meist anders als die »guten« Nachrichten. Doch ist das die ganze Wirklichkeit, oder gibt es nicht doch noch etwas ganz anderes, Verstecktes – und damit auch Gefährliches – bei diesem Hype um die »bad news«?

Es geht um die Demokratie. Aus der Soziologie wissen wir, dass das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung eine Art Naturgesetz darstellt. Das ist hier der Fall. Der Amerikaner Robert K. Merton definierte den Begriff der »self-fulfilling prophecy« und erklärte mit dieser Theorie eine unbewusst ablaufende Verhaltensänderung bzw. -steuerung, die dazu führe, dass sich Befürchtungen oder Erwartungen tatsächlich erfüllten. Auf diese Weise funktionierten zum Beispiel auch Prophezeiungen von Wahrsagern, wie auch Horoskope, denn die Voraussage, man werde in den nächsten Tagen einen Unfall haben, könne manchen Zeitgenossen so verunsichern, dass er tatsächlich einen Unfall provoziert. Übertragen auf den Staat heißt das, dass eine einigermaßen glaubwürdige, auf niederen Instinkten basierende Meldung schon ausreicht, um Unsicherheit oder gar Panik auszulösen. Das ist die große Gefahr, die der Populismus und das, was man postfaktisch nennt, mit sich bringen. Ich will ein wenig dagegenhalten, und zwar indem ich Sie darauf aufmerksam mache, dass wir in eine Zeit hineingeboren worden sind – zumindest in Mitteleuropa –, die noch nie solche fantastischen Chancen für jedermann mit sich gebracht hatte. Mir ist bewusst, dass ich im Mittelalter ein Leibeigener gewesen wäre und in der beginnenden Industrialisierung zu den geschundenen Proletariern gehört hätte. Mein persönliches Schicksal begann zwar mit schrecklichen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, aber danach brachte mir die Demokratie Chancen, die mir sonst verwehrt geblieben wären. Auch das verstehe ich unter Glück. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, den Untergangsprophezeiungen – ob sie nun religiösen oder politischen Ursprungs sind – etwas entgegenzusetzen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte es kürzlich auf den Punkt mit den Worten, dass »nur die Vernunft unsere Demokratie retten« kann. Diesem Prinzip fühle ich mich verpflichtet, auch wenn es schwerfällt, diesen Begriff zu definieren. Wenn man die Parlamentsdebatten verfolgt, dann nimmt jeder Redner sozusagen die Wahrheit als Voraussetzung für vernünftiges Handeln für sich in Anspruch.

Wie finden wir aus diesem Dilemma heraus? In den 60er-Jahren verpflichteten sich viele Wissenschaftler dem sogenannten kybernetischen Denken. Das heißt, man entscheidet sich für eine These und verfolgt dann intensiv die daraus resultierenden Folgen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Technologiefolgenabschätzung, die mir in meiner journalistischen Tätigkeit sehr wichtig war und ist. Gleiches sollte eigentlich auch bei politischen Beschlüssen im Vordergrund stehen, nicht nur kurzfristig, indem man dem Volk aufs Maul schaut, sondern über die Legislaturperiode hinaus in die Zukunft. Aber wer kontrolliert das?

Meines Erachtens müssen hier Wissenschaftsjournalisten eine wichtige Rolle spielen. Bei der Entwicklung der Demokratie hat die Wissenschaft eine bedeutende Funktion. Ich halte es für besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass zu den Aufgaben des Wissenschaftsjournalisten auch zählt, unter Einbeziehung aller sozialer und naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten dafür zu sorgen, dass Zusammenhänge und langfristige Folgen den Bürgern immer wieder bewusst gemacht werden. Allerdings gebe ich zu, ein Moralist zu sein, denn Wissenschaft hat nur dann eine Daseinsberechtigung, wenn sie dem Menschen dient. Dabei ist mir bewusst, dass es sehr schwer ist, zum Beispiel bei der Grundlagenforschung, diesem Anspruch immer gerecht zu werden. Es sind letztlich die Handelnden, also diejenigen, die die Ergebnisse in die Praxis umsetzen, welche die Verantwortung dafür tragen. Aber nicht nur sie allein, auch die Zivilgesellschaft kann sich dem nicht entziehen. Deshalb ist Transparenz unbedingt erforderlich. Dafür wiederum müssen wir Journalisten sorgen. Konkret gesagt heißt das, dass dafür freie Medien unabdingbar sind. Sollten diese eingeschränkt werden, ist dies das erste Anzeichen für einen beginnenden irrationalen und despotischen Staat.

Ich bin bekannt für meine Vorliebe für einen Medienverbund. Dies resultiert aus der Einsicht, dass bei der Vermittlung von Wissen möglichst viele Eingangstore in unser Bewusstsein genutzt werden sollten. Alle Sinne, die uns die Welt erschließen, müssen angesprochen sein. Hören allein reicht nicht aus, auch Sehen nicht. Beides kann aber verstärkt werden durch die Schrift, sprich Gedrucktes. Insofern ist für mich beispielsweise das Begleitbuch ein ganz bedeutendes Medium. Nicht umsonst habe ich meinen Zuschauern der »Hobbythek« auch kostenlos schriftliches Material zur Verfügung gestellt. Immerhin wurden über zwanzig Millionen »Hobbytipps« als schriftliches Begleitmaterial angefordert. Dabei war mir klar, dass eine Sendung bestenfalls nur motivieren kann, etwas tiefer in die Materie einzudringen. Das Lernen und Erwerben aller Kenntnisse bleibt dabei eine individuelle Angelegenheit. Im Zusammenhang mit der »Hobbythek« meinte ich auch, den Tastsinn ansprechen zu müssen. Also dem Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes den Vorzug zu geben. Mein Credo: Erstmaliges Begreifen ist erstklassige Unterhaltung. Die »Hobbythek« war für mich sozusagen ein trojanisches Steckenpferd, um Zuschauer für wissenschaftliche und technische Fragen zu interessieren, die sich selbst für nicht schlau genug einschätzen. Diesem Ziel dienten auch etwa 70 aus den jeweiligen Sendungen hervorgegangene Bücher. Eine verkaufte Auflage von über fünf Millionen Exemplaren bestätigte meine Hoffnung.

Auch mit diesem Buch möchte ich mich der Innovation nicht verschließen. Weil es mir vor allem um die Verknüpfung mit der Vergangenheit geht, das heißt mit der Geschichte von Technik, Wissenschaft und Politik, finden Sie hier die Wegweiser ins Internet. Dabei nutze ich die heutigen technischen Möglichkeiten, indem ich sogenannte QR-Codes an bestimmten Stellen platziere, die Sie mit Ihrem Smartphone öffnen können. Sie befinden sich dann sofort im Netz genau an der Stelle, die Hintergrundinformationen in Form von Texten, Filmen, Grafiken usw. liefert. Ich hoffe, dass mit dieser Innovation das Lesen unterhaltender gestaltet werden kann.
Jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen viel Spaß beim Lesen dieses Buches zu wünschen.

Ihr

Jean Pütz

im Sommer 2017

Dank

Erstens bei meiner Familie – das heißt bei meinem Sohn Jörn und meiner ersten Ehefrau Karin für deren liebevolle Geduld mit mir. Ich hoffe, dass mein Enkel Joel – wie es scheint – in meine Fußstapfen treten will.

Zweitens bei meiner Ehefrau Pina, die mir ein zweites Leben ermöglichte, indem sie mir zwei wundervolle Kinder geschenkt – meinen Sohn Jean Adrian und vor allen Dingen mein Töchterchen Julie Josephine, das dieses Jahr eingeschult wird – und meinen Übergang von der Pflicht eines verantwortlichen Redakteurs zur Kür eines freien Journalisten begleitet hat, der sich mit Lust an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen kann.

Drittens danke ich meiner langjährigen Sekretärin Christel Bora, einer der dynamischsten Frauen in meinem Leben. Sie begleitet mich seit meinen WDR-Tagen und nimmt mir noch heute mit großer Routine und Zuverlässigkeit lästige Tagesarbeit ab.

Viertens danke ich meinem Koautor Reinold Rehberger, der mich bei diesem Buch engagiert und hochprofessionell unterstützte. Als langjähriger Redakteur bei renommierten Magazinen wie natur und WirtschaftsWoche sitzt er thematisch genau an der Nahtstelle meines Themas. Mir schien, als ich mich an das Projekt machte, dass ich als Fernsehmann mit Sachbucherfahrung unbedingt Unterstützung brauchte, denn mein Leben ist ja nicht nur eine Faktensammlung. Meinem schreibenden Kollegen, der auch eine Reihe zeitgeschichtlicher Bücher veröffentlicht hat, ist es gelungen, dem Ganzen jene erzählerische Note zu geben, die die Fakten lesbar macht – vor allem auch dann, wenn es um die zeitgeschichtliche Einordnung und damit auch um gewissenhaftes Recherchieren geht.

Schließlich danke ich noch Dr. Paul Breuer, der mich bei diesem Vorhaben mit nützlichen Hinweisen unterstützt hat.

Spurensuche

Der Schauplatz heißt Remich. Das Kleinstädtchen mit seinen 3 500 Einwohnern in Hanglage am linken Moselufer ist für das luxemburgische Tourismusbüro die »Perle der Mosel«. Jenseits der Brücke liegt der saarländische Landkreis Merzig, und zehn Kilometer flussaufwärts eine Gemeinde, deren Namen zumindest jedem europäischen Grenzbeamten geläufig ist: Schengen.

In Remich wuchs ich auf, behütet, aber nicht betüttelt, von meiner Familie. Ich bin ein Kind der Liebe und erinnere mich voller Dankbarkeit an meine liebevollen Eltern. Mein Vater war sehr streng, und meine Mutter vermittelte mir vor allem bleibende Werte. Dazu gehörten Zielstrebigkeit, Nächstenliebe, Geduld, Fleiß, Zuversicht, Ordnung, Sauberkeit und Gottesfurcht. Manchmal, das gebe ich gerne zu, ging sie mir mit ihrem tiefgläubigen Katholizismus auf die Nerven. Trotzdem ziehe ich noch heute aus meiner christlichen Erziehung wichtige Impulse – auch wenn ich, nicht zuletzt von meiner großen Neugier getrieben, in ziemlich unkatholischer Weise häufig über die Stränge schlug.

Remich »Perle der Mosel« (Imagefilm)
https://binged.it/2uEVzjf

Bis auf die Zeit meiner Kölner Geburt und die unbequemen ersten Nachkriegsjahre im Sauerland und Rheinland war das Winzer-, Arbeiter- und Pendlerdorf meine Heimat. Hier ging ich in die von Nonnen geführte »Spellschoul« (Kindergarten), wo wir uns mehr in der Kirche als am Sandkasten oder in der Spielecke aufhielten, und hier empfing ich meine ersten Eindrücke vom Leben.

Meine Mutter erzählte mir später häufig die Geschichte vom Matrosenanzug, den sie mir zu Weihnachten schenkten: Das Kleidungsstück faszinierte mich derart, dass ich es gar nicht mehr ausziehen mochte. Selbst beim Sackhüpfen im Kindergarten wollte ich es unbedingt anbehalten.

Trotz meiner starken Bindung an die Familie muss ich als Kind, aus welchen Gründen auch immer, große Ängste entwickelt haben. Im Alter von drei Jahren – kurz vor Kriegsanfang – unternahmen Großmutter und Mutter mit mir einen Ausflug an die belgische See. Dort, in der Nähe von Ostende, war Drachensteigen eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Dabei handelte es sich nicht um diese Lenkdrachen, die ich später in der »Hobbythek« gezeigt und deren Bauanleitung ich geliefert habe, sondern um die Version mit langem Papierschwanz und Leine. Einer dieser Drachen muss mich damals wohl so erschreckt haben, dass ich mich nicht mehr beruhigte und einen Schreikrampf bekam. Da es – zum Glück – noch keine Tranquilizer gab, steckte man mich im nächsten Krankenhaus ins Senfbad. Das schien die einzige Möglichkeit, mich zu beruhigen. Nun, ich habe es, Gott sei Dank, unbeschadet überlebt. Obwohl, man weiß ja nie – ein leichter Dachschaden könnte ja geblieben sein …

Grenzlandschicksale

Die Vermutung, dass es sich bei meiner Familie und mir um »Grenzlandschicksale« handeln könnte, ist nicht ganz abwegig. Gleich zwei Generationen haben dieses erfahren: Mein Luxemburger Großvater mit französischen Vorfahren heiratete meine Kölner Großmutter und mein Kölner Vater meine Luxemburger Mutter.

Eine solche Konstellation muss zwangsläufig jeden fantasiebegabten Jungspund neugierig machen. In meinem Fall beschränkte sich dieses aber nicht nur aufs rein Familiäre. Da gehörte die große Politik mit dazu. Denn sie produzierte in jener aus den Fugen geratenen Zeit jede Menge Erklärungsbedürftiges. Was zum Beispiel ist ein Erbfeind? Oder: Wie wurden die Menschen mit den Psychosen und Katastrophen um sie herum fertig? Diese Fragen beschäftigen mich bis zum heutigen Tag.

Großvater Joseph-Peter Pütz: gefallen für Kaiser Wilhelm II. Das Erste, was ich mit der Existenz meines deutschen Großvaters verband, sind Worte wie »Schlacht«, »gefallen«, »Krieg«, »Tod«. Für einen 6-/7-Jährigen, der solches zum ersten Mal hört, sind das schreckliche Wörter. Schlacht! Wurden da etwa Menschen geschlachtet, so wie ich es bei unseren eigenen Hausschlachtungen, diesem blutrünstigen Spektakel, in Remich schon ein paarmal gesehen hatte? Und was heißt »fallen«? Es fallen doch nur Bauklötze um!

Die grausame Realität, die später in mir die kindlichen Bilder ablöste, ließ mich nicht ruhen. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen: Was geschah tatsächlich zwischen Juli und November 1916 am kleinen nordfranzösischen Flüsschen Somme in der blutigsten »Schlacht« des Ersten Weltkriegs – und, das Wichtigste: Wo war mein Opa geblieben, der ja dort gewesen sein soll? Die Historiker berichten, dass britische und französische Soldaten auf deutsche Truppen trafen – insgesamt drei Millionen Mann –, von denen 1,1 Millionen »fielen«. Doch über meinen Großvater, den Arbeiter Joseph-Peter Pütz aus Köln, 33 Jahre alt, schrieben sie nichts. Was meine Familie schon bald erfuhr, war bloß die schreckliche Gewissheit, dass der Großvater nicht mehr lebte. Diese Botschaft brachte irgendwann im Spätherbst 1916 der Postbote ins Haus, der Brief trug den Vermerk »verschollen, vermutlich gefallen«. Wo er begraben liegt, stand nicht dabei.

Schlacht an der Somme, Erster Weltkrieg (Doku-Film)
http://bit.ly/2u1gZVJ

Eine Reise ins Totenreich

Noch lange Zeit nach dem entsetzlichen Verlust sprach man in der Familie darüber. Es wurden Theorien aufgestellt und wieder verworfen. Die Diskussionen in der Familie, so anstrengend und ausweglos sie auch schienen, wollte ich auf meine Art beenden, indem ich herauszufinden anstrebte, was sich tatsächlich abgespielt hatte. Möglicherweise beschleunigte dafür auch noch eine persönliche Überlegung die Sache, nämlich die Horrorvorstellung, dass mein über alles geliebter Vater plötzlich selbst keinen Vater mehr hatte, und zwar weil dieser – einfach so – abgeknallt, in die Luft gesprengt oder von einer Granate zerfetzt worden war.

Dieses Kapitel meiner Familiengeschichte bedrückt mich bis zum heutigen Tag. Und für meinen Vater, so denke ich, muss das doch schrecklich gewesen sein! Und dass dann auch noch seine Mutter, meine Großmutter Anna, im selben Jahr starb, machte das Ganze noch viel schlimmer: »Vollwaise«, was ist das? Wie kann man damit leben?

Mit diesen Gedanken im Kopf schwang ich mich auf mein rostiges Fahrrad und radelte über Thionville, Verdun, die Maas entlang Richtung Sedan und von dort aus weiter an die Somme. Es ging von einer Jugendherberge zur anderen und von einem Katastrophenort zum nächsten.

Kaum eine Reise in meinem Leben hat mich mehr bewegt – und geprägt – als jene 320 Kilometer lange Strecke zwischen Remich und der Gegend von Amiens im Sommer 1951. Zunächst vermittelten mir wunderschöne Landschaften mit duftenden Feldern und holprigen Straßen ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Doch je näher ich meinem Ziel kam, desto beklemmender wurde die Tour. Ich traf auf freundliche und hilfsbereite Menschen, denen ich als junger Luxemburger willkommen war. Dass ich ausgerechnet nach Amiens wollte, stieß jedoch auf Unverständnis. Keine Antworten, keine Erklärungen. Ich hatte den Eindruck, die Menschen wollten mit ihrem Schweigen die ganze Sache, die auf so brutale Weise schon vor Generationen auch in das Leben ihrer eigenen Familien eingegriffen hatte, vergessen machen. Stattdessen gaben sie mir den Tipp, lieber durch die Picardie und an die Nordsee zu radeln, das wäre für einen 15-jährigen Jugendlichen doch viel interessanter.

Was ich schon bald auf dem Weg vor Verdun sah, verschlug mir fast den Atem. Gräberfelder, so weit das Auge reichte. Aber nicht nur das. Ich kam an Schützengräben vorbei, die eigentlich Massengräber waren. Davor allerdings wurden die Besucher rechtzeitig durch Schilder gewarnt: Da im und nach dem Krieg Bestattungen entweder zu gefährlich oder nicht möglich waren, ließ man die verschütteten Toten einfach in ihren Erdlöchern liegen. Aufgesteckte Bajonette ragen seither wie kleine rostige Mahnmale aus der Erde in den Himmel. Ein grauenhafter Anblick. Rund 80 000 Soldaten sollen auf diese Weise zugeschüttet worden sein.

Ich war sprachlos über diese geballte Wucht von Tod und Zerstörung. In diesem Augenblick wurde mir schlagartig klar, warum jeder Wochenschau-Film die tatsächlichen Dimensionen dieses Massensterbens noch nicht einmal annähernd darstellen kann. Dies alles, die vielen Denkmäler und das gespenstische Beinhaus mit seinen Schädel- und Knochenbergen, lieferten mir lebensprägende Eindrücke. Dazu gehörte auch der Gedanke, dass unter jedem der weißen Holz- oder hellen Betonkreuze auf diesen schier endlosen Gräberfeldern ein toter Mensch liegen sollte. Engländer, Franzosen, Deutsche, Australier, Kanadier, Neuseeländer, Marokkaner und so weiter. Auch mein Opa musste dieses Schicksal erlitten haben.

Gräberfelder (Foto)
http://bit.ly/2eQ2rGk

Beispiel Verdun, die »Blutmühle«

So bezeichneten deutsche und französische Soldaten das weite Terrain mit seinen Festungen, Bunkern, Stellungen und Gräben rund um die Stadt. Die »Blutmühle« begann sich am 21. Februar 1916 um 7.15 Uhr zu drehen. Es war ein neunstündiges Trommelfeuer aus 400 deutschen Batterien. Danach ging es zwischen Deutschen und Franzosen hin und her, und das gegenseitige Morden schien nicht mehr aufzuhören. Exakt 300 Tage später war Schluss, die »Blutmühle« hörte auf, sich zu drehen – unentschieden.

Verdun gehörte bis 1552 als Freie Reichsstadt zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und hieß im Mittelalter Wirten. Mich überraschte die Ruhe, die über dem Schlachtfeld lag, und ich fragte mich, was die Menschen in einer so friedlichen Landschaft damals im Sommer 1914 dachten, als plötzlich das Inferno über sie hereinbrach. Was hatte dieser tage-, oft sogar wochenlange, unaufhörliche Kanonendonner mit ihnen gemacht – dieser unbeschreibliche Krach rund um die Uhr, der zur brutalen Erkennungsmelodie des industrialisierten Krieges mit all seinen Möglichkeiten zur millionenfachen Vernichtung menschlichen Lebens werden sollte und der in dieser Gegend, die ich gerade mit meinem Fahrrad bereiste, Dutzende von Dörfern verschwinden ließ?

Und mein Opa? Den fand ich nicht. Auch nicht an der Somme. Tagelang suchte ich nach ihm, dann gab ich auf. Wenig später, in Verdun, betete ich für ihn am Beinhaus von Douaumont.

Auch wenn dieser Ausflug in die Hölle nicht das gewünschte Ergebnis brachte – eines hatte er jedoch bewirkt: Ich wurde noch neugieriger auf den Homo sapiens. Was treibt ihn an, was lässt diese »Krone der Schöpfung« zum Monster werden und was zur Marionette verkümmern? Wie konnten 1914 in Deutschland Millionen Menschen blindlings, Lemmingen gleich, ihrer adelig-dekadenten Führungsclique in den Untergang folgen und einen ganzen Kontinent in Blut und Elend ertränken? Und wie konnte, gerade mal eine Generation später, das Volk von Beethoven, Goethe und Schiller, einem Psychopathen und Massenmörder wie Hitler hinterherlaufen? Meine Suche nach Antworten auf all diese Fragen ist immer noch nicht beendet. Doch war sie zumindest einer der Auslöser für mein späteres Soziologiestudium.

Beinhaus Fort Douaumount (Video)
https://binged.it/2u1gwTp

Eine ganz andere Frage beschäftigte mich später ebenfalls: Woran starb im selben Kriegsjahr 1916 meine Großmutter Anna, die Ehefrau des Gefallenen? Infolge einer Krankheit oder aus Gram über den Tod ihres geliebten Mannes? Auf jeden Fall waren mein Vater, damals zehn Jahre alt, und sein Bruder Willi, acht, plötzlich Vollwaisen.

Mein Luxemburger Großvater Jean Mohr – 60 Jahre zu früh auf der Welt

Ein solch schreckliches Schicksal blieb meinem Luxemburger Großvater Jean Mohr erspart. Nicht nur, weil er damals nicht in den Krieg ziehen musste – Luxemburg wurde zwar von den deutschen Truppen überrollt, aber nicht, wie im Zweiten Weltkrieg, besetzt. Jean Mohr (1884–1932) vermochte auch sonst dem Leben meist nur die guten Seiten abzugewinnen. Er war das, was man unter einem Bonvivant versteht, und er pflegte diese Lebensart auch aufs Nachhaltigste. Leider habe ich ihn nie kennengelernt.

Wein, Weib und Gesang waren sein Lebenselixier, aber als Kunstmaler und Anstreicher ging er auch einem ordentlichen Beruf nach. Doch damit konnte er sich und seine Familie mehr schlecht als recht ernähren, auch wenn seine impressionistischen Arbeiten es durchaus mit denen bekannter Meister aufnehmen konnten. Dass er dann auch noch im kleinen Theater von Remich als besonders humorvoller Kabarettist und Laienschauspieler auftrat und damit das kulturelle Leben seiner kleinen Heimatgemeinde mit großen Einfällen bereicherte, rundet das Bild eines ungewöhnlichen Mannes ab: ein Universalgenie, doch angesichts heutiger medialer Möglichkeiten leider 60 Jahre zu früh geboren. Mit seinem Talent wäre ihm, vermute ich mal, zumindest eine Karriere als Entertainer sicher gewesen.

Mit welch sinnlichem Potenzial mein Großvater ausgestattet gewesen sein musste, zeigte sich auch noch nach seinem Tod. Als ich, vielleicht gerademal 13 Jahre alt, den Dachboden inspizierte, fiel mir eine verschlossene große Kiste auf. Ich öffnete sie und staunte nicht schlecht über den Inhalt: lauter erotische Bücher, darunter ein Werk über Valeria Messalina, die dritte Frau des römischen Kaisers Claudius, eine der verführerischsten Frauen der Antike. Der Anblick dieser lebensprallen Römerin erregte mich ungemein. Erstmals sah ich einen nackten Busen – wenn auch nur abgebildet. Natürlich war das eine Sünde. Deshalb habe ich das auch wenig später gebeichtet. Bei der Schilderung meines ersten Ausflugs in die Gefilde der Unkeuschheit hörte der Herr Pfarrer ruhig und aufmerksam zu.

Dieser Zufallsfund prägte meine sexuelle Entwicklung. Plötzlich fühlte ich mich viel reifer. Die von meiner Religion empfohlene und gelebte Prüderie konnte ich jedoch, je älter ich wurde, beim besten Willen nicht nachvollziehen – und auch nicht nachleben. Wenn der Herrgott Sex tatsächlich so gnadenlos verdammt hätte, sagte ich mir als junger Mann, hätte er diese wunderbare Sexualität niemals geschaffen. Schließlich, und das kommt noch hinzu, ist sie es, die für die Vielfalt des Lebens sorgt.

Als Jean Mohr vor dem Ersten Weltkrieg wieder einmal mit seinen lebenslustigen Freunden nach Köln fuhr, um dort Karneval zu feiern, beeindruckte ihn nicht nur das ausgelassene Treiben mit seinen vielen Prunksitzungen und opulenten Umzügen, sondern auch die 16-jährige Juliane Dresbach. Sie war ein kölsches Mädchen und wurde seine große Liebe. Nur wenig später gelang es ihm, sie in sein Moselstädtchen zu locken und zwei Jahre später zu heiraten. Vielleicht wäre die Übersiedlung des Mädchens nicht so schnell vonstattengegangen, wäre Juliane nicht arbeitslos gewesen. Und so fand sie Arbeit als Haushaltshilfe bei einer wohlhabenden Remicher Familie. Juliane lebte sich rasch in ihre neue Umgebung ein und sprach auch schon bald perfekt und ohne fremden Akzent luxemburgisch. Dass ihr Name Juliane der Übersetzung zum Opfer fiel und sie fortan Julie hieß, wurde nicht nur von der Familie als Zeichen gelungener Integration gewertet. Julie hatte in Köln noch 13 Geschwister und war eine couragierte, moderne Frau, die die Ärmel hochkrempelte, die aber gelegentlich auch die Hosen anhatte.

Großmutter Julie brachte 1913 meine Mutter zur Welt. Ihr zweites Kind, die Tochter Julia, starb als 16-Jährige nach einer nicht erkannten Blinddarmentzündung in einer Nonnenschule. Die schamhaften Ordensfrauen waren der Ansicht, die Schmerzen hätten etwas mit der Menstruation zu tun, dabei war es ein lebensgefährlicher Blinddarmdurchbruch, der den Körper vergiftete. Jede Hilfe kam zu spät, und Antibiotika gab es noch nicht.

Das war ungefähr zu der Zeit, als meine Großmutter Julie in der Machergasse 11 ihr Geschäft für Tapeten, Farben, Waschmittel, kosmetische Artikel und Bodenbeläge betrieb. Sie hatte diesen kleinen Drugstore Jahre zuvor in der Unterstadt kurzerhand eröffnet, weil die Einkünfte ihres umtriebigen Ehemanns nicht ausreichten, um die Familie kontinuierlich zu ernähren.

Die legendäre Cavalcade von Remich

Großvater Jeans größte Leistung hieß »Cavalcade«. Das ist jener Karnevalsumzug, der in den Zwanzigern erstmals über das Remicher Kopfsteinpflaster rollte. Daran nahmen viele Wagen und fast alle Vereine der Kleinstadt teil: Kirchenchor, Turnverein, Fußballverein, Feuerwehr. Auch meine Männerblaskapelle »Harmonie Municipal de la Ville de Remich« marschierte mit. Mein Großvater hatte die Idee mit dem Umzug schon vor dem Ersten Weltkrieg aus Köln mitgebracht und kopiert. Noch heute gibt es die »Cavalcade«, und noch immer lockt sie bis zu 10 000 Zuschauer an. Dann befindet sich ganz Remich im Ausnahmezustand.

Cavalcade de Remich (Video)
http://bit.ly/2tFyewu

Für mich hatte Großvaters Kölner Karnevalimport zur Folge, dass ich als Jugendlicher häufig am Rosenmontag nach Köln musste, um mit meiner Agfa Clack die Motivwagen zu fotografieren – Vorlagen für Remich, wo fünf Wochen später, mitten in der Fastenzeit, am Sonntag Laetare, die »Cavalcade« stattfand. Außerdem brachte ich auch noch einige Sprüche mit, die ich bei Kölner Büttenreden aufgeschnappt hatte. Diese wurden dann von den Remich-Jecken übernommen. Weil mir dieser Kulturaustausch so glatt gelang, bewunderten mich meinen Remicher, worauf ich sehr stolz war. Noch eine Bemerkung zur »Cavalcade«: Der Verzögerungseffekt beim Ideentransfer hatte zwei Vorteile: Es war noch genügend Zeit, um die eine oder andere original Kölner Kreation zu kopieren, und weil die »Cavalcade« zudem am »Freudensonntag« stattfand, konnte auch die katholische Kirche nichts dagegen haben. Dann hatten wir, meine Blaskapelle und ich mit Hütchen und Posaune, unseren großen Auftritt.

Nichts ging Jean Mohr über das gesellige Leben. Er sprühte vor Humor und Lebenslust. Regelmäßig traf er sich mit seinen Freunden in einer der zahlreichen Weinlokale unten an der Mosel. Einem guten Tropfen war er nie abgeneigt. Vergessen waren die Zeiten, als sich um 1899 die Reblaus in den Moselweinbergen breitmachte und ganze Ernten vernichtete. Viele Winzer standen damals vor dem Ruin. Die Not war groß, und in manchen Familien wurde gehungert. Einzig der Elbling, diese unverwüstliche, reblaus- und mehltauresistente Weißweinrebe, die einst von den Römern mitgebracht worden war, konnte überleben. Dass es dann schon kurz danach mit diesem bedeutenden Wirtschaftszweig wieder aufwärtsging, ist auch dem Schweizer Rebenforscher Hermann Müller-Thurgau zu verdanken. Er züchtete 1882 in der Rheingauer Forschungsanstalt Geisenheim die nach ihm benannte Rebsorte. In Luxemburg heißt sie Riesling-Silvaner, sie ist, was Klima und Bodenbeschaffenheit betrifft, nicht so anspruchsvoll und liefert hohe Erträge. Außerdem schlossen sich die Mosel-Winzer zu Kooperativen zusammen, die sich rasch als solides Fundament für den schon bald einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung erweisen sollten.

Das alles war jetzt, 20 Jahre nach der Reblaus, in den verräucherten Spelunken und an den Wirtshaustischen kein Thema mehr. Und so drehte Jean Mohr, der mittlerweile den Status eines »heimlichen Bürgermeisters« des Kanton-Hauptstädtchens Remich genoss, fleißig seine Runden. Meist wurden die Abende lang, manchmal sogar so lang, dass ihn später meine Momie zu Hause fragte: »Huesche röm gedronk?«, was so viel wie »Hast du wieder getrunken?« heißt. Jeans Antwort: »Fra, du kannscht zwar riesche, dat ich getrunk hun, aber net wievill!«

Für mich blieben mein Bopa und dessen Art, das Leben anzunehmen und zu meistern, immer ein Vorbild. Bis heute. Damit meine ich nicht nur seine Vielseitigkeit, sondern auch sein Talent, Menschen zu begeistern. Genau das hat mir von Anfang an imponiert, und vielleicht habe ich das eine oder andere von ihm geerbt. Früher sagten sogar einige der alten Remicher, welche die beiden Jeans kannten, ich sei ein Klon von ihm. Ich glaube nicht, dass sie damit nur den Schnäuzer meinten.

Als mein Bopa Jean Mohr mit 49 starb, an Leberzirrhose, wie es hieß, kam kein Mensch auf die Idee, über die Todesursache nachzuforschen. Die Diagnose klang vor dem Hintergrund seines regelmäßigen und mitunter heftigen Weinkonsums ziemlich plausibel. Jedenfalls dachten das nicht wenige aus dem Familien- und Freundeskreis. Mich hat diese Perspektive immer sehr beunruhigt. Mein Gedanke war: Wenn ich so viel vom Bopa geerbt haben sollte und wenn ich tatsächlich ein Klon von Jean Mohr bin, dann könnte ich bestimmt auch die Veranlagung für Leberzirrhose in mir tragen. Das war auch der Grund für meinen sparsamen Umgang mit Alkohol und meinen Gang zur regelmäßigen Vorsorge. Als dann auch noch mein Kumpel Jeannot, der mit mir im Musikorchester spielte, sich nach einem dieser Weinfeste in voller Montur in eine Straßenpfütze gelegt und versucht hatte zu schwimmen, wurde mir endgültig klar, dass Saufen nicht unbedingt zum Lebensinhalt gehören muss; doch ein Gläschen in Ehren konnte und kann mir niemand verwehren.

Ich arbeitete schon als Wissenschaftsjournalist, als ich mich Jahre später daran erinnerte, dass der Bopa in seinem ganzen Leben sehr viel mit Farbe zu tun hatte – entweder im Geschäft, wo er für Kundschaft die Ölfarben anrührte, oder beim Malen selbst. Als ich dann in seinem früheren Atelier einen ungewöhnlich schweren Sack mit weißem Pulver fand, das ich als Bleiweiß identifizierte, ahnte ich: Opa Jean und Leberzirrhose? Warum nicht Bleivergiftung? Denn inzwischen wusste ich längst, wie giftig Blei ist und dass dieses sich mit verheerenden Folgen im Körper und vor allem in den Knochen ablagert.

Nun wollte ich der Sache mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund gehen. Also nahm ich die Gelegenheit wahr, als die Familiengruft mal wieder aus traurigem Anlass geöffnet werden musste, um ein kleines Stück Knochen vom Bopa mitzunehmen. Das war auch relativ einfach, denn seine Überreste lagen inzwischen in einer Urne, nachdem sein Sarg völlig zerfallen war und Platz gebraucht wurde. Die Analyse im Labor eines der naturwissenschaftlichen Institute der Kölner Universität bestätigte meine Theorie: enorme Konzentration von Bleiwerten. Und so lag es hauptsächlich wohl doch am Blei und nicht an den Reben, dass Jean Mohr so früh sterben musste. So erleichtert ich über dieses Ergebnis auch war – als Freifahrtschein nahm ich es nicht. Vielmehr lebte ich weiter nach meinem Motto, auch am nächsten Tag lustvoll, aber ohne Reue zu leben.

Zweiter Weltkrieg und ein deutsch-luxemburgisches Familienschicksal

Die Familienbande brachten es mit sich, dass mein Vater in der Brauerei seines Onkels in Köln als Braumeister arbeitete. Der Onkel hieß – wie mein Luxemburger Opa – ebenfalls Jean, jedoch mit Nachnamen Pütz. Er gehörte zum Kölner Brauerei-Adel. Mit seiner Kölsch-Brauerei »Em rude Bräues« (Im roten Brauhaus) brachte er es zu beträchtlichem Wohlstand. Das Bier, das im dazugehörenden Gasthaus nebenan ausgeschenkt wurde, werteten die Gäste schon damals mehr als »Appetitanreger«, und Ohm Schäng, wie der Großonkel genannt wurde, war der Meinung, dass er das Bier auch deshalb braue, damit die Leute in seiner Gastwirtschaft mit der anerkannt guten Küche mehr essen sollten.

»Em rude Bräues« war vor allem während des Zweiten Weltkriegs die Adresse für die luxemburgische Kolonie in Köln. Gäste wie zum Beispiel der Schauspieler René Deltgen (1909–1979), der an den Städtischen Bühnen Köln engagiert war, kamen dort gerne vorbei. Für die Luxemburger, die keine »Volksgenossen« waren und demzufolge auch keinen Anspruch auf Lebensmittelkarten hatten, gab es dort trotzdem immer etwas zu essen. Dafür sorgte mein Vater, auch wenn dieser von Humanität geleitete Service nicht ganz ungefährlich war. Und so landete er einmal für zwei Wochen im Knast, weil er ein schwarz geschlachtetes Schwein gekauft hatte, um daraus schmackhafte Speisen für die ohne Essensmarken ausgestatteten Gäste zu zaubern.

Mein Vater, der Vollwaise, war von Ohm Schäng und seiner Frau, die wir »die Tant« nannten, schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg an Kindes statt angenommen worden. Ihre beiden eigenen Söhne waren zuvor an der damals grassierenden unheilbaren Tuberkulose gestorben. Deshalb suchten Ohm und Tant in der Familie nach einem geeigneten Stammhalter und Erben. Ihre Wahl fiel auf meinen Vater. Doch auch dieser war an TB erkrankt, hatte aber gute Aussichten, sie zu überleben, zumal seine neuen Eltern alles unternahmen, um den Adoptivsohn zu retten. So fuhr die Tant mit ihm sogar für ein ganzes Jahr nach Davos: Dort wurde Josef Pütz zwar geheilt, kehrte jedoch mit großen Flecken auf der Lunge wieder nach Köln zurück.

Nachdem Ohm Schäng viel zu früh (1929) an den Folgen eines Herzinfarkts starb, musste mein Vater, der gelernter Schneider war, Braumeister und folglich technischer Leiter werden. Offenbar waren die Gesundheitsvorschriften für Lebensmittelbetriebe damals noch nicht so streng, denn niemand wusste, ob Josef Pütz nun tatsächlich komplett von der Tuberkulose geheilt war. Die Tant hatte in der Zwischenzeit die Geschäftsleitung für Brauerei und Restaurant übernommen. Ihr Lieblingsplatz war der »Beichtstuhl«, jene traditionelle kölsche Kneipeneinrichtung, von der aus man die Totalkontrolle über Kellner und Gäste hat.

Die Familie und Hitler

Doch schon nach wenigen Jahren wendete sich für die Familie das Blatt. Der Grund war meine Mutter. In sie hatte sich mein Papa verliebt. Die Tant verfolgte diese Liaison mit kaum verhohlener Ablehnung. Denn Elli war Luxemburgerin und kam daher für die leidenschaftliche Hitler-Verehrerin als »Schwiegertochter« überhaupt nicht infrage. Nachdem mein Vater seine Elli trotz mehrfacher eindringlicher Warnungen der Tant 1935 heiratete, war die Beziehung endgültig gestört. Das war für das junge Glück insofern unkomfortabel, als es von nun an eine Art Wochenendehe führte – die jedoch funktionierte. Und so wurde ich zwar im September 1936 in Köln geboren, wuchs aber in Luxemburg auf.

In Köln hatte mittlerweile die Tant ihren Adoptivsohn Josef still und heimlich enterbt. Mein Vater hatte von dieser Gemeinheit nichts mitbekommen, er fühlte sich nach wie vor als Miteigentümer des kleinen Betriebs.

Inzwischen, 1939, war der Krieg ausgebrochen. Die deutsche Wehrmacht besetzte in den Morgenstunden des 10. Mai 1940 auch das neutrale und unbewaffnete Luxemburg, um die Maginot-Linie der Franzosen zu umgehen. Aus dem Großherzogtum wurde ein »Gau«, und Nazi-Funktionäre, allen voran der NSDAP-Gauleiter Gustav Simon, den Hitler aus dem benachbarten Gau Koblenz-Trier zum Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg gemacht hatte, spielten sich als Herren über Leben und Tod auf. Bereits ein Jahr später – ab Oktober 1941 – begann die Deportation aller 683 luxemburgischen Juden, deren man habhaft werden konnte, in die Vernichtungslager, 93 Prozent von ihnen wurden ermordet.

Als Kind hatte es mich erschüttert, als unser Lehrer vor der Klasse in Tränen ausbrach. Mit gebrochener Stimme berichtete er uns, dass im Nachbardorf Wiltz sieben Lehrer vor den Augen der Kinder von der Wehrmacht erschossen worden waren, weil sie sich an einem Generalstreik gegen die Zwangsrekrutierung junger Luxemburger in eben diese Wehrmacht beteiligt hatten. Auch ohne die Zwangsrekrutierung steckten noch viel zu viele Luxemburger in dieser schrecklichen großdeutschen Uniform, um als Mitläufer oder Mörder ihr Land zu verraten. Dennoch: Zum Glück funktionierte, wie der Generalstreik zeigte, auch der Widerstand, die Résistance. Jedoch zu einem hohen Preis. Denn jeder, den die Nazis erwischen konnten, wurde entweder auf der Stelle erschossen oder kam ins KZ. Selbst zwei Tanten von mir – sie betrieben einen Zeitungskiosk und einen kleinen Buchladen in unserer Straße – wurden eines Morgens aus dem Bett geholt und wenig später auf direktem Weg ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Wie durch ein Wunder haben sie überlebt.

Mein lebenslanges Trauma: der schlimmste Bombenangriff auf Köln

Die Tant war schon zwei Jahre tot, als in Köln das »Rude Bräues«, Am Blaubach 85, in Schutt und Asche versank. Es war am 28. Juni 1943, am Tag vor Peter und Paul, als Mutter und Großmutter mich mit dem Zug nach Köln brachten. Dort erwartete uns mein Vater – er hatte gerade Betriebsferien –, und auch mein Bruder Heinrich befand sich schon in Köln, in einem Kinderheim in Königsforst. Danach sollte es für alle mit dem Zug nach Tirol in die sogenannte Sommerfrische gehen. Ich war noch nicht einmal sieben Jahre alt. Meine Großmutter fuhr gleich nach der Ankunft wieder nach Luxemburg zurück. Sie habe »so ein komisches Gefühl gehabt«, wie sie später sagte. Dieses war berechtigt, denn schon wenige Stunden nach ihrer Abreise begann ein infernalischer Luftangriff auf die Stadt – eingeleitet von einem markerschütternden, lang anhaltenden Sirenengeheul im Dauerton. Es war einer der schlimmsten Schläge, den Köln in diesem Krieg erlebte und der in mir, wenn ich daran zurückdenke, noch immer ein Gefühl von Angst und Schrecken erzeugt.

Ausgerechnet gegenüber unserem Brauhaus stand der städtische Wasserturm (heute zu einem Luxushotel umgebaut) mit seinen Hunderttausenden von Litern. Wir hatten riesige Angst, in unserem Keller abzusaufen, falls der Turm getroffen würde. Keller besaßen wir in der Brauerei genügend – vier Etagen tief in der Erde, aber das nutzte nichts, wenn man darin ertrank. Mein Vater schien geahnt zu haben, wie verheerend diese Angriffe sein würden. Die Alliierten hatten das bereits neun Monate zuvor in Lübeck durchexerziert: erst Sprengbomben, dann Luftminen, deren Druckwelle die Häuser abdeckte. Danach flogen Brandbomben mit ihren Phosphorkanistern – heute »Napalm« genannt – in die geöffneten Häuser und entfachten eine flächendeckende Feuersbrunst. So war es auch in Köln.

Ich spüre das Beben der Wände und höre dieses höllische Krachen und das Pfeifen noch heute. Es musste eine unvorstellbare Bombenlast sein, die gerade auf die Stadt niederprasselte. So ging es ohne Pause. Immer wieder heftige Erschütterungen des gesamten Gemäuers und Detonationen. Ich zitterte am ganzen Körper.

Etwa eine halbe Stunde nach dem Bombardement – die Ertrinkungsgefahr war vorüber, weil der Wasserturm glücklicherweise nicht getroffen wurde – warf die »Nachhut« dann ihre Phosphorbomben. Diese paar Minuten Pause zwischen den Brand- und den Phosphorbomben nutzten wir, um an den sichersten Ort unserer erreichbaren Umgebung zu flüchten. Und das war die unterste Stelle des vier Etagen tiefen Brauhauskellers, der Eiskeller. Er war hermetisch abgeschlossen und hatte seine Funktion längst verloren. Denn seit der Erfindung der Eismaschine durch Carl Linde brauchte man das aus dem eigenen Weiher herantransportierte Eis – es hielt bis in den Sommer – hier nicht mehr zu lagern.

Dieser Ortswechsel rettete uns das Leben. Denn mein Vater wählte ganz bewusst diesen Aufenthaltsort, der uns vor den giftigen Dämpfen schützte, die, wenn sie in die Lunge kommen, sich sofort in Phosphorsäure verwandeln und sie zerfressen. Für uns war es überlebenswichtig, die nächsten Stunden in diesem möglichst isolierten Raum zu verbringen. Als wir ihn betraten, blickte ich in die angstvollen Augen zweier Erwachsener. Sie hießen Levien – Mutter und Sohn – und waren auf der Flucht vor der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) mit ihren Spürhunden. Meine Mutter hatte die beiden Juden schon seit einiger Zeit dort unten versteckt. Der Sohn war zum Katholizismus konvertiert und Priester geworden.

Kaum waren wir im Eiskeller angekommen, krachte es plötzlich wieder heftig: Brandbomben fielen, so ging es eine Zeit lang Schlag auf Schlag. Mein Vater sagte: »Wir gehen hier nicht eher raus, bevor sich nicht alles verzogen hat.« Um mir das Einschlafen trotz der Detonationen und der Angst zu ermöglichen, flößten mir meine Eltern ein wenig von dem dort gelagerten Champagner ein.

Nach zwölf Stunden – die Bombardierung hatte inzwischen aufgehört – wagten wir den Ausstieg aus unserem »Bunker«. Mein Vater bahnte uns durch die leichten, nur aus aufgeschichteten Ziegelsteinen bestehenden Durchbrüche einen Weg. Damit waren die Keller, der damaligen städtischen Bauweise entsprechend, voneinander getrennt. Nun mussten wir nur noch den Ausgang finden. Doch einen Aufgang nach oben gab es nicht, weil unser Brauhaus völlig in Trümmern lag. Also bahnten wir uns einen Weg durch das Kellersystem unter unserer Straße. Noch waren die Giftschwaden nicht restlos verflogen; ihre Nachwirkungen verätzten mir die Augen, sodass ich eine schwere Bindehautentzündung bekam und noch heute darunter leide.