Cover

Wer ein Warum zu leben hat

In memoriam Otto Pötzl

1928–1945 Vorstand
der Neurologisch-psychiatrischen
Universitätsklinik Wien

Inhalt

Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes WieVorwort zur Neuausgabe

Resilienz avant la lettre?

… trotzdem Ja zum Leben sagen

Sinn in und trotz Leid

Heilung braucht Sinn

Vorwort zur Erstausgabe

Teil 1
Texte aus sechs Jahrzehnten

Zur geistigen Problematik der Psychotherapie

Seelenärztliche Selbstbesinnung

Philosophie und Psychotherapie. Zur Grundlegung einer Existenzanalyse

Zur medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen

Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers

Rudolf Allers als Philosoph und Psychiater

Psychologisierung – oder Humanisierung der Medizin?

Die Begegnung der Individualpsychologie mit der Logotherapie

Hunger nach Brot – und Hunger nach Sinn

Der Mensch auf der Suche nach einem letzten Sinn

In memoriam 1938

Bemerkungen zur Pathologie des Zeitgeistes

Teil 2
Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie

I. Existenzanalyse als Explikation personaler Existenz

Dimensionalontologie

II. Existenzanalyse als Therapie kollektiver Neurosen

Das existentielle Vakuum

III. Logotherapie als ärztliche Seelsorge

Metaklinische Pathodizee

IV. Logotherapie als spezifische Therapie noogener Neurosen

V. Logotherapie als unspezifische Therapie

Anhang

Literaturangaben

Weitere Werke von Viktor E. Frankl

Viktor-Frankl-Institut

Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie

Vorwort zur Neuausgabe

Ich bin nicht nur Facharzt für zwei Fächer, sondern auch Überlebender von vier Lagern, Konzentrationslagern, und so weiß ich denn auch um die Freiheit des Menschen, sich über all seine Bedingtheit hinauszuschwingen und selbst den ärgsten und härtesten Bedingungen und Umständen entgegenzutreten, sich entgegenzustemmen, kraft dessen, was ich die Trotzmacht des Geistes zu nennen pflege.1

Als Viktor Frankl diese Zeilen kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager schrieb, sprach noch niemand von »Resilienz«. Zur festen Größe im medizinischen Diskurs wurde der Begriff erst Ende der 1970er Jahre mit Emmy Werners großer Längsschnittstudie »Die Kinder von Kauai«. Über einen Zeitraum von vierzig Jahren hatte die amerikanische Entwicklungspsychologin 698 Kinder beobachtet, die 1955 auf der hawaiianischen Insel geboren wurden und alle in schwierigen Verhältnissen aufwuchsen. Ein Drittel entwickelte sich trotz Armut, Arbeitslosigkeit oder Alkoholismus im Elternhaus zu psychisch stabilen, erfolgreichen Erwachsenen. Bei der genaueren Betrachtung dieser Teilgruppe stieß Weiner auf eine Reihe von »Resilienz-Faktoren«, allen voran die sichere Bindung an eine konstante Bezugsperson, aber auch Humor, die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, und verschiedene Formen von Spiritualität.

Mit dem Einzug der positiven Psychologie hat die Resilienzforschung diese und weitere Faktoren als Bestimmungsmomente eingehender untersucht und bald erkannt, dass sie nicht nur zur Bewältigung schwieriger Lebensumstände, sondern allgemein als Leitlinien gelingenden Lebens in Anschlag zu bringen sind. Seit einiger Zeit ist daher ein regelrechter Boom des Resilienzbegriffs in der wissenschaftlichen und populären psychologischen Literatur zu verzeichnen.

In dieser Literatur wird häufig auf Viktor Frankl Bezug genommen – und zwar gleichermaßen auf sein Werk als auch auf seine Biographie, insbesondere mit Blick auf sein Überleben und den Umgang mit seinen Erfahrungen der Lagerhaft in vier Konzentrationslagern während der Hitlerdiktatur. Frankl wird von einigen Autoren sogar als einer der Pioniere der Resilienzforschung beschrieben – obwohl sich das Wort »Resilienz« im umfangreichen Werk Frankls tatsächlich nicht ein einziges Mal finden lässt.

Diese Abwesenheit ist schon insofern bemerkenswert, als Frankl bis zu seinem Tod im Jahr 1997 ausgesprochen rege und interessiert am jeweils aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie teilgenommen hat und immer wieder in kritischen Dialog mit neuen Forschungstrends und -themen innerhalb der Verhaltenswissenschaften getreten ist. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass er insbesondere im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an den Universitäten Harvard, Dallas, Duquesne und San Diego nicht mit dem Begriff und Konzept der Resilienz in Berührung gekommen sei.

Rückblickend lässt sich nicht gesichert rekonstruieren, warum Frankl den Begriff anderen überlassen und selbst nie aufgegriffen hat, obwohl er mit der »Trotzmacht des Geistes« ein prima facie ähnliches Konzept vorstellte, das auch in dem Nietzsche-Zitat anklingt, das in verschiedenen Texten von Viktor Frankl wiederkehrt: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.«1 Das passive »Ertragen« bei Nietzsche wendet Frankl allerdings zur aktiven »Trotzmacht des Geistes«:

Ob man ein typischer KZler wurde oder aber auch noch in dieser Zwangslage, selbst noch in dieser äußersten Grenzsituation, Mensch blieb. Dies stand jeweils zur Entscheidung. […] Wenn es für mich noch eines Nachweises dafür bedurft hätte, dass die Trotzmacht des Geistes eine Wirklichkeit ist – das Konzentrationslager war das experimentum crucis.2

Wie verhalten sich Resilienz und »Trotzmacht des Geistes« zueinander? Im Folgenden sollen die Konturen des Resilienzbegriffs und die Konturen von Frankls Arbeiten zur Frage nach der Möglichkeit, unabänderliches Leiden seelisch heil zu überstehen, nachgezeichnet werden, um Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den beiden Konzepten zu benennen.

Resilienz avant la lettre?

Zum Einstieg in einen solchen Dialog zwischen der Resilienzforschung und der von Frankl begründeten Forschungstradition ist es allerdings notwendig, gleich vorab mit einem historischen Missverständnis aufzuräumen – zumal eine rationale Durchleuchtung dieses Irrtums auch den Weg ebnet zu einer informierteren Diskussion der Beziehung zwischen Frankls Logotherapie und der Resilienz: Man liest bisweilen, Frankls eigenes Überleben seiner dreijährigen Internierung in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz, Kaufering und Türkheim verdanke sich seiner Resilienz (oder Trotzmacht);2 es sei geradezu ein Paradebeispiel der Wirkung resilienten Verhaltens – und erfährt damit mehr über den Mangel an historischen und existentiellen Realismus als über Resilienz und/oder die »Trotzmacht des Geistes«.

Denn so einfach ist es leider nicht – Leid, Krankheit, Ungerechtigkeit und Tod lassen sich nicht so leicht überlisten und der Machbarkeit des Menschen unterwerfen, als dass etwa bloß die »richtige« Haltung oder bestimmte Resilienzfaktoren das Überleben oder Überstehen leidvoller Situationen gesichert ermöglichen (und im Umkehrschluss jenen, die nicht überleben und überstehen Mitverantwortung für ihr Schicksal unterstellt werden kann). Frankl selbst betonte in seinen Gedenkreden oft genug, dass gerade »die Besten« den Holocaust nicht überlebt haben, und das Überleben selbst sich oft wenig mehr verdankte als dem rohen Zufall oder unverdienter Gnade:

Denn wir Überlebenden wussten ganz genau, dass die Besten, die unter uns dort waren, von dort nicht herausgekommen sind – die Besten waren es, die nicht zurückgekehrt sind! So konnten wir unser Überleben nicht anders denn als unverdiente Gnade empfinden.3

Frankl hob vielmehr die Rolle der Willkür des Sterbens und die Gnade des Überlebens hervor – und die unheilvolle Rolle eines politischen Systems, dass es dazu kommen ließ, dass bloßer Zufall, etwa in Gestalt momentaner Launen der Aufseher und Lagerkommandanten, über Sein oder Nichtsein der Lagerinsassen bestimmen konnten. Frankl war in dieser Hinsicht also – und nicht nur in Bezug auf das historisch und biographisch einmalige Leid des Holocaust – viel zu sehr einer realistischen Würdigung menschlichen Leids verpflichtet, als dass er Leiden mit einem anderen Ziel oder Begriff belegen konnte, als mit dem, was Leid nun einmal ist: leidvoll und als solches durch nichts schönzudenken oder schönzureden.

Versuche, Leiden in dieser Form umzudeuten, waren ihm daher – und das sollten sie den helfenden Berufen insgesamt sein – aus zweierlei Gründen suspekt: Erstens, weil sie dem Ernst der jeweiligen Lage ebenso wenig gerecht werden wie der Situationsangemessenheit des Leidens; zweitens, weil sie die Unbedingtheit des Leidens selbst zu unterschätzen drohen und sich damit gerade nicht in jene Geisteshaltung versetzen, aus der heraus man Leid anerkennen, ehrlich begegnen und vielleicht auch bewältigen kann.

… trotzdem Ja zum Leben sagen

Worum es Frankl vielmehr ging, war zunächst weniger die Bewältigung konkreten Leids, sondern die zuvor zu klärende viel grundlegendere und unbedingtere Frage, ob ein Leben, das früher oder später einmal von der tragischen Trias aus Leid, Schuld und Tod heimgesucht wird – und damit alles menschliche Leben – überhaupt noch sinnvoll und lebenswert sein kann. Frankls Nachdenken über diese Frage kommt in einer Schlüsselstelle eines seiner ersten Vorträge nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager zum Ausdruck. In ihr formuliert er zugleich eines der Leitmotive seines Lebenswerks, der Logotherapie und Existenzanalyse:

Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, einen Fehler zu begehen, wenn ich an dieser Stelle persönlich werde; vielmehr denke ich, es Ihnen irgendwie schuldig zu sein, damit Ihr Verständnis dafür zu erleichtern, was ich Ihnen auseinandersetzen möchte. Nun: im Konzentrationslager gab es viele, und schwere, Probleme; aber das Problem für die Häftlinge lautete letztlich: »Werden wir überleben? Denn nur dann hätte unser Leiden einen Sinn.« Doch für mich lautete das Problem anders – mein Problem war genau das umgekehrte: Hat das Leiden, hat das Sterben einen Sinn?

Denn nur dann – könnte das Überleben einen Sinn haben! Mit anderen Worten: nur ein sinnvolles – ein auf jeden Fall sinnvolles – Leben erschien mir wert, erlebt zu werden, ein Leben hingegen, dessen Sinnhaftigkeit dem rohesten Zufall ausgeliefert ist – dem Zufall nämlich, ob man mit ihm, dem Leben, nun davonkommt oder nicht –, ein solches Leben, mit so fragwürdigem Sinn, musste mir eigentlich auch dann nicht lebenswert erscheinen, wenn man mit ihm davonkommt …4

Wenn Frankl also in seinem umfangreichen Werk immer wieder auf das Thema Leidbewältigung zurückkommt, so tut er dies zwar auch, aber nicht alleine und nicht einmal primär, um sich der Frage zu widmen, wie man auch noch im Leiden seelisch heil bleiben könne. Zunächst war zu klären, ob Leben selbst überhaupt sinnvoll sein kann, auch wenn und obwohl es bisweilen von Leid überschattet ist; er stellt das Leiden somit in den Zusammenhang mit der Sinnhaftigkeit des Daseins im Allgemeinen: Kann man trotzdem Ja zum Leben sagen?

Erst sofern Leben trotz Leid sinnvoll sei, und sofern es mitunter noch gelingen kann, auch noch in leidvollen Situationen eines Sinns ansichtig zu werden, so Frankl, würde es sich überhaupt lohnen, die Mühen des Kampfes um und mit dem Leben, vor den das Leid uns stellen kann, auf uns zu nehmen – immer vorausgesetzt allerdings, es handelt sich um unabänderliches Leiden. Denn ist es änderbar, liegt der Sinnaufruf des Augenblicks andererseits offenkundig nicht im Ertragen, sondern darin, daran zu wirken, dieses Leid zu beheben oder zumindest zu lindern.

Das entscheidende Element von Frankls Leiddiskussion ist Realismus – und daher zeigen die Texte aus sechs Jahrzehnten, die in diesem Band versammelt sind, dass sich Frankls Blick auf den leidenden Menschen von zahlreichen derzeitig aktuellen Coping-Modellen inklusive Resilienz u.a. dadurch unterscheidet, dass er Leiden nicht als Sonderfall menschlichen Erlebens betrachtet, sondern als normalen Bestandteil menschlicher Existenz. Denn keinem Dasein bleiben Leid und Schuld erspart, und ein jedes ist mit dem Problem der Vergänglichkeit der Dinge und der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Frankl appelliert also an den Realismus der helfenden Berufe, wenn er die Leidensfähigkeit des Menschen ebenso zum Inventar seelisch-geistiger Reife zählt wie die Liebes- und Arbeitsfähigkeit – es ist letztlich Lebensfähigkeit, weil Leid wie Freude Teil des Lebens ist.

Sinn in und trotz Leid

Viktor Frankl wird oft – und vermutlich zu Recht – nachgesagt, ein äußerst optimistisches und positives Menschen- und Weltbild zu zeichnen, daher mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass Leidensfähigkeit und Leidbewältigung in seinem Werk so viel Raum einnehmen. Das ist zum Einen sicherlich auch historisch und biographisch zu verstehen – eine seriöse europäische Psychiatrie und Psychologie des vergangenen Jahrhunderts konnte und wollte es sich nicht leisten, sofern sie sich einem Minimum an Realismus verpflichtet fühlte, an den Zivilisationsbrüchen von Auschwitz und Hiroshima einfach vorüberzugehen und zur Tagesordnung des unbeschwerten Alltagslebens zurückzukehren. Zum anderen ist leicht ersichtlich, dass die Sinnfrage sich insbesondere im Leiden stellt, wenn sich Freiräume schließen und Menschen Gefahr laufen, daraufhin am Leben insgesamt zu zweifeln oder zu verzweifeln.

Der Beitrag der Logotherapie zu dieser Problematik besteht in einem bedingungslosen Realismus – und das bedeutet einerseits das Leid aus dem Gesamtbild des Lebens nicht zu verdrängen, andererseits aber auch das verbleibende Gute im Leid nicht zu vergessen oder zu übersehen und den Blick auf noch verbleibende oder neu sich öffnende Freiräume zu wenden und darin nach verborgenen Sinnmöglichkeiten zu suchen.

Der von Logotherapie und Existenzanalyse an den leidenden Menschen herangetragene Trost besteht auch darin, dass ihm zugesichert wird, dass sein Leben immer sinnvoll war und auch im Leiden noch sinnvoll sein kann. Des weiteren gründet er sich auf der klinischen Beobachtung, dass Leid nicht notwendig auch Verzweiflung bedeuten muss, sondern gegebenenfalls eine viel breitere Vielfalt an Reaktionen bereithält – dass das Schicksal also, gleich, in welcher Valenz es uns begegnet, noch gestaltbar ist.

Angesichts des Leistungsgedankens, der mit der aktuellen Rezeption des Resilienzkonzepts bisweilen in Verbindung gebracht wird, muss man Frankls Modell der »Trotzmacht des Geistes« vor dem Missverständnis schützen, es ginge ihm darum, den Leidenden im Sinne gegenwärtig sehr präsenter Optimierungsbestrebungen zu Erfolg, Stärke und Selbstverwirklichung zu führen. All das mag geschehen – und die empirische Forschung über Sinnfindungsmöglichkeiten im Leid legt eine solche Wirkung tatsächlich in überwältigender Weise nahe. Dennoch stand dies, als Frankl seine Gedanken zur »Trotzmacht des Geistes« und der Sinnfindung im Leiden formulierte, noch gar nicht im Mittelpunkt der von ihm begründeten ärztlichen Seelsorge.

Frankl ging es vielmehr darum, dem Leiden im sinnlosen Leben, an dem Patienten zusätzlich zu ihrer Primärerkrankung so regelmäßig zu zerbrechen drohen, wenn ihnen krankheitsbedingt ihre vertrauten Entfaltungsräume entrissen wurden, eine lebbare Alternative gegenüberzustellen: Nicht wegen und nicht gegen, sondern trotz des Leids noch individuelle Sinnfreiräume zu erkunden und zu verwirklichen.

Heilung braucht Sinn

Mit diesem existentiellen Überbau und dem daraus resultierenden ärztlich-seelsorgerlichen Angebot standen Viktor Frankl und die Logotherapie lange Zeit alleine dar; sie standen genau genommen nicht nur alleine, sondern sogar in direkter Opposition zu weitaus weniger existentiell motivierten Gegenmodellen, welche die Sinnfrage insgesamt ins Reich des Pathologischen verbannen wollten. Viktor Frankl sprach in diesem Zusammenhang vom Pathologismus3 – also der Verfehlung menschlicher Anliegen dadurch, dass sie nicht eigentlich als Zeichen menschlicher Reife, sondern vielmehr als Entgleisungen der Seele missdeutet werden:

Am bedenklichsten ist der Pathologismus, wo nicht nur das Menschliche mit dem Krankhaften verwechselt wird, sondern auch das Allermenschlichste, das es überhaupt geben mag: nämlich die Sorge, um möglichste Sinnerfüllung menschlichen Daseins, wo dieses Allermenschlichste für etwas nur Allzumenschliches gehalten wird, für eine Schwäche, für einen Komplex. So wenig ist der Sinnanspruch des Menschen an sein Dasein, so wenig ist dieser Wille zum Sinn ein Krankheitszeichen, dass wir ihn sogar […] als ein Heilmittel mobilisieren.5

Für den Einzelnen, der insbesondere durch die Sinnfrage bewegt ist – der also im Leid mit existentiellen Fragen konfrontiert ist, ist die Folge eines solchen pathologistischen Generalverdachts absehbar doppelt fatal. Einerseits ist sein Leben überschattet; und nun wird ihm auch noch zertifiziert, dass seine Leiden am vermeintlichen oder echten Sinnverlust Ausdruck nicht existentieller Anliegen, sondern eigentlich nichts anderes sei als eine psychologische Deformation. So lautet etwa die Gegenstimme Sigmund Freuds:

Im Moment, da man nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat, und irgendetwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zur Trauer und Depression führt.6

Unter diesem Vorzeichen wird die nach Frankl menschlichste aller Fragen, die Frage nach dem Sinn, zum Zeichen eines psychischen Defizits erklärt – mit der Folge, dass einem vermittelt wird: Nicht nur die Welt stimmt nicht, auch mit uns stimmt etwas nicht. Man sehe sich etwa Kurt Eisslers auf Grundlage dieses Sinnmodells beschriebenen Versuch an, einer sterbenden Patientin beratend beizustehen:

Die Patientin verglich die Sinnfülle ihres früheren Lebens mit der Sinnlosigkeit der gegenwärtigen Phase; aber selbst jetzt, wo sie nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten konnte und sich für viele Stunden am Tag hinlegen musste, sei ihr Leben trotzdem sinnvoll, meinte sie, und zwar insofern, als ihr Dasein für ihre Kinder wichtig war und sie selbst so eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Wenn sie aber einmal ins Spital eingeliefert würde, ohne Aussicht, jemals nach Hause zurückkehren zu können, und nicht mehr fähig, das Bett zu verlassen, würde aus ihr ein Klumpen nutzlosen faulenden Fleisches werden und ihr Leben jeden Sinn verlieren. Zwar war sie bereit, alle Schmerzen so lange zu ertragen, als dies noch irgendwie sinnvoll wäre; aber wozu wollte ich sie dazu verurteilen, ihre Leiden zu einer Zeit zu erdulden, zu der das Leben längst keinen Sinn mehr hätte? Daraufhin erwiderte ich, dass sie meines Erachtens einen groben Fehler begehe; denn ihr ganzes Leben sei sinnlos und von jeher sinnlos gewesen, noch bevor sie jemals erkrankt wäre. Einen Sinn des Lebens zu finden, sagte ich, hätten die Philosophen noch immer vergeblich versucht, und so bestehe denn auch der Unterschied zwischen ihrem früheren und ihrem gegenwärtigen Leben einzig und allein darin, dass sie in dessen früherer Phase an einen Sinn des Lebens noch zu glauben vermochte, während sie in der gegenwärtigen Phase eben nicht mehr imstande war, es zu tun. In Wirklichkeit, schärfte ich ihr ein, seien beide Phasen ihres Lebens ganz und gar sinnlos gewesen. Auf diese Eröffnung hin reagierte die Patientin, indem sie ratlos war, mich nicht recht zu verstehen vorgab und in Tränen ausbrach.7

Einem solchen Nihilismus entgegnet die Logotherapie und Existenzanalyse mit Hinweisen und Hilfestellungen, wie wir der Welt hoffend gegenübertreten und die Welt selbst, gerade in ihrer Unvollkommenheit, annehmen können. Denn diese Unvollkommenheit sagt uns: Die Welt ist auf unsere Hoffnung angewiesen, und nur der Mensch ist es, der diese Hoffnung überhaupt in die Welt trägt. Wenn er sie aufgibt, verschwindet die Hoffnung sang- und klanglos von der Erdoberfläche – mit absehbaren Folgen allerdings nicht nur für die Welt, sondern auch für den einzelnen Menschen selbst. Das hieße wiederum: Die Hoffnung und Sinnstrebigkeit des Menschen ist nicht ein psychologischer Mangel, sie liegt in seiner Natur und damit liegt sie auch schon in der Natur der Welt. Der psychologische Mangel offenbart sich vielmehr in der Abkehr von Hoffnung und Sinn – denn es ist die Abkehr von einem Kernmerkmal menschlichen Selbst- und Welterlebens.

Neben der ausführlichen Darlegung seines Ansatzes im »Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie« (S. 223–376) zeigen Frankls Texte aus sechs Jahrzehnten die verschiedenen Dimensionen sinnzentrierter Psychologie, angefangen bei seiner frühen Abgrenzung von der defizitorientierten Psychoanalyse (»Seelenärztliche Selbstbesinnung«, S. 53–58) über die »Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers« (S. 85–120) bis hin zu Frankls Auseinandersetzung mit den Sinnkrisen der modernen Konsumgesellschaft (»Bemerkungen zur Pathologie des Zeitgeists«, S. 209–222).

Der Weg zu innerer Stärke angesichts schwerer Lebensumstände läuft also nicht alleine über das zu stärkende Selbst, sondern über den zu verwirklichenden Sinn. Mit Blick auf die Rolle, die Frankl als Pionier der Resilienz bisweilen zugeschrieben wird, muss daher festgehalten werden, dass fraglos große Schnittmengen zwischen der Resilienz und der »Trotzmacht des Geistes« auszumachen sind, der Weg zur und das Ziel der Leidbewältigung in beiden Fällen aber unterschiedlich sind.

Frankls Modell unterscheidet sich etwa von der zeitgenössischen Resilienzrezeption darin, dass es Resilienz nicht eigentlich als Ziel, sondern als Nebenprodukt einer bedingungslosen Sinnoffenheit betrachtet; dass es weiters auf die natürlichen Selbstheilungskräfte des Menschen vertraut, sofern dieser nur einer Sinnmöglichkeit auch noch im unabänderlichen Leid ansichtig geworden ist und damit auch besser in der Lage, das individuelle Profil der jeweiligen Person in ihrer einmaligen Situation zu würdigen.

Dem gegenüber steht in der Resilienzforschung mitunter das Bestreben, aus Einzelbeobachtungen und Gruppenuntersuchungen jene Faktoren zu isolieren, die üblicherweise Menschen dazu verhelfen können, resilient zu sein. Oft wird dabei übersehen, dass gerade angesichts von Leid und seiner Bewältigung alles Denken in der Kategorie des »üblicherweise« Hilfreichen auf eine je einzigartige Person in einer je einmaligen Situation – und damit an seine Grenzen – stößt. Sobald man mit konkretem Leid konfrontiert ist, wird es aber nötig, das eigene Erleben, Entscheiden, Handeln und Helfen nicht nur auf bekannte Tatsachen auszurichten, sondern auf noch unentdeckte Möglichkeiten zu lenken, die erst in der prekären Situation darauf warten, verwirklicht zu werden.

Man kann es noch allgemeiner sagen: Frankls Modell versucht, die Würde des gebrochenen Menschen vor dem Zugriff des Leidens zu bewahren und aktiviert gleichsam als Nebeneffekt zahlreiche der Faktoren, welche die zeitgenössische Forschung als Resilienzvariablen entdeckt und festgeschrieben hat.

Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine Wiederentdeckung Frankls im Rahmen der Resilienzforschung zu begrüßen und eröffnet der Forschung neue Möglichkeiten, die bislang weitgehend zu wenig Beachtung gefunden haben. Für den Logotherapeuten ist es einerseits ungemein interessant, dass die zeitgenössische Psychologie Zug um Zug auf mitunter gänzlich anderen Wegen zu Einsichten hingeführt wird, die vormals in einem anderen ideenhistorischen und sozialen Kontext (hier insbesondere im Zuge des Holocaust und der Geschehnisse von Hiroshima und Nagasaki) formuliert wurden. Und für den zeitgenössischen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten mag ebenso interessant sein, dass die im Rahmen der Resilienzforschung diskutierten protektiven Faktoren auch im Zusammenhang eines größeren existenzpsychologischen Modells eingebettet sind, das sich selbst angesichts der bis heute unfassbaren Zivilsationsbrüche des vergangenen Jahrhunderts bewährt hat und neben der Resilienz vermutlich zahlreiche weitere noch zu entdeckende Hinweise auf bestmögliche Hilfe für den leidenden Menschen der Gegenwart enthält.

Alexander Batthyány ist Professor für Philosophie der Psychologie und Inhaber des Viktor Frankl Lehrstuhls in Liechtenstein sowie Leiter der Abteilung Logotherapie am Univ.-Institut für Psychoanalyse in Moskau. Er leitet das Viktor Frankl Institut in Wien und ist Erstherausgeber der Gesammelten Werke von Viktor Frankl.4

Vorwort zur Erstausgabe

Am 14. Mai 1986 hat die Universität Wien Prof. DDr. Viktor Frankl die Ehrendoktorwürde der Naturwissenschaften verliehen. Es war das zwölfte Ehrendoktorat5 Frankls und für mich als den Laudator dieser Feier ein Anlass, zurückzublicken auf Lebenswerk und Leben eines Mannes, den ich selbst als junger Student vor mehr als 30 Jahren kennenlernen durfte.

Die Laudatio zu halten war keine schwierige Aufgabe: Einen Mann zu rühmen, von dem seit 1946 nicht weniger als 27 Bücher in 20 Sprachen6 erschienen sind (unter anderem eine siebenbändige Ausgabe seines Gesamtwerks in japanischer Sprache!), ist nicht schwer. Die Verdienste des Verfassers von Man’s Search for Meaning aufzuweisen, eines Werkes, das weltweit bis heute nicht weniger als 149 Auflagen erlebte, einen Wissenschaftler zu würdigen, bei dem man, um nicht in Zeitnot zu geraten, als Laudator die Ehrungen und Auszeichnungen nur exemplarisch wiedergeben kann, sollte eine einfache Aufgabe darstellen – gäbe es da nicht ein anderes Problem: aus der übergroßen Fülle seiner Werke auszuwählen, was für ihn, seine Thesen und seine Entwicklung entscheidend war.

Ich musste damals im stillen Alleingang meine Entscheidung treffen und wurde von Viktor Frankl selbst in meiner Auswahl bestätigt. Als nun die Bitte an mich gerichtet wurde, zu einem Werk einleitende Gedanken zu formulieren, das »Texte aus fünf Jahrzehnten« zusammenfassen will, war meine Neugier nicht gering, wie diese Selektion wohl aussehen mochte. War mir doch nur allzu gut in Erinnerung geblieben, dass seine erste Publikation bereits im Jahre 1924 erschienen war – ein Datum, bei dem man stutzt, wenn man das Geburtsjahr 1905 bedenkt: Der erst Neunzehnjährige hatte in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse einen Beitrag zur Entstehung mimischer Bejahung und Verneinung publiziert, dem eine langjährige Korrespondenz mit Freud vorausgegangen war, die der Mittelschüler Frankl geführt hatte. Bereits zwei Jahre später hielt er dann als junger Medizinstudent auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie ein Grundsatzreferat.

Schon damals begegnen wir der wesentlichsten Eigenheit Viktor Frankls: dem unbeugsamen Willen, einen eigenen Weg einzuschlagen. Und wer so entscheidet, hat es schwer, von bestehenden Institutionen akzeptiert zu werden. Die bereits im genannten Grundsatzreferat angedeuteten Abweichungen von den orthodoxen Schulmeinungen der Individualpsychologie wurden gravierender und führten schließlich zum Bruch mit Adler, auf dessen ausdrücklichen Wunsch Frankl 1927 von der Gesellschaft der Individualpsychologen ausgeschlossen wurde.

Der Beitrag »Die Begegnung der Individualpsychologie mit der Logotherapie« (S. 153–169) gibt einen versöhnlichen Rückblick auf diese Entwicklungsphase, die für Frankl einen notwendigen Schritt auf seinem eigenen Weg darstellte. Ihm war offenbar bereits damals klar, dass sich die Psychoananalyse das Ziel setzt, den Menschen an die Wirklichkeit anzupassen, während die Individualpsychologie auf eine Gestaltung dieser Wirklichkeit abzielt – eine Stufenfolge, in der schon dem jungen Frankl die nächste, letzte und entscheidende Position zu fehlen schien. Sie wird im Beitrag »Zur geistigen Problematik der Psychotherapie« dargelegt:

Der wesentliche Schritt über Anpassung und Gestaltung hinaus ist das Übernehmen von Verantwortung: Ich sein heißt verantwortlich sein. Und so ist als höchste Ebene die der Sinnfindung zu postulieren, das Auffinden jener Werte, die der Einzelne in seinem konkreten Lebensschicksal verwirklichen kann. Und schon in dieser 1938 verfassten Arbeit (S. 33–51) stellt Frankl klar, dass hier nicht wir, sondern vielmehr der Kranke selbst zu entscheiden hat. Zu entscheiden, vor wem er sich verantwortlich fühlt (sei es vor Gott, sei es vor seinem Gewissen) und wofür er sich verantwortlich fühlt, also welchen Sinn er in seinem Leben findet.

In diesen frühen Schriften der ausklingenden Dreißigerjahre stellt Viktor Frankl bereits das Problem der scheinbaren Sinnlosigkeit der Existenz in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und fordert den bemerkenswerten Therapieschritt des weltanschaulich geführten Gesprächs.

Dabei wird eine gefährliche Klippe erkannt und umgangen: dass nämlich nicht ein bestimmter Standpunkt angeboten oder gar oktroyiert werden darf, sondern vielmehr die kompromisslos unmissionarische Haltung ein Zentraldogma der seelenärztlichen Tätigkeit zu sein hat. Klar und verbindlich spricht Frankl dies in »Seelenärztliche Selbstbesinnung« aus: »Welche Weltanschauung jemand wählt, bleibe unbeeinflusst. Entscheidend ist, dass er Weltanschauung besitzt.«

Diese tolerante Haltung macht nicht einmal vor der religiösen Sphäre halt: In der Oskar-Pfister-Lecture »Man’s Search for Ultimate Meaning« (S. 179–202)7 wird die Brücke zur Religion mit allen Konsequenzen für die seelenärztliche Tätigkeit geschlagen. Doch Frankls Auffassung des Begriffes »Religion« ist so weit, dass Agnostizismus und selbst Atheismus mit eingeschlossen werden können.

In seiner Autobiographie schildert Viktor Frankl, wie er im Alter von etwa vier Jahren mit der Erkenntnis aus dem Schlaf aufschreckte, auch er werde eines Tages sterben müssen. War es dieser frühe Impuls, der ihn die Zentralfrage so klar formulieren ließ: Wie sich der Sinn des Lebens mit der Vergänglichkeit in Einklang bringen lässt? Schon als Mittelschüler setzte sich Frankl, unter anderem von Gustav Theodor Fechner angeregt, mit Ideen auseinander, die er später mit Martin Heidegger diskutieren sollte. Und so ist für ihn von Anfang an der weltanschauliche Bereich in die nervenärztliche Tätigkeit integriert:

In »Philosophie und Psychotherapie« (S. 59–69) wird die unmissverständliche Forderung erhoben, dass der Nervenarzt nicht »vorbeibehandeln« darf an weltanschaulichen Entscheidungen und persönlichen Werten des Patienten. Neurosen entstehen durch ganz bestimmte weltanschauliche Positionen bzw. werden durch sie aufrechterhalten. Und wohl nicht zufällig greift Frankl in seinem Beitrag »Rudolf Allers als Philosoph und Psychiater« (S. 121–131) ein wörtliches Zitat seines Physiologielehrers auf: »Ich habe noch keinen Fall von Neurose gesehen, bei dem sich nicht als letztes Problem und als letzter Konflikt eine, wenn man es so nennen will, ungelöste metaphysische Frage enthüllt hätte …«

Als wollte das Schicksal Frankl an seinen eigenen Thesen messen, erfährt dieser zielstrebige und erfolgreiche Weg einen jähen Bruch: Er wird aus der Arbeit als Primarius am Rothschild-Spital gerissen und in mehrere Konzentrationslager gebracht (unter anderem nach Auschwitz). Was ist über diese Jahre zu sagen, in denen er in den Konzentrationslagern seine erste Frau verlor, seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder? Völlig unpathetisch spricht Frankl selbst von einem großen experimentum crucis für seine damals schon klar ausformulierten Vorstellungen über Sinnfindung: »Überleben kann nur durch eine Orientierung auf die Zukunft erfolgen, auf einen Sinn, dessen Erfüllung in der Zukunft wartet.«

Mutet es nicht wie eine kürzelhafte Illustration des Schicksals an, dass das Manuskript der Ärztlichen Seelsorge verloren gegangen war und der Wunsch nach seiner Rekonstruktion einer der entscheidenden Impulse zum Überleben von Viktor Frankl wurde? In »Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers« (S. 85–120) stellt Frankl in affektlos-sezierender Form die Grenzsituation einer permanent provisorischen Existenz und der andauernden Ungewissheit des Endes dar. Er hatte jedoch nicht nur die Kraft zu überleben, sondern auch nach seiner Rückkehr aus dem KZ die Stärke, mit ruhiger Besonnenheit seinen Maximen treu zu bleiben. Mit Entschiedenheit tritt er gegen den Gedanken einer Kollektivschuld auf und schreibt 1947 in »Die Existenzanalyse und die Probleme der Zeit«: »Sofern es kollektive Verantwortung gibt, kann sie nur eine planetarische sein. Die eine Hand soll sich nichts darauf einbilden, dass nicht sie es ist, sondern die andere, die von einem Geschwür befallen wurde; denn immer ist es der ganze Organismus, der erkrankt ist.«

Seine differenzierte, von einer positiven Grundeinstellung getragene Haltung – etwas durch Liebe zur Existenz zu bringen – verdichtet Viktor Frankl 1947 in »Zeit und Verantwortung«, indem er dem Descartes’schen Cogito ergo sum ein Amo ergo est gegenüberstellt.

Der Brückenschlag zwischen Philosophie und Psychotherapie – von Frankl in seiner Lehre wie auch in seinem Leben realisiert – darf freilich nicht eine weitere entscheidende Komponente vergessen lassen: seine naturwissenschaftlich-experimentelle Begeisterung. In seiner autobiographischen Skizze berichtet er, dass er bereits im Alter von drei Jahren den Wunsch äußerte, Arzt zu werden, und auch einige Ideen zur Erprobung von Medikamenten vorstellen konnte (die allerdings den gegenwärtigen Standards nicht ganz entsprechen dürften).

Die Experimentalpsychologie fesselte Frankl jedenfalls so sehr, dass er 1949 in Wien mit dem Hauptfach Psychologie promovierte. Der Hauptgedanke, dass neben der noetischen und der psychologischen Ebene der biologische Bereich nicht übersehen werden darf, ist wohl auch dafür verantwortlich, dass er bereits 1939 die Arbeit »Zur medikamentösen Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen« (S. 71–83) vorlegte. Und so wird es wohl nur den Außenstehenden wundern, dass Pöldinger in seinem Kompendium der Psychopharmakotherapie Frankl als einen der ersten zitiert, die günstige Behandlungserfolge bei ängstlich-gespannten Depressionen mit Glyzerinestern berichten konnten, und ihn unter die Pioniere der Tranquilizerforschung einreiht.

Freilich wird auch hier das »Werkzeug« Medikament nicht isoliert gesehen. Es hat vielmehr nach Frankls Überzeugung den Stellenwert eines Dopings »in einem Kampfe, zu dem der Kranke die Waffe aus der Hand des Psychotherapeuten schon vorher erhalten haben muss«. Dieser 1939 niedergeschriebene Satz scheint heute wichtiger denn je – in einer Zeit, die von der Überzeugung geprägt ist, dass es für und gegen alles eine Pille gibt und geben muss.

Viktor Frankls Aufgeschlossenheit gegenüber der Experimentalpsychologie war aber auch Triebfeder dafür, dass bereits 1972 die erste empirische Arbeit (Logotherapie als Persönlichkeitstheorie von Elisabeth Lukas) bei mir als Dissertation eingereicht wurde. Ihr folgte eine lange Reihe von Arbeiten, in denen einzelne Thesen und Gedanken der Forschungsrichtung Existenzanalyse bzw. der psychotherapeutischen Behandlungsmethode Logotherapie untersucht wurden.

Gerade hierbei darf allerdings ein Kerngedanke von Frankls Lebenswerk nicht übersehen werden: Im Versuch, dem Kranken zu helfen, darf man der weltanschaulichen Auseinandersetzung nicht ausweichen. Techniken wie das Ignorieren der Symptome, die Dereflexion oder gar ihr Ironisieren, die paradoxe Intention mögen uns in viel später entstandenen verhaltenstherapeutischen Ansätzen begegnen. Sie jedoch als isolierte Werkzeuge einzusetzen muss notwendigerweise zu derselben Enttäuschung führen wie eine Überbewertung der medikamentösen Unterstützung der Therapie.

Der hier vorgelegte Querschnitt durch ein halbes Jahrhundert Forschungsarbeit zeigt den wunderbaren Brückenschlag, den Viktor Frankl zwischen Psychiatrie, Philosophie und Psychologie vollzogen hat. Wir würden sein Anliegen missverstehen, wollten wir es dabei bewenden lassen, diesen Brückenschlag zu bewundern, und nicht zu erkennen, dass Frankl damit gleichzeitig die untrennbare Einheit dieser drei Bereiche fordert. Psychotherapeutisches Bemühen ohne Einbeziehung der philosophisch-weltanschaulichen Dimension muss fruchtlos bleiben. Die vorliegenden Arbeiten werden helfen, diese Forderung aus ihrer Entstehungsgeschichte zu verstehen und damit ernst zu nehmen. Es sei mir erlaubt, bei Frankls eigenen Formulierungen eine Anleihe zu nehmen, wenn ich die Hoffnung ausspreche, dass dieser Band erkennen lässt: Der Sinn des Lebens von Viktor Frankl mag darin gelegen sein, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen!

Giselher Guttmann war Professor für allgemeine und experimentelle Psychologie an der Universität Wien.

Teil 1

Texte aus sechs Jahrzehnten

Zur geistigen Problematik der Psychotherapie

Sobald wir darangehen, die geistige Problematik der Psychotherapie aufzuzeigen, empfiehlt es sich fürs Erste einmal, die gegenwärtigen psychotherapeutischen Strömungen in wissenschaftshistorischem Aspekt daraufhin zu untersuchen, welchegeistesgeschichtlichen Entwicklungstendenzen zu beobachten seien. Hier finden wir nun als große historische Repräsentanten die Systeme der Psychoanalyse und der Individualpsychologie vor. Fragen wir uns aber, was denn den wesentlichen Befund in Bezug auf das neurotische Geschehen vom Standpunkt der genannten Lehrmeinungen ausmache, so können wir Folgendes feststellen: Für den Psychoanalytiker besteht das wesentliche Moment bei der Entstehung neurotischer Symptome in der Verdrängung, im Unbewusstmachen gewisser Bewusstseinsinhalte; das therapeutische Prinzip im Rahmen der Psychoanalyse ist demgemäß wesentlich ein Bewusstwerdenlassen im Sinne der Aufhebung von Verdrängungen. Kennzeichnend für diesen Grundzug der psychoanalytischen Behandlungsmethode mag wohl der Ausspruch von Sigmund Freud sein, dass dort, wo Es ist, Ich werden soll – eine Tat, die er mit der Trockenlegung der Zuidersee vergleicht. Demgegenüber sehen wir bei der individualpsychologischen Behandlungsweise, dass hier das neurotische Symptom, ganz im Sinne des grundlegenden Adler’schen Begriffes des Arrangements, als ein Versuch des Individuums gedeutet wird, Verantwortung abzuwälzen. Es wird also nach der psychoanalytischen Auffassung im neurotischen Geschehen das Ich als Bewusst-Sein irgendwie eingeschränkt, während nach der individualpsychologischen Lehre eine Minderung des Verantwortlich-Seins eintritt.

Eine allgemeine Besinnung auf die tiefsten Grundlagen menschlicher Existenz ergibt nun folgende anthropologische Formel: Ich-Sein heißt Bewusst-Sein und Verantwortlich-Sein.8

Im Lichte dieser anthropologischen Grundformel zeigt es sich also, dass Psychoanalyse bzw. Individualpsychologie je eine Seite der menschlichen Existenz in ihr Blickfeld rücken, um von ihr aus zu einer Deutung des neurotischen Geschehens vorzudringen. Das besagt aber auch gleichzeitig nicht weniger, als dass beide Systeme nicht ganz zufällig geschaffen wurden, dass sie vielmehr mit wissenschaftstheoretischer Gesetzmäßigkeit, ja aus ontologischer Notwendigkeit heraus entstehen mussten und, in diesem Aspekte, ihre Einseitigkeiten sowohl wie ihre Gegensätzlichkeit bloß wirkliche Ergänzungen darstellen.

Aber nicht nur die von uns supponierten anthropologischen Ausgangspunkte beider Lehren bilden eine wahrhafte Ergänzung zueinander, sondern auch der methodische Weg, auf dem sie sich in ihrer Grundauffassung vom menschlichen Seelenleben bewegen. Beide Lehren machen sich nämlich einer Einschränkung der phänomenal gegebenen seelischen Wirklichkeit schuldig, die Psychoanalyse in materialer Hinsicht, was den Inhalt seelischer Strebungen anlangt, indem sie als möglichen Inhalt in letzter Auflösung immer nur Libidinöses gelten lässt. Demgegenüber schränkt die individualpsychologische Auffassung das seelische Geschehen insofern in formaler Hinsicht ein, als sie wohl Strebungen verschiedenen Inhalts anerkennt, soweit aber neurotische Formen infrage stehen, sie irgendwie als unecht hinstellt, als Mittel zum Zweck, im Sinne des angeführten Arrangementbegriffes.9 Faktisch ist es natürlich so, dass im allgemein-seelischen, aber auch im neurotischen Geschehen einerseits nicht nur libidinöse, sondern auch andere Strebungen bedeutsam sind, während anderseits – im Gegensatze zur individualpsychologischen Auffassung – neurotische Symptome nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch (zumindest primär) unmittelbarer Ausdruck sind. Immerhin haben wir gesehen, wie auch in dieser Beziehung Psychoanalyse und Individualpsychologie in ihren einseitigen und zu Übertreibungen führenden psychologischen Grundpositionen letzten Endes nur zwei notwendige Ergänzungen darstellen.

Was nun schließlich, über den anthropologischen Ausgangspunkt und den methodischen Weg hinaus, das weltanschauliche Ziel anlangt, das beiden Lehren in ihrer Praxis bewusst oder unbewusst vorschwebt, jedenfalls aber implicite in ihnen enthalten ist, können wir folgende Feststellungen machen: Die oberste Maxime psychoanalytischen Handelns ist die Herstellung eines Kompromisses zwischen den Ansprüchen des Unbewussten einerseits und den Forderungen oder der Versagung der Realität anderseits, somit die Anpassung der Triebhaftigkeit an die Wirklichkeit. Die Individualpsychologie hingegen hat die therapeutische Devise, über jedwede Anpassung des Individuums hinausgehend zu einer mutigen Gestaltung der Wirklichkeit seitens des Ichs zu gelangen. (Hier stoßen wir also beim Vergleich beider Systeme erstmalig statt auf ergänzendes Gegenüberstehen auf eine fortschreitende Stufenfolge!) Fragen wir uns nunmehr, ob es denn nicht außer Anpassung und Gestaltung sozusagen eine weitere Dimension gebe, in die der Mensch vorzudringen hat, sofern wir ihn gesunden lassen wollen; oder fragen wir uns, welche die letzte Kategorie sei, die wir noch mit einzubeziehen haben in unser Bild vom Menschen, wenn es seiner seelisch-geistigen Wirklichkeit gerecht werden soll – dann gelangen wir zu der Ansicht, dass diese Kategorie die der Erfüllung sein mag, der Sinnfindung. Dabei wäre zu bemerken, dass Erfüllung des Menschen wesentlich über bloße Gestaltung seines Lebens hinausreicht, so zwar, dass Gestaltung jeweils eine extensive, Erfüllung bzw. Sinnfindung jedoch gleichsam eine vektorielle Größe darstellen: Sinnfindung ist gerichtet, gerichtet nämlich auf jene jeder einzelnen menschlichen Person vorbehaltene oder, besser gesagt, aufgegebene Wertmöglichkeit, die es eben zu erfüllen gilt; gerichtet auf jene Werte, die jeder einzelne Mensch in der Einmaligkeit seiner Existenz und Einzigartigkeit seines Schicksalsraumes zu verwirklichen hat. Ist somit Psychoanalyse auf Vergangenheit und Kausalität, Individualpsychologie aber auf Zukunft und Finalität eingestellt, so rekurriert eine Psychotherapie in diesem letzten Sinne wesentlich auf Zeitlos-Überzeitliches, eben auf ein Absolutes im Sinne objektiver Werthaftigkeit. Oder: Setzt die Individualpsychologie dem bloßen Müssen der psychoanalytischen Auffassung das Wollen (»mutige Gestaltung« sagten wir oben) entgegen, dann müssen wir noch fragen: Wo bleibt jene dritte Kategorie des Sollens? Wurde doch tatsächlich in beiden Lehren der Komplex all jener Strebungen vernachlässigt, den man unter Variation des bekannten individualpsychologischen Schlagwortes als »moralisches Geltungsstreben« bezeichnen könnte, im Sinne eines durchaus echten, originären Strebens nach moralischer Geltung.

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