KARL KÖNIG

DIE ERSTEN
DREI JAHRE
DES KINDES

Erwerb des aufrechten Ganges

Erlernen der Muttersprache

Erwachen des Denkens

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

Vorwort von Georg Soldner

Vorwort zur 1. Auflage von Karl König

Einleitung

Der Erwerb des aufrechten Ganges

Allgemeine Charakteristik der Bewegungsvorgänge

Herausbildung des menschlichen Ganges

Trennung zwischen Selbst und Welt

Erbmotorik und Erwerbmotorik

Der Jahreslauf und die Stufen des aufrechten Ganges

Das Erlernen der Muttersprache

Die Sprache als Ausdruck, als Namengeben und als Sprechen

Die Gliederung des Sprachorganismus

Sagen, Nennen, Reden

Die Stufen der Sprachentfaltung

Die Dreigliederung des Sprachprozesses

Das Erwachen des Denkens

Die Voraussetzungen für das Erwachen des Denkens

Das Denken im Menschen

Erste Voraussetzungen für das Denken

Merken, Besinnen, Erinnern

Die kindliche Fantasie

Die frühesten Denkleistungen des Kindes

Die Erweckung des Ichs

Die erste Trotzperiode des Kindes

Die Entfaltung der drei höchsten Sinne

Über den Wort- und Denk-Sinn

Die schrittweise Ausbildung des Wort-Sinnes oder: Das Erwachen des Wort-Sinnes beim Kind

Helen Kellers Weltenaugenblick

Das physische Organ des Wort-Sinnes

Der Ich-Sinn

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Vorwort

Sechzig Jahre nach der Erstausgabe erscheint der vielfach aufgelegte Klassiker Die ersten drei Jahre des Kindes von Karl König in neuer Auflage. Für ein Werk dieser Thematik ist allein diese Tatsache bereits sehr ungewöhnlich und spricht für eine außerordentliche geistige Leistung des Autors. Denn Schwangerschaft und frühe Kindheit sind seit 1957 immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt, unser Verständnis dieser biografischen Epoche ist dadurch sehr bereichert worden und gewachsen. Auf der anderen Seite haben die Fortschritte in der medizinischen Technik, zum Beispiel in der Diagnostik des Ungeborenen, die fortschreitende Industrialisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche die frühe Kindheit nachhaltig verändert. Was hat uns König heute, im 21. Jahrhundert, noch zu sagen? Warum lohnt es sich auch heute noch, seine Darstellung der ersten drei Lebensjahre des Kindes zu lesen?

Karl König, Arzt und Heilpädagoge, Gründer vorbildlicher Einrichtungen während der NS-Zeit für Menschen mit Entwicklungsstörungen und besonderen Bedürfnissen in Großbritannien, gelingt es, einen Überblick über die ersten drei Lebensjahre zu vermitteln, der sehr tragfähig, der für viele verständlich ist und zugleich offen bleibt für den Wandel, der mit den wachsenden Einsichten in die frühkindliche Entwicklung verbunden ist. König vermittelt sehr nachvollziehbar einen Einblick in die wesentlichen Entwicklungsschritte des Kindes. Schritte, die für die menschliche Entwicklung spezifisch sind, die wir nicht mit «Bruder Tier» teilen – ein Begriff, der ebenfalls auf ihn zurückgeht. Er schildert nicht «Meilensteine» des «Normalen», die man rasch wieder vergisst und nachlesen muss, sondern charakterisiert eine dreigegliederte Aufeinanderfolge, in der sich der Mensch als Mensch zu enthüllen, zu zeigen beginnt: Im Erwerb des aufrechten Gangs, im Erlernen der Muttersprache und im Erwachen des Denkens. In jedem der drei Jahre steht einer dieser Schritte im Vordergrund, jeder dieser Schritte beansprucht in etwa ein Jahr. Jeder dieser Schritte ist an die Anwesenheit anderer Menschen gebunden, an deren Gegenwart und Vorbild gerade die spezifisch menschliche Entwicklung erwacht. Und jede dieser Qualitäten: Aufrechte, Sprache, Denken charakterisiert den Menschen lebenslang.

Bereits der erste Schritt, die Aufrichte, bedeutet eine Transformation, eine durchgreifend andere Orientierung im Vergleich zur tierischen Bewegungsorganisation. Der Mensch balanciert zwischen Ferse und Ballen seiner Füße und nicht auf vier Beinen. So charakterisiert schon den menschlichen Fuß eine einzigartige Gestalt; mit der Ferse, die auf dem Boden aufsetzt, dem Fußgewölbe, über dem wir balancieren, und indem wir uns dieser Qualitäten bewusst werden, gewinnen wir zur ganzen menschlichen Gestalt eine andere Beziehung. Und achten als Eltern und Erzieher vielleicht anders darauf, wie sich ein Kind aufrichtet – und wie wir selbst in der Aufrechten leben, denn an unserem Vorbild orientiert sich das Kind. König stellt die Frage, ob der Erwerb der Aufrechtheit nicht noch viel weitergehende Bedeutung hat. Etwa auf die Balancierung des Gefühlslebens, die Kindern mit gestörter Aufrichte und Regulation der Bewegung (z. B. Athetose) nicht so leicht gelingt. Kein Zweifel, Karl König geht in seiner Darlegung der Entwicklungsepochen des Kindes manchmal sehr weit, wenn er bei Fehlen der Aufrichte sich beispielsweise zur Regulationsfähigkeit von Gefühlen und Stimmungen generell skeptisch äußert. Aber er macht darauf aufmerksam, wie sehr leibliche, seelische und geistige Aspekte miteinander in Verbindung stehen und sich wechselseitig beeinflussen. Etwa in welchem Maß ein Kind mit spastischer Lähmung (oft nach Geburtstrauma, frühkindlicher Hirnblutung etc.) seinen Sinneseindrücken ausgeliefert ist und sich ihrer manchmal kaum erwehren kann. All das ist in hohem Maße praxisrelevant und heute noch so aktuell wie vor sechzig Jahren.

Der Leser wird nicht von einer Fülle von Fakten erdrückt, sondern erfährt vor allem Orientierung: Worauf kommt es in welcher Entwicklungsphase des Kleinkindes an? Dabei entwickelt Karl König noch wenig den Bindungsaspekt, der heute – durchaus zu Recht – sehr in den Mittelpunkt gerückt ist, in einer Zeit, in der die Eltern-Kind-Bindung oft sehr fragil geworden ist. Der Aspekt, der in diesem Buch im Vordergrund steht, ist die kindliche Entwicklung zur Autonomie, die am deutlichsten im eigenständigen Denken lebt, und zur aktiven Beziehungsfähigkeit des Kindes, die die Sprache ermöglicht: «Denn der Erwerb der Aufrechtheit brachte die Trennung zwischen Welt und Selbst zustande. Durch das Geschenk der Sprache erobert sich das Selbst als Person die Welt zurück.»

Die Sprache verwandelt und prägt nicht nur das Atmungssystem, sondern den ganzen menschlichen Organismus so, «dass der Mensch auf der gegenwärtigen Stufe gleichsam eine weitere Ausführung seiner Sprachwerkzeuge ist» (Steiner 1984, S. 24). So wird ab dem sprachfähigen Alter von zweieinhalb Jahren das Wachstum der Zwischenkieferregion eingestellt (ganz im Gegensatz etwa zur Schnauze des Hundes, aber auch noch im Gegensatz zum Primaten) – eine wesentliche und für den Menschen spezifische Voraussetzung dafür, dass die menschliche Sprachfähigkeit sich über die ganze Biografie hinweg auf die anatomischen Voraussetzungen stützen kann, wie sie sich im Alter des Spracherwerbs ausgebildet haben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die entscheidende Entdeckung hier von einem großen Dichter – und großen Anatomen – gemacht wurde, Johann Wolfgang von Goethe, der nicht nur Dichter war, sondern als Schüler des damals in Deutschland bedeutendsten Anatomen, Justus Christian Loder, an embryonalen Präparaten den Zwischenkiefer des Menschen entdeckte, der im Zuge des Spracherwerbs «nahtlos» in den Oberkiefer eingegliedert wird.

König entwickelt sehr überzeugend eine Dreigliederung der Sprache, als emotional-animalischer Ausdruck, als Fähigkeit, alle Dinge der Welt zu benennen und schließlich als Möglichkeit, im Dialog den anderen zu verstehen und sich selbst zu begegnen, sich selbst auszusprechen. Und er stellt dem eine entsprechende leibliche Dreigliederung zur Seite, etwa in der Beziehung des Benennens im Substantiv (Hauptwort) zum Kopf, der Beziehung des dialogischen Prinzips zur atmenden Mitte, der die qualitative Charakterisierung durch Adjektive entspricht, und der Beziehung des emotions- und willensgeprägten Aspekts der Sprache zu den Gliedmaßen, dem die Tätigkeitswörter, die Verben entsprechen. – Insgesamt bildet die Sprache die Mitte zwischen der Aufrichtung, einem ganz willensmäßigen, nahezu unbewussten Akt, und dem Einsetzen eigenen Denkens im kindlichen Bewusstsein. Karl König schildert sehr anschaulich und luzide die Sprachentwicklung vom kindlichen Lallen bis hin zum ausgebauten Satz, den Weg von der «Weltsprache» des Neugeborenen bis in die «Muttersprache», er macht den halb bewussten Charakter der Sprache bewusst – das Ausgesprochene kann den Sprechenden überraschen! – und er zieht scharf die Grenze zwischen den geistigen Leistungen des Kindes, die aus der Sprache heraus fließen, und dem wirklichen Einsetzen eigenen Denkens.

Dieser Aspekt: Was ist Denken? ist heute durchaus sehr aktuell. Die neurobiologische Forschung der letzten zwanzig Jahre hat bei vielen die Versuchung aufkommen lassen, menschliches Denken als Folge biologischer Gehirnprozesse aufzufassen – nach der (Fehl)interpretation der berühmten Libetschen Experimente: Das Gehirn (als biologische Maschine aufgefasst) kommt zuerst! Wir wissen heute – das hat u. a. Thomas Fuchs deutlich herausgearbeitet (2016) –, dass das zum einen nicht stimmt, zum anderen diagnostisch und therapeutisch zum Beispiel in der Psychiatrie weitgehend unfruchtbar geblieben ist. Vielleicht sind die Abschnitte des Buches besonders aktuell, die verdeutlichen, was wir Denken und Selbstbewusstsein nennen können, gipfelnd in dem inneren geistigen Ich-Erleben des vielleicht dreijährigen Kindes, das wir von außen in der Regel nicht erfahren, das aber viele selbst erinnern können.

Schließlich wendet sich Karl König einem Gebiet zu, das 1957 noch als rein spekulativ gelten musste, nämlich der Frage, wie der Mensch Sprache, Denken und menschliche Individualität überhaupt wahrnimmt. Ganz im Gegensatz zu einer «Theory of Mind», einem indirekten Erschließen von Wortbedeutungen, Gedanken und der Gegenwart eines anderen Ichs, vertritt Karl König als Schüler Rudolf Steiners die Auffassung, dass das Kind, der Mensch Sprache, Denken, das Du im Anderen im Grunde ebenso wahrnehmen kann, wie er Farben und Töne wahrnimmt. Dass wir einen «Wort-Sinn», einen «Gedanken-Sinn», einen «Ich-Sinn» ausbilden. Und er geht im Gefolge Steiners so weit, dafür auch konkrete leibliche Strukturen zu nennen, die als «Sinnesorgane» für diese Qualitäten fungieren. – Die Forschung hat inzwischen einen Bereich, den «Wort-Sinn», weitgehend empirisch bestätigen können, genau in dem Sinne, wie es König schildert. Die menschliche Bewegungsorganisation, das neuromuskuläre System, bewegt sich in Mikrobewegungen mit, wenn ein anderer in unserer Gegenwart, in der Gegenwart des Kindes spricht. Peter Lutzker hat die entsprechenden Forschungsarbeiten bereits vor mehr als zwanzig Jahren zusammengefasst (1996), die Entdeckung der Spiegelneurone durch Giacomo Rizzolatti hat uns weitere Einsichten in dieses Gebiet verschafft (Rizzolatti & Sinigaglia 2008). Man könnte es so zusammenfassen: Wenn wir uns nicht in ganz feiner, unbewusst bleibender Weise unmittelbar mitbewegen würden in Gegenwart eines Sprechenden, könnten wir ihn nicht verstehen. Mit anderen Worten: Die eigenen Mitbewegungen fungieren äquivalent zu einem Sinnesorgan (so wie wir nur Töne hören können, wenn sich im Innenohr, in der Schnecke, feinste Eigenbewegungen abspielen, die von den Höreindrücken angeregt werden). Mit diesen Worten sei nur darauf hingewiesen, dass Königs Ausführungen im letzten Kapitel durchaus eine Beziehung aufweisen zum heutigen Stand der Forschung, was hier nur kurz einleitend angedeutet werden soll.

So hoffen wir, dass die Leserin, der Leser von heute durch dieses Buch, seine innere Klarheit, durch seine forschende Haltung und geistige Kraft sich ebenso angeregt fühlt, wie dies vor sechzig Jahren der Fall war.

Im Dezember 2016

Georg Soldner,

Facharzt für Kinderheilkunde, stellv. Leitung der Medizinischen Sektion, Goetheanum, Hochschule für Geisteswissenschaft, Dornach/Schweiz

Vorwort zur 1. Auflage

Die drei ersten der hier folgenden Aufsätze wurden zuerst in der Zeitschrift für Heilpädagogik, Das Seelenpflege-bedürftige Kind, veröffentlicht und sollten aus diesem Blickpunkt her verstanden werden. Dem Verfasser standen bei der Darstellung des großen und einheitlichen Menschenbildes die ihm in Hunderten von Einzelfällen bekannten Verzerrungen und Verbildungen vor Augen. Dadurch aber konnte der Blick auf das Urbild der ersten drei Jahre des Kindes besonders klar gerichtet werden.

Dabei war es ein wesentliches Anliegen, auf die drei Gaben hinzuweisen, die jedes Kind durch das Tor der Geburt sich mitbringt: Der Erwerb des aufrechten Ganges, des Sprechens und des Denkens werden hier untersucht. Denn es geht dem Verfasser dieser Schrift um die Schritte, die der geistige Teil des Menschen bei seiner Entfaltung in der frühesten Kindheit vollzieht. Nicht aber geht es hier um die Darstellung der Entwickelung der animalischen und vegetativen Natur. Damit soll aber keineswegs mit Verachtung auf jene Seite der menschlichen Existenz geblickt werden. Deren Werden während der Jahre des Kindseins ist jedoch schon öfter dargestellt worden und bedarf nicht einer erneuten Beschreibung.

Gehen, Sprechen und Denken hingegen sind ihrer Würde gemäß noch kaum untersucht worden. Es gibt darüber zwar viele Einzelbeobachtungen und eine große Menge von Darstellungen; aber der «Würde» des Ganges, der Sprache und des Gedankenbildens, so wie sie Rudolf Steiner als «spirituelle Gaben» beschrieben hat, ist noch kaum Gerechtigkeit widerfahren. Und doch sind es diese drei königlichen Gaben, die den Menschen erst zu dem machen, was er wirklich werden kann: ein erkennendes und sich selbst erfragendes Wesen.

Deshalb hat es der Verfasser auch für angebracht gehalten, einen vierten, größeren Beitrag den ersten drei hinzuzufügen. In diesem wird die Entwickelung der erstmals von Rudolf Steiner beschriebenen höchsten Sinne des Menschen, des Wort-, Gedanken- und Ich-Sinns, dargestellt. Denn erst wenn diese Sinne als Ergebnis der Entfaltung von Gehen, Sprechen und Denken erkannt werden, kann ein wirkliches Verständnis für das Erwachen des Menschengeistes während der ersten drei Lebensjahre gewonnen werden.

Damit aber wird ein Beitrag geleistet, der ein neues Licht in die verborgenen Gründe des kindlichen Werdens wirft. Dem Verfasser war es, als wäre es erst jetzt «an der Zeit», diese Gedanken und Überlegungen einem weiteren Kreis von Lesern mitzuteilen. Er hofft auf ein mitgehendes Verstehen.

Im Januar 1957 Karl König

Einleitung

In den ersten drei Jahren seiner kindlichen Existenz erwirbt der Mensch diejenigen Fähigkeiten, die ihm hier auf der Erde die Möglichkeit seines Menschseins vermitteln. Er lernt im Ablauf des ersten Lebensjahres zu gehen, erwirbt im zweiten Lebensjahr das Sprechen und erlebt im dritten Jahre das Erwachen des Denkens.

Als hilfloser Säugling wird er geboren und wird erst durch den Erwerb dieser drei Eigenschaften ein Wesen, das sich selbst benennen kann, das eine freie Beweglichkeit erwirbt und mithilfe der Sprache in bewusste Kommunikation mit der Umwelt der anderen Menschen tritt. Eine Art von dreifachem Wunder vollzieht sich dabei, denn es ist mehr als Instinkt, mehr als Anpassung, mehr als Entfaltung vererbter Eigenschaften, was sich hier offenbart.

Das Erlernen der drei fundamentalen menschlichen Fähigkeiten ist ein Gnadenakt, der jedem Menschen verliehen wird und dessen Erwerb von außerordentlicher Komplexität ist. Erst ein näheres Studium der hier vorliegenden Phänomene lässt erkennen, wie vielfältig und mannigfach der ganze Mensch in das Erlangen dieser drei Fähigkeiten hineinverflochten ist.

In den folgenden Darlegungen sollen zunächst die Spuren verfolgt werden, die zum Erlernen des Gehens, Sprechens und Denkens führen. Eine Schlussbetrachtung wird sich mit dem Ineinanderwirken dieser drei fundamentalen Seelenqualitäten und ihrem Zusammenhang mit den drei höchsten Sinnen, dem Wort-Sinn, Denk-Sinn und Ich-Sinn, beschäftigen.

Der Erwerb des aufrechten Ganges

Allgemeine Charakteristik
der Bewegungsvorgänge

Die Fähigkeit des aufrechten Ganges ist ein Teilphänomen der gesamten Bewegungsfähigkeit der menschlichen Organisation. Es wäre aber recht einseitig, anzunehmen, dass es vornehmlich die Beine und Füße sind, die wir zum Gehen benützen. Es ist der gesamte Bewegungsapparat, der zum Gehen gebraucht wird, und die Arme sind daran ebenso wesentlich beteiligt wie die Beine; die Muskeln des Rückens und der Brust sind damit so innig verbunden wie die Muskeln, die den Augapfel bewegen.

Das ist überhaupt zunächst zu erkennen notwendig, dass an jeder Bewegung, die wir durchführen, der ganze Mensch beteiligt ist; denn die Bewegung eines Teiles des Leibes beinhaltet unmittelbar die Ruhestellung anderer, an dieser Bewegung nicht beteiligten Partien. Diese Ruhestellung aber ist während des Wachens, von morgens bis abends, niemals eine passive, sondern eine aktive Funktion. Damit ist auf ein Urphänomen aller Bewegung überhaupt hingewiesen; wenn ein Teil des Bewegungsapparates sich bewegt, dann ist der übrige Teil so daran beteiligt, dass er durch eine aktive Ruhestellung diese Beweglichkeit ermöglicht.

Beuge ich den Arm, dann müssen nicht nur, um diese Beugung zu ermöglichen, die Streckmuskeln des betreffenden Armes aktiv entspannt werden, sondern alle übrigen Muskeln müssen ein aktives Widerlager bilden, um dieser Beugung das Gleichgewicht zu halten. Immer ist es der gesamte Bewegungsapparat, der an jeder Bewegung beteiligt ist und diese durchführen hilft.

Wir können das unmittelbar erfahren, wenn zum Beispiel eine einzige Zehe durch eine Verletzung in ihrer freien Beweglichkeit behindert ist. Dann wird sofort der ganze Fuß in seiner Funktion arretiert; damit aber wird die Bewegung des dazugehörigen Beines abgeändert und damit zusammenhängend auch die übrigen Teile des Bewegungsorganismus mittelbar anders gebraucht. Wie oft treten dann allmählich Schmerzen in der Nacken- und Rückenmuskulatur auf, wenn der Fuß nicht richtig zum Gehen gebraucht werden kann! Und wie häufig kann eine Rhythmusänderung am Atem beobachtet werden, wenn ein Bein für längere Zeit ruhiggestellt werden muss! Alles dies sind einfachste Beispiele, die aber das klar vor Augen führen, was zunächst als ein fundamentales Phänomen im Bewegungsbereich erscheint. Wollten wir es zu formulieren versuchen, so müssten wir sagen:

  1. Der gesamte Bewegungsapparat ist eine funktionelle Einheit; niemals sind es seine Elemente, die sich als unabhängige Glieder bewegen, sondern jede Bewegung verläuft im Gesamtbereich des Bewegungssystems.
  2. Deshalb zeigen die bewegten Teile eine nur scheinbare Unabhängigkeit im Gegensatz zu den ruhenden. Die Letzteren aber, wenn auch nicht so unmittelbar in die Erscheinung tretend, sind ebenso aktiv am Bewegungsprozess beteiligt wie der bewegte Teil selbst.

Es war das fatale Konzept der Lokalisationstheorie für das Zentralnervensystem, das immer wieder verhinderte, die Bewegungsorganisation als eine funktionelle Einheit zu sehen. Diese analytische Methodik des wissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert muss auf jedem Gebiet überwunden werden. So wie weder die einzelnen Buchstaben das Wort noch die einzelnen Worte den Satz aufbauen, so bewegt auch nicht eine Reihe von Einzelmuskeln ein Glied des Körpers. Die Gestalt einer Bewegung verwendet einzelne Muskeln und Gruppen von Muskeln und tritt dadurch in die Erscheinung. Wie eine Meinung zur Aussage wird, die Aussage aber sich des Satzes bedient, der aus gesprochenem Wort sich bildet, so ist es die Gestengestalt, die sich in einzelne Bewegungsformen gliedert; diese Bewegungsformen aber veranlassen Gruppen von Muskeln das zu vollziehen, was die Geste fordert.

Empfinde ich Abwehr, dann stehen dieser Empfindung verschiedene Bewegungsgestalten zur Verfügung; diese Letzteren holen sich bestimmte Muskelgruppen aus dem gesamten Bewegungsapparat heraus und vollziehen mit diesen eine Bewegung, an welcher der ganze Bewegungsapparat beteiligt ist.

Verlangen und Abwehr, Sympathie und Antipathie, Zorn und Angst, Furcht und Mut, sie alle haben ihnen zugehörige Bewegungsformen. Aber auch verfeinerte Gefühle und Empfindungen, wie Lauschen und Hingabe, Freude und Schmerz, Weinen und Lachen, verfügen über Gestaltgesten, die ihnen dienen. Und lernt erst der Mensch zu schreiben und zu weben, zu schnitzen und zu malen, zu hämmern und zu schmieden, so werden Bewegungsformen erworben, die ihm dann nicht nur als kreatürliche, sondern als erworbene angehören.

Die fundamentalste dieser erworbenen Bewegungsformen, eine das ganze menschliche Leben durchdringende Geste, ist der aufrechte Gang. Damit erhebt sich der Mensch in eine Stellung, die es ihm fortgesetzt zur Aufgabe macht, sich mit der Erdenschwere auseinanderzusetzen. Das vierbeinige Tier ist im Gleichgewicht mit dieser Schwere; der Mensch aber muss erlernen, sich kontinuierlich aufrecht zu halten und in dieser Aufrechtheit nicht nur frei zu ruhen, sondern sich auch unbeschwert zu bewegen.

Wie erwirbt er sich diese Fähigkeit, die einen dauernden Einsatz seiner Person erfordert?

Herausbildung des menschlichen Ganges

Die Bewegungsfähigkeit des Säuglings entsteht nicht erst nach der Geburt, sondern ist schon während der Embryonalentwicklung vorhanden. Vom Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats an können Bewegungen des Embryos registriert werden, die sich dann im Laufe des fünften Monats so verstärken, dass die Mutter sie wahrnimmt.

Nach der Geburt hat der Säugling zunächst eine allgemeine Beweglichkeit, aus der sich einige spezielle Bewegungsformen herausheben. Bald nach der Geburt, in dem Augenblick, da ihm die Brust gereicht wird, kann der Säugling, vollkommene Saugbewegungen ausführen. Er beherrscht auch vom Moment der Geburt an die Atembewegung. Die Bewegungsform der Abwehr durch Furcht ist vorhanden, und über den ganzen Körper verteilt sind die Strampelbewegungen, die, völlig ungezielt und unkoordiniert, als Ausdruck von Wohlsein und Unwohlsein erscheinen. William Stern bezeichnet die Letzteren als Spontanbewegungen und weist darauf hin, dass diese noch in einer dissoziierten Art verlaufen. «So können viele Neugeborene jedes Auge für sich wandern lassen: das eine dreht sich nach oben, das andere nach außen, oder eines bleibt still, während das andere sich nach unten bewegt.»1

Es ist berechtigt, dass Stern gerade auf die Augenbewegungen hinweist, denn die Koordination derselben erfolgt auffallend rasch. «Zuweilen ist diese Epoche [der Dissoziation der Augenbewegungen] bereits im Moment der Geburt überwunden, sodass bei diesen Kindern nur koordinierte Augenbewegungen vorkommen.»2

Es heben sich also die gezielten Augenbewegungen schon in den ersten Lebenstagen aus dem allgemeinen Bewegungschaos des Strampelns heraus. Damit aber fängt bereits jener Bewegungsprozess an, der etwa am Ende des ersten Jahres mit der Fertigkeit des aufrechten Ganges vollendet sein wird.

Das Kind erwirbt sich dadurch eine allererste Herrschaft über den Raum. Das Erlernen dieser Fähigkeit aber folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die am Kopf und am Hals ihren Anfang nehmen und über Brust, Arme und Rücken sich allmählich auf die Beine und Füße ausbreiten.

Ganz allgemein gesprochen, erwirbt das Kind im ersten Vierteljahr eine Herrschaft über seine Kopf- und Halsbewegungen. Im zweiten Vierteljahr werden Arme und Hände aus dem allgemeinen Strampeln herausgehoben. Das Kind wird dann zum «Greifling».3 Dadurch aber lernt es am Ende dieser Periode frei zu sitzen.

Im dritten Vierteljahr werden die Beine «entdeckt», und das Stehen wird geübt. Im letzten Vierteljahr versucht das Kind das Stehen in die ersten freien Schritte überzuführen und erlebt dadurch die Füße als die den Boden berührenden Organe. Die erste Eroberung des Raumes ist damit vollzogen.

Dieser Prozess schiebt sich vom Kopf über Brust und Beine in die Füße hinein; er zeigt also einen den Körper von oben nach unten durchlaufenden Weg. Fragt man nach dem Sinn dieses Geschehens, dann wird es wohl ansichtig, dass hiermit die Körperhaltung des Oben – Unten unmittelbar veranlagt wird. Der Kopf löst sich sozusagen als erstes Glied aus dem Bewegungschaos los; die Brust und die Arme werden nachgeschoben, und zuletzt ziehen sich die Beine und Füße heraus. Das aber ergibt ein Bild, welches dem Geburtsakt nachgebildet zu sein scheint. Wie zuerst der Kopf austritt, um allmählich vom übrigen Leib gefolgt zu werden, so gebiert sich auch hier, aus dem Uterus der dissoziierten Bewegungen, Schritt für Schritt die auf Stehen und Gehen hingeordnete koordinierte Bewegung. Gegen Ende des ersten Jahres ist dieser Geburtsakt vollendet.

Damit aber wird erreicht, dass der Kopf nach oben weist und die Füße die Erde berühren. Der Kopf erwirbt dadurch eine Art Ruhestellung, auf die Rudolf Steiner immer wieder hingewiesen hat. Der Kopf schwebt auf den Schultern und wird zum Ruhepunkt, um den herum sich die Bewegungen der Gliedmaßen vollziehen können. Die Untersuchungen der Halte- und Stellreflexe, die von Magnus und de Kleijn4 in so grundlegender Art durchgeführt wurden, haben die zentrale Stellung der Hals- und Kopfmuskeln aufgezeigt. Der Kopf muss eine unabhängige Ruhestellung einnehmen können, damit eine freie und harmonische Beweglichkeit der Gliedmaßen ermöglicht wird. Das aber gilt vor allem für die Fertigkeit des Gehens. Ein Mensch, der seinen Kopf ruhend aufrecht halten kann, hat auch das Gehen erlernt; solange aber der Kopf in der Gesamtheit des Bewegens mitzappelt und baumelt, kann sich ein richtiges Gehen und Schreiten nicht entfalten.

Erst nach dem ersten Jahr lernt das Kind auch seine Arme aus dem Gehakt zu befreien und sie unabhängig davon zu gebrauchen; das geschieht aber auch nur dadurch, dass sich die Fixation der Ruhestellung des Kopfes immer mehr festigt und dem freien Spiel der Gliedmaßen unabhängig gegenüberzustehen lernt. Der ruhende Pol in der Bewegung Flucht zu sein: das ist die Aufgabe des Hauptes im Reich der Beweglichkeit.

Zusammenfassend kann das so ausgedrückt werden, dass wir sagen: Der Säugling lernt dadurch gehen, dass er sich schrittweise, vom Kopf nach abwärts, aus dem Bewegungschaos herausgebiert. Damit aber erwirbt das Haupt die Ruhehaltung, der die freie Beweglichkeit der Gliedmaßen entgegensteht. Diese haben sich, wenn die aufrechte Haltung erreicht ist, mit den Schwerekräften des Raumes dauernd auseinanderzusetzen; denn der Mensch muss, als aufrechtes Wesen, nicht eine stabile, sondern ein labile Gleichgewichtslage einnehmen.

Trennung zwischen Selbst und Welt

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Koordination der Augenbewegungen unmittelbar nach der Geburt erreicht wird; dadurch erwirbt der Säugling die ersten Ansätze dessen, was später zum Blick und zum Blicken wird. Die Augen lernen, sich auf einen bestimmten Punkt der Außenwelt zu richten.

Bedenkt man, dass damit der erste Haltepunkt in der Beziehung zwischen der Seele und ihrer Umwelt errichtet wird, so kann die fundamentale Wichtigkeit des Sehens als menschlicher Akt noch ersichtlicher werden. Es sind die Augen, vermittels derer wir schon in den ersten Tagen unseres Erdenlebens eine bewusste Beziehung zur Umwelt herzustellen versuchen; nicht, dass der Säugling dann schon wahrnehmen kann, aber er beginnt mit dem Blick die sich allmählich erschließende Umwelt abzutasten. Damit entsteht eine allererste, wenn auch dumpfe Empfindung des «Dort» im Gegensatz zum «Selbst». Dieses noch dumpfe Gefühl wird sich im Laufe des ersten Lebensjahres langsam erhellen und den Gegensatz zwischen dem Empfinden des eigenen Körpers und der umliegenden Welt schrittweise herbeiführen; denn für den Säugling ist noch ein volles Verwobensein zwischen draußen und drinnen, zwischen dort und hier vorhanden. Adalbert Stifter hat das im Fragment seiner Selbstbiografie so ausgedrückt: «Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, wie vernichtend in mein Wesen eindrang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muss sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum. Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: es waren Klänge. Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wider, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr. Diese Demi-Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeer der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes.»5