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Für Ulli und Simon

Markus Leser

Herausforderung Alter

Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben

Verlag W. Kohlhammer

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Illustrationen: Nicolas d’Aujourd’hui

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029771-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029772-2

epub:    ISBN 978-3-17-029773-9

mobi:    ISBN 978-3-17-029774-6

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Inhalt

 

 

 

  1. Dank
  2. Geleitwort
  3. Vorwort
  4. Einleitung: 32 Jahre Erfahrung als Gerontologe
  5. Das Lebensende enttabuisieren – zwischen Wunsch und Wirklichkeit
  6. 1 Das Ende zu Beginn
  7. 2 Palliative Care. Heime als Lebensräume gestalten
  8. 3 Die Krux mit dem Tod. Denn tödlich ist nur die ewige Kostendiskussion
  9. 4 Das Sterben in den Alltag zurückholen. Vom Industriequartier wieder vorne zur Tür hinaus
  10. Wir werden älter, wir werden mehr, wir drehen uns im Kreis
  11. 5 Bilder und Mythen über das Alter im Wandel der Zeit. Was uns Philosophen, Dichter und Denker sagen.
  12. 6 Alter und Altern heute. Gerontologie und Gesellschaft im Dialog
  13. 7 Zur Zukunft des Alters. Warum wir heute ein Umsetzungsproblem haben
  14. 8 Demografische Alterung. Hochbetagte als wandelnde Zahlengerüste – oder wie alt wollen wir werden?
  15. 9 Das Bermuda-Dreieck: Geld – Gesundheit – Alter
  16. 10 Trends und Entwicklungen. Vom Megatrend zum richtigen Angebot
  17. 11 Neue Technologien für das Alter. Was ist wirklich neu?
  18. 12 Herausforderungen und Erfolgsfaktoren für Altersinstitutionen in den nächsten Jahren
  19. 13 Quo vadis? Wie wir vom Sonderangebot zur Normalität kommen
  20. Zuerst der Mensch und dann das Geld
  21. 14 Neue Pflegefinanzierung. Geld aus der Kasse des anderen holen?
  22. 15 Lebensqualität – Pflegequalität. Warum Qualitätsmessungen Qualität nicht automatisch fördern
  23. 16 Care-Arbeit. Würde und Autonomie erhalten
  24. 17 Wohnen im Alter. Wo wir wohnen wollen und wo wir wohnen können
  25. 18 Philosophische Betrachtungen zum Wohnen. Die eigenen vier Wände als Rettungsanker?
  26. 19 Bauen für das Alter. Gewohnheit und Zufriedenheit gestalten
  27. 20 Wünsche der älteren Menschen. Die sich von Generation zu Generation ändern
  28. 21 Wandel der stationären Pflegeinstitutionen. Was wird sich ändern?
  29. Sozialraumorientierung: die große Chance für die Zukunft?
  30. 22 Der Sozial- und Lebensraum. Wie wir die Mensch-Umwelt- Passung hinbekommen
  31. 23 Integrierte Lösungsansätze: Wie diese für ältere Menschen Angebote aus einer Hand schaffen
  32. 24 Das Wohn- und Pflegemodell 2030. Eine Vision für selbstbestimmtes Leben im Alter
  33. 25 Die Zukunft ist da. Erfahrungen mit dem Wohn- und Pflegemodell 2030
  34. 26 Selbsttest eines Babyboomers. Die Funktion des Wohn- und Pflegemodells 2030
  35. Fazit
  36. Literatur
  37. Sachverzeichnis

Dank

 

 

 

Zum Gelingen des vorliegenden Buches haben viele Personen beigetragen, denen ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. An erster Stelle steht dabei Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer-Verlag, der mit mir am Rande des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) bei einem Abendessen in Halle die Idee des Buches besprochen hatte. Danach nahm der Prozess des Recherchierens, des Überlegens, des Diskutierens und des Schreibens seinen Lauf.

Anita Imhof von Qualis Evaluation war es dann, welche die ersten Literaturrecherchen in Angriff nahm und auf denen ich die Inhalte und die fachlichen Überlegungen aufbauen konnte.

Das fertige Manuskript wurde von fünf «Testlesern» gelesen und kritisch beurteilt. Dies waren Prof. Dr. Francois Höpflinger (dem ich auch für sein Geleitwort danke), lic.jur. Theres Meierhofer-Lauffer, Dr. Heinz Rüegger, Dr. Daniel Höchli und Marco Borsotti. Ihre kritischen Anmerkungen haben mir sehr geholfen, das Buch nochmals inhaltlich weiter zu entwickeln und zu verfeinern.

Ein Dank gilt auch den Lektorinnen der Firma Rotstift und natürlich vor allem Frau Annika Grupp vom Kohlhammer Verlag, die dem Buch den Feinschliff gab und mich in der Schlussphase kompetent und umsichtig begleitet hat.

Eine grosse Stütze war für mich auch stets Michael Kirschner, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Alter von CURAVIVA Schweiz. Er hat das Buch immer und immer wieder auf Fehler durchgelesen, das Sach- und Literaturverzeichnis angelegt, sowie die statistischen Angaben und die Quellen für die Zitate überprüft. Ein besonderes Dankeschön an dieser Stelle an Michael.

Last but not least gilt natürlich mein Dank auch Nicolas d’Aujourd’hui, welcher sich spontan bereit erklärte die Cartoons zum Buch zu zeichnen. Diese sind mit dem Text des Buches verbunden und verleihen dem Buch damit eine einheitliche und eigene Bildsprache.

In Memoria möchte ich auch meinem im Oktober 2016 verstorbenen Doktorvater, Prof. Dr. Reinhard Schmitz-Scherzer mit diesem Buch gedenken. Er war es, der mir in den späten 80er Jahren die Türen zur Welt der Gerontologie geöffnet hatte. Seine Begeisterung für das Fachgebiet war ansteckend und hält bei mir noch heute an.

Geleitwort

 

 

 

Die demografische Alterung ist seit Langem ein Thema, aber erst in den letzten Jahren sind Altersfragen stärker in den Mittelpunkt der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit gerückt. Wer sich – wie Markus Leser – seit Jahrzehnten aktiv mit Altersfragen und den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Herausforderungen befasst, wird immer wieder mit drei zentralen Sachverhalten konfrontiert:

Erstens haben sich Alternsprozesse – ebenso wie die Möglichkeiten zur Gestaltung der nachberuflichen Lebensphase – stark gewandelt, auch weil neue Generationen älterer und alter Frauen und Männer andere Lebenshintergründe und Lebensvorstellungen aufweisen als frühere Generationen. Ein zentraler Trend besteht allerdings weniger darin, das Altwerden positiv zu akzeptieren, als darin, dass Menschen neuer Generationen ihr Altsein später ansetzen (gestärkt durch die Tatsache, dass in der Schweiz die gesunden Lebensjahre eine Ausweitung erfahren haben).

Zweitens sind öffentliche und sozialpolitische Diskussionen zum Alter weiterhin geprägt durch empirisch weitgehend widerlegte Defizitvorstellungen und Altersbilder, die der Realität kaum mehr entsprechen. So sind übliche Vorstellungen von Alters- und Pflegeheimen weitgehend veraltet und auch die Dichotomie »ambulant vor stationär« spiegelt die aktuelle Pflegelandschaft kaum richtig wider. Markus Leser spricht explizit davon, dass sich viele Diskussionen zum Thema »Alter« im Kreis drehen.

Drittens wird im Buch von Markus Leser sichtbar, dass viele sogenannte »neue Projektideen« zum Wohnen im Alter, zum Einsatz neuer Technologien oder zur Pflege im Alter schon vor Jahrzehnten vorgeschlagen und teilweise realisiert wurden. Doch oft geht es lange, bis neue Lösungen umgesetzt werden. Verzerrte Bilder zum Alter tragen dazu bei, dass die Umsetzung innovativer Formen des Lebens und der Pflege im Alter auf Widerstände stößt (und zwar selbst, wenn dies längerfristig kostengünstiger wäre). In nicht wenigen Fällen wird das Rad mehrmals neu erfunden. Nach Ansicht von Markus Leser sind namentlich mathematisch-logische und technokratische Denkmuster ein zentrales Hindernis, was sich in der Schweiz beispielsweise an den sich immer wiederholenden Diskursen um die Finanzierung der Langzeitpflege oder den statischen Berechnungen zur Bettenplanung in Pflegeheimen zeigt.

Deutlich wird im Buch von Markus Leser ein zentraler Punkt: Häufig ist nicht das Altwerden das zentrale soziale Problem, sondern falsche, veraltete oder fehlgeleitete Vorstellungen vom Alter, die verhindern, dass vorhandene Ressourcen alter Menschen wie auch der Zivilgesellschaft problemlösend genutzt werden.

François Höpflinger

Vorwort

 

 

 

Die Diskussionen über das Alter und das Altern brauchen dringend ein Umdenken, vor allem in der öffentlichen und politischen Diskussion. Hier herrscht im Allgemeinen ein einseitiges »Schwarz-Weiß-Denken« vor, das den Grundsätzen einer differentiellen Gerontologie zuwiderläuft.

Ich habe das Buch aus Sicht eines Gerontologen geschrieben und meine gerontologischen Einschätzungen auf dem Hintergrund des Wissenstandes aus der Forschung mit den derzeit aktuellen Entwicklungen und Diskussionen in der Schweiz in Verbindung gebracht.

Da mein gerontologischer Werdegang stark von dem deutschen Psychologen und Gerontologen Prof. Dr. Reinhard Schmitz-Scherzer geprägt wurde, spiegelt sich demnach auch die Szene der Deutschen Gerontologie in diesem Buch wieder. Deren Konzepte, Modelle und Forschungsergebnisse sind fundamentale Bausteine dieses Buches. Die grundlegenden Gedanken und der Versuch ein differenziertes Bild über das Alter und das Altern zu zeichnen, lassen sich ohne Weiteres auf Deutschland und auch Österreich übertragen.

Nebst den Erkenntnissen aus der Wissenschaft der Gerontologie aus Deutschland und teilweise auch aus anderen Ländern ist mir der stete Bezug zur Praxis sehr wichtig. Aus diesem Grunde wird immer wieder auch von CURAVIVA Schweiz die Rede sein, meinem derzeitigen Arbeitgeber.

CURAVIVA Schweiz ist der nationale Dachverband der Heime und Institutionen, dem alle Schweizer Kantone (CURAVIVA-Kantonalverbände) sowie das Fürstentum Lichtenstein angeschlossen sind. Insgesamt vertritt CURAVIVA Schweiz über 2500 Mitgliederinstitutionen, in denen rund 115 000 Bewohnende leben und mehr als 130 000 Mitarbeitende (inklusive Teilzeitstellen) beschäftigt sind. Die Breite der Fachbereiche umfasst dabei die Bereiche Kinder- und Jugendinstitutionen, Institutionen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung sowie Alters- und Pflegeinstitutionen. Als Leiter des Fachbereichs Alter beschränke ich mich im Buch auf diesen Fachbereich.

Ob in Pflege und Betreuung, Ressourcenfindung und Entwicklung, Management und Infrastruktur oder Personalausbildung und Rekrutierung: Der nationale Dachverband setzt sich für fachliche und politische Rahmenbedingungen ein, die seinen Mitgliederinstitutionen ermöglichen, ihren Bewohnerinnen und Bewohnern bestmögliche Qualität zu bieten. Hierfür vertritt CURAVIVA Schweiz auf politischer Ebene die gesundheits-, sozial- und bildungspolitischen Interessen seiner Mitgliederinstitutionen, macht ihnen neuste fachliche Erkenntnisse und Entwicklungen zugänglich und stellt ihnen eine Vielzahl spezifischer Dienstleistungs- und Bildungsangebote zur Verfügung. CURAVIVA Schweiz beschäftigt derzeit rund 100 Mitarbeitende.

Als Autor dieses Buches gebe ich nicht die Haltung von CURAVIVA Schweiz wieder, sondern meine persönliche Meinung und Einschätzung.

Markus Leser, September 2017

 

Einleitung: 32 Jahre Erfahrung als Gerontologe

 

 

 

32 Jahre Gerontologie – das ist mein persönlicher Horizont. Am 1. Januar 1986 habe ich als Koordinator für Altershilfe bei einem ambulanten Dienstleistungsanbieter meine erste Arbeitsstelle angetreten. Ziel der damaligen Stelle war es, die verschiedenen Angebote im Bereich der Versorgung und Betreuung älterer Menschen zu koordinieren. Heute sind solche Koordinationsversuche wieder oder immer noch in aller Munde. Nur heißen sie anders: integrierte Versorgung, Koordination im Gesundheitswesen, interprofessionelle Zusammenarbeit etc. In der Schweiz werden hierzu nationale Strategien entworfen oder Chartas erarbeitet. Kooperationen haben Hochkonjunktur, zumindest in den Köpfen vieler Fachexperten und Politiker.

Blicken wir zurück in die 1980er-Jahre. Damals hielt sich bei den vorhandenen Dienstleistungsanbietern das Interesse an Koordination in engen Grenzen. Niemand war wirklich motiviert, sich von einem 27-jährigen Berufsanfänger koordinieren zu lassen. Ich hatte damals mein Studium in Sozialarbeit abgeschlossen und dort standen zu jener Zeit vor allem die Themen »Kinder- und Jugendhilfe«, »Gemeinwesensarbeit« und »familientherapeutische Ansätze« im Zentrum des Interesses. So konnte ich an meinem ersten Arbeitsplatz relativ rasch feststellen, dass ich mit meinem Wissen zur Interpretation von Kinderzeichnungen (dies war das Thema meiner Diplomarbeit gewesen) im Umfeld von Altersarbeit und Altershilfe nicht weit kommen würde.

Es waren aber nicht nur meine damals mangelnden Kenntnisse der Gerontologie, welche die Koordinationsarbeit so schwerfällig machten, sondern vor allem auch die mangelnde Bereitschaft der verschiedenen Leistungserbringer, sich überhaupt koordinieren zu lassen. Irgendwie hatte niemand auf mich gewartet. Es wäre wohl gelogen, an dieser Stelle zu behaupten, heute wäre dies alles anders.

Meine etwas holprige Anfangserfahrung im weiten Feld der Gerontologie ließ jedenfalls sehr rasch den Entschluss reifen, nochmals ein Studium aufzunehmen. So fand ich 1989 in Deutschland an der Gesamthochschule Kassel mit dem Studium der sozialen Gerontologie das richtige Angebot. Aber damit waren die Probleme noch nicht gelöst. Als ich nämlich voller Freude und Stolz erzählte, dass ich nun Gerontologie studieren würde und mich danach als Gerontologe mit dem Thema »Alter und Altern« vertiefter beschäftigen möchte, erntete ich vielerorts fragende und auch zweifelnde Blicke. Gerontologie – was ist das, wo kann man als Gerontologe arbeiten und ist dies überhaupt ein zukunftssicherer Beruf? Dies waren wohl die häufigsten Fragen, die ich immer wieder beantworten durfte. Belächelt wurde ich manchmal, auch aufgrund meines eigenen Alters. Sich mit knapp 30 Jahren mit Fragen des Alters und teilweise des hohen Alters auseinanderzusetzen, war für viele nicht einfach nachzuvollziehen.

Blicken wir in die 1990er-Jahre. Es wurde auch nicht besser, als ich – mit Anfang 30 – an meiner zweiten Arbeitsstelle (Pro Senectute beider Basel) Kurse zur Vorbereitung auf die Pensionierung leitete. Es war zugegebenermaßen eine nicht ganz alltägliche Situation, als Kursleiter den rund 60-jährigen Männern und Frauen – der Altersgruppe, zu der ich heute gehöre – gegenüberzustehen.

»Wer sich beruflich mit Altenarbeit beschäftigt, läßt sich ohnehin auf ein konfliktreicheres Arbeitsfeld ein, als es ein ›Obstgeschäft‹ zu betreiben ist«, stellte Konrad Hummel 1986 in Anlehnung an Asmus Finzen fest (Hummel & Steiner-Hummel, 1986, S. 41). Diese Konfliktfelder umschrieb er wie folgt (Hummel & Steiner-Hummel, 1986, S. 41ff.):

•  Konfrontation mit dem fragilen Lebensalter und den dazugehörenden Verlusten

•  Begegnung zwischen den verschiedenen Generationen (man sitzt hier oftmals zwischen den Stühlen)

•  Abhängigkeit von einem Berufsfeld, das oft wenig Anerkennung bietet

•  Arbeit in Institutionen, die meistens in ihrer arbeitsteiligen Form von einer ökonomischen und bürokratischen Rationalität geprägt sind

Nun – ganz so schlimm war es nicht, sonst wäre ich wohl nicht mehr dabei. Nach meiner Erfahrung änderte sich das Berufsbild in den 1990er-Jahren. Zu dem Zeitpunkt, als man langsam merkte, dass es immer mehr ältere Menschen geben wird, hörte das Belächeln allmählich auf. Es wurde mehr und mehr mit Anerkennung attestiert, dass man hier in einem zukunftsträchtigen Berufsumfeld tätig ist. Es gibt nicht viele Branchen, in denen die Angestellten morgens aufwachen und ohne Zutun automatisch mehr Kunden haben. Im Altersbereich ist dies der Fall. Sie erhalten über Nacht – sozusagen automatisch – zusätzliche Kunden. Diese Entwicklung und die damit zusammenhängende veränderte Wahrnehmung bedeuteten aber noch lange nicht, dass verstanden wurde, was ein Gerontologe macht.

Über zehn Jahre später war ich bei einem privaten Anbieter für Seniorenresidenzen für das Marketing neu erstellter Residenzen zuständig. In der Bauphase der jeweiligen Häuser hatte ich seinerzeit sehr viele Sitzungen mit Handwerkern, Bauingenieuren, Architekten etc. Der Beruf des Gerontologen war in diesen Kreisen kaum geläufig und so artete fast jede Vorstellungsrunde meinerseits in eine Art Minireferat über die Inhalte, Ziele und Aufgaben der angewandten Gerontologie aus. Manchmal war ich der – für mich ewig gleichen – Erläuterungen etwas müde, dann kürzte ich das Verfahren ab und erwähnte meine Ausbildung in Marketing, die ich ebenfalls vorweisen konnte. Das haben dann alle auf Anhieb verstanden. Wobei interessanterweise auch vom Marketing allerhand unterschiedliche Vorstellungen durch das Land geistern.

Im Jahr 2003 wechselte ich dann zu CURAVIVA Schweiz, dem Verband für Heime und Institutionen, bei dem ich heute noch arbeite und den Fachbereich Alter leite. Der Fachbereich Alter begleitet die rund 1600 Mitgliederinstitutionen bei der fachlichen Arbeit, indem wir im gerontologischen, betriebswirtschaftlichen und politischen Umfeld die Interessen unserer Mitglieder vertreten und die entsprechenden Projekte und Grundlagen dazu aufbereiten (vgl. hierzu die Themendossiers unter www.curaviva.ch).

Es stellt sich natürlich an dieser Stelle die Frage, ob die Gerontologie heute etablierter ist und ob besser verstanden wird, was ein Gerontologe macht. In einer bekannten Schweizer Pendlerzeitung las ich ein Interview mit einer »Fachperson der Gerontologie«. Spontan freute ich mich darüber und war der Überzeugung, dass die Erkenntnisse aus der Gerontologie – wenn mein Beruf sogar in einer Pendlerzeitung Erwähnung findet – nun doch langsam und allmählich in unserer Gesellschaft angekommen sind.

Betrachten wir die Zeit des heutigen Jahrzehnts, der 2010er-Jahre. Wenig Anlass zur Hoffnung gibt die heutige gesellschaftliche und politische Diskussion über Alter und Altern in der Schweiz. Hier herrscht Schwarz-Weiß-Denken vor, das hauptsächlich die Kategorien Entweder-oder, links oder rechts, ambulant vor stationär etc. kennt. Gerade auch die Bilder über das Alter, welche in der Medienwelt vermittelt werden, folgen dieser Logik. Da ist zum einen von einem 90-jährigen durchtrainierten Mann die Rede, der noch täglich lange Strecken joggt und kürzlich erst an einer Himalaya-Expedition teilnahm. Zum anderen wird über Menschen berichtet, die »dement und apathisch« in einem Pflegeheim dahinvegetieren.

Hand aufs Herz: Wie viele 90-Jährige kennen Sie, die in den letzten Jahren auf einer Himalaya-Expedition waren? Wenn schon, dann müssten es sowieso Frauen sein, da diese durchschnittlich noch immer länger leben als Männer. Bei den wenigen verbleibenden Männern ist ein solches Vorhaben in diesem Alter doch eher utopisch. Vielleicht findet es aber gerade deshalb überhaupt Erwähnung. Die allzu positiven wie auch die äußerst negativen Beispiele, die es durchaus gibt, sind aber wenig brauchbar für differenzierte Aussagen über das Alter und das Altern. Wohl eher sind sie Anzeichen für eine – nach wie vor – vorhandene Tabuisierung des Alters. Je nach Charakter oder Lebenseinstellung neigt man eher zu einer sehr positiven oder sehr negativen Grund- oder Abwehrhaltung. In jedem Fall aber entsprechen diese Bilder, welche die beiden Pole des Alters aufzeigen können, der oben beschriebenen Entweder-oder-Haltung. Die Tabuisierung des Alters ist heute noch nicht aufgelöst. Sie wurde lediglich nach oben respektive nach hinten in das hohe und höchste Alter verschoben. Solange man mit den älteren Menschen Geschäfte machen kann, ist das für unsere heutige Konsumgesellschaft als Gewinn zu verbuchen. Wenn diese dann Kosten verursachen, weiß niemand etwas mit ihnen anzufangen. Zugegebenermaßen entspricht auch die letzte Aussage einer Entweder-oder-Dynamik. Ich möchte diese jedoch an dieser Stelle vorerst so stehen lassen und Ihnen diese Spannung noch etwas zumuten. Es ist die Spannung, die wohl alle Fachpersonen, die im Altersbereich tätig sind, während ihres gesamten Berufslebens aushalten müssen. Vielleicht macht ja gerade diese Spannung auch die Faszination des Themas aus?

Es stellt sich für mich, nach 30 Berufsjahren in der Gerontologie, immer mehr die Frage, wie wir künftig einem differenzierten Altersbild näherkommen können. Und da bin ich inzwischen der Überzeugung, dass es nur über ein Bewusstmachen der Bilder, die wir alle in uns tragen, funktionieren kann.

Heute werden meines Erachtens Bilder und Bildwelten zu wenig genutzt. Es herrscht nach wie vor ein mathematisch-logisches und technokratisches Denken vor, wenn man sich in gesellschaftspolitischen Diskussionen dem Alter und Altern annähert. Damit drehen wir uns im Kreis, da wir in der Gerontologie mit Mathematik oder betriebswirtschaftlichen Denkansätzen nicht wirklich weiterkommen. Das zeigt sich in der Schweiz beispielsweise an den ewig gleichen und sich immer wiederholenden Diskussionen um die Finanzierung der Langzeitpflege oder den statistischen Berechnungen für die Bettenplanung in Pflegeheimen.

Es zeigt sich aber auch in der Fachliteratur, in Vorträgen oder in Studien. Die allermeisten Bücher, aber auch Vorträge haben an irgendeiner Stelle ein Kapitel, in welchem mithilfe wunderschöner Grafiken dargestellt wird, dass die Menschen immer älter werden und damit immer länger leben und dass die Altersgruppen ab 50 Jahren zahlenmäßig immer größer werden.

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Das Wiederholen und Wiederkäuen von längst bekannten Fakten führt uns nicht weiter und ist langweilig. Die künftigen Herausforderungen des Alters und Alterns werden wir so nicht lösen. Es ist an der Zeit, die quantitative Seite zu verlassen und die qualitative – sprich die emotionale – vermehrt zu betonen und zu diskutieren. So kann es uns gelingen, schließlich beide Seiten wieder miteinander zu verbinden.

Aus diesem Grund werden Sie in diesem Buch hierzu (fast) keine Statistiken und Grafiken zur demografischen Alterung finden. Im Gegenteil: Ich empfehle Ihnen sogar, einfach abzuschalten, wenn Sie sich wieder einmal ein Referat anhören, bei welchem in der Präsentation Angaben über die statistische und demografische Entwicklung der Menschheit zu finden sind. Schauen Sie aus dem Fenster und entspannen Sie sich. Es gibt hier nicht viel Neues, es ist alles gesagt und kann in einem Satz zusammengefasst werden: Wir werden älter und wir werden mehr.

Zurück in die Zukunft

Die Schweiz ist heute im Ausnahmezustand: Personalnotstand, Asylnotstand, Stromnotstand – ein wohlhabendes und reiches Land wähnt sich permanent in irgendeiner Not. Man könnte es fast noch glauben, wenn man die vielen diesbezüglichen Medienberichte liest.

Wir sollten langsam zu einer konstruktiveren Diskussion über das Alter kommen und nicht nur über die steigenden Kosten oder die steigende Anzahl älterer Menschen lamentieren. Im Gegenteil, wir sollten uns darüber freuen, dass wir auch als ältere Menschen immer noch da sind und das Leben lange genießen dürfen. An Geburtstagsfesten wünschen wir den Jubilaren meist eine gute Gesundheit, was richtig und wichtig ist. Einem 60-, 70- oder 80-Jährigen können wir aber auch ganz einfach unsere Freude ausdrücken: »Schön, dass du noch bei uns bist!«

Die kalendarische Altersgrenze sollte nach Otfried Höffe sowieso der Vergangenheit angehören. Höffe schlägt vor, sich am biologischen und kognitiven Zustand eines Menschen zu orientieren und die Zahl wegzulassen. Auf diese Weise wird das Alter nicht mehr von außen, sondern von innen her bestimmt, von der »körperlichen, geistigen und seelischen Frische« (Höffe, 2016). Alter sei auch nichts für »Weicheier«. Es ist eine Kunst, die zur gesamten Lebenskunst gehört (Höffe, 2016).

Fast scheint es so, als sei die Schweiz, was das Alter anbelangt, aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erwacht, ohne dass man die sich anbahnende Entwicklung wahrgenommen hätte (vielleicht wollte man sie auch ganz einfach nur übersehen). Das Jammern über die angeblich viel zu hohen Kosten, die das Alter mit sich bringt, führt jedenfalls auf dem direkten Weg in die Sackgasse.

Die schweizerische Politik debattiert relativ freudlos über die älteren Menschen. Sie werden dort vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Das sieht man sehr gut am Beispiel der »neuen Pflegefinanzierung«, die 2011 eingeführt wurde und somit nach heutigem Stand nicht mehr als ganz neu bezeichnet werden kann. Bei den Diskussionen geht es selten um den älteren Menschen selbst, sondern vielmehr um Fragen zur Kostenbegrenzung. Mit dem Erfolg, dass die Kosten trotzdem weiterwachsen. Wir sollten aber nicht nur den Preis eines Gutes im Auge haben, sondern vielmehr den Wert, der dahintersteckt. Dieses Bestreben führt uns dann direkt zur Grundsatzfrage, wie viel wir als Gesellschaft bereit sind, für ältere und hochbetagte Menschen auszugeben. Das Fachmagazin »Focus« von senesuisse, dem Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz, schreibt dazu in seiner letzten Ausgabe des Jahres 2016 Folgendes: »Anerkennung und Menschenwürde haben stets auch mit Geld zu tun. Was uns etwas wert ist, lassen wir uns auch etwas kosten. Die Politik hat leider ein anderes Motto: Unsere Sparstrategie hat bisher nichts genützt, also müssen wir sie konsequent weiterführen …« (senesuisse, 2016, S. 1).

Gerade Angehörige der Babyboomer-Generation, also die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1945 und 1965 (mit Jahrgang 1959 darf ich mich demnach auch dazuzählen), müssen sich zusammentun und gegen diesen einseitigen Wind der Politik sowie gegen die zermürbende Sparhysterie ankämpfen. Die Zukunft liegt nicht einfach bei den älteren Menschen, sondern bei uns. Es ist wohl eine unserer wichtigsten künftigen Aufgaben, der Politik die Freude über das Älterwerden einzuhauchen. Wie könnte das gehen? Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der aktuellen Spardebatte in Bundesbern. Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, fasst diese wie folgt zusammen: »Als Bern ein Sparpaket schnüren musste, wollte man erst bei Menschen mit Behinderung sparen. Doch diese sind gut organisiert und gingen auf die Straße. Dann wollte man bei der Bildung sparen, doch die Schülerinnen und Schüler sowie das Lehrpersonal gingen auf die Straße. Dann hat man halt bei der Prämienverbilligung (der Krankenkassen, Anm. d. Autors) gespart – und keiner ging auf die Straße« (zitiert in Schmid-Bechtel, 2016). Wenn wir im Alter nicht als »Kostenfaktor« durch die Straßen laufen wollen, müssten vielleicht einmal alle älteren Menschen auf die Straße gehen, um zu protestieren. Der große Vorteil: Der aktuelle Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz entspricht circa 18%. Bis 2030 wird er auf fast 30% ansteigen. Man würde einen Protest der Alten nicht mehr übersehen können.

Warum dieses Buch?

In diesem Buch möchte ich versuchen, aufzuzeigen, was wir in der Gerontologie (teilweise schon lange) wissen und was davon bereits umgesetzt wurde. Wo verfangen wir uns in Wiederholungsschlaufen und woraus lassen sich Entwicklungsansätze ableiten? Das Buch richtet sich in erster Linie an Gerontologen sowie Führungs- und Fachpersonen, die in der ambulanten und der stationären Pflege und Betreuung älterer Menschen arbeiten und sich mit der Frage beschäftigen: Woher kommen wir und wohin gehen wir in unserer Gesellschaft im Umgang mit dem Thema »Alter und Altern«?

Es tönt banal, wenn ich hier festhalte, dass wir die Zukunft des Alters nur durch Taten gestalten können und nicht durch Diskussionen. Aber tun wir das auch? Wir wissen genug und dies zum Teil schon sehr lange. Nun muss dieses Wissen konsequent umgesetzt werden. Die ersten Vertreter der Babyboomer-Generation haben in den 1960er-Jahren die damals starren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgebrochen und verändert. Das ist Verpflichtung genug. Es ist die Aufgabe von uns allen, den Stillstand und die Tabuisierung des Alters, des hohen Alters, des Sterbens etc. aufzulösen und uns für ein differenziertes Altersbild einzusetzen. Das ist das zentrale Anliegen dieses Buches.

Der erste Teil des Buches beginnt mit dem Lebensende. Dieses wird oft genug an den Schluss gestellt und dort dann tabuisiert. Die Enttabuisierung beginnt jedoch mit dem Anfang und steht deshalb zu Beginn des Buches im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Wer das Lebensende und den Tod tabuisiert, verschmäht auch den Weg dahin und damit unweigerlich auch den gesamten Menschen. Als Gesellschaft sollten wir dringend darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, den Ast, auf dem wir sitzen, tatsächlich abzusägen.

Im zweiten Teil des Buches werde ich aus gerontologischer Sicht darlegen, warum die demografische Entwicklung eigentlich banal ist (»Wir werden älter und wir werden mehr!«) und warum wir uns in der gesellschaftlichen »Altersdebatte« seit Jahren im Kreis drehen. Einen möglichen Ausweg aus diesem Karussell bieten die Philosophen, Dichter und Denker früherer Zeitepochen. Von ihnen können wir in Kapitel 5 viel über das Alter und Altern lernen (image Kap. 5). In Kapitel 6 möchte ich aufzeigen, wie Gerontologie und Gesellschaft den Dialog über das Alter und Altern angehen könnten – basierend auf dem Hintergrund früherer Vorstellungen (image Kap. 6).

Kapitel 7 wird sich dann der Frage widmen, warum die Zukunft heute schon da ist bzw. warum wir heute in der Schweiz kein Innovations-, sondern ein Umsetzungsproblem haben (image Kap. 7). Gerade die Gerontologie hat bereits vor einem Vierteljahrhundert die heute viel diskutierte »Zukunft des Alterns und der gesellschaftlichen Entwicklung« beschrieben. Heute geht es vor allem darum, die folgenden Fragen in die richtige Reihenfolge zu stellen und erst dann die passenden Antworten zu suchen:

1.  Welches Angebot wollen wir?

2.  Für wen wollen wir es?

3.  Was kostet dieses?

4.  Wer bezahlt es?

In der Schweiz beginnt die Diskussion i. d. R. bei der vierten Frage. Wie sollen wir seriös beantworten, wer »die Zeche bezahlt«, wenn wir noch nicht genau wissen, was wir wollen und was dies kosten wird.

Warum Hochbetagte in der Demografie-Debatte wandelnde Zahlengerüste sind und wir zuerst herausfinden sollten, wie alt wir eigentlich werden wollen, ist eine weitere zentrale Fragestellung dieses Buches.

Im dritten Teil des Buches werde ich darlegen, warum der Mensch im Mittelpunkt stehen muss und warum es immer schwieriger wird, diese simple Forderung umzusetzen. Ebenfalls uralt ist die eher sarkastische Bemerkung, dass der Mensch im Mittelpunkt und dort dann meistens im Weg steht. Wir wissen es, unzählige Leitbilder und Dokumente haben diesen bekannten Slogan auf ihrer ersten Seite platziert. Von dieser ersten Seite bis zum alltäglichen Miteinander ist es dann mitunter ein weiter und steiler Weg. Im vierten und letzten Teil des Buches werde ich aufzeigen, warum bei der Gestaltung der Zukunft die Sozial- und Lebensraumorientierung eine große Chance ist. Es ist der Paradigmenwechsel, welcher den zukünftigen Umgang mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft ausmachen wird. Das Miteinander aller beteiligten Akteure, nicht das Gegeneinander und auch nicht das Nebeneinanderher wird der wichtigste Erfolgsfaktor der Zukunft sein.

 

 

 

Das Lebensende enttabuisieren – zwischen Wunsch und Wirklichkeit

1          Das Ende zu Beginn

 

 

»Im Kreis seiner Lieben flüstert der Sterbende ein paar bedeutungsvolle letzte Worte, schließt dann die Augen. Er verlässt die Welt voller Frieden im Gesicht, vielleicht sogar mit einem Lächeln, als spaziere er auf Zehenspitzen und Hand in Hand mit dem Tod davon. So geht Sterben – in vielen Filmen zumindest«, schreibt die Journalistin Silke Pfersdorf in ihrem Beitrag mit dem Titel »Besser sterben« (Pfersdorf, 2016, S. 71). Solche romantischen Vorstellungen sind wohl ein Grund dafür, dass der wirkliche Tod in der heutigen Gesellschaft so stark verdrängt wird. Wohl jeder weiß, dass die Realität ziemlich anders aussieht. Und vergleicht man die Realität mit diesem Filmideal (das sich wohl insgeheim nicht wenige wünschen), kann man nur verlieren. Aber wer will am Ende des Lebens schon verlieren? Die Verdrängung kann da vielleicht etwas Abhilfe schaffen, so hofft man zumindest. »Um gut zu sterben (…), empfiehlt es sich, so früh wie möglich das Leben vom Tod her zu verstehen«, sagt der bekannte Palliativmediziner Gian Domenico Borasio von der Universität Lausanne (zitiert in Pfersdorf, 2016, S. 71f.). Und es empfiehlt sich auch immer mal wieder, an das Lebensende zu denken und vor allem darüber zu sprechen. Oder wie es der römische Dichter und Philosoph Seneca (um 4 v. Chr.–65 n. Chr.) formulierte: »Ein Leben lang muss man sterben lernen«. Was er nicht gesagt hat, ist, dass wir das Sterben ein Leben lang verdrängen sollen. Da muss die heutige Gesellschaft wohl noch so einiges lernen.

Sie wundern sich vielleicht, dass das Kapitel »Lebensende« am Anfang dieses Buches steht. Normalerweise kommt doch das Ende – der Tod – am Ende. Die Entscheidung, dieses Kapitel an den Anfang zu stellen ist kein Zufall, sie wurde bewusst gefällt. Damit stelle ich nicht den Tod an den Anfang, er soll seinen Platz als letzter in der Lebensgeschichte eines Menschen weiterhin behalten und allen sei ein hoffentlich langes und gesundes Leben von Herzen gegönnt. An den Anfang stellen möchte ich aber das Gespräch und die Gedanken über den Tod und das Lebensende. Je weniger wir Lebende (das Wort »Ende« ist darin übrigens enthalten) über das Ende und den Tod nachdenken, desto härter trifft er uns, wenn er dann da ist. Gewissermaßen notfallmäßig, aus heiterem Himmel. Das muss nicht sein.

Die Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod kann durchaus auch spielerisch und humorvoll geschehen. Dass Humor und Tod zusammenpassen können, hat an der Herbstmesse 2016 in Basel der Verein Totentanz bewiesen. Die Künstler Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger gestalteten mit anderen Künstlern einen Markt der besonderen Art. Sie brachten damit zwei Dinge zusammen, die beide im Mittelalter ihre Wurzeln haben, nämlich die 1471 erstmals durchgeführte »Basler Herbstmesse« und das vermutlich um 1440 entstandene Gemälde des »Basler Totentanz«. Auf dem ehemaligen Friedhof bei der Predigerkirche in Basel (heute ein kleiner Park) wurden 19 Marktstände errichtet, die alle einen spezifischen Blick auf den Tod ermöglichten. Da konnte man an einem Stand selbst gebackene Särge essen, die wie ein Stück Zitronenkuchen schmeckten und in einem Löffel gereicht wurden, am nächsten Stand konnte man den Löffel abgeben. Ein paar Stände weiter konnte man dem Tod eine Frage stellen – der Tod in Form einer riesigen Apparatur, die pfeifend und zischend vor sich hin werkelte und am Ende einen Zettel mit der Antwort ausspuckte. Beim nächsten Stand konnte man mit einem Gewehr das letzte Lichtlein auf einer Kerze wegblasen und zu guter Letzt gab es eine Hütte, in die man hineingeschoben wurde (im offenen Sarg versteht sich). In dieser kleinen Hütte lagen dann meine Frau und ich jeweils im offenen Sarg und betrachteten die Decke. Dort lief eine Videoinstallation, das Motto dieses Marktstandes hieß: »Schauen Sie sich die Radieschen von unten an.« Das haben wir getan, wir sahen die Würmer und die Schnecken, die vorbeizogen, das Laub auf dem Grab und ab und zu schaute jemand zu uns herunter. Die Welt von unten. Nach 20 Minuten wurde unser Sarg wieder hinausgeschoben, wir konnten unversehrt entsteigen und ein paar Stände weiter eine Bratwurst genießen. Bezahlt wurde auf diesem Markt übrigens nicht mit Geld, sondern mit Skelettknochen. Die musste man vorgängig an der »Kasse des Todes« eintauschen.

Der Basler Totentanz

Der »Basler Totentanz«, auch als »Tod von Basel« bekannt, bezeichnet ein Bild, welches im Spätmittelalter in Basel auf die Innenseite der Friedhofsmauer bei der Predigerkirche gemalt wurde und den Totentanz darstellte. Das Gemälde ist ein »Memento mori«, d. h., es erinnerte mahnend daran, dass der Tod jeden, ungeachtet seines Standes, plötzlich aus dem Leben reißen kann. Nach mehreren Renovierungen wurde die Mauer samt Bildern 1805 abgebrochen. Einige Basler Kunstfreunde retteten einen Teil der Bilder, die heute im Historischen Museum in Basel zu sehen sind. → www.baslertotentanz.ch

Solche und ähnliche Events sind Möglichkeiten, die eigenen Gedanken über das Sterben und den Tod anzuregen. Nachdenklich machen sie auf jeden Fall. Und das scheint mir heute wichtiger denn je. Das Lebensende geht in der heutigen Gesellschaft in Richtung selbstbestimmtes Sterben. In den folgenden Kapiteln wird näher darauf eingegangen. Selbstbestimmung heißt aber auch, dass ich selbst bestimmen muss, z. B. in Form einer Patientenverfügung, eines Vorsorgeauftrages, eines Testamentes oder persönlicher Anordnungen für den Todesfall. Verdrängungsmechanismen jeglicher Art führen meist dazu, dass der Mensch diese so wichtige Selbstbestimmung verpasst, und dann bestimmen andere.

2          Palliative Care. Heime als Lebensräume gestalten

 

 

Bereits 1967 gründete Cicely Saunders in London das St. Christopher’s Hospiz. Ziel war es, todkranken Menschen eine umfassende Sterbebegleitung anzubieten und ihnen bis zuletzt beizustehen. Sie legte damit den Grundstein für die Hospizpflege. Schon damals wurde erkannt, dass eine umfassende Sterbebegleitung nur mit einer professionellen Hospizpflege funktionieren kann.

Saunders handelte damals sehr weitsichtig, da sie erkannte, dass eine umfassende Sterbebegleitung nicht nur aus medizinischen Maßnahmen zu bestehen hat, sondern auch die psychosozialen sowie die geistigen Seiten eines Menschen einbezogen und vor allem auch die Angehörigen mitberücksichtigt werden müssen. Letztere dürfen nicht zu Zaungästen degradiert werden. Die Idee war, das Sterben in die Mitte der Gesellschaft hineinzutragen. »Erst wenn wir den Tod nicht länger tabuisieren, können wir ein menschlicheres Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit bekommen« (Saunders & Baines, 1991, S. 216). Gerade die Tabuisierung des Todes in Kombination mit dem menschlichen Machbarkeitswahn, alles und jedes kontrollieren zu können, macht uns in den heutigen Debatten um das Lebensende das Leben besonders schwer. Die gesellschaftliche und vor allem die mediale Diskussion in der Schweiz drehen sich fast ausschließlich um die Frage des begleiteten Suizids. Eine umfassende Sterbebegleitung in der letzten Lebensphase – wie sie in den Prinzipien einer Palliative Care beschrieben sind und schon von Saunders erwähnt wurden – wird viel zu wenig thematisiert. Vielleicht ist eine solche menschliche Begleitung auch heute viel zu komplex und deshalb auch für viele schwer zugänglich. Auch ist eine Begleitung im Sinne der Palliative Care oft eine stille und im Verborgenen geleistete Unterstützung eines sterbenden Menschen. Das hat in einer schrillen und lauten Gesellschaft aber keinen Platz mehr. Gesucht wird das Spektakuläre, selbst beim Tod. Eine Reduktion der gesamten Diskussion um das Lebensende auf die begleitete Sterbehilfe ist fahrlässig und eines der größten Indizien für eine den Tod verdrängende Gesellschaft. Was wir grundsätzlich brauchen, sind sensible und zugewandte Menschen, die fähig sind, anderen Menschen beizustehen. Was wir grundsätzlich nicht brauchen, sind spektakuläre Berichte und Geschichten über Freitodbegleitungen, wie wir sie immer wieder durch die Medien aufgetischt bekommen. Im folgenden Kapitel werde ich hierauf noch genauer eingehen (image Kap. 3).

Mit der Hospizidee entstand jedenfalls auch die Fachrichtung der Palliative Care. »Pallium« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Mantel«. Es geht primär um die Linderung von Symptomen und Beschwerden unheilbar kranker Menschen und darum, dass um den sterbenden und verletzlichen Menschen ein schützender Mantel gelegt wird (Saunders & Baines, 1991). Wie dieser Mantel nun konkret aussehen kann, wird in diesem Buch noch erläutert. Zwei wesentliche Voraussetzungen für das Weben dieses Mantels seien jedoch an dieser Stelle schon erwähnt. Zum einen geht es um die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit, wie dies Saunders bereits postulierte, und zum anderen geht es auch um das Überprüfen der Bilder vom Sterben, welche wir alle in uns tragen. Hierzu seien zwei persönliche Beispiele wiedergegeben. Mit acht Jahren erlebte ich mit, wie meine damals 92-jährige Urgroßmutter starb. Sie starb bei uns zu Hause. Ich durfte sie nicht sehen, als sie im Sterben lag. Für meine Brüder und mich war das Sterbezimmer eine Sperrzone, wir durften dort nicht hinein. Als wäre der Tod eine ansteckende Krankheit, wurden wir vom Sterbebett der Urgroßmutter ferngehalten. Wir bekamen natürlich mit, was da hinter den verschlossenen Türen stattfand, aber sehen durften wir es nicht. Der Tod als etwas Unsichtbares und Unheimliches, das hinter verschlossenen Türen stattfindet. Zutritt für Kinder und Personen mit schwachen Nerven verboten.

Das zweite prägende Erlebnis, das ich lange mit mir herumtrug, hat mit meiner Zeit als junger Pflegeassistent zu tun, als ich in einem Krankenhaus meinen Dienst tat. Damals wurden oft – aus angeblichen Platzgründen – Sterbende in ihrem Bett ins Badezimmer geschoben. Dort wurden sie dann mehr oder weniger betreut und begleitet. Es ist nicht so einfach, sich einen »schützenden Mantel« in einem mit weißen Fliesen ausgestatteten sterilen Badezimmer vorzustellen. Palliative Care ist immer eine Kombination von menschlicher Zuwendung und passender räumlicher Umgebung.

Wer solches schon erlebt oder zumindest solche oder ähnliche Bilder im Kopf hat, braucht sich nicht zu wundern, dass Sterben mit Angst und Schrecken in Verbindung gebracht wird. Da benötigt es zunächst eine Totalrevision der vorhandenen Bilder und Vorstellungen, bevor es zu einer emotionalen Berührung kommen kann. Wenn jede Form der Sterbebegleitung nicht die Herzen der Begleiter berührt, bleibt der gesamte Prozess eine technische Abwicklung des Lebensendes. Oder eine »spektakuläre Geschichte« in der Zeitung.

Zurück zur ursprünglichen Hospizidee von Saunders. Diese »(…) gründet auf der Vorstellung, dass nur in eigenen Häusern außerhalb der Gesundheitsversorgung eine Enttabuisierung des Sterbens und ein neuer Umgang damit sichergestellt werden kann« (Schmid, 2016a, S. 4). In vielen Ländern wurden dann in der Folge eigene Hospize gegründet, nicht so in der Schweiz. Dort hat sich von Anfang an die Idee entwickelt, »Palliative Care als ergänzenden medizinischen und pflegerischen Ansatz in die gesamte Gesundheitsversorgung zu integrieren« (Schmid, 2016a, S. 4).

Hierzulande begann die Bewegung der Palliative Care in den 1970er-Jahren, als die damalige Krankenschwester Rosette Poletti als eine der ersten Pionierinnen der Schweiz in Genf ihre Umgebung auf die Anliegen der Palliative Care zu sensibilisieren begann. In der Folge gab es dann in verschiedenen Städten Gruppierungen, die sich in einem umfassenderen Sinne mit der Umsetzung von palliativer Medizin, Pflege und Begleitung auseinandersetzten (für mehr Informationen zu den historischen Zusammenhängen in der Schweiz: Schmid, 2016a). Die Grundsätze für Pflegeinstitutionen sowie die Basis für ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Grundhaltung von und in Palliative Care für ältere Menschen sind im Folgenden dargestellt (Schmid, 2016b):

•  Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Symptomen.

•  Enttabuisierung des Todes, das heißt, Sterben wird als ein »normaler« Prozess betrachtet und das Leben bejaht. Sterben und Leben sind kein Widerspruch, sondern gehören zusammen.

•  Es besteht nicht die Absicht, den Eintritt des Todes zu beschleunigen, aber auch nicht, diesen hinauszuzögern.

•  Psychologische und spirituelle Aspekte werden am Lebensende in die Fürsorge für die älteren Menschen miteinbezogen.

•  Es besteht ein Unterstützungssystem, welches es dem älteren Menschen erlaubt, bis zum Tod so aktiv wie möglich zu leben.

•  Es besteht ferner ein Unterstützungssystem, welches den Familien und Angehörigen hilft, mit ihrem eigenen Trauern und den Belastungen umgehen zu können.

•  Palliative Care benutzt immer auch einen Teamansatz, der sich interprofessionell auf die gesamte Institution bezieht und alle Bereiche miteinbezieht (entsprechende Beispiele werden im Laufe der folgenden Kapitel noch erwähnt.)

•  Palliative Care kommt bereits früh im Krankheitsverlauf zum Einsatz, oft in Verbindung mit anderen Therapieformen.

CURAVIVA Schweiz hat zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit in einer Broschüre aufgezeigt, wie Palliative Care im Pflegealltag funktionieren kann und wie sie durch die älteren Menschen konkret erlebt wird. Durch verschiedene Geschichten von älteren Menschen wird dort Palliative Care konkret nachvollziehbar (Kazis, 2013).

2010 wurde in der Schweiz die »Nationale Strategie Palliative Care« erarbeitet, die nach einer ersten Phase von drei Jahren nochmals um drei weitere Jahre bis 2015 verlängert wurde. Ziel war es, bestehende Lücken in den Bereichen »Versorgung«, »Finanzierung«, »Sensibilisierung«, »Bildung« und »Forschung« zu schließen. Damit ist das Thema rund 40 Jahre nach der Pionierphase in der öffentlichen, fachlichen und auch politischen Diskussion angekommen – und das ist gut so. Ganz allgemein ist es aber in der Schweiz ein wenig Mode geworden, mit der Entwicklung nationaler Strategien das gesamte Gesundheitswesen weiterentwickeln zu wollen. Dagegen ist freilich nichts einzuwenden. Problematisch wird es nur, wenn die Umsetzung und ihre jeweiligen Maßnahmen nicht zu Ende gedacht werden und vor allem die Frage der Finanzierung unbeantwortet bleibt. Das drückt immer ein wenig auf die Moral und senkt die Motivation derjenigen, die dann für die Umsetzung verantwortlich sind. Es wäre wohl ein Wunder gewesen, wenn ich an dieser Stelle hätte berichten können, dass die Finanzierungsfragen rund um den zusätzlichen Zeitbedarf einer umfassenden Palliative Care im Rahmen der Strategie geklärt worden sind. Dennoch sind nationale Strategien wichtig – vor allem dann, wenn breit darüber diskutiert und im Idealfall ein gemeinsames Verständnis darüber entwickelt werden kann, was eine hohe Lebensqualität bis zum Tod bedeutet (vgl. Schmid, 2016c).

Aber auch hier sei noch ein kritischer Hinweis erlaubt. Natürlich haben all diese Dokumente ihre Berechtigung, dem sterbenden Menschen auf dem Sterbebett nutzen sie nicht unbedingt. Die Inhalte der erarbeiteten Dokumente entfalten dann ihre volle Wirkung, wenn sie den Weg vom Kopf in die Herzen derjenigen gefunden haben, die am Sterbebett anwesend und – in welcher Form auch immer – tätig sind.

Unabhängig von der erwähnten »Nationalen Strategie Palliative Care« hat CURAVIVA Schweiz mit anderen Verbänden bereits im Jahre 2010 eine Charta der Zivilgesellschaft »Zum würdigen Umgang mit älteren Menschen« lanciert. Dort fordert These 10: »Wir setzen uns ein für eine Gesellschaft, in der das Sterben als ein Teil des Lebens wahrgenommen wird und alle vom Sterben Betroffenen auf hilfreiche, würdevolle Art Unterstützung erfahren« (CURAVIVA, 2010, S. 11). Aus diesem Grundsatz lässt sich folgern, dass es bei Begleitungen am Lebensende immer zunächst darum geht, herauszufinden, was die besondere Würde für diesen einen und nun sterbenden Menschen ist. Dass dieser Suchprozess sehr verschieden ist und nur zusammen mit allen Beteiligten gestaltet werden kann, versteht sich von selbst und verbietet einfache Antworten, was denn schließlich ein gutes Sterben ist.

Es gibt in der Branche der Langzeitpflege verschiedene Institutionen, welche sich schon vor Längerem mit viel Engagement auf den Weg gemacht haben. Im Jahre 2009 wurde beispielsweise der Age Award der auf das gute Wohnen im Alter spezialisierten schweizerischen Age-Stiftung zum Thema »Palliative Care« ausgeschrieben. Der Preisträger des Age Award 2009, das Betagtenzentrum in Laupen (www.bz-laupen.ch), sowie die anderen Teilnehmer bieten sehr gute Beispiele aus dem Alltag, wie die Umsetzung der Palliative Care konkret gelingen kann (Age-Stiftung, 2009).

Die im Rahmen der »Nationalen Strategie Palliative Care« von Bund, Kantonen und der Schweizer Fachgesellschaft für Palliative Care erarbeiteten Empfehlungen (vgl. Themendossier »Palliative Care« auf www.curaviva.ch) für die Umsetzung nennen die folgenden Aspekte von Bedürfnissen, welche am Lebensende vorkommen können und welche die Grundlage für eine palliative Betreuungs- und Begleitungssituation ausmachen (Bundesamt für Gesundheit et al, 2015, S. 10f.). Sie ergänzen und bestätigen damit die oben skizzierten Grundsätze: