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Störungen in der Schulklasse

Der Autor:

Dr. Hans-Peter Nolting ist Pädagogischer Psychologe und Autor verschiedener Fachbücher. Langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Göttingen im Bereich der Lehrerbildung.

E-Mail-Adresse des Autors: hanspnolting@gmail.com

Über dieses Buch:

Das größte Problem für Lehrerinnen und Lehrer ist gewöhnlich nicht das Unterrichten der eigenen Fächer, sondern der Umgang mit der Klasse. Zugleich ist dies aber die Aufgabe, auf die in der Lehrerausbildung am wenigsten vorbereitet wird. So bleibt denn auch der Umgang mit »Störungen« weitgehend dem persönlichen Temperament und Gutdünken der jeweiligen Lehrkraft überlassen und wird viel zu wenig von professionellen Kenntnissen und Fertigkeiten bestimmt.

Das Buch behandelt sowohl die Prävention von Störungen als auch den Umgang mit bereits eingetretenen Konflikten. Es stützt sich dabei auf Forschungen im Klassenzimmer und Konzepte, die in der Klasse erprobt wurden. Viele Erkenntnisse und Strategien, obwohl gut fundiert und überaus nützlich, sind in Pädagogenkreisen kaum bekannt geworden. Und offensichtlich ist es auch nicht leicht zu durchschauen, welches Lehrerverhalten für die »Disziplin« besonders bedeutsam ist. Jedenfalls ist es nicht eine Frage der »Disziplinierung«, sondern des pädagogischen Geschicks – und dieses ist, zumindest teilweise, ein erlernbares Handwerk.

Das Anliegen des Buches ist nicht die Propagierung eines bestimmten Unterrichtsstils, sondern die Erweiterung des individuellen Handlungsspielraums für den Umgang mit der Klasse.

Die vorliegende 14. Auflage wurde in vielen Abschnitten erweitert und aktualisiert.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Einführung

1.1 Ein folgenreiches Problem

1.2 Allerlei Gründe – und Vereinfachungen

1.3 Was tun? Prävention − Akutreaktionen − Problemlösungen

Kapitel 2Störungsprävention: Strategien für die alltägliche Klassenführung

2.1 Was hilft gegen Disziplinprobleme? Eine Umfrage unter Lehrkräften

2.2 Worauf kommt es tatsächlich an? Geschichten aus der Forschung

2.3 Prävention durch Regeln und Organisation

2.4 Prävention durch breite Aktivierung

2.5 Prävention durch Unterrichtsfluss

2.6 Prävention durch Präsenz- und Stoppsignale

2.7 Was kann man realistisch erwarten?

Kapitel 3Akuter Umgang mit Konfliktsituationen

3.1 Vielfältige Reaktionsmuster

3.2 Akutreaktionen sind nicht immer Konfliktlösungen

Kapitel 4Nachhaltige Problemlösungen I: lehrerzentriert

4.1 Wiederkehrende Probleme: Erst verstehen, dann handeln

4.2 Maßnahmen gegenüber der Klasse

4.3 Maßnahmen gegenüber Einzelnen

Kapitel 5Nachhaltige Problemlösungen II:kooperativ

5.1 Konfliktlösung durch Gespräch

5.2 Gemeinsame Konfliktlösung als Klassenprojekt

5.3 Schulweite Kooperation bei Mobbing unter Schülern

Literatur

Vorwort

Störungen in der Schulklasse gibt es in vielen Variationen, und für unterschiedliche Probleme braucht man auch unterschiedliche Handlungskonzepte. Allgemeine Unruhe und »kleine« Störungen, die den täglichen Unterricht begleiten, sind etwas anderes als wiederkehrende Zusammenstöße mit einem einzelnen Schüler, und die Bewältigung einer akuten Konfliktsituation stellt andere Anforderungen als eine langfristige Problemlösung.

Das vorliegende Buch beschränkt sich daher nicht auf einen bestimmten Typ von Problemen und nicht auf ein bestimmtes Handlungskonzept, es bietet vielmehr einen Querschnitt durch ein Spektrum von Problemstellungen und Handlungsstrategien. Zur Sprache kommen dabei insbesondere gut fundierte Konzepte, und mit »fundiert« meine ich, dass sie sich auf empirische Forschungen oder dokumentierte Erprobungen stützen (was in der Literatur zu diesem Problemkreis nicht immer selbstverständlich ist).

Zur 14. Auflage

Dieses Buch, erstmals 2002 erschienen, wurde 2007 sowie 2012 gründlich überarbeitet − und nun zum dritten Mal. Sämtliche Kapitel wurden an vielen Stellen aktualisiert, inhaltlich ergänzt oder prägnanter formuliert. Der akute Umgang mit Konfliktsituationen bekam ein eigenes Kapitel zwischen den großen Blöcken zur Prävention einerseits und den nachhaltigen Problemlösungen andererseits. Die Maßnahmen gegenüber einzelnen »schwierigen« Kindern wurden um einen Kapitelabschnitt zum speziellen Problemfall ADHS erweitert.

Ich danke allen, die zu diesem Buch Anregungen und kritische Anmerkungen beigetragen haben.

Hans-Peter Nolting

Göttingen, im März 2017

Kapitel 1

Einführung

Wissen Sie, was Jacob Kounin über die Verhinderung von Disziplinschwierigkeiten herausgefunden hat? Kennen Sie die »kooperative« Verhaltensänderung in der Schulklasse von Redlich und Schley? Vielleicht haben Sie davon gehört, aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn obwohl zahllose Lehrer/innen mit Disziplinproblemen und ungelösten Konflikten zu kämpfen haben, sind viele nützliche Forschungsergebnisse und erprobte Handlungskonzepte in Pädagogenkreisen weitgehend unbekannt geblieben. Das ist der Grund für dieses Buch.

1.1 Ein folgenreiches Problem

Eine Klasse zu führen ist für Lehrerinnen und Lehrer in der Regel die schwierigste Aufgabe – und zugleich die, auf die sie am wenigsten vorbereitet werden. Kaum eine Lehrkraft klagt über die eigenen Fachgebiete; kaum jemand findet Englisch oder Biologie zu schwierig. Sie zu vermitteln vielleicht schon eher. Aber das größte Problem ist gewöhnlich der Umgang mit einer ganzen Klasse.

In der Ausbildung wird die meiste Zeit jedoch den Unterrichtsfächern gewidmet, schon deutlich weniger dem Lehren und am wenigsten der Klassenführung. Gemeint ist damit im Wesentlichen die erzieherische Seite des Unterrichtens: die Herbeiführung von Ordnung, von aktiver Mitarbeit, von Kooperation und guten Beziehungen – mithin zugleich die Begrenzung von Verhaltensproblemen. Der Begriff der Klassenführung kann zwar unterschiedlich weit gefasst werden (siehe Haag & Streber 2012 oder Kiel, Frey & Weiß 2013), doch die Eindämmung von Störungen gehört in jedem Fall dazu.

Allerdings: Klassenführung ist keine leichte Aufgabe. Ein Kollektiv von Lernenden stellt ganz andere Anforderungen als Einzelunterricht. Eine Schulklasse ist immer heterogen zusammengesetzt, und es passieren viele Dinge gleichzeitig, auf die die Lehrperson ihre Aufmerksamkeit richten sollte. Die Schüler/innen sind nicht nur unterschiedliche Persönlichkeiten, ihr Verhalten wird ebenso vom Verhalten der anderen, von Sympathien, Antipathien, Rivalitäten, Rangordnungen usw. mitbestimmt (ausführlich Dollase 2012).

Insofern kann man eine Schulklasse als komplexes Wechselwirkungsgefüge ansehen, das erfolgreich zu steuern genauso wie das eigentliche Unterrichten durchaus professionelle Kompetenzen erfordert. Da diese Seite des Lehrerberufs aber in der Ausbildung eine so erstaunlich geringe Rolle spielt, bleibt in der Praxis auch der Umgang mit »Störungen« weitgehend dem persönlichen Temperament und Gutdünken der einzelnen Lehrperson überlassen und wird viel zu wenig von professionellen Kenntnissen und Fertigkeiten bestimmt.

Bei Medizinern kann eine Behandlung als »Kunstfehler« gelten, wenn sie nicht dem Stand der Wissenschaft entspricht. Im Umgang mit der Schulklasse spielt die Wissenschaft als neutrale Instanz kaum eine Rolle. Man beruft sich selten auf pädagogische und psychologische Forschung, sondern auf persönliche »Erfahrungen« und »Ansichten«. Doch das Unterrichtsgeschehen ist so verwickelt und dynamisch, dass es keineswegs leicht ist, allein aus der Praxis heraus zu erkennen, welche der vielen denkbaren Lehrerhandlungen die Störungsrate in der Klasse am nachhaltigsten senken.

Was ist mit »Störungen« in der Schulklasse gemeint? Das Spektrum ist sehr groß, und es scheint mir nützlich, drei Typen zu unterscheiden: aktive Unterrichtsstörungen, passive Unterrichtsstörungen und Störungen der Schüler-Schüler-Interaktion:

(1)

Aktive Unterrichtsstörungen: Dies ist der Typ, an den man zuallererst denkt: unruhige, laute und »nervige« Verhaltensweisen. Erst nach minutenlanger Unruhe kann der Unterricht beginnen, die Schüler/innen führen Privatgespräche (sie »schwatzen«), sie kaspern herum, sie melden sich zu laut, sie brüllen ohne Meldung in den Raum, sie laufen herum, sie begleiten Beiträge mit Gelächter und sie erzeugen einen Lärm, der weit in den Schulflur hinausschallt. Störungen dieser Art sind gewöhnlich gemeint, wenn von »Disziplinproblemen« die Rede ist.

(2)

Passive Unterrichtsstörungen: Sie bestehen nicht in einem Übermaß an unerwünschten Aktivitäten, sondern in einem Mangel an erwünschten Aktivitäten: Die Mitarbeit ist schlecht, die Beteiligung an Unterrichtsgesprächen ist »lahm«, Hausaufgaben werden nicht erledigt und wichtige Materialien zu Hause »vergessen«. In diesem Fall spricht man vielleicht seltener von einer »Unterrichtsstörung«, aber »gestört« werden das Lernen und Lehren in der Klasse durchaus.

(3)

Der dritte Typ umfasst Störungen der Schüler-Schüler-Interaktion. Beispielsweise gibt es Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Cliquen einer Klasse, oder einzelne Schüler/innen werden wiederholt angegriffen oder ausgegrenzt (Mobbing). Solche Probleme zählen zwar nicht direkt zu Unterrichtsstörungen, sie sind aber Störungen in der Schulklasse bzw. der Schule und können zuweilen auch in den Unterricht hineinwirken.

Der Übergang zwischen »normalem« und »störendem« Verhalten im Unterricht ist sicher fließend, doch lassen sich durchaus Kriterien für eine Grenzziehung nennen.

Zum einen kann man Störungen normativ definieren, nämlich als Verhaltensweisen, die gegen Regeln verstoßen. Ob eine Störung vorliegt oder nicht, hängt hier von der Schulordnung ab und ebenso von der einzelnen Lehrkraft, soweit sie die Regeln bestimmt und das Schülerverhalten bewertet. Die Grenzziehung kann dabei recht subjektiv sein. Denn was Lehrer X als »unruhig« und damit als »Störung« bezeichnet, nennt seine Kollegin Y möglicherweise nur »lebhaft«.

Zum anderen kann man Störungen funktional definieren, nämlich als Verhaltensweisen, welche die beabsichtigte Unterrichtsdurchführung behindern, und zwar, (a) indem sie andere Personen, nämlich die Lehrkraft oder die Mitschüler, in ihren aufgabenbezogenen Aktivitäten beeinträchtigen, und/oder, (b) indem sie die eigene aufgabenbezogene Aufmerksamkeit und Mitarbeit beeinträchtigen. (Diese Definition betrifft aktive und passive Unterrichtsstörungen, nicht Störungen in der Schüler-Schüler-Interaktion.)

In den meisten Fällen wird man ein konkretes Schülerverhalten sowohl nach normativer als auch nach funktionaler Definition als Störung bezeichnen, weil es gegen Regeln verstößt und Lernaktivitäten behindert. Aber Divergenzen sind durchaus möglich. So mag es eine Lehrkraft beispielsweise als regelwidrig ansehen, wenn ein Schüler Kaugummi kaut oder seine Mütze auf dem Kopf behält. Aber beeinträchtigt das den Unterricht? Umgekehrt können Verhaltensweisen, die gegen keine Regel verstoßen, durchaus behindernd wirken, und zwar nicht nur Schüleraktivitäten (zum Beispiel lange, unpassende Beiträge), sondern ebenso Handlungen der Lehrkraft (zum Beispiel Unterbrechung des Unterrichts für langatmige Ermahnungen)! Zwar ist es gewiss nicht üblich, Lehrerhandlungen als Störung zu bezeichnen, aber nach funktionalen Kriterien wäre dies zuweilen durchaus berechtigt.

Könnte man statt von »Störung« auch von »Konflikt« sprechen? Im Wesentlichen ja. Ein »Konflikt« wird in der Psychologie meist verstanden als das Aufeinandertreffen unvereinbarer Wünsche und Verhaltenstendenzen, sei es innerhalb eines Menschen (intrapersonaler Konflikt) oder zwischen verschiedenen Menschen (interpersonaler Konflikt). Empfindet eine Lehrkraft zum Beispiel lautes Rufen oder mangelnde Mitarbeit als »Störung«, so liegt insofern ein (interpersonaler) »Konflikt« vor, als dieses Schülerverhalten den eigenen Absichten zuwiderläuft. Eine Unterrichtsstörung wäre somit auch ein Unterrichtskonflikt.

Allerdings kann man den Begriffen auch unterschiedliche Bedeutungen geben. Man kann den Begriff der Störung sozusagen auf die Oberfläche, auf die Verhaltensebene beziehen, den Begriff des Konfliktes hingegen auf die »tieferen« zugrunde liegenden Motivationen, wie etwa divergierende Interessen, persönliche Antipathien oder das versteckte Ringen um Macht. Diese »tieferen« Konflikte werden von den Betroffenen nicht immer direkt erlebt und kommen vielleicht erst durch eine intensive Problemdiagnose zutage.

Nicht zulässig ist es, einen »Konflikt« mit einem aggressiven Zusammenstoß gleichzusetzen. Man muss klar unterscheiden zwischen dem Konflikt (dem Widerstreit der Bestrebungen) und dem Konfliktverhalten. So kann bei demselben Konflikt das Verhalten der Beteiligten, also der Umgang mit dem Konflikt, sehr unterschiedlich aussehen: nicht nur aggressiv, sondern auch meidend oder konstruktiv.

Nun zur Frage, welche Folgen Störungen in der Schulklasse für die Lehrenden und Lernenden haben. Das ist sicher von Fall zu Fall unterschiedlich, aber klar ist: Die Folgen können durchaus schwerwiegend sein.

Eine Nebenbemerkung zu diesem letzten Punkt: Während in der Öffentlichkeit von den ausgefallenen Unterrichtsstunden häufig die Rede ist und selbst drei Prozent Stundenausfall zum Politikum werden können, wird über die inoffiziell ausgefallene Lernzeit in den gehaltenen Unterrichtsstunden kaum geklagt. Dabei dürfte die quantitativ viel stärker ins Gewicht fallen!

Zusammengenommen gibt es also genügend Gründe, das ewige Problem der Unterrichtsstörungen nicht nur als lästige Begleiterscheinung von Unterricht anzusehen, sondern es so ernst zu nehmen wie den Lehrstoff selbst. Es geht durchaus um die Herbeiführung von »Disziplin«, und zwar einer Disziplin, die nicht nur als das Unterlassen von Störungen verstanden wird, sondern vor allem als positive Mitarbeit. Solche Disziplin ist kein Selbstzweck, sondern sie dient der Entfaltung von Lernpotenzialen und der Gestaltung von Beziehungen (Träbert 2012, S. 192).

1.2 Allerlei Gründe – und Vereinfachungen

Für Störungen in der Schulklasse sind schon alle möglichen Gründe genannt worden. Wenn wir einmal die üblichen Verdächtigen wie zum Beispiel »Reizüberflutung«, »Medienkonsum« oder »Stress« beiseitelassen, sondern nach spezifischeren, schulbezogenen Gründen suchen, so lassen sich vor allem drei Blickrichtungen unterscheiden:

Von diesen drei Ansätzen ist der institutionelle der allgemeinste. Er besagt: Die Schule produziert Störungen aufgrund ihrer eigenen Defizite und Zwänge. Grundlegende Konflikte sind durch die Eigenschaften dieser Institution bedingt und daher auch nicht gänzlich zu vermeiden.

Diese Sichtweise ist meines Erachtens nicht pauschal abzuweisen. In der Tat liegen Konflikte in der Natur der Institution Schule und sind insofern ein fester Bestandteil des Lehrerberufes. Wie oben definiert (siehe Seite 14), liegt ein Konflikt vor, wenn unvereinbare Verhaltenstendenzen aufeinandertreffen, und genau das ist in der Schule in gewissem Grade unvermeidlich. Die Absichten der Lehrer/innen können nicht immer mit denen aller Schüler/innen übereinstimmen. Selbst lernbegierige Schüler/innen sind nicht immer mit der Art des Unterrichts einverstanden. Und selbstverständlich haben immer einige Schüler keine Neigung, das zu tun, was von ihnen verlangt wird. Schließlich sitzen die dort nicht aus freien Stücken; die Schulpflicht und die Lerninhalte sind ihnen vorgegeben. Der Wunsch, sich dem aufgezwungenen Programm und der damit oft verbundenen Langeweile zu entziehen, ist also in der Schulsituation angelegt. Die Frage ist nur, in welchem Maße dadurch der vorgesehene Unterricht beeinträchtigt wird.

Eben hierin gibt es offensichtlich große Unterschiede zwischen Schulen und vor allem innerhalb von Schulen! Insofern ist die institutionelle Erklärung höchst unzureichend. Die Institution setzt zwar Rahmenbedingungen, aber mit diesen allein lässt sich nicht erklären, wieso man je nach Schule, Klasse und Unterrichtsstunde ganz unterschiedliche Störungsraten antrifft, von wunderbarer Disziplin bis zu chaotischen Zuständen.

Deshalb liegt es nahe, auf die Personen innerhalb der Schule zu schauen: Wie weit hängt das Ausmaß der Störungen mit den Schüler/innen und wie weit mit den Lehrpersonen zusammen?

Da es die Schüler/innen sind, die »stören«, mag es selbstverständlich erscheinen, mit ihnen auch die jeweilige Störungsrate zu erklären – mit Einzelnen oder mit der Zusammensetzung der Klasse. Einzelne treten fast überall hervor. Das Stichwort »Störungen« lässt an »Störer« denken, und die haben meist auch einen Namen: Nils und Axel in der 6a, Mario und Nina in der 3b usw. Nicht selten läuft diese individuelle Sichtweise darauf hinaus, die Unterrichtsstörungen auf psychische Störungen der einzelnen Schüler/innen zurückzuführen (zum Beispiel Winkel 1996).

Dass Unterrichtsstörungen in gewissem Grade tatsächlich ein individuelles Problem sind, zeigt sich darin, dass manche Schüler/innen häufig stören und andere fast nie. Gelegentlich gibt es ausgesprochen schwierige Kinder und Jugendliche, die von allen Lehrkräften als Problem empfunden werden und an denen sich auch zehn Therapeuten die Zähne ausbeißen würden.

Dennoch wäre es eine grobe Vereinfachung, Störungen mit Störern gleichzusetzen und sich vorzustellen, dass es ohne diese Störer keine Störungen gäbe. Wir Menschen neigen dazu, auffälliges Verhalten ganz oder vorwiegend aus der Person heraus zu erklären und den jeweiligen Kontext zu vernachlässigen (Ross & Nisbett 1991; viele Beispiele bei Nolting 2012).

Zum Kontext gehören im Schulunterricht einerseits externe, situative Faktoren wie das jeweilige Fach, die Unterrichtsform oder die Art der Aufgabe. So kann beispielsweise innerhalb einer Unterrichtsstunde die Störungsrate bei direkter Instruktion anders sein als bei Stillarbeit und hier wieder anders als bei Gruppenarbeit.

Zum Kontext gehören andererseits interpersonale, also zwischenmenschliche Einflüsse, die von den Mitschülern und der Lehrkraft ausgehen. Immer wieder zeigt sich, dass Unruhe und andere störende Verhaltensweisen ansteckend sind, dass sie sich von einem zum anderen ausbreiten! Auch würden manche notorischen Störer in einer anderen Klasse weniger stören, weil dort jene Mitschüler/innen fehlen, mit denen sie gewöhnlich bei ihrem Verhalten zusammenwirken. Und besonders wichtig: Die vom Kollegen X als Störer bezeichneten Schüler/innen sind vielleicht bei der Kollegin Y in deren Unterricht keineswegs ein Problem. All dies zeigt, dass das Verhalten nicht nur personal, sondern auch interpersonal betrachtet werden muss.

Eine rein personale Sichtweise wäre es auch, wenn man eine hohe Störungsrate allein aus einer ungünstigen Zusammensetzung der Klasse erklärt, nämlich aus einem großen Anteil von Schüler/innen mit schwachen Lernvoraussetzungen und geringer sozialer Kompetenz. Natürlich kommt dies vor, etwa wenn eine Schule in einem sozial schwachen Einzugsgebiet liegt. Die schülerbezogene Sichtweise geht dann teilweise in eine gesellschaftliche über, wonach die Schüler/innen aufgrund der sozialen Benachteiligung an den Anforderungen der Schule scheitern und dies dann durch Protest und Verweigerung ausdrücken.

So offenkundig solche Probleme sind, so ist auch hier vor Vereinfachungen zu warnen. Denn sozialstrukturelle Erklärungen übersehen wiederum die großen individuellen Unterschiede zwischen den Schüler/innen – auch zwischen solchen aus soziologisch ähnlichem Milieu. Sie übersehen ferner, dass auch Schulen in ähnlichem Einzugsgebiet sich bezüglich der Störungsraten erheblich unterscheiden können (siehe den Schulstudien-Klassiker von Rutter et al. 1980), dass Schulentwicklungsprojekte durchaus etwas ändern können und dass die einzelnen Lehrer/innen mit denselben schwierigen Bedingungen unterschiedlich gut zurechtkommen.

Damit stellt sich also die Frage nach dem Einfluss des jeweiligen Lehrerverhaltens. Dass dies ein bedeutsamer Faktor sein muss, kann sich jeder schon durch eine Erinnerung an die eigene Schulzeit klarmachen: War die »Disziplin« in der Klasse – in derselben Klasse! – nicht sehr unterschiedlich, je nachdem, wer gerade unterrichtete? Natürlich war sie das, und so ist es immer noch.

Welches Gewicht das Lehrerverhalten im Vergleich zur Zusammensetzung der Klasse hat, untersuchten Helmke & Renkl (1993) in einer vier Jahre dauernden Längsschnittuntersuchung an Grundschulklassen, und sie kamen zu einem eindeutigen Befund: Von den erhobenen Schüler- bzw. Klassenmerkmalen spielte lediglich der Anteil der Schüler/innen mit Deutsch als Fremdsprache eine gewisse Rolle, während das kognitive Eingangsniveau, die kognitive Unterschiedlichkeit, die Geschlechterverteilung und die Klassengröße keine Rolle spielten. In überwältigendem Maß hing das aufmerksame, aufgabenbezogene Verhalten hingegen von der Klassenführung der Lehrer/innen ab.

Fazit: An allen genannten Erklärungen ist sicher etwas dran. Aber der Faktor Lehrerverhalten steht ganz vorn. Erklärungen mit institutionsimmanenten Konflikten sowie mit Problemschülern und ihrem sozialen Hintergrund gehen an der Tatsache vorbei, dass die Störungsraten je nach Lehrkraft außerordentlich unterschiedlich sind. Auch versperren diese Sichtweisen den Blick für die Handlungsmöglichkeiten. Zu fragen ist also:

Diese Fragen sollen das Augenmerk nicht auf die »Schuld« von Lehrer/innen lenken, wenn es nicht klappt, sondern auf den Spielraum, den es auf der Lehrerseite offensichtlich gibt. Es gilt also, eben diese Möglichkeiten auszuloten.

Größtes Misstrauen verdienen alle Konzepte, die sich einseitig der Behandlung von »Störern« widmen und ausklammern, wie sehr es von der Klassenführung der Lehrkraft abhängt, in welchem Maße Störungen überhaupt auftreten. Nur auf die Schüler zu schauen ist menschlich verständlich und macht entsprechende Konzepte für die Lehrenden attraktiv. Aber sachkundig und professionell ist eine solche Sichtweise nicht.

Allerdings ist auch der Faktor Lehrerverhalten nicht allmächtig, und auch bei seiner Rolle sollte man sich vor einseitigen und vereinfachenden Erklärungen hüten. Hierzu gehört etwa die Vorstellung, dass Strenge entscheidend sei für die Disziplin und nur »Softies« Probleme mit ihrer Klasse hätten. Deutliche Zurechtweisungen und vielleicht auch Bestrafungen wären danach das passende Rezept. Dass solche Vorstellungen nicht haltbar sind, wird in Kapitel 2 ausführlich dargelegt.

Als weitere Vereinfachung nennt Bill McPhillimy (1996) die Annahme, Störungen entstünden durch uninteressanten Unterricht. Obwohl viele Schüler/innen aus purer Langeweile stören und ein interessanter Unterricht zweifellos Störungen vermindern hilft, gibt es nach McPhillimy doch vier Gründe, warum interessanter Unterricht nicht »die« Lösung des Problems sein kann. Erstens könne kein Unterricht permanent das Interesse aller Schüler/innen wecken. Zweitens: Mancher Lernstoff sei unverzichtbar, aber leider wenig interessant. Drittens: Auch von interessantem Unterricht könnten Schüler/innen durch noch interessantere Dinge abgelenkt werden. Und viertens: Zuweilen müsse man sich erst in eine Sache vertiefen, bevor man sie überhaupt interessant finden könne.

Vorsicht ist weiterhin geboten bei Erklärungen durch die »Lehrerpersönlichkeit«. Forschungen, die nach den Merkmalen des »guten Lehrers« bzw. der »guten Lehrerin« suchten, sind ergebnislos geblieben (im Überblick Bromme & Rheinberg 2006). Eher lässt sich umgekehrt sagen, welche Eigenschaften für diesen Beruf ungünstig sind, und geringe emotionale Belastbarkeit gehört offensichtlich dazu. Es gibt also Menschen, die für den Lehrerberuf wenig disponiert sind, so wie es sicherlich auch »Naturtalente« gibt. Doch auf jeden Fall ist gutes Lehrerverhalten zumindest teilweise ein erlernbares Handwerk.

1.3 Was tun? Prävention − Akutreaktionen − Problemlösungen

Wenn die vorangehenden Ausführungen über die Gründe von Unterrichtsstörungen recht knapp ausgefallen sind, so liegt dies an der Zielrichtung des Buches. Es ist kein Buch zur Frage, warum es überhaupt Unterrichtsstörungen gibt. Es ist kein Buch über die Legitimität von Unterricht als Zwangsveranstaltung oder über die Legitimität von Unterrichtsstörungen. Es ist auch kein Buch über »gestörte« Kinder und Jugendliche, über deren familiäre Hintergründe oder die schwierige Frage, wie man die Eltern dazu bewegen könnte, psychologische Hilfe zu suchen. Und ebenso wenig ist es ein Buch über die Notwendigkeit von Reformen an Schulen und Lehrplänen, obwohl auch hier Ansatzpunkte für die Reduktion von »Störungen« liegen könnten. Die Rede ist dagegen von solchen Dingen, die in der Hand der Lehrer/innen liegen – unabhängig von einer Änderung der Schüler/innen, der Eltern oder der Schule.

Das Buch befasst sich also mit dem individuellen Handlungsspielraum für die Klassenführung. Noch einmal: Die Unterschiede im Verhalten der Lehrer/innen gegenüber derselben Klasse sind gewaltig. Und dies ist der Punkt, aus dem sich am leichtesten etwas machen lässt, um Probleme mit der Klasse zu lösen. Hier anzusetzen ist jedenfalls aussichtsreicher als der Versuch, an den schwierigen Seiten von Schüler/innen oder deren Eltern etwas zu ändern. Deshalb ist dies der Blickwinkel dieses Buches (nicht etwa, weil die Beschäftigung mit Verhaltensstörungen und ihren Hintergründen nutzlos wäre).

Das Buch berichtet über Forschungsergebnisse zum effektiven Klassenmanagement mit dem Doppelziel aus guter Mitarbeit und geringen Störungen, und es stellt erprobte Konzepte für die Lösung von besonderen Konflikten vor. Dabei geht es insgesamt mehr um Probleme mit der Klasse als mit Einzelnen sowie mehr um fortdauernde, wiederkehrende Probleme als um Einzelereignisse.

Vorgestellt werden ausschließlich Handlungskonzepte, die von den Lehrenden selbst realisiert werden können, also ohne externe Hilfen wie Erziehungsberatung oder Sozialarbeit. Das heißt allerdings nicht, dass alle Vorschläge schnurstracks und mit Erfolgsgarantie umgesetzt werden können. Zum Teil ist dies zwar möglich, zum Teil geht es aber nicht ohne eine Lern- und Probierphase. Ein Buch kann – nur – Wissen vermitteln und damit eine Grundlage für das Handeln schaffen. Aber das Handeln selbst erfordert häufig mehr als Sachwissen und auch mehr als Handlungswissen. Es erfordert oft Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und gute Planung, zuweilen auch hilfreiche Beobachter und nicht zuletzt allerhand Übung. Wer Glück hat, kann in der Ausbildung oder Fortbildung an einem Training zur Klassenführung teilnehmen (s. Kiel, Frey & Weiß 2013; Helmke 2015 zur Videografie des Unterrichts).

Die Absicht des Buches ist es nicht, einen bestimmten Unterrichtsstil zu propagieren. Doch eines wird durch die dargestellten Forschungen und Handlungskonzepte vermutlich deutlich werden: Es geht nicht ums »Durchgreifen«. »Disziplin« ist nicht eine Frage der »Disziplinierung«, sondern des pädagogischen Geschicks.

Was gehört zu diesem Geschick? Viele Lehrer/innen richten hier den Blick ausschließlich oder vorrangig auf den Umgang mit der akuten Konfliktsituation. Keine Frage ist so beliebt wie: »Was tue ich, wenn …« (… Schüler laut dazwischenreden, andere beschimpfen, sich bei einer Aufgabe verweigern etc.). Doch gerade in diesen akuten Momenten ist der Spielraum für nachhaltige Einflussnahmen oft sehr gering, sodass zum Beispiel nach einer Ermahnung schon bald die nächste und dann die übernächste folgt.

Einflussnahmen zu drei Zeitpunkten

Viel größere Chancen liegen zum einen in präventiven Strategien und zum andern in planvollem Vorgehen, nachdem bestimmte Probleme wiederholt aufgetreten sind, wobei man solche Problemlösungen wiederum als einen − verspäteten − Versuch der Prävention ansehen kann. Möglich sind dabei sowohl Vorgehensweisen, die weitgehend in der Hand der Lehrkraft liegen, als auch solche, die gemeinsam mit der Klasse (»kooperativ«) geplant und ausgeführt werden.

Berücksichtigt man dieses Spektrum von Handlungsspielräumen, so empfiehlt es sich also,

Manche Anregungen in den folgenden Kapiteln werden dem einen oder der anderen banal erscheinen. Eine halbwegs umfassende Übersicht enthält notwendigerweise auch Altbekanntes, zuweilen unter einem anderen Namen. Allerdings zeigt die Praxis, dass selbst Banales keineswegs selbstverständlich ist. Manche Lehrer/innen sind selbst nicht pünktlich; manche sprechen mit den Schülern in einem Ton, den sie diesen niemals gestatten würden; manche vergeben Hausaufgaben, nach denen sie später nie wieder fragen, usw. Wer jedoch an dieser oder jener Stelle mit Fug und Recht behaupten kann: »Das habe ich schon immer gemacht«, mag sich bestätigt und ermutigt fühlen.

Handlungskonzepte, mit denen man noch nicht vertraut ist, werden oft reserviert und kritisch aufgenommen. Es ist immer leicht, sogleich einen Problemfall dagegenzuhalten, bei dem das vorgeschlagene Konzept vermutlich scheitern wird (»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in so einem Fall funktioniert«).

Dazu folgende Anmerkung: Natürlich muss man auch die Grenzen sehen. Aber sollte man Handlungskonzepte zurückzuweisen, weil sie nicht in jedem Fall funktionieren? Ein Buch wie dieses verfolgt das Ziel, das Wissen um Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, doch ohne zu sagen: Dies ist das Rezept für alle pädagogischen Lebenslagen. Welche Möglichkeiten in einem bestimmten Fall helfen könnten (oder ob überhaupt eine helfen könnte), ist eine Frage des Erkundens und Erprobens. Im Übrigen kann jedes Konzept auch nur so gut sein, wie es von der Lehrperson tatsächlich umgesetzt wird.

Kapitel 2

Störungsprävention: Strategien für die alltägliche Klassenführung

Welches Lehrerverhalten kann dafür sorgen, dass im alltäglichen Unterricht nur wenige Disziplinprobleme auftreten? Darum geht es in diesem Kapitel. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich dann mit der Bewältigung von bereits aufgetretenen Konflikten.

Wie bereits betont, ist die Disziplin – wenig Unterrichtsstörungen und gute Mitarbeit – in derselben Klasse sehr unterschiedlich, je nachdem, wer gerade unterrichtet. In der dritten Stunde bei Frau X kann es ganz anders aussehen als in der vierten bei Herrn Y – und zwar nicht an einzelnen Tagen, sondern regelmäßig.

Worauf sich diese Unterschiede gründen, auf welches Verhalten es also ankommt, dazu hat wohl jeder irgendwelche Vermutungen, nicht nur Lehrer/innen, auch Schüler/innen und x-beliebige Laien, die ja auch alle einmal in der Schule waren. Die subjektiven Theorien von Lehrkräften sind natürlich von besonderem Interesse und werden anschließend zur Sprache kommen. Doch Erklärungsversuche stecken auch in Schüleräußerungen wie »Herr X ist viel zu gutmütig« oder »Frau Y kann sich nicht durchsetzen«. Ich erinnere mich, dass in meiner eigenen Schulzeit gegenüber neuen Lehrern, die gleich in der ersten Stunde auf einen harmlosen Anlass mit einem Donnerwetter reagierten, der Verdacht aufkam, sie wollten sich auf diese Weise von Anfang an »Respekt« verschaffen – auch dies eine Vermutung über die Bedingungen von »Disziplin«.

Ob es, wie in diesen Beispielen offenbar angenommen wird, tatsächlich auf »Strenge« und lautes »Durchgreifen« ankommt, das ist nur eine der Fragen, auf die die empirischen Forschungen eine Antwort geben.