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Adelheid von Herz, geb. 1954, ist Krankenschwester, Kinaesthetics-Trainerin und Praxisanleiterin für Kinaesthetics in der stationären palliativen Pflege in Frankfurt am Main.

Adelheid von Herz

Hautnah und weiter

Erfahrungsberichte aus der palliativen Pflege

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter: http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2017 Mabuse-Verlag GmbH

Satz und Gestaltung: Björn Bordon/MetaLexis, Niedernhausen

Inhalt

Vorwort

Den Schmerz kommunizierbar machen

Ein Praxisbericht aus der Palliativen Pflege

Da gibt es nichts zu lachen

Humor in der Palliativen Pflege

Pflegepraktische Aspekte der Begleitung von Angehörigen krebskranker Sterbender

„Wie wird das sein, wenn er stirbt?“

„Schwester, Sie können das doch viel besser als ich“

Mit dem Tod in Berührung kommen

Vom Lasten schleppen zur Körperkommunikation

Wie kinästhetisch orientierte Pflege das Menschenbild verändern kann

Wo fängt Gewalt an?

Aspekte pflegerischer Berührung

„Ich bin doch nur noch eine Last für euch …“

Umgang mit Todeswünschen im pflegerischen Alltag einer Palliativstation

„Es überwältigt mich nicht mehr … so“

Belastende Pflegesituationen und Kinaesthetics

Begreifende Pflege

Eine andere Art von Erfahrungsbericht

Vorwort

In diesem Buch sind unter dem Titel „Hautnah und weiter“ neun Beiträge zusammengefasst, die ich zwischen 2001 und 2016 für die Zeitschrift Dr. med. Mabuse geschrieben habe. Es handelt sich um Erfahrungsberichte aus dem Alltag palliativer Pflege. Teilweise sind diese Beiträge Berichte aus der Sicht der angewandten Pflege zu dem jeweiligen Schwerpunktthema des Heftes. Andere Artikel widmen sich Themen zu denen es – aus meiner Sicht und zum Zeitpunkt des Erscheinens – kaum veröffentlichte Stellungnahmen von Pflegenden aus der alltäglichen Praxis gab. Die Artikel sind in der Originalversion belassen, in der auch mein damaliger Arbeitsplatz beschrieben wird.

In der palliativen Versorgung hat sich in der Zwischenzeit vieles entwickelt und verändert. Manche Themen, wie z. B. der Umgang mit Todeswünschen schwerkranker Menschen, haben inzwischen deutlich mehr an öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen und eine professionelle Entwicklung erfahren. Erfreulich sind auch weitere Entwicklungen. So ist die palliative Versorgung nicht mehr nur auf Krebspatienten eingeschränkt, sondern allen Menschen mit in absehbarer Zeit zum Tode führenden Erkrankungen zugänglich geworden. Die palliative Versorgung konnte auch ausgebaut werden durch gesetzliche Regelungen zur Finanzierung neuer Organisationsformen wie z. B. stationäre Hospize und die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV).

Allen Artikeln ist ein kurzer Einleitungstext vorangestellt, der ihre Aktualität bzw. historischen Relevanz beleuchtet.

Es geht in den nachfolgenden Artikeln um Herausforderungen, die Pflegenden nicht nur aus der palliativen Pflege vertraut sind: Wie kann ich damit umgehen, wenn meine pflegerische Interaktion offensichtlich sowohl den Patienten als auch mich selbst physisch und psychisch zu belasten scheint? Wie kann ich in der uns knapp bemessenen Zeit eine Pflege durchführen, die noch als wertschätzend, achtsam und konstruktiv für alle Interaktionspartner betrachtet werden kann? Was mache ich, wenn ich in Situationen gerate, in denen ich nicht mehr weiter weiß? Dabei muss berücksichtigt werden, dass Pflegende im palliativen Kontext noch unter günstigeren Rahmenbedingungen arbeiten können als Pflegende auf „Normal“-Stationen im Krankenhaus, in Pflegeheimen oder in der ambulanten Pflege.

Mir ging es in den Artikeln nicht darum zu zeigen, dass trotz widriger Umstände dennoch eine gute Pflege leistbar ist, sondern einige Schlaglichter zu werfen auf die Komplexität des Pflegealltags, in dem es immer wieder um eine Auseinandersetzung mit Begrenztheitserfahrungen und Erfahrungen des Scheiterns geht. In diesem Zusammenhang wurde für mich persönlich meine Auseinandersetzung mit Kinaesthetics eine entscheidende Ressource, um den Erfahrungen des Scheiterns mit einer konstruktiven Haltung zu begegnen. Ohne die Aneignung von Kinaesthetics hätte ich den Pflegeberuf – den ich seit nunmehr vierzig Jahren ausübe – schon längst verlassen. Durch Kinaesthetics habe ich mein wichtigstes und nachhaltigstes Anliegen in der angewandten Pflege gefunden: das Vertrauen der Menschen, für die ich sorge, in ihren eigenen Körper zu stärken. Mehr können wir nicht wirklich tun, aber das ist schon sehr viel.

Zu meinen ersten Artikeln bei Dr. med. Mabuse musste ich noch aufgefordert werden. Hermann Löffler, der Chef des Mabuse-Verlages und die damalige Redakteurin Anja Uhling ermutigten mich nachhaltig, aus meinem Pflegealltag zu berichten. Während ich das mir Vertraute nachvollziehbar zu beschreiben versuchte, wurde mir selbst die Komplexität des pflegerischen Alltagshandelns bewusster. Bald drängten sich mir Themen zur Veröffentlichung, die mir „unter den Nägeln brannten“, wie die pflegepraktischen Aspekte zur Begleitung von Angehörigen sterbender Menschen oder die Umsetzung von Kinaesthetics im Pflegealltag. Schließlich traute ich mich an Tabuthemen heran wie Gewalt in der Pflege, Umgang mit Todeswünschen im Pflegealltag und Auseinandersetzung mit Ekelgefühlen in der Pflege.

So langsam schließe ich mein Berufsleben ab. Es würde mich freuen, wenn meine Artikel die eine oder den anderen meines Berufes inspirieren könnten, die Herausforderungen des widrigen, mitunter auch von BerufskollegInnen nur gering geschätzten Berufsalltages zu beschreiben, zu durchdringen und ihnen offensiv, zuversichtlich und konstruktiv zu begegnen! Haben Sie Vertrauen zu sich und Ihren KollegInnen: Keine/r wünscht sich perfekte KollegInnen, sondern gemeinsame Reflexion über beidseitige Erfahrungen des Scheiterns und Neubeginnens.

Den Schmerz kommunizierbar machen

Ein Praxisbericht aus der Palliativen Pflege

Aus: Dr. med. Mabuse Nr. 135,
Januar/Februar 2002, S. 45–48.

Dieser, mein erster Artikel in Dr. med. Mabuse, erschien 2002 im Schwerpunktheft um Thema „Schmerz“ als pflegerischer Beitrag. Seither hat sich in der palliativen Versorgung einiges weiterentwickelt. Mein damaliger Arbeitsplatz war seinerzeit eine der ersten stationären palliativen Einrichtungen in Frankfurt am Main. Inzwischen ist das palliative Hospital, aus seiner organisatorischen und architektonischen Insellage heraus, funktional als Palliativstation in ein großes Frankfurter Krankenhaus eingegliedert worden. In den verlassenen Räumlichkeiten wurden ein Hospiz eingerichtet, eine spezialisierte Pflegeeinrichtung für Menschen, die nur noch eine sehr begrenzte Lebenserwartung haben und die wegen ihrer krankheitsbedingten Beschwerden einer stationären palliativen Versorgung bedürfen. Die ärztliche palliative Versorgung der Hospizpatienten übernehmen jetzt ambulant niedergelassene HausärztInnen.

Was sich seither – trotz der organisatorischen Änderungen – nicht geändert hat, sind die Anforderungen an die Qualität der palliativen Pflege, so wie ich sie in diesem Artikel beschreibe. Eine der Kernaufgaben Pflegender ist die Steuerung des Symptomkontrollprozesses im Rahmen der alltäglichen Pflege. Insbesondere im Zusammenhang der Unterstützung aller Körperfunktionen können belastende Symptome erkannt und analysiert werden. Das erfordert eine hohe Kompetenz und Selbstreflexion in der pflegerischen Interaktion und der professionellen Kommunikation.

In meiner professionellen Kommunikation habe ich seit dem Verfassen dieses Artikels einiges weiterentwickelt. So spreche ich heute zum Beispiel nicht mehr von „Lagerung“ und davon, Patienten zu „lagern“. Meine Weiterbildungen in Kinaesthetics haben auch auf meine Sprache Einfluss genommen. Heute nehme ich meine Patienten viel aufmerksamer in ihren – wenn auch nur mikrominimalistischen – Eigenaktivitäten wahr und „unterstütze sie bei einer Positionsänderung“. Durch die Erfahrung meiner eigenen Weiterentwicklung wurde ich aufmerksamer für Entwicklungsprozesse in meiner Umgebung, so auch für Lern- und Entwicklungsprozesse von Menschen am Ende ihres Lebens. Diese Erfahrung erschloss mir eine meiner wesentlichen Kraftressourcen für meine Arbeit: das Vertrauen in die Fähigkeiten meiner Patienten.

Frau K. befindet sich im Endstadium ihrer Krebserkrankung. Die Metastasen haben sich im gesamten Körper ausgebreitet, Beine und Unterleib sind stark ödematös angeschwollen. Frau K. schläft viel. In den kurzen Zeiträumen, in denen sie wach ist, spricht sie nicht mehr und reagiert nur noch mit schwacher Mimik und Gestik auf Ansprache. Diesen Reaktionen kann ich nicht entnehmen, ob sie meine Worte tatsächlich versteht.

Ich arbeite als Krankenschwester im Evangelischen Hospital für Palliative Medizin in Frankfurt am Main. Frau K. ist eine meiner Patientinnen. Sie bewegt sich kaum mehr und muss häufig umgelagert werden, um ein Wundliegen zu vermeiden. In den letzten Tagen hatte Frau K. schon beim Beginn einer Umlagerung laut aufgeschrien und sich so stark angespannt, dass eine Fortsetzung der Lagerung nicht möglich war. Da Frau K., als sie noch sprechen konnte, häufig über Schmerzen klagte, nahmen meine Kolleginnen und ich auch in diesem Fall an, dass sie bei der Lagerung Schmerzen hatte. Neben einer Erhöhung der regelmäßigen Schmerzmittel, die über eine subkutane Medikamentenpumpe verabreicht wurden, bekam Frau K. zusätzlich eine subkutane Injektion mit zehn Milligramm Morphin jeweils etwa eine halbe Stunde vor der geplanten Lagerung. Trotz dieser Prämedikation wirkte sie nicht beschwerdefrei, sie schrie bei der Umlagerung weiterhin auf und der Körper spannte sich sehr an. Selbst eine schrittweise Erhöhung der zusätzlichen Morphindosis schien Frau K. kaum eine Erleichterung zu bringen. Erst eine Kombination von Morphin und Midazolam, einem „Einschlafmittel“, machte eine für Frau K. sichtlich beschwerdefreie Umlagerung möglich. Von den Angehörigen wurde als Nachteil empfunden, dass Frau K. jetzt nur noch schlief und kaum mehr Wachphasen hatte.

Diffuses Körpergefühl

Aus der Beobachtung, dass Frau K. erst nach der Gabe von Midazolam beschwerdefrei gelagert werden konnte, entnahm ich die Vermutung, dass sie nicht nur aufschrie und sich anspannte, weil sie Schmerzen, sondern weil sie außerdem Angst hatte. Durch die fehlende Eigenbewegung hatte Frau K. ein diffuses Körpergefühl entwickelt. Sie hatte die Orientierung für ihren Körper und den Raum um sich herum verloren. Daher war sie womöglich durch unsere Berührungen und Bewegungen irritiert und verängstigt.

Ich probierte eine andere Vorgehensweise bei der Lagerung aus. Zunächst versuchte ich, Frau K. mit Hilfe von Techniken aus dem Bereich der Basalen Stimulation, ein Gespür für ihren Körper und den Raum, den er einnimmt, zu geben. Ich legte meine rechte Hand an ihre linke Schulter und nahm mit meiner linken Handfläche Kontakt zu ihrer linken Handfläche auf. Ich erklärte Frau K., dass ich ihren Körper jetzt auf eine Bewegung vorbereiten möchte. Ich konnte ihr nicht ansehen, ob sie mich verstand. Ich strich mit meinen Händen in kreisenden Bewegungen über Frau K.s Kopf, Nacken, Schulter, über die Außen- und Innenseiten der Arme und Hände, durch die Achseln weiter an der Außenseite des Rumpfes, der Beine, der Füße, über die Unter- und Oberseite der Füße, die Vorderseite der Beine wieder hoch zur Hüfte. Dann legte ich meine Handflächen an die Außenseiten des Beckengürtels und versetzte Frau K.s Becken etwa 15 Sekunden lang in eine Schaukelbewegung. Anschließend bewegte ich alle großen Gelenke – Knie, Fuß, Schulter, Ellenbogen – etwa jeweils zehn bis 15 Sekunden lang behutsam durch, dadurch versuchte ich, ihre Muskulatur aufzulockern. Anschließend entwickelte ich, durch Verschiebung der stabilen Zonen des Körpers von Frau K., angefangen beim Kopf über Handteller, Ellenbogen, Schulterbereich, Brustkorb, Becken, eine Lagerung auf die von mir gewünschte Seite. Frau K. blieb während der gesamten „Übung“ entspannt und ruhig. Ich glaubte sogar, eine gewisse Aufmerksamkeit in ihren Zügen lesen zu können.

Ich hatte Frau K. ohne zusätzliche Gabe von Morphin oder Midazolam beschwerdefrei gelagert. Frau K. blieb danach noch einige Zeit wach. Diese Lagerung hatte etwa fünf Minuten länger gedauert als die vorhergehenden Lagerungen. Allerdings brauchte ich für die sonst notwendige Prämedikation (Morphin aus Tresor schließen, Eintragung ins Morphin-Buch, Eintragung in die Patientendokumentation, Medikamente aufziehen, doppelte Wege zum Patienten, Spritze verabreichen, Spritze entsorgen) auch einige Minuten, sodass beide Vorgehensweisen zur beschwerdefreien Lagerung etwa die gleiche Zeit beanspruchen.

In der nächsten Schicht probierte ich aus, ob meine Erfahrung vom Vortag wiederholbar war. Ich versuchte, Frau K. ohne Prämedikation und ohne vorbereitende basale Stimulation umzulagern. Frau K.s Körper spannte sich sofort an und sie schrie auf. Ich ließ Frau K. etwa eine halbe Stunde in Ruhe und wiederholte dann die am Vortag bei der Lagerung erprobte neue Vorgehensweise. Ich erhielt das gleiche Ergebnis wie am Vortag: Frau K. blieb ruhig und entspannt bei der Umlagerung.

Schmerz- und angstreduzierende Techniken

Viele der Patienten, die ich betreue, können durch verschiedene krankheitsbedingte Einschränkungen ihre Beschwerden sprachlich nicht mitteilen, zudem kann ein körpersprachlicher Ausdruck mehrdeutig sein. Medikamente, die Beschwerden lindern sollen, können Bewusstsein und Ausdrucksfähigkeit weiterhin einschränken. Der Modus der Bedarfsmedikamentengabe in der Palliativmedizin ermöglicht es dem Pflegepersonal zu entscheiden, im Bereich eines vom Arzt festgelegten Spielraumes, bei Bedarf zusätzliche Medikamente zu geben oder es auch bleiben zu lassen, ohne vorher mit dem Arzt Kontakt aufnehmen zu müssen. Das Pflegepersonal verfügt über schmerz- und angstreduzierende Techniken, hier aus dem Bereich der Basalen Stimulation und Kinästhetik, die in dem geschilderten Fall die vorher notwendigen zusätzlichen Medikamente überflüssig gemacht haben.

Pflegepersonal erster Ansprechpartner

Das Evangelische Hospital für palliative Medizin ist ein kleines Krankenhaus mit 20 Betten im Zentrum von Frankfurt am Main. Hier werden Menschen im Endstadium ihrer Krebserkrankung behandelt. Diese Menschen haben eine nur noch sehr begrenzte Lebenserwartung und leiden an vielfältigen, krankheitsbedingten Beschwerden, wie z. B. Luftnot, Schluckstörungen, Darmträgheit, Übelkeit, Erbrechen, Tumorgeschwüren, Schmerz. Neben den physischen Beschwerden leiden die Patienten und ihre Angehörigen aber auch an durch die Last der unheilbaren und oft entstellenden Krankheit verursachten seelischen und sozialen Nöten.