Birte Müller

WO EIN WILLI IST,
IST AUCH EIN WEG

Verlag Freies Geistesleben

Vorwort

Alles gut? Muss ja!

Sprache schafft Wirklichkeit (nicht ab)

Die Familie von der anderen Seite des Zauns

Inklusion vor der Haustür

Kinder an der Macht? Nein danke!

Wer will wirklich wilde Racker?

Rollenvorbilder: Rosa oder Riesenschlange?

Freundebücher

Unerwartete Erwartung

Mehr lernen!

Einschulungsirrsinn

Ganz harte Schule: Ranzenkauf

Albtraum Hausaufgaben

Auftritt Willi

Wenn mein Mann die Kinder anzieht

Wer macht mehr?

Noch können

Sich gut verstehen

Erlebnisleben

Fasching – look-alike dress up party!

Der Willi mit dem Grilli

Die Alten

Willi, Tiere und Menschen

Weltentschleunigung

Noch mehr Effizienzirrsinn

Alles ganz normal eigentlich

Task-Force Willi

Ich wollte Gelb!

Therapieterror

Geschwisterkinder im Rampenlicht

Wegwerfgesellschaft I

Wegwerfgesellschaft II

Einfach ist gar nichts!

Geburtstags-Hyperaktivitäts-Syndrom

«Was macht ihr?»

Wie man’s falsch macht – Bullshit-Bingo

Willi-Therapie

Zucht und Unordnung

Konsequenz

Premiumkinder

Es hat eben nicht jeder so viel Glück!

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Fußnoten

VORWORT

Wenn ich in irgendetwas nicht gut bin, dann ist es Zeitmanagement. Seit Jahren steht – neben dem Wunsch, glücklich zu sein – nur ein einziges weiteres Vorhaben auf meiner Liste der guten Vorsätze für das neue Jahr: weniger machen!

Aber wann immer es mir gelingt, auch nur ansatzweise das Gefühl zu bekommen, meine Arbeit und sonstigen Pläne seien einigermaßen überschaubar, stopfe ich das potenzielle Zeitfenster mit neuen Projektideen voll: professionelle Gebärdenfilme für Willi, einen schulübergreifenden Bastelwahnsinn als Spendenaktion für «Hände für Kinder»… Wobei mir jederzeit so viel einfällt, dass ich mich gar nicht entscheiden kann. Auf die Idee, mal mein Arbeitszimmer aufzuräumen – durchaus auch ein Großvorhaben –, komme ich dabei nicht.

Einzelne, überraschend freiwerdende Stunden werden spontan für die Entsaftung von (bergeweise!) Fallobst oder zum Nähen eines Kostüms für Olivia verwendet, was sich dann natürlich immer bis spät in die Nacht hinzieht. Mein Mann ist anders. Er schüttelt nur noch den Kopf über meinen ewigen Hyperaktivismus, was mich natürlich nervt. Er durchschaut, dass das Pressen von Apfelsaft vielleicht nur eine Stunde dauert, die Vor- und Nachbereitung aber ebenfalls Zeit beanspruchen – und zwar sogar deutlich mehr Zeit. Ich dagegen überschätze mich immer heillos! Deswegen ist Matthias am nächsten Tag meist derjenige, der die Saftreste von allen Küchenfronten schrubben muss, was natürlich ihn nervt.

Dieses Jahr an Weihnachten, meinem traditionellen Super-Gau der persönlichen Selbstüberschätzung, wollte ich mal wirklich alles besser machen. Und es wäre mir auch fast gelungen: ein gekaufter Adventskranz, keine selbst gebastelten Weihnachtsgeschenke, kein Lebkuchenhaus und keine einzige Lesung im Dezember! Ich war stolz auf mich. Alle Texte für dieses Buch waren fertig und abgegeben, es fehlten nur noch fünf Bilder – bis zum Beginn der Ferien machbar!

Und dann werden doch tatsächlich beide Kinder und der Mann krank.

Es muss ein genetischer Vorteil sein, eine Überlebensstrategie, die sich seit Urzeiten des Mann-Seins zurechtevolutioniert hat: Wenn ich sage, dass ich Halsschmerzen bekomme, legt sich Matthias krank ins Bett. Bei spuckenden Kindern funktioniert dieser männliche Schutzmechanismus ebenfalls einwandfrei.

Und dann schreibt mir mein Lektor auch noch eine E-Mail, dass wir ein Vorwort für dieses Buch brauchen! Das geht jetzt wirklich zu weit, das schaffe ich nicht auch noch. Aber ich soll im Vorwort erklären, dass dies die zweite Willi-Texte-Sammlung ist, entstanden hauptsächlich aus den ungekürzten Kolumnen, die unter «Willis Welt» und «Mama Müller» in dem Lebensmagazin a tempo erschienen sind sowie bei Spiegel Online unter dem Titel «Ganz harte Schule». Das sei hiermit getan.

Ich hoffe, das reicht, und alles andere erklärt sich von selbst. Und ich leiste jetzt schon mal Abbitte gegenüber allen Therapeutinnen und Therapeuten dieser Welt: Wir lieben euch und brauchen euch, aber das, was ich da ab Seite 142 schreibe, musste mal raus …

Jetzt muss ich aber Schluss machen, denn ich sollte dringend für die Kinder noch Geschenke besorgen und für heute Nachmittag einen Keksteig vorbereiten. Und die fünf Bilder, die fehlen ja auch noch!

Hamburg, im Advent 2016 Birte Müller

ALLES GUT? MUSS JA!

Manchmal wäre ich gerne eine Amerikanerin. Die kann nämlich vielfach täglich auf die Frage «How are you?» einfach lächelnd mit «Thanks, fine» antworten – selbst wenn sie zu Hause ein geistig schwerbehindertes Kind hat, das sich mit sieben Jahren noch nicht halbwegs selber anziehen kann, und dazu noch eine kleine diktatorische Tochter, die sich dafür gerne täglich bis zu zehnmal neu einkleidet. Egal, was für ein nervliches Wrack eine Amerikanerin ist, sie sagt «fine» und packt weiter Einkäufe in den Wagen oder bestellt einen Kaffee.

Aber ich bin eine Deutsche. Ich stelle mir jedes Mal wirklich die Frage, wie es mir geht. Und irgendwie kommt mir das Leben immer zu komplex vor, um einfach sagen zu können: «Alles super, danke.» Ich will es meinem Gegenüber nicht so einfach machen – und es wäre ja auch eine Lüge. Andererseits kann (und will) ich auch nicht ständig erklären, was bei uns zu Hause so abläuft! Und selbst wenn mal alles ganz gut läuft, muss man nur einmal in der Woche Tagesschau gucken, um sich für die nächsten sieben Tage wieder vollkommen zu deprimieren.

Doch wenn ich ehrlich bin, beziehe ich mein «aber» nach «eigentlich ganz gut» (was anscheinend mein maximaler Wohlfühlgrad ist) nicht auf die Nachrichten über Flüchtlinge aus Syrien. Ich habe ja meinen eigenen kleinen Flüchtling zu Hause, der sich, wenn ich vielleicht doch mal ganz kurz auf die Toilette gegangen sein sollte, ohne vorher das Haus zu verrammeln, umgehend auf einen kleinen Spaziergang begibt. Zum Glück ist meine Tochter Olivia mittlerweile so groß, dass ich ihr kurz zurufen kann, dass ich nur eben Willi einfangen gehe. Ich muss sie nicht mehr bei der Verfolgungsjagd auf dem Arm mitschleppen. Und auch Willi ist nun so weit, dass er meist nach einem kleinen gemeinsamen Spaziergang auf Socken durch die Siedlung, mit kurzem Zwischenstopp an der Korbschaukel, wieder mit mir zurück nach Hause kommt.

Aber meine Ansprüche wachsen anscheinend mit den Kindern mit.

Zu sagen, dass es mir schlecht gehe, wäre aber auch vollkommener Quatsch. Einige Menschen denken ja anscheinend, dass es einem mit einem behinderten Kind die ganze Zeit elend geht. Als wir letzten Sommer auf Kur waren, gab es da einen kleinen Jungen, der mich durchgehend mit Fragen zu Willi bombardierte: «Warum macht er so komische Geräusche?»–«Warum sitzt er unterm Tisch?»–«Warum tut er Weintrauben in seine Milch?»… Allesamt sehr berechtigte Fragen, auf die ich auch ganz gerne Antworten hätte. Seine Mutter versuchte immer, ihn sofort wegzuzerren, und sagte in allen erdenklichen Varianten sinngemäß: «Die Frau hat doch schon genug zu leiden.» Komisch, ich kam mir eigentlich gerade ganz glücklich vor, ich hätte auf der Kur sogar glatt auf die Wie-geht’s-Frage mit «gut» antworten können, wenn ich nicht schon wieder so kompliziert gedacht hätte, dass es doch irgendwie traurig ist, wenn man überhaupt eine Kur nötig hat.

Na ja, ich habe hoffentlich noch ein paar Jahre Zeit, von Meister Willi zu lernen, nicht immer um die Ecke zu denken. Und bis dahin antworte ich mit etwas, was nach einer Floskel klingt, aber in dem ganz viel Wahrheit steckt, nämlich mit: «Es muss ja.»

Unser Leben ist nun mal einfach so, wie es ist.

Unsere wunderbare Großtante Lotti ist mein Vorbild. Sie hat in ihrer Kindheit auf der Flucht aus Ostpreußen alles verloren. Bei Familienfesten sitzt sie mit Tränen in den Augen auf unserer Terrasse, schaut auf die vielen Kinder, drückt mich an sich und sagt, dass sich ihr Lebenstraum erfüllt habe, nämlich eines Tages wieder eine große Familie um sich zu haben – sie ist entspannter und glücklicher als meine ganze Generation zusammen. Fragen, ob nun zwei Kartoffelsalate auf dem Büfett stehen oder das falsche Bier gekauft wurde, interessieren sie nicht.

Wenn Tante Lotti von der Vertreibung erzählt, muss ich an diejenigen Menschen denken, die damals und auch heute in dem unvorstellbaren Leid des Krieges und der Flucht behinderte oder kranke Angehörige haben. Die Vorstellung, einen Willi in so schweren Zeiten zu haben, ist so furchtbar! Dann weiß ich: Mir geht es doch gut, sehr gut sogar.

SPRACHE SCHAFFT WIRKLICHKEIT (NICHT AB)

Kinder lernen im Kindergarten wahrlich viel voneinander – und nicht nur Schimpfwörter und Karate-Kicks! Olivia brachte schon in den ersten Wochen das «Um-die-Wette-Prinzip» mit nach Hause. Als ich sie auf die Toilette begleitete, rief sie plötzlich an der Tür im Ätschibätsch-Tonfall: «Ich habe gewonnen, du bist Sieger!» Als ich nicht weiter reagierte, weil ich solche Wettbewerbe generell – und besonders solche, an denen ich nicht mal wissentlich teilgenommen habe – nicht mag, wiederholte sie mehrmals jubilierend: «Ich hab gewonnen, du bist Sieger!» Nun war ich aber doch neugierig geworden, denn tatsächlich konnte ich ihr nicht folgen. Also fragte ich nach, wer denn nun von uns der Gewinner sei. Da erklärte meine Tochter mir genervt, dass sie doch eindeutig Erste gewesen sei und ich folglich nur der zweite Sieger, also der Verlierer!

Was für ein wunderbares Beispiel dafür, wie ambitionierte Pädagogen versucht haben, durch die Verklausulierung des Wortes «Verlierer» eine Wirklichkeit zu schaffen, in der alle Kinder «Gewinner» sind. Doch damit kann man in unserer Leistungsgesellschaft keinen Dreijährigen austricksen. Einer gewinnt – einer verliert: fertig!

Auch beim Thema «Behinderung» versucht man ja mit Vorliebe, durch neue Wortverschwurbelungen eine Realität zu kaschieren, die sich aber nicht kaschieren lässt – und meiner Meinung nach auch nicht kaschiert werden muss. Jüngst hörte ich für «geistig behindert» die Unwortkreation «praktisch bildbar». Grausam! Warum um etwas herumreden, was Fakt ist? Mein Sohn ist geistig behindert. Das muss aus meiner Sicht auch nicht beschönigt werden, weil daran gar nichts Schlimmes ist.

Klar, Willi wird viele Dinge niemals lernen können, und unser Alltag ist anstrengend. Aber Behinderung ist unsere Realität, und ich erwarte von unserer Gesellschaft, das so anzunehmen, wie ich mein Kind annehme. Ich bin weder bereit, uns als Opfer eines diskriminierenden und uns behindernden Umfeldes zu sehen noch unser Leben heldenhaft zu beschönigen.

Die Bezeichnung «geistig behindert» wird vielerorts diskutiert. Ich finde es sehr traurig, dass selbst zahlreiche betroffene Menschen es nicht mehr hören mögen. Aber ich bin nicht bereit, diese Bezeichnung jenen zu überlassen, die denken, ein Mensch mit Behinderung sei weniger wert. Ich möchte sie zurückerobern, so wie es die Schwulenbewegung mit dem Wort «schwul» geschafft hat. Mein Kind ist behindert – na und? Ich bin stolz auf meine Kinder, so wie sie sind!

Und wenn man wirklich meint, mit Sprache die Welt verändern zu können, dann sollten wir das Wort «behindert» vielleicht lieber mal aus anderen, extrem negativen Zusammenhängen herausstreichen: Solange es in den Nachrichten heißt, dass es durch Bahn- oder Fluglotsenstreiks zu «Behinderungen» kommen wird, kann das Wort niemals unbelastet sein! Vielleicht sollte man es mal versuchen mit der Aussage: «Bahnkunden sind ab morgen mal wieder die zweiten Gewinner.»

Aber auf jeden Fall muss «behindert» als Schimpfwort überall ein absolutes No-Go sein! Seit ich einmal auf dem Schulhof gehört habe, wie ein Proll den anderen mit «Ey, du I-Kind!» angepöbelt hat, stelle ich mir manchmal vor, wie sich wohl in den nächsten Jahren die Pubertierenden unterhalten werden, wenn wir immer nur die Wörter austauschen, es aber nicht schaffen, die Einstellung der Menschen zu verändern. Heißt es dann: «Digger, die Party gestern war ja so anders begabt» oder «Alder, wie beeinträchtigt ist die Jacke denn!»? Ich freue mich schon auf den Ausruf: «Hast du Förderbedarf, oder was?» Leider mache ich es mir wohl zu einfach, wenn ich meine, dass nur irgendwelche Idioten «behindert» und «schwul» als Synonym für das selbst schon fragwürdige Adjektiv «scheiße» benutzen.

Manche mögen meinen, dass man mit einem behinderten Kind gesellschaftlich ein Verlierer ist. Aber wir sind nicht die «zweiten Sieger»!

Ich bin wahrhaft glücklich, dass ich nicht Teil der Elternschaft sein muss, die beim Dosenwerfen vollkommen verspannt neben ihren ehrgeizigen Kindern steht und darauf starrt, ob Linus-Marten die Linie übertreten hat und deswegen eigentlich Hannah-Sophie die Gewinnerin sein müsste … Mein behinderter Sohn Willi, der den Sinn und Zweck von Wettkämpfen (und von überflüssigen Wortschöpfungen) überhaupt nicht begreift, ist bei jedem Wettlauf einfach immer der, der am meisten Spaß hat!

DIE FAMILIE VON DER ANDEREN SEITE DES ZAUNS

Als ich Kind war, fuhr ich regelmäßig mit dem Fahrrad an einer Wohnanlage für behinderte Menschen vorbei. Ich schaute dort immer in den eingezäunten Garten. Ich fand es faszinierend, im Vorbeifahren diese sonderbaren Menschen zu betrachten.

Am Stadtrand Hamburgs gibt es seit knapp zwei Jahren eine Einrichtung zum Kurzzeitwohnen für schwerbehinderte Kinder: den Neuen Kupferhof. Es gibt mehrere Orte, an denen Willi allein Ferien machen könnte, sodass mein Mann und ich auch mal Erholung und Zeit nur mit Olivia haben, aber keiner ist wie dieser. Das Besondere ist, dass hier auch die Eltern und Geschwister mitwohnen dürfen. Man kann sein Kind vierundzwanzig Stunden am Tag betreuen lassen. Muss es aber nicht. Wann immer es die Eltern wünschen, verbringen sie Zeit mit ihrem behinderten Kind, essen gemeinsam oder bringen es zu Bett – ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen oder ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Niemand erzählt einem, dass es besser für das Kind sei, wenn die Mutter lieber gar nicht auftaucht, oder verdreht die Augen, wenn man sein Kind in dem Moment, wo die Windel voll ist, wieder an die Pfleger übergibt.

Es handelt sich um eine wunderschöne Villa, die aufwendig renoviert wurde und (in meinen Augen) geradezu luxuriös eingerichtet ist. Es wirkt an keiner Stelle wie ein Heim, eher wie ein familiäres Hotel der Oberklasse. Im ganzen Haus ist Parkett verlegt, und es muss ein Lichtdesigner am Werk gewesen sein. Der Speisesaal wirkt wie ein gemütliches Café. Umgeben ist der Prachtbau von einem traumhaften (und natürlich gut eingezäunten) Garten, ausgestattet mit Gokarts, Schaukeln (auch für Rollstühle!), Fußballtoren und schicken Gartenmöbeln.

Zusätzlich zum Personal wird der Kupferhof von vielen Freiwilligen unterstützt. Sie bieten Unternehmungen mit den Geschwisterkindern an, Mal- oder Häkelkurse mit den Müttern oder Musizieren für die Kinder. Sie bringen Therapiehunde mit, helfen im Garten, in der Küche und überall. Ein Großteil der Inneneinrichtung besteht aus Sachspenden: In allen Zimmern gibt es deswegen Flachbildschirme und stylische CD-Spieler, der Fernseher im Elternzimmer hat die gefühlte Größe eines Handballtores – mit einer gigantischen DVD- und BlueRay-Kollektion dazu. Im Keller stehen eine Tischtennisplatte, ein Kicker und ein Billardtisch.

Ich musste viel nachdenken über diesen Luxus. Wenn ein Haus mit Spenden eingerichtet wird, erwarte ich ein Sammelsurium aus ausrangierten Dingen – und das hätte ich durchaus in Ordnung gefunden. Ich bekam auch regelrecht ein schlechtes Gewissen, dass Ehrenamtliche für uns ihre Freizeit opfern. In mir hockte fest der Gedanke, dass wir das alles gar nicht wirklich nötig hätten.

Bei unserem ersten Aufenthalt im Kupferhof letzten Herbst ging ich in einer dieser herrlichen Pausen, die ich von zu Hause gar nicht kenne, in den Speisesaal. Ich schaute mir das Teesortiment an und wählte ein pyramidenförmiges seidiges Beutelchen mit duftenden Teeblättern darin. Hätte man mich vorher gefragt, ob ich so einen edlen Tee brauche, ich hätte mit Nein geantwortet. Doch plötzlich musste ich vor Freude weinen. Mir liefen die Tränen, weil dieser Ort mir sagte: Doch, du bist das wert! Diesen kleinen Luxus, du hast ihn verdient. Und gleichzeitig übermannte mich das Bewusstsein: Ja, du hast es nötig, hier zu sein!

Ich setzte mich mit meinem Tee auf die Terrasse. Es war ein schöner Tag. Hinter dem Zaun gingen viele Menschen spazieren, und sie schauten in den Garten zu meinem Sohn Willi und den anderen Kindern. Mir wurde klar, dass nun wir die Familie auf der anderen Seite des Zaunes sind – und das schmerzte mich nicht. Danke für diesen Ort!

INKLUSION VOR DER HAUSTÜR

In der Siedlung, in die wir nach der Geburt unseres zweiten Kindes gezogen sind, gibt es mehrere Wohngruppen schwerbehinderter Menschen. Einige der Bewohner sind sehr kontaktfreudig. Am Anfang hatte ich ernsthafte Hemmungen, mich auf Gespräche oder gar auf Berührungen mit den neuen Nachbarn einzulassen – auch deshalb, weil ich einige Bewohner nur schwer verstehen kann und es mir unhöflich vorkam, immer wieder nachzufragen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich auch Angst, mich als potenzielles Gesprächsopfer zu outen, weil ich befürchtete, den einen oder anderen bald ständig an der Backe zu haben.

Dann stellte ich mir vor, dass Willi, damals erst zwei Jahre alt, auch einmal erwachsen sein würde und vielleicht auch irgendwann mal seinen Nachbarn die Hände schütteln möchte und ein paar (wenn auch unverständliche) Worte an sie richten möchte.

Sobald von Inklusion die Rede ist, bekommt man den Eindruck, dass es dabei immer nur um gemeinsamen Schulunterricht behinderter und nicht behinderter Kinder gehe. Aber natürlich fängt Inklusion immer genau vor unserer eigenen Haustür an. Und wenn selbst die Mutter eines behinderten Kindes anderen behinderten Menschen auf der Straße aus dem Weg geht, nur weil es ihr zu peinlich ist, die gehörlose Nachbarin nicht zu verstehen oder einen angeleckten Lolli dankend ablehnen zu müssen, dann kann Inklusion ja niemals funktionieren!

Ich überwand also meine Scheu und blickte nicht mehr zufällig in die andere Richtung, wenn einer der redseligen Nachbarn aus der Wohngruppe vor mir im Supermarkt in der Schlange stand – die übrigens durch diese Menschen immer angenehm entschleunigt und erheitert wird.

Es hat sich gelohnt. Heute brüllt Hermann mir schon aus dreißig Metern Entfernung sein militärisches «Gutentag» entgegen. Natürlich nimmt er auch jedes Mal Haltung an. Ich weiß ein Pläuschchen mit ihm jetzt sehr zu schätzen. Es ist deutlich amüsanter als normaler Smalltalk! Gerade gestern bei Aldi habe ich (und alle anderen Kunden) erfahren, dass Hermann in das Haus 3 umzieht, weil da gerade einer gestorben sei. «Der wurde eingeschläfert!», brüllt er mir im Flüsterton ins Ohr. Ich kann Hermann leider nicht davon überzeugen, dass sein Kollege sicher nicht eingeschläfert wurde. Als Nächstes informiert er mich darüber, dass die Frau vor ihm in der Schlange einen Riesen-Arsch hat und dass Fritzchen aus Haus 1 im Krankenhaus ist.

Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Seit Wochen ist Fritzchen nicht mehr mit seinem Rollator an unserem Gartenzaun vorbeigeschlurft. Dort hält er am Tor immer eine Weile an, um einem von uns die Hand zu schütteln und seine Lieblingsstereotypen loszuwerden: SchönesWetterheute. BisschenBewegung, istgutfürdieHüfte. Ich mussdannmalwieder.

Vielleicht kommt es dem einen oder anderen eigenartig vor, dass ich einen älteren Herrn mit einem Spitznamen anspreche, aber ich kenne seinen Nachnamen einfach nicht. Fritzchen sagt zu jedem «du», stellt sich mit Fritzchen vor und reicht einem seine Hand. Am Anfang hielt ich es für politisch korrekt, ihn trotzdem zu siezen, aber auf die Dauer kam es mir doch albern vor. Lange dachte ich, dass man von Fritzchen nichts anderes hören könne als immer nur dieselben Phrasen übers schöne Wetter. Aber seit er Vertrauen zu uns gefasst hat, habe ich Stück für Stück erfahren, dass er über siebzig ist und sein Vater sehr streng war. Sie besaßen einen Bauernhof. Fritzchen sagt, er musste immer hart arbeiten. Er hat bis zum Tod seiner Mutter bei ihr gewohnt. Sie ist mit sechsundachtzig Jahren gestorben. Er vermisst Mami jeden Tag.

Und ich vermisse Fritzchen. Ich weiß, dass nicht jeder ihm die Hand reichen mag und viel über ihn geredet wird. Aber was macht es schon, dass er manchmal auf den Waldweg hinter den Häusern pinkelt und dann vergisst, die Hose zu schließen? Statt sich darüber aufzuregen, könnte man ja auch einfach zu ihm gehen und ihn darauf aufmerksam machen. Zugegeben, ich habe das auch noch nicht getan, weil ich weiß, dass er keine Reißverschlüsse zumachen kann, und ihm den Hosenstall zu schließen habe ich nun auch keine Lust.

Ich hatte mich übrigens getäuscht, als ich dachte, ich müsste mich dann ständig mit den Bewohnern der Behindertenwohngruppen unterhalten. Ich kann zu Hermann wie zu jedem anderen Menschen sagen «Ich hab keine Zeit grad, schönen Tag noch» und weitereilen. Fritzchen braucht zwar seinen Handschlag und sein Schöneswetterheute­-bisschenBewegungist­gutfürdieHüfte-­ichmussdannmal wieder, selbst im strömenden Regen, aber so viel Zeit muss sein!

Manchmal denke ich, der Hauptnutzen schulischer Inklusion liegt nicht unbedingt darin, dass Kinder dabei mehr oder weniger Schulstoff lernen, sondern dass eine neue Generation von Menschen mit weniger Berührungsängsten heranwächst. Und irgendwann gibt es dann bei Aldi eine extra Kasse, die «Slow-Lane», an der eine Kassiererin mit Down-Syndrom alles so gemächlich einscannt, dass ich meinen Einkauf nebenbei ganz in Ruhe in meine Tasche packen kann.

Das fände ich toll – aber wohl auch nur, solange sie nichts über meinen Hintern sagt …

KINDER AN DER MACHT?
NEIN DANKE!

Es gab eine Zeit, in der Willi eine sehr schlechte Prognose hatte. Er hatte am Ende seines ersten Lebensjahres eine schwere Epilepsie bekommen, und wir fanden kein Medikament, um die Anfälle einzustellen. Es hieß, er werde sich wahrscheinlich nicht mehr weiterentwickeln. Was das bedeutete, wurde mir erst klar, als uns der Kinderarzt einen Therapiestuhl empfahl, bei dem es zu allen Seiten Stützen gab, auch für das Köpfchen des Kindes, den Willi vielleicht nie selber würde halten können.

Neulich habe ich den Zettel gefunden, auf den ich in meiner Verzweiflung drei große Wünsche für das Leben meines Sohnes geschrieben hatte: Ganz oben stand, dass mein Willi wieder lachen sollte. Als Zweites, dass er eines Tages das Laufen lernen sollte (wenn ich allerdings gewusst hätte, wie anstrengend das sein würde, hätte ich es vielleicht verschoben auf nach die «Alles-muss-überall-heruntergezogen-und-jeder-Schrank-muss-ausgeräumt werden-Phase»). Der dritte Wunsch für meinen Sohn war, dass er lernen sollte, uns zu zeigen, was er möchte und was er nicht möchte. Er sollte irgendwie seine Bedürfnisse ausdrücken können.

Wie durch ein Wunder gingen alle meine Wünsche in Erfüllung. Willi macht uns jeden Tag Freude mit seinem unverstellten Lachen, er läuft munter umher – und sogar mittlerweile oft in die Richtung, in die ich will –, und er kann mir ganz klar zeigen, dass er keine Lust hat, auf die Toilette zu gehen, sondern dafür viel lieber im Auto (mit Blasmusik) zu Oma und Opa fahren möchte, um dort Geburtstag zu feiern. Wenn wir erklären, dass gar keiner Geburtstag hat, hält Willi das sicher für ziemlich kleinlich: Kuchen und Singen geht doch immer!

Auch meine Tochter wollte ich natürlich zu einem Menschen erziehen, der seine Bedürfnisse gut wahrnehmen, ausdrücken und durchsetzen kann – auch um sich neben ihrem behinderten Bruder behaupten zu können. Wenn mir meine Erziehungsvorhaben bis jetzt sicher nicht alle gelungen sind: das habe ich ganz gut hinbekommen! Ich hatte es mir allerdings nicht so vorgestellt, dass dabei eine diktatorische Prinzessin herauskommen würde, die ihre Allmachtfantasien an ihren Eltern auslebt – aber so ist es gekommen.

Wir sind übrigens nicht die Einzigen, die es geschafft haben – positiv ausgedrückt –, ihre Tochter zu einer sehr starken Persönlichkeit zu erziehen. Ich finde es grundsätzlich toll, dass die Kinder von heute einfach Bescheid sagen, wenn sie etwas essen oder trinken möchten. In meiner Erinnerung waren mein großer Bruder und ich früher sehr schüchtern – wenigstens bei anderen Leuten. Wenn wir Durst hatten, dann flüsterten wir das unseren Freunden verschämt ins Ohr, und die gingen dann zu ihrer Mutter, um zu fragen, ob wir etwas trinken durften. Ich hatte eine Freundin, die war Einzelkind, und ihre Mutter stellte uns oft einen Teller mit Apfel- und Gurkenstückchen hin. Ich fand die Mutter soo toll!

Olivia hat Freundinnen, die sich schon mit vier Jahren vor mir aufgebaut haben und mich in vorwurfsvollem Tonfall anschnauzten: «Ich hab Hunger!» Weil ich auch eine tolle Mutter sein wollte, hatte ich manchmal im Garten auf einer Decke schon eine Art Catering mit verschiedenen Sorten Saft und geschnittenem Obst für die Mädchen aufgebaut.

Sätze wie «Ich will so was nicht, ich will Süßigkeiten!» haben mich allerdings davon kuriert, eine tolle Mutter sein zu wollen. So etwas hätte sich in meiner Kindheit niemand getraut – na ja, außer vielleicht Kinder wie Willi, denen gesellschaftliche Konventionen fremd sind. Aber mein Sohn lächelt wenigstens, wenn er bei fremden Leuten im Café in die Sahnetorte grabscht.

Wir trauten uns früher kaum, bei den Freunden zu klingeln, immer feilschten mein Bruder und ich, wer vortreten und den Knopf drücken musste – meistens musste ich es tun, weil er noch mehr Angst hatte als ich. Bei uns klingeln die fremden Kinder heute einfach Sturm und marschieren dann mit ihren Dreckschuhen grußlos an mir vorbei ins Haus. Bestenfalls teilen sie mir noch mit, was sie essen wollen und was ich mit ihnen an dem Tag basteln soll – sie sind so selbstbewusst, dass sie mir richtig Angst machen!

Wir wollten unsere Kinder zu gefestigten Persönlichkeiten erziehen, und herausgekommen sind Terrorzicken, die uns wie Leibeigene herumkommandieren. Ich bete, dass Olivia sich bei ihren Freundinnen nicht so verhält. Das eigene Kind erscheint einem ja oft sympathischer als manches fremde, aber letztendlich übt sie wohl nur einen subtileren Regierungsstil aus. Dass sie vom zweiten bis zum fünften Lebensjahr eigentlich durchgängig eine ihrer vielen Kronen auf dem Kopf trug, sagt alles.

Vollkommen unerträglich wird es, wenn die kleinen Alleinherrscherinnen untereinander im Krieg liegen. Seit dem Schulalter reguliert sich das zum Glück langsam, die Mädchen haben vielleicht selber festgestellt, dass man nichts spielen kann, wenn man durchgängig damit beschäftigt ist, sich zu streiten, wer beim Spiel die Schönste ist und wer die größeren magischen Kräfte besitzt. Olivia hat außerdem festgestellt, dass Jungs doch ganz praktisch sind zum Spielen: Die sind dann die Ritter, und sie kann alle Hirngespinste in Sachen Liebreiz und Zauberkräfte für sich allein beanspruchen.

Es ist wirklich ein großes Glück, wenn sich Kinder immer weiterentwickeln!

Willi darf die monarchische Phase gerne auslassen, obwohl er sicher sehr lustig aussehen würde mit Olivias Kronen, Schleiern und Feen-Zauberstäben … De facto regiert er aber hier ohnehin, ganz ohne Worte. Und wenn unser großer Diktator mit dem dreifachen Chromosom unsere Musik im Auto nicht hören will, dann schreit er einfach so lange, bis wir aufgeben müssen und am Ende wieder das Duvenstedter Blasorchester läuft … Was da musikalisch wohl die nächste Entwicklungsstufe ist? Es kann nur besser werden!

WER WILL WIRKLICH WILDE RACKER?

Seit meiner Kindheit hat sich im Verhältnis von (manchen) Erwachsenen und Kindern irgendetwas ganz grundlegend verändert. Das erste Mal wurde mir das klar, als meine Nichte etwa drei Jahre alt war. Sie war der erste – und lang ersehnte – Nachwuchs in unserer Familie. Wir besuchten einen Weihnachtsmarkt und standen mit fünf Erwachsenen um die Kleine herum und wollten unbedingt, dass sie Karussell fährt. Sie zuckte mit den Schultern, machte uns zuliebe und mit neutralem Gesichtsausdruck eine Fahrt mit. Wir Erwachsenen waren begeistert! Danach hatte sie zu unserer großen Enttäuschung und trotz massiven Drängens keine Lust mehr.

Als ich versuchte, die übrigen neun Fahrkartenchips an eine andere Familie zu verschenken, fiel mir auf, dass überall um uns herum Eltern und Großeltern auf zum Teil weinende Kleinkinder einredeten, die unbedingt Karussell fahren sollten. Saßen die Blagen dann endlich drin, sahen die meisten Eltern glücklicher aus als die Kinder. Einer versuchte irre lachend und winkend das Kind aufzuheitern, während die restlichen Erwachsenen panisch damit beschäftigt waren, Fotos zu machen.

In meiner Kindheit war das alles genau umgekehrt. Nur ein einziges Mal hat mich mein Vater aufgefordert, Karussell zu fahren – das war in einem Freizeitpark, für den wir pauschal Eintritt bezahlt hatten. Heute sitzen auf Spielplätzen in Hamburgs Szenevierteln gerne mal doppelt so viele Erwachsene wie Kinder, wo diese kaum in Ruhe spielen und zanken können, weil sich ständig eine Mutter oder Oma einmischt. Die Kindergärten tragen nicht mehr die Namen des Trägers oder Stadtteils, sondern heißen Die kleinen Racker oder Wilde Strolche. Dabei habe ich das Gefühl, die Eltern sehnen sich danach, dass ihre Kinder nicht so jammerige Waschlappen und Zicken sind, zu denen wir sie selbst gemacht haben. Wir wünschen uns mutige und abenteuerlustige Kinder – aber natürlich nur im vorgegebenen Raum und Zeitfenster und von Mama schick ausgestattet mit dem neuesten modischen Rabauken-Outfit mit einem keck schräg aufgesetzten Mützchen!