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Das Schreiben eines Buches ist Teamarbeit.

Daher möchte ich mich bei meinem Team bedanken:

• Bei meiner Mutter, die mir die Freude an der Weitergabe meines Wissens vermittelt hat und mir immer wieder die nötige Kraft gibt, voranzugehen, egal was passiert.

• Bei Aurore, Jacky, Florent, Babet, Edwige, Nadège, der Familie Bouchoux, Medi, Simon, Carine Pagès, allen meinen Freunden für ihre Liebe, ihre Unterstützung und ihr Vertrauen, die mich täglich ehren.

• Bei Didier Dreulle, Dominique Lheuillier, Clémence Desbrosse und Fabien Boyaval für ihr Vertrauen.

• Bei David Van Outryve, Masseur-Physiotherapeut in Montpellier.

• Bei allen Menschen, die mich dazu bringen, nachzudenken, mich selbst in Frage zu stellen, damit jeder einzelne Tag in meinem Leben zählt.

• Beim Verlag Amphora, der es mir ermöglicht hat, mich frei und ungehindert auszudrücken.

Vielen Dank euch allen.

Christophe Carrio

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag
erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1211-3).

© 2017 der französischen Originalausgabe:
Éditions Amphora, 2017, Paris

Titel der Originalausgabe: Warm-up gainage
et Pliométrie de l’entretien à la performance

Covergestaltung: alphastudiocom.fr • Layout: artemishqc.com

Coverfoto ©Fotolia ©Nazarovsergey • Fotos: Stéphane Bouquet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 der deutschen Ausgabe

Copress Verlag in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur
mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

Übersetzung aus dem Französischen: Christa Trautner-Suder,
Dr. Iris Klofat (Fachberatung)

Satz und Redaktion der deutschen Printausgabe: Verlags- und
Redaktionsbüro München, www.vrb-muenchen.de

ISBN 978-3-7679-2056-9

www.copress.de

Inhalt

Einführung

1Motorische Programme

A › Was ist ein motorisches Programm?

B › Unsere schlechten motorischen Programme

C › Die Propriozeption und Motorische Programme

D › Was Sie sich merken müssen

2Die Muskelketten

A › Das Bewegungssystem

B › Das myofasziale System

C › Das Gelenk- und Knochensystem

D › Das Nervensystem

E › Reziproke Inhibition

F › Das Überwiegen der Synergisten

G › Artikuläre Inhibition

H › Die myofaszialen Ketten

3Das Nervensystem

4Warm-up

A › Die physiologischen Grundlagen

B › Warm-up und motorische Programme

C › Warm-up A

D › Warm-up B

5Core-Stabilität

A › Definition

B › Die Kraftsäule wieder aufbauen

C › Das Problem der muskulären Amnesie

D › Der Beckenboden

E › Statische und dynamische Core-Stabilität

F › Beispiele für Übungsprogramme zum Core-Training

G › Übungen zur Core-Stabilität

1 • Übungen für einzelne Muskeln und deren Aktivierung

2 • Die Grundübungen zur Core-Stabilität

3 • Fortgeschrittene Übungen für die Core-Stabilität

6Die Plyometrie

A › Kurzer chronologischer Überblick

B › Die physiologischen Mechanismen

C › Die Vorteile des plyometrischen Trainings

D › Warnhinweise

E › Das plyometrische Training

F › Individuelle Gestaltung des plyometrischen Trainings

G › Zurück zu Ruhe und Erholung

H › Wie sehen richtige Dehnübungen in der Praxis aus?

I › Die plyometrischen Übungen:

- Intensitätsstufe 1

- Intensitätsstufe 2

- Intensitätsstufe 3

- Intensitätsstufe 4

- Intensitätsstufe 5 »Schock-System«

J › Die Plyometrie und ihr Training

K › Nutzung der Plyometrie je nach Beanspruchung

L › Plyometrie und Muskelaufbau

M › Die Trainingsplanung

N › Einige Beispiele für Trainingsprogramme je nach Sportart

7Plyometrie, Ernährung, Nahrungsergänzungsmittel

A › Sport und Stress

B › Die Omega-3-Fettsäuren

C › Glutamin und die BCAA

D › Die Adaptogene

E › Kreatin

F › Die Bedeutung der Neurotransmitter

G › Plyometrie und Neurotransmitter

Über den Autor

Bibliografie

Einführung

Mit dem Eintritt unserer modernen Zivilisation ins dritte Jahrtausend und dem Mehr an Freizeit, das die Menschen dank der ständigen technischen Fortschritte genießen, ist der Sport unbestritten zu einem universellen Element geworden, das sehr stark verbindet. Sein faszinierendes Schauspiel versetzt die Massen überall auf der Welt in Begeisterung und schafft damit auch einen sehr rentablen Markt. Dieser neue Wirtschaftszweig mit ständigen Zuwachsraten operiert jährlich mit beträchtlichen, teils schwindelerregenden Summen.

Auch wenn die enormen finanziellen Profite, die vor allem aus dem Profisport kommen, die einfache spielerische Freude an der Sportausübung leider häufig verdecken, darf man doch niemals aus dem Blick verlieren, dass das Schauspiel der einzelnen Disziplinen, ob im Team- oder Individualsport, ohne seine Akteure – die Athleten – gar nicht stattfinden könnte.

Zur Perfektion ihrer Muskelarbeit, um in ihrer jeweiligen Sportart, die häufig eine hoch spezialisierte Technik verlangt, die bestmöglichen Leistungen zu erzielen, müssen diese Athleten ihre Bewegungsabläufe ständig trainieren, ähnlich wie Theater- oder Filmschauspieler ihre Texte einstudieren. Ausübende aller sportlichen Disziplinen trainieren regelmäßig, um ihre Leistungen zu steigern, um in Wettkämpfen zu gewinnen; aber auch, um ihre persönliche Leistung zu verbessern. Physiologisch ist ein beständiges Training nötig, um die Kondition zu perfektionieren und die Ergebnisse zu optimieren. Der aktuelle Kenntnisstand im Bereich Training und Sportphysiologie führt zu einem besseren Verständnis der Mechanismen im Körper und folglich auch zu einer Verbesserung sowohl der sportlichen als auch der mentalen Leistungen der Sportler.

Da heutige Athleten die verschiedenen Parameter, die für eine intensive körperliche Anstrengung maßgeblich sind, besser verstehen, haben sie ihr Training verfeinert und »rentabler« gemacht – wie der Marathonläufer, der heute sehr viel weniger Kilometer pro Woche laufen muss als früher. Dadurch können sie sich vermehrt kürzeren, aber intensiveren Trainingseinheiten zuwenden, die qualitativ eine höhere Wirksamkeit haben. In den meisten Teamsportarten hat man verstanden, wie wichtig eine gute Vorbereitung ist. Dies führt zwangsläufig dazu, dass im Rahmen eines allgemeinen Trainings regelmäßig Muskelaufbau und die Kräftigung des Körpers praktiziert werden. Dabei gibt es allerdings Unterschiede, denn im Individualsport beispielsweise widmet jeder Athlet der Verbesserung bestimmter körperlicher Fähigkeiten vermehrt Zeit: So trainiert etwa der Radfahrer vor allem die Ausdauer, der Gewichtheber die Kraft und der Läufer das Tempo.

Deshalb werde ich Ihnen in diesem Buch nicht nur die Grundlagen von Warm-up, Core-Stabilität und Plyometrie erklären, sondern vor allem, wie diese untrennbar mit einer Verbesserung Ihrer Leistungen zusammenhängen. Dabei wird die zwingende Notwendigkeit jedes Sportlers berücksichtigt, sein Training zu optimieren.

Plyometrie ist eine besondere Methode des Muskeltrainings, die hauptsächlich mit dem eigenen Körpergewicht arbeitet. Sie baut auf den physiologischen Prinzipien zum Schutz von Muskeln und Sehnen auf und ist äußerst wirksam.

Einige Athleten oder Trainer haben bereits vor mehreren Jahren die Plyometrie in ihre Trainingsprogramme aufgenommen, was die beste Werbung für diese Methode ist. Sie hat einen so großen Erfolg, dass immer mehr Trainer sie unbedingt kennenlernen und umsetzen wollen. Leider geschieht dies häufig zu schnell, wodurch das Gegenteil dessen eintritt, was erwünscht ist. Denn: Man muss die Plyometrie vor ihrer Anwendung erst vollständig verstanden haben.

Dieses Buch erklärt Ihnen mit, wie ich hoffe, größter Klarheit und möglichst einfach, wie Sie diese Methode nutzen können. Dazu werden nicht nur die physiologischen Grundlagen veranschaulicht, auf denen die Plyometrie basiert, sondern auch zahlreiche Übungen für alle Sportarten (mit spezifischen Trainingsprogrammen für die jeweilige Disziplin) genau beschrieben. Auf diese Weise soll die Plyometrie Sie in die Lage versetzen, Ihr Tempo, Ihren Muskeltonus, die Entspannung der longitudinalen und horizontalen Muskelketten sowie Ihre Kraft zu trainieren. Kurz gesagt: Die Plyometrie wird ganz allgemein Ihre körperlichen und technischen Fähigkeiten verbessern, damit Sie Ihr sportliches Potenzial noch viel besser nützen können als bisher.

Da die besten Ergebnisse mit der Plyometrie nur nach einem guten Warm-up und mit einer guten Core-Stabilität erzielt werden, gehe ich auch auf diese wichtigen Faktoren ausführlich ein: Wer sicherstellt, dass sein Körper stets gut aufgewärmt ist, kann sein Verletzungsrisiko deutlich verringern.

Es wäre allerdings anmaßend zu behaupten, dass die drei Säulen Warm-up, Core-Stabilität und Plyometrie eine »Wunderlösung« für den Sportler bieten, der seine Leistungen verbessern möchte. Ich werde Ihnen sicher nicht das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Was ich Ihnen aber garantieren kann, ist, dass Sie bei richtiger Anwendung der Methode wirkliche und spektakuläre Fortschritte machen werden. Lassen Sie uns daher unverzüglich die wissenschaftlichen Mechanismen dieser Methode darlegen, um besser zu verstehen, warum diese so effizient sein kann.

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»Diese Methode, die sich auf physiologische Prinzipien zum Schutz von Muskeln und Sehnen stützt, ist äußerst wirksam.«

1 Motorische Programme

A Was ist ein motorisches Programm?

Um besser zu verstehen, wie der Körper funktioniert, wie Warm-up, Core-Stabilität und Plyometrie wirken, ist es wichtig, nachzuvollziehen, wie das Gehirn unsere Haltung sowie unsere Bewegungen erzeugt und steuert. Dieses Verständnis kann ausschlaggebend dafür sein, wie das Trio aus Warm-up, Core-Stabilität und Plyometrie genutzt wird und wie es Ihre Fortschritte oder im Gegenteil Ihr Verletzungsrisiko kurz-, mittel- oder langfristig bedingt.

Unser Gehirn ist mit einem Computer vergleichbar, der Daten sammelt und speichert oder Programme ausführt. Es ist ein Supercomputer, der analysieren und fast sofort mit vielen Funktionen des Organismus kommunizieren kann. Im Rahmen dieses Buches interessieren wir uns besonders für die Kommunikation zwischen den Muskeln, Sehnen und Gelenken sowie unserem Gehirn.

Damit wir mit unserem Körper Bewegungen ausführen können, hat unser Gehirn Programme entwickelt, das heißt: einen Code geschaffen, der den Körper nach einer besonderen Sequenz aktiviert. So kommt es, dass wir nicht jeden Tag aufs Neue das Gehen lernen müssen und dass wir Autofahren können, ohne dabei noch an das Brems- oder Gaspedal zu denken.

Man unterscheidet allgemeine und spezifische motorische Programme. Die allgemeinen motorischen Programme bestehen aus Informationen und Grundbewegungen, die allen Individuen gemeinsam sind. Beispielsweise lernen fast alle Kinder das Laufen nach der gleichen Sequenz, die mit Arm- und Beinbewegungen in Bauch- oder Rückenlage beginnt. Anschließend bewegen sie sich auf allen Vieren krabbelnd fort. Danach sitzen sie in der Hocke, wobei das Becken zwischen die Beine sinkt. Anschließend stoßen sie sich aus den Beinen heraus ab und kommen zum Stehen. Es folgt die Beherrschung des Gleichgewichts im Stehen, gefolgt von den ersten Schritten, bei denen das Gleichgewicht in Bewegung geübt wird.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die meisten Kinder das Laufen deutlich früher lernen als das Sprechen. Daraus ergibt sich, dass die Sprache der Bewegung über Wahrnehmungen und Empfindungen in unserem Gehirn festgeschrieben ist. Beide werden über Sensoren – Propriorezeptoren genannt – gesammelt und ans Gehirn gesendet. Diese Propriorezeptoren wurden von der Natur an verschiedenen strategischen Orten im Körper angebracht – an den Muskeln, den Sehnen, der Haut und den Gelenken. Durch diese Sensoren und die Informationen, die sie an das Gehirn senden, kann dieses die Position des Körpers oder eines Gelenks im Raum analysieren. Das Gehirn sendet dann seinerseits an den gesamten Körper die notwendigen Befehle zur Haltungskorrektur, die erforderlich sind, damit er im Gleichgewicht bleiben kann. Auf diese Weise entwickelt das Gehirn motorische Grundprogramme, mit denen es komplexere motorische Programme weiterentwickeln kann. Ohne motorisches Grundprogramm sind keine komplexen motorischen Bewegungsabläufe möglich.

Die komplexen oder spezifischen motorischen Programme sind mit ihrerseits komplexen, sehr präzisen Bewegungen verknüpft. Die meisten akrobatischen Sportaktivitäten verlangen spezifische motorische Programme. Je zweckmäßiger ein Grundprogramm ist und je öfter es wiederholt wurde, desto beständiger wird es sein – es bildet sich eine solide Grundlage für den Aufbau oder die Korrektur komplexerer motorischer Programme. Auf diese Weise entwickeln wir seit der Kindheit Fähigkeiten: motorische Programme, die uns zeitlebens dienen. So kann man Kinder wie auch Erwachsene beobachten, die mit ihrem Körper mehr oder weniger geschickt umgehen können. Dies beweist, dass sie im positiven Fall motorische Grundprogramme entwickelt haben, die gelungener, feiner ausgearbeit und umfassender sind. Das ist einer der Gründe dafür, warum ein alter Sportler selbst nach mehrjähriger Pause sein einstiges Leistungsniveau schneller wieder erreicht als ein Mensch, der von den Möglichkeiten seines Körpers nie wirklich Gebrauch gemacht hat.

Das bedeutet aber nicht, dass der Letztere nicht mehr geschickter im Umgang mit seinem Körper werden könnte: Ganz und gar nicht: In dem Maß, in dem unser Gehirn motorische Programme entwickelt und abspeichert, genügt es, dass eine körperlich weniger geschickte Person Übungen mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad übt und dabei die Koordination von Woche zu Woche verbessert und höhere Schwierigkeitsgrade meistert.

B Unsere schlechten motorischen Programme

Eine schlechte Körperhaltung als Folge aller Fehlhaltungen im Alltag, alter Verletzungen, angeborener Faktoren oder einer schlechten bzw. zu intensiven Sportausübung bringen ein muskuläres Ungleichgewicht mit sich, das den Körper zwingt, neue Haltungsschemata zu entwickeln.

Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei diesen neuen Haltungsschemata um Kompensationsbewegungen handelt, die der Körper nutzt, um immer wieder die gleiche Bewegung auszuführen. Ungezählte Male wiederholte Bewegungsabläufe beim Gehen, Aufstehen, Tippen am Computer oder beim Sitzen auf einem Stuhl führt zu einer spezifischen Muskelstärkung, die einerseits eine muskuläre Dysbalance erzeugt oder verstärkt und andererseits das dafür angelegte kompensatorische motorische Programm stärkt. Eine korrekte Körperplatzierung beim Warm-up, beim Core-Training und bei den plyometrischen Übungen stärkt daher ein positives motorisches Programm und verbessert damit die Gesamtheit Ihrer körperlichen Leistungen. Umgekehrt werden eine schlechte Haltung oder ein falsches Sitzen ein neues kompensatorisches motorisches Schema erzeugen. Dabei entwickelt man muskuläre Fehlgleichgewichte, die früher oder später zu Verletzungen an Muskeln, Sehnen oder Gelenken führen.

Vladimir Janda, auf die funktionelle Readaptation spezialisierter Professor und Arzt, war in den 1970er- und 1980er-Jahren einer der ersten, der von einer Bewegungsamnesie und einer muskulären Amnesie sprach. Seine Studien ermöglichten ihm den Beweis, dass bestimmte Muskeln unter bestimmten traumatischen Umständen ihre Funktion verlieren. Sie »vergessen« sozusagen ihre ursprüngliche Rolle im Körper. Solche muskulären Amnesien sind in hohem Maße mit dem Verletzungsrisiko verknüpft. Wenn ein Muskel seine Funktion tatsächlich nicht mehr erfüllen kann, so zwingt er einen anderen Muskel dazu, ihn zu »ersetzen« (selbst wenn die Dinge etwas komplexer liegen). Das schafft Probleme in Bezug auf die Kontrolle über die Gelenke. Darauf kommen wir später zurück.

Glücklicherweise kann ein motorisches Schema nicht nur negativ, sondern auch positiv verändert werden. Im letzten Fall müssen die neuen Informationen, die das Gehirn erhält, von hoher Qualität sein und wiederholt an das Gehirn gesendet werden. Dies unterstreicht, wie wichtig eine perfekte Haltung bei den Übungen zum Warm-up, zur Core-Stabilität und Plyometrie ist.

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»Glücklicherweise kann ein motorisches Schema nicht nur negativ, sondern auch positiv verändert werden.«

C Die Propriozeption und die motorischen Programme

Das Gehirn ist der Schöpfer der motorischen Programme. Es sammelt durch die Vermittlerrolle der Propriorezeptoren, die an Muskeln, Sehnen, Gelenken und Haut sitzen, Informationen über die Stellung des Körpers oder der Gelenke, ganz egal, ob wir unbeweglich oder in Bewegung sind. Das Gehirn nutzt auch zwei andere Super-Propriorezeptoren oder Supersensorezeptoren: das Auge und das Innenohr. Wenn man im Stehen die Augen schließt, wird man sich sofort der Zunahme der Muskelaktivität des gesamten Körpers bewusst, um das Gleichgewicht zu halten.

In Bezug auf die Muskel- und Sehnenrezeptoren gibt es jedoch ein Problem. Muskeln, die entweder zu hart und zu kräftig oder zu lang und zu schwach geworden sind, liefern dem Gehirn keine guten Informationen mehr, und genau hier beginnt ein Teufelskreis. Das Gehirn schickt nämlich weiterhin den gleichen Befehl für eine Haltung, was die Kompensationen und andere muskuläre Fehlgleichgewichte im Laufe unseres Lebens aufrechterhält und verstärkt. Schmerz übt ebenfalls einen negativen Einfluss auf die Informationen aus, die von den Propriorezeptoren an das Gehirn gesendet werden. Auch darauf werden wir noch zurückkommen.

D Was Sie sich merken müssen

Unser Körper verwendet mehr oder weniger komplexe motorische Programme oder Schemata, die es dem gesunden Muskel erlauben, sich in der Umgebung eines Gelenkes zu kontrahieren oder zu entspannen. Dabei folgt er einer Sequenz, die in unserem Gedächtnis gespeichert ist, um eine bestimmte Haltung aufrechtzuerhalten oder eine Bewegung zu erzeugen.

Mehrere Faktoren können sich negativ auf unsere motorischen Programme auswirken. Diese sind: schlechte Haltungen im Alltag, häufiges langes Sitzen, Traumata, muskuläre Dysbalance, eine fehlerhafte Sportausübung und bestimmte neurologische Erkrankungen.

Kein motorisches Programm, sei es funktionell oder dysfunktionell, ist starr oder endgültig erworben. Wir können in jedem Alter ein motorisches Programm lernen oder wieder erlernen, was mehr oder weniger viel Zeit und Energie verlangt.

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2 Die Muskelketten

A Das Bewegungssystem

Die Sichtweise auf das Funktionieren des Körpers hat sich in den letzten Jahren stark verändert. So wird der Körper nicht mehr als die Summe der verschiedenen Teile angesehen, aus denen er besteht, sondern als ein System, das wie ein globales Ganzes wirkt. Die Wirkung eines Organs oder eines Hormons hat Auswirkungen auf die Funktion anderer Organe und anderer Stoffwechselformen des Körpers. Das Gleiche gilt für das Bewegungssystem, das auch als lokomotorisches System bezeichnet wird.

Wenn alle Elemente dieses Systems korrekt arbeiten, funktionieren das gesamte System und die damit verbundenen motorischen Schemata ebenfalls korrekt. Dies führt dazu, dass der Körper eine gute Haltung einnimmt und im richtigen Moment die richtigen Bewegungen ausführt, was ein wirksames und schmerzfreies Funktionieren des gesamten Bewegungssystems zur Folge hat.

Funktioniert hingegen eines der Elemente des Bewegungssystems nicht korrekt, sei es auf Grund einer Verletzung, einer muskulären Dysbalance oder einer schlechten Haltung, dann funktioniert das gesamte System auf veränderte Weise, und es entstehen als Kompensationsmechanismus zu hohe Spannungen in bestimmten Muskeln und Geweben des Körpers. Diese Kompensationsmechanismen gehen einher mit einer Dysregulierung des gesamten Systems, wobei das initiiert wird, was man als Schmerzkreislauf bezeichnet: Dieser geht mit einer schlechten Funktion des Systems einher, bei der weitere Kompensationsmuster entstehen etc. Es ist daher grundlegend wichtig zu verstehen, wie dieses gesamte komplexe System funktioniert, um nachvollziehen zu können, warum eine alte, schlecht oder unvollständig ausgeheilte Verstauchung des Knöchels z. B. zu Schmerzen im Knie oder im Rücken führen kann.

Dieses System besteht aus drei Subsystemen:

dem myofaszialen System, bestehend aus Muskeln, Faszien und Sehnen, die die Position der Gelenke bei Haltungen oder Bewegungen aufrechterhalten, die Gelenke stabilisieren, die Gelenke bewegen oder auch die Bewegung der Gelenke entschleunigen;

dem Gelenksystem, bestehend aus Gelenken und Knochen;

dem Nervensystem, bestehend aus Nerven und Propriorezeptoren, deren Aufgabe es ist, mechanische Informationen (Spannungen im Zentrum des Muskels, der Faszien, der Sehnen und der Haut) umzuwandeln in elektrische Informationen, die vom Gehirn gesammelt und analysiert werden. Das Gehirn verwendet dieses System zur anschließenden Kommunikation mit dem Körper.

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»Die Wirkung eines Organs oder eines Hormons hat Auswirkungen auf die Funktion anderer Organe und anderer Stoffwechselformen des Körpers.«

B Das myofasziale System

Dieses System besteht aus Muskeln, Sehnen und Faszien, die alle drei zum Bindegewebe gehören. Sie bilden ein echtes fibröses »Skelett« oder verschiedene Bindegewebe, die jede Muskelfaser, jede Muskelgruppe, jede Sehne und jedes Gelenk miteinander verbinden.

Das myofasziale System ist also genau organisiert. Es arbeitet, um die Aufrechterhaltung einer Körperposition sicherzustellen oder um die Kraft zu erzeugen, zu stabilisieren und zu reduzieren, die die Gelenke des Körpers in Bewegung setzen. Die verschiedenen Muskelketten und die Muskeln, die diese bilden, können je nach den Bewegungen, die der Körper und seine Gelenke ausführen, muskuläre Agonisten – d.h. Muskeln, die die Bewegung eines Gelenkes hervorrufen – sein oder Antagonisten, d.h. Muskeln, deren Funktion denen der Agonisten entgegengesetzt ist, um die Bewegung des Gelenkes zu bremsen und eine Ver-/Ausrenkung (Luxation) zu verhindern.

Dazu ein Beispiel: Wenn Sie Ihre Arme ausstrecken, sind die Trizepsmuskeln, die Muskeln auf der Armrückseite, Agonisten der Bewegung. Das heißt, sie führen die Bewegung aus. Der Bizeps hingegen bremst die Streckung des Ellenbogens, um zu verhindern, dass sich das Gelenk verlagert (disloziert). Die Bizepsmuskeln fungieren bei dieser Bewegung also als Antagonisten. Damit die Gelenke regelrecht arbeiten können, ist es wichtig, dass es in jedem Muskel eine Beziehung zwischen Länge und Spannung gibt und dass die Kraft, die erzeugt wird, auf beiden Seiten des Gelenks gleich (Kraftpaar) ist, damit das Gelenk optimal und ausgeglichen funktionieren kann.

Wie wir gesehen haben, funktionieren die Muskeln nicht isoliert, sodass, um eine Bewegung zu erzeugen, ein Agonist Muskeln hat, die ihm in seiner Aktion helfen oder assistieren. Diese Muskeln heißen Synergisten. Wenn beispielsweise das Hüftgelenk korrekt funktioniert, erzeugen die Gesäßmuskeln die Bewegung: Sie sind die Agonisten und schieben die Hüfte nach vorne in die Streckung. Die Rückenmuskeln und die Muskeln auf der Rückseite der Oberschenkel helfen dabei den Gesäßmuskeln, um die Hüftstreckung durchzuführen: Sie sind die Synergisten der Gesäßmuskeln.

Je komplexer die Bewegungen aufgebaut sind oder je mehr verschiedene Gelenke mit einbezogen sind, umso mehr muss der Körper die Gelenke stabilisieren, während eine Bewegung erzeugt wird. Beispielsweise stabilisieren die tiefen Bauchmuskeln und die tiefen Rückenmuskeln die Zwischenwirbelgelenke im Lendenwirbelsäulenbereich und in den Hüften, während andere Muskelketten die Geh- oder Laufbewegung erzeugen.

Wenn schließlich schwere muskuläre Dysbalancen bestehen oder eine Bewegung fehlerhaft ausgeführt wird, kommt es dazu, dass bestimmte Muskeln der fehlerhaften Funktion anderer Muskeln entgegenwirken, um die Integrität eines Gelenkes aufrecht zu erhalten. Dies sind die Neutralisierer.

C Das Gelenk- und Knochensystem

Dieses System umfasst Knochen und Gelenke. Wenn eine muskuläre oder posturale (die Körperhaltung betreffende) Dysbalance besteht, führt sie zu Zwangsstellungen in Gelenken wie in Knochen und erzeugt Spannungen im myofaszialen System sowie eine Veränderung der vom Nervensystem gesammelten Informationen. Dies geschieht über die Gesamtheit der Propriorezeptoren des Körpers. Kurz gesagt besteht, wie Sie sehen, eine echte Synergie und gegenseitige Abhängigkeit (Interdependenz) in dem gesamten Bewegungssystem.

Ein Bruch (Fraktur) oder eine Ver-/Ausrenkung (Luxation) erfordert eine Reedukation des gesamten myofaszialen artikulären Systems sowie des Nervensystems. Das Gleiche gilt für einen verschobenen Wirbel oder für ein Sprunggelenk, das nicht in der korrekten Position steht. Alle Elemente ober- und unterhalb des verletzten Gelenkes beginnen zu kompensieren und kommen unter anormalen Stress, was schließlich zu einem verfrühten Gelenkverschleiß, zur Arthrose führt.

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»... es besteht eine echte Synergie und eine gegenseitige Abhängigkeit (Interdependenz) im gesamten Bewegungssystem.«

D Das Nervensystem