WAS IST
ANTHROPOSOPHIE?

Sieben Perspektiven

Herausgegeben von Jean-Claude Lin 

Mit Beiträgen von Marian Conens, Jörg Ewertowski, Ruth Ewertowski, Nana Göbel, Wolfgang Held, Martin Kollewijn, Gottfried Stockmar und Albert Vinzens

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

Was ist Anthroposophie?

Vorwort des Herausgebers

Sieben Perspektiven

Freude in der Gegenwart

Jean-Claude Lin

Das Gespräch mit dem Kosmos

Wolfgang Held

Fühlen auf dem Grund des Lebens

Ruth Ewertowski

Die Wahrnehmung des Menschen

Albert Vinzens

Mut zum Leben

Nana Göbel

Schöpfen aus der Kraft des Denkens

Martin Kollewijn

Sich selbst wandeln im Erkennen

Jörg Ewertowski

Zugabe

Eine Begegnung mit der Anthroposophie im Zeichen der Freiheit

Begegnung mit Marian

Gottfried Stockmar

Fragmente eines Menschen: Gottfried

Marian Conens

Über Rudolf Steiner und die Autoren

Jean-Claude Lin

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Fußnoten

Was ist Anthroposophie?

Vorwort des Herausgebers

Was Anthroposophie ist, kann sehr verschiedene Gestalten annehmen. Im Grunde genommen so viele, wie es Menschen gibt. Damit ist keine bloß subjektive Willkür gemeint. Es soll vielmehr darauf hinweisen, dass Anthroposophie mit der Entwicklung des Innersten im Menschen, seiner Individualität, verbunden ist. Wie viele andere Menschen auch, lernte ich die Anthroposophie zunächst in ihrer Praxis kennen. Genauer gesagt: ich lernte sie im Handeln der von ihr inspirierten praktisch tätigen Menschen kennen. Mit acht Jahren kam ich in die zweite Klasse der nördlich von London gelegenen Waldorfschule in Kings Langley: The New School, die allgemein als «Steiner-Schule» bezeichnet wurde. Wenn ich damals Menschen erzählte, dass ich auf eine Steiner-Schule ging, fragte man mich, was denn mit mir sei. Denn es waren in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts hauptsächlich die heilpädagogischen Schulen und sozialtherapeutischen Camphill-Gemeinschaften, die man mit dem Namen Steiners verband. «Mit mir» war aber nichts, außer dass ich in meiner zuletzt besuchten staatlichen Schule in eine höhere Klasse gesteckt wurde als meine Klassenkameraden, die mir bis dahin vertraut waren, weil man mich intellektuell dafür besser geeignet fand. Ich erinnere mich gut an meine letzten Unterrichtsstunden dort über die Menschen in der Steinzeit, wie ich überhaupt keine Beziehung zu diesen sehr behaarten, etwas krumm gehenden Zweibeinern herstellen konnte.

Wie anders war das, als ich in die zweite Klasse der neuen Schule kam! Da erzählte mein Klassenlehrer Tag für Tag eine Heiligenlegende oder eine Fabel. Insbesondere seine Nacherzählung des Königssohns von Irland berührte mich so stark, dass ich unbedingt ein Exemplar des Buches von Padraic Colum erwerben musste. In der dritten Klasse erzählte mein Klassenlehrer Geschichten aus dem Alten Testament, in der vierten aus der nordischen Mythologie um Odin, Loki, Freya und Thor, in der fünften aus der griechischen Mythologie und von den griechischen Heroen. Mit der sechsten Klasse wurde aus den Geschichten des Altertums zunehmend Geschichte – mit Rom als Wendepunkt. Ich saugte alle diese Geschichten mit ganzer Seele auf und fühlte mich in dieser Schule sehr zu Hause. Einmal im Jahr wurde an Rudolf Steiners Geburtstag des Inaugurators der Pädagogik gedacht, die unserer Schule zugrunde lag. Aber viel wurde sonst nicht über ihn und seine Anthroposophie gesagt – und falls etwas gesagt worden war, behielt ich es nicht in so lebendiger Erinnerung wie die anderen mir erzählten Geschichten.

Erst als ich am Ende der zwölften Klasse mit dem Abitur die Schule verließ – bevor ich mein Universitätsstudium begann –, da wollte ich wissen, was denn Rudolf Steiner mit der Anthroposophie begründet hatte. So las ich in den Sommerferien seine Geheimwissenschaft im Umriss. Ich las seine Ausführungen über das Wesen des Menschen, darüber, dass ein Mensch nicht nur einen physischen Leib hat, sondern ebenso einen «Ätherleib» als Träger des Lebens, einen «Astralleib» als Träger der Seele und auch ein «Ich». Ich las darüber, wie der Mensch im Schlaf und im Tod und darüber hinaus existiert. Und ich las vor allem, wie unsere Erde entstand und wie viele verschiedene geistige, göttliche Wesen an ihrer Entwicklung und der Entwicklung ihrer Vorstufen – dem «Alten Saturn», der «Alten Sonne» und dem «Alten Mond»– beteiligt waren, bis der Mensch schließlich als selbstbewusstes und mit der Freiheit begabtes Wesen entstehen konnte.

So kurz aneinandergereiht mag eine solche Aufzählung bizarr, wenn nicht sogar befremdend klingen. Vielleicht halfen mir meine Erfahrungen mit den vielen Geschichten aus den Mythologien der Menschheit, die ich im Laufe meiner Schulzeit gehört hatte, auch die Erzählung Steiners in seiner Geheimwissenschaft nicht als puren Humbug abzutun. Im Nachhinein betrachtet muss ich das Buch wie einen Roman gelesen haben. Aber es faszinierte mich, und ich ahnte, die Werke dieses Mannes würden mich weiter beschäftigen. Und so war es. In jeder Lebenslage konnte ich etwas finden, womit ich weiter kam und weiter wuchs, auch wenn ich gleichzeitig feststellen musste, dass ich vermehrt Fragen an das Gelesene richtete oder manches sogar hinterfragte.

Es ist ein einmalig vielfältiges Werk, das Rudolf Steiner mit seinen Büchern, Vorträgen und praktischen Impulsen geschaffen hat. Jeder Mensch, der sich ernsthaft mit diesem Werk befasst, kann Anregungen für sich daraus holen, wenn er nur die entsprechenden Bedürfnisse und Fragen seiner Seele empfindet.

In den folgenden sieben Perspektiven ist versucht worden zu zeigen, wie die Anthroposophie zu einer Wissenschaft des Verborgenen, der Schöpfung führt, wie sie im Gespräch mit dem Kosmos entsteht, wie sie sich im Gefühl als Liebe mit dem Grund des Lebens verbindet, wie sie aus und zu einer neuen Wahrnehmung des Menschen erwächst, wie sie Mut zum Leben verleiht und aus der Kraft des Denkens schöpft und wie sie der Selbstverwandlung des Erkenntnissuchenden innewohnt.

Als Zugabe ist diesen sieben Perspektiven die kurze Schilderung einer Lebensbegegnung angefügt worden: die Begegnung eines etwas älteren mit einem jüngeren Menschen, die sich durch die Anthroposophie kennenlernten und sich insbesondere mit dem Grundimpuls Rudolf Steiners verbunden fühlen – die Freiheit des Menschen zu erkennen und lebensvoll zum Ausdruck zu bringen.

Mögen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, etwas in diesem Buch finden, das Ihnen Anregung und Orientierung bedeuten kann. Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des 1947 gegründeten Verlags Freies Geistesleben grüße ich Sie von Herzen,

Stuttgart, den 17. Januar 2017  Jean-Claude Lin

Sieben Perspektiven

Was ist Anthroposophie?

«Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf. Sie muss ihre Rechtfertigung dadurch finden, dass sie diesem Bedürfnisse Befriedigung gewähren kann. Anerkennen kann Anthroposophie nur derjenige, der in ihr findet, was er aus seinem Gemüte heraus suchen muss. Anthroposophen können daher nur Menschen sein, die gewisse Fragen über das Wesen der Menschen und die Welt so als Lebensnotwendigkeit empfinden, wie man Hunger und Durst empfindet.»

Rudolf Steiner

Anthroposophische Leitsätze.

Der Erkenntnisweg der Anthroposophie.

Erste Buchausgabe, Dornach 1925. Erster Leitsatz.

Jean-Claude Lin

Freude in der Gegenwart

Ein Weg zu einer Wissenschaft der Schöpfung

Alles was mit der Entdeckung und Nutzung der Kernenergie zu tun hat, trägt den Keim des Todes und die Kraft der Zerstörung in sich.

Am 6. August 1945 fiel die erste Atombombe. Die Amerikaner warfen sie nach monatelanger fieberhafter Entwicklungsarbeit unter dem Decknamen «Manhattan Project» auf die japanische Stadt Hiroshima ab. 200.000 Menschen starben. 100.000 wurden schwer verletzt. Als einziges durch die Atombombe nicht zerstörtes Gebäude der Stadt stand das Rathaus. Drei Tage später, zum Beweis, dass Amerika es geschafft habe, mehr als nur eine solche Schreckenswaffe herzustellen, wurde eine zweite Atombombe auf die Stadt Nagasaki abgeworfen. Es starben wieder in einem über-blendenden, fürchterlichen Augenblick 74.000 Menschen. Angesichts solcher nie zuvor gekannten Vernichtungswut kapitulierten die im Krieg gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und deren Alliierte befindlichen Japaner am 14. August bedingungslos.

Nach Konrad Lorenz zählen die Kernwaffen zu den «acht Todsünden der zivilisierten Menschheit». Aber: «Wenn man die Bedrohung der Menschheit durch die Kernwaffen mit den Auswirkungen vergleicht, die von den anderen sieben Todsünden auf sie ausgeübt werden, kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass sie unter den acht die am leichtesten zu vermeidende ist.» Das ist zunächst ein überraschendes Fazit. Doch Lorenz hat dafür eine einsichtige Begründung. Es ist «völlig und unwiderruflich klar, was man gegen ‹die Bombe› zu machen hat: Man braucht sie nur nicht herzustellen oder nicht abzuwerfen.» Bei den anderen Todsünden «wissen nicht einmal diejenigen, die sie klar sehen, was man dagegen unternehmen soll». Und Lorenz setzt sogar noch hinzu: «Bezüglich des Nichtgeworfenwerdens der Atombombe bin ich optimistischer, als ich in Bezug auf die anderen sieben Todsünden der Menschheit bin.» Allerdings räumt er einen Schaden ein, der sich auch unabhängig davon, ob Kernwaffen tatsächlich eingesetzt werden oder nicht, bereits bemerkbar macht: Die Bedrohung, die die Kernwaffen auf die Menschheit ausübt, erzeuge eine allgemeine «Weltuntergangsstimmung» mit weit reichenden, oft nicht bewussten Wirkungen: «Die Erscheinungen einer unverantwortlichen und infantilistischen Strebung nach sofortiger Befriedigung primitiver Wünsche und einer entsprechenden Unfähigkeit, sich für etwas verantwortlich zu fühlen, was in der fernen Zukunft liegt, hängt ganz sicher damit zusammen, dass unterbewusst allen Entscheidungen die bange Frage zugrunde liegt, wie lange die Welt noch steht.»

Als dieser Satz Anfang der siebziger Jahre geschrieben wurde, bestand die Gefahr einer offenen, unerbittlichen und die ganze Menschheit und die Erde vernichtenden nuklearen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten (mit Frankreich und Großbritannien im Schlepptau) offenkundiger als heute. Doch sollten wir eines nicht vergessen: die heutigen nuklearen Sprengköpfe, die es tausendfach in den Waffenarsenalen Russlands und der Vereinigten Staaten gibt, die weiterhin in großem Umfang in Frankreich und Großbritannien und seit einigen Jahren in China, Pakistan und Indien und vielleicht auch in Israel vorhanden sind, besitzen eine zigtausendfach größere Vernichtungsgewalt als die verhältnismäßig sehr kleinen Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.

Was können wir tun?

Was können wir im Bewusstsein solchen Vernichtungspotenzials tun?

Für Konrad Lorenz lag der Urquell der acht Todsünden bei der sich unbegrenzt steigernden menschlichen Bevölkerung der Erde: in der Übervölkerung. Daraus entstehen seiner Ansicht nach die restlichen sieben Todsünden: die Verwüstung des natürlichen Lebensraumes; der kommerziell bedingte immer selbstzerstörerischere Wettlauf des Menschen mit sich selbst; der Schwund aller starken Gefühle und die damit zusammenhängende schwindende Fähigkeit, Schmerz und Leid zu ertragen; der genetische Verfall; das Abreißen der Tradition; die Zunahme der Indoktrinierbarkeit der Menschen und schließlich die sich ausbreitende Aufrüstung der Menschheit mit Kernwaffen.

Konrad Lorenz’ Beurteilung der Bevölkerungsfrage widerspricht aber eigentlich der Achtung, die er für den Menschen mit seinen kulturschaffenden Fähigkeiten und für die Schönheit und Größe der Natur immer wieder zum Ausdruck bringt. Sollten wir die Frage: «Gibt es zu viele Menschen?» mit «Ja» beantworten, dann müssten wir auch sagen, welche Menschen «zu viele» sind. Wenn wir nicht in moralische Ungeheuerlichkeiten geraten möchten, können wir die Frage «Gibt es zu viele Menschen?» nur mit einem entschiedenen «Nein» beantworten. Wozu die Frage der «Übervölkerung» herausfordert, ist, unser Verständnis für die Schöpfung, für das Entstehen des Menschen und seine Individualität zu erweitern und vor allem zu vertiefen. Was heißt es, Mensch zu sein? Welche Bedeutung hat die Existenz eines Menschen für die Welt?

Was ich als Geistiges und Seelisches in mir und beim anderen erlebe, möchte ich auch in der Welt erleben, in dem, was allem Werden des Lebendigen, Beseelten und Geistigen zugrunde liegt. Ist das möglich? Gibt es Wege dahin?

Es gibt unter den vielfältigen Beschreibungen einer Erkenntnis und Wissenschaft, die sich dem Schöpfungsmoment des Menschlichen zuwendet, tatsächlich eine, die in erstaunlich naher Verbindung mit den von Konrad Lorenz beschriebenen Phänomenen der «Todsünden der zivilisierten Menschheit» gesehen werden kann. Sie ist in dem grundlegenden Schulungswerk Rudolf Steiners enthalten: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? In dem Kapitel «Die Bedingungen zur Geheimschulung» beschreibt Rudolf Steiner sieben Eigenschaften, die entwickelt werden müssen, wenn der Mensch zu einer Erkenntnis der tiefer liegenden, verborgenen (und in diesem Sinne «geheimen») Gründe seiner Existenz gelangen möchte. Sie seien im Folgenden – auch in ihrer Verbindung zu den von Konrad Lorenz beschriebenen Todsünden der zivilisierten Menschheit – wiedergegeben.

Sieben Bedingungen einer Wissenschaft der Schöpfung

Achte auf die Pflege und Förderung sowohl deiner körperlichen wie deiner geistigen Gesundheit – ist die erste Bedingung. Sie bildet die Grundlage zu allem Weiteren. Dabei ist von großer Bedeutung, dass der Mensch sich um die jeweils «möglichste Selbstständigkeit» im eigenen Urteil bemüht, wie denn für ihn diese Gesundheit zu fördern ist. Beim «Wettlauf des Menschen mit sich selbst» hatte Konrad Lorenz festgestellt, dass der moderne Mensch in dieser Hinsicht recht ungesund lebe: «Eine der bösesten Auswirkungen der Hast … ist die offenkundige Unfähigkeit moderner Menschen, auch nur kurze Zeit mit sich selbst allein zu sein.» Im Wettlauf mit sich selbst richte sich der moderne Mensch «völlig zugrunde».

Lerne, dich als ein Glied des ganzen Lebens zu empfinden. – Das ist eine Eigenschaft, die einerseits das Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt berührt, andererseits aber für Steiner weit über diese hinausweist. Wenn ich als Lehrer z. B. Schwierigkeiten mit einem Schüler habe, soll ich mich auch fragen, was denn an mir selbst sein könnte, das zu den Schwierigkeiten führt. So begegnet diese Bedingung der «Verwüstung des Lebensraumes» und erweitert sie ins Seelische und Geistige.

Ringe dich zur Anschauung empor, dass die eigenen Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie die eigenen Handlungen. – Gerade im Hinblick auf die überwältigende, für den Einzelnen schier unabänderbare Gefahr der Massenvernichtungswaffen ist ein Vertrauen in die Kraft der eigenen Gedanken und Gefühle von größter Bedeutung. Auch in der Art, wie wir über die Welt denken und empfinden, tragen wir Verantwortung für ihre zukünftige Gestalt.

Eigne dir die Ansicht an, dass des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt – ist der Inhalt der vierten Bedingung. Sie zu erfüllen kann der Indoktrinierbarkeit entgegenwirken, die alles am und im Menschen als von außen determiniert und determinierbar hält. «Die besondere Gefährlichkeit der modischen Indoktrinierung auf dem Gebiet der Wissenschaft liegt nun darin», schreibt Lorenz im Sinne dieser vierten Bedingung einer Wissenschaft des schöpferischen Geistes im Menschen und in der Welt, «dass sie den Wissensdrang allzu sehr in eine Richtung lenkt, die derjenigen gerade entgegengesetzt ist, die zum eigentlichen Ziele alles menschlichen Erkenntnisstrebens hinführt, nämlich zur besseren Selbsterkenntnis des Menschen.»1

Werde standhaft in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses. – Solange dir ein Entschluss als richtig erscheint, solltest du versuchen, ihm treu zu bleiben – gegen allen Widerstand, gegen alles Leid, das dir dadurch entstehen sollte. So können wir uns gegen den «Wärmetod des Gefühls» stemmen und Liebe in all unserem Tun ausbilden.

Lasse immer mehr in dir leben das Gefühl der Dankbarkeit allem gegenüber, was dir zustößt. – Diese sechste Bedingung lässt einen geistigen Umraum um den Menschen entstehen, so wie er auch in den Raum einer lebendigen und ihn nicht nur negativ prägenden Tradition eingeboren ist.

Bilde dich unablässig im Sinne aller vorangegangenen Bedingungen. – Diese siebte Bedingung vervollständigt den Aufbau des inneren und äußeren Menschen als eines moralischen und der geistigen Einsicht fähigen Wesens. Was Konrad Lorenz etwas unbeholfen als Gegenmaßnahme zu dem «genetischen Verfall» der Menschheit preist: das Anständigsein, findet in dieser siebten Bedingung sein eigentliches Ziel.

«Wer die genannten Bedingungen nicht erfüllt», bemerkt Rudolf Steiner, «wird auch nicht die volle Liebe zu allem Aufbauen, zu allem Schaffen haben und die Neigung, alle Zerstörung, alles Vernichten als solche zu unterlassen.»– Diese Liebe zu allem Aufbauen, zu allem Schaffen in der Welt brauchen wir aber, wenn wir in einer Welt massenhaften Vernichtungspotenzials Vertrauen in die Zukunft entwickeln wollen. So können wir in der Auseinandersetzung mit den «acht Todsünden der zivilisierten Menschheit» die Tugenden entwickeln, die uns zuversichtlich und mit Freude in der Gegenwart leben lassen.

Auch das ist Anthroposophie.

Idee und Ideal

«Es ist ein Grundsatz in aller Geheimwissenschaft, der nicht übertreten werden darf, wenn irgendein Ziel erreicht werden soll. Jede Geheimschulung muss ihn dem Schüler einprägen. Er heißt: Jede Erkenntnis, die du suchst, nur um dein Wissen zu bereichern, nur um Schätze in dir anzuhäufen, führt dich ab von deinem Wege; jede Erkenntnis aber, die du suchst, um reifer zu werden auf dem Wege der Menschenveredelung und der Weltentwickelung, die bringt dich einen Schritt vorwärts. Dieses Gesetz fordert unerbittlich seine Beobachtung. Und man ist nicht früher Geheimschüler, ehe man dieses Gesetz zur Richtschnur seines Lebens gemacht hat. Man kann diese Wahrheit der geistigen Schulung in den kurzen Satz zusammenfassen: Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.»

Rudolf Steiner

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?

Erste Buchausgabe, Berlin 1909. Bedingungen.

Wolfgang Held

Das Gespräch mit dem Kosmos

Es war in der Sternwarte am Goetheanum am späten Abend. Die letzten Besucher hatten das Observatorium verlassen. So war ich nach den vielen Gesprächen über Jupiters Monde, über die Sterne, ihre Mythen und ihren unendlichen Raum schließlich alleine. Ich richtete das Fernrohr noch einmal auf Hale-Bopp, den hellen Kometen, der im Jahr 1997 beinahe ein Jahr mit bloßem Auge zu sehen war. Er war ein Jahrhundertkomet! Im freien Blick sah man scharf gezeichnet den gekrümmten weißen Schweif und den cyanbläulichen geraden. Wie hell leuchtete der Schweif und wie unwirklich schimmerte die Koma, der diffuse Kopf des Kometen! Der Blick durchs Okular zeigte dann die feinen Strukturen im Schweif des Irrsterns und die schalenartigen Lichtbögen an der Bugfront des Kometenkopfes. Während ein Stern funkelt, alles Licht sich auf einen Punkt versammelt, ist es hier ein unbestimmtes, transzendentes Glimmen. Mit dem Fernrohr strich ich über alle Einzelheiten der Erscheinung und wusste doch, dass, sprichwörtlich, der Kern des Kometen diesem Anblick verschlossen bleibt. Irgendwann löste ich das Auge vom Glas und schaute noch einmal «unbewaffnet» hinauf.

Weit oberhalb der Tierkreisebene, dort, wo kein Planet, auch nicht der Mond den ewigen Gang der Sterne stört, dort stand dieser grandiose Komet. Wie zuvor schon unzählige Male beim Beobachten des Nachthimmels stand ich da, begeistert und «beladen» mit dem vielen Wissen über Planeten, Sterne und Kometen. Es war das Wissen der modernen Astronomie und Astrophysik, die Kenntnis der klassischen Mythologie und viel von dem, was Rudolf Steiner über die Gestirne mitgegeben hat. Ich stand aber auch da mit all den Fragen, dem Nicht-Verstehen und dem immer wiederkehrenden Verstummen vor dieser grandiosen schweigsamen Welt.

Da geschah es. Mich erfasste eine rätselhafte Woge. Ein Erlebnis von Kraft überkam mich, bei dem ich fühlte, dass es mit dem Kometen zu tun hatte. Ein paar Augenblicke später war es vorbei. Ich begann danach zu suchen, welche Worte, welche Beschreibung mir dies Erlebnis verständlich machen könnten. Ich kam zu einem Vergleich, der mir auch nach Jahren Abstand immer noch gültig erscheint: Wenn man von einem Menschen einen Ratschlag erhält, dann kann es sein, dass man diesem Rat ad hoc nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkt. Der Hinweis senkt sich an den Rand des Bewusstseins, geht in dem Vielen der Eindrücke unter. Aber nach einigen Tagen drängt er ins Bewusstsein. Mit einem Mal erinnert man sich an den Rat, und in diesem Moment, in dem man die Tragweite, die Präzision und Empathie des Ratschlags fühlt, da spürt man wohl einen Schauer, ein Gefühl der Intensität und Ernsthaftigkeit, ein Gefühl, gemeint und herausgefordert zu sein. Wer diese Empfindung kennt, der kann nachempfinden, welche tiefere Schicht des Kometen mir zum Erlebnis wurde.

Bis man eine Erscheinung des Kosmos, sei es ein Komet, sei es der Mond, sei es gar die Sonne, so zu sich sprechen erlebt, ist es ein langer Weg. Der Spruch, den Rudolf Steiner 1922 für seine Frau Marie gedichtet hat, zählt zu seinen bekanntesten Versen. Er beschreibt die heutige Entfremdung vom Kosmos. So oft sind die Zeilen wiedergeben worden, eurythmisch oder als Rezitation vorgetragen worden, und doch scheint es, dass die elementare Aussage dieser acht Zeilen oft verborgen bleibt. Es lohnt sich deshalb, die sieben Stufen dieses Spruches durchzugehen und sie als eine Anleitung zu betrachten, um sich wieder neu mit der Sternenwelt in Verbindung zu bringen. Zuerst wendet der Spruch sich der Vorgeschichte zu: Sterne sprachen einst zum Menschen.