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Claus-W. Wallesch

Hartwig Kulke

Schädel-Hirn-Trauma

Neurologische Rehabilitation und Neuropsychologie

Eine Einführung für Ärzte, Psychologen, Therapeuten und Pflegende

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032023-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032024-6

epub:   ISBN 978-3-17-032025-3

mobi:   ISBN 978-3-17-032026-0

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Inhalt

 

 

 

  1. 1 Neuropsychologie im historischen Überblick
  2. 2 Epidemiologie
  3. 3 Pathologie und Pathophysiologie
  4. 4 Klinik
  5. 4.1 Klinik der Akutphase
  6. 4.1.1 Initialsymptomatik
  7. 4.1.2 Komplikationen in der Akutphase
  8. 4.2 Klinik der chronischen Phase
  9. 5 Neurologisch-neuropsychologische Rehabilitation
  10. 5.1 Phase B der neurologischen Frührehabilitation
  11. 5.2 Phase C der neurologischen Frührehabilitation
  12. 5.3 Phase D der neurologischen Rehabilitation
  13. 5.4 Phase E der neurologischen Rehabilitation
  14. 6 Neuropsychologische Diagnostik
  15. 6.1 Weichenstellungen – Phasen A und B
  16. 6.2 Leistungsmessung im Rehabilitationsverlauf und Kontextfaktoren – Phasen C und D
  17. 6.2.1 Aufmerksamkeit
  18. 6.2.2 Exekutivfunktionen
  19. 6.2.3 Gedächtnis
  20. 6.2.4 Gesichtsfeldeinschränkungen
  21. 6.2.5 Visuell-räumliche Verarbeitungsprozesse
  22. 6.2.6 Sprache und Rechnen
  23. 6.2.7 Krankheitsverarbeitung
  24. 6.2.8 Störvariablen in Testinterpretation und -vergleich
  25. 6.3 Diagnostik in der chronischen Phase – Phasen E und F
  26. 6.4 Diagnostische Präzision und Symptomvalidierung
  27. 6.5 Qualitätsmaßstäbe diagnostischen Vorgehens
  28. 7 Begutachtung
  29. 7.1 Neurologische Begutachtung
  30. 7.2 Neuropsychologische Begutachtung
  31. 8 Neuropsychologische Therapie
  32. 8.1 Der therapeutische Vertrag, Umgang mit Denial und Unawareness
  33. 8.2 Therapie kognitiver Störungsbilder
  34. 8.2.1 Aufmerksamkeitstherapie
  35. 8.2.2 Therapie exekutiver Funktionsstörungen
  36. 8.2.3 Gedächtnistherapie
  37. 8.2.4 Therapie visuell-räumlicher Störungen einschließlich Wahrnehmungsstörungen
  38. 8.3 Therapie von Verhaltensauffälligkeiten
  39. 8.4 Therapeutische Unterstützung der Unfall- und Behinderungsverarbeitung
  40. 8.5 Behandlungsfrequenz und -dauer, Therapiesetting
  41. 8.6 Eigentraining
  42. 8.7 Beendigung einer neuropsychologischen Therapie
  43. 9 Wiedereingliederung
  44. 9.1 Soziale Integration
  45. 9.2 Berufliche Integration
  46. 9.3 Möglichkeiten der Unterstützung
  47. 10 Fallvignette
  48. Literatur
  49. Glossar
  50. Sachwortverzeichnis

 

1          Neuropsychologie im historischen Überblick

 

 

 

Einen Aufschwung erlebten sowohl die Psychologie als auch die Neuropsychologie im und nach dem Ersten Weltkrieg durch die Notwendigkeit der Versorgung und Rehabilitation von Kriegshirnverletzten. Voraussetzung dafür war die Entwicklung von Untersuchungsverfahren (z. B. Binet und Simon 1905; Cattell 1890) und Behandlungsmethoden. Die sogenannte Psychotechnik (Münsterberg 1914) gab der Psychologie Methoden zur differenzierten Untersuchung und gezielten Behandlung von Teilleistungsstörungen in die Hand. Gleichzeitig führte die Einführung von Hochgeschwindigkeitsgeschossen zu einer großen Zahl von jungen Patienten mit relativ umschriebenen Hirnverletzungen. Auf dieses Patientengut stützten sich bedeutende Analysen von regionalen Hirnfunktionen, so die von Poppelreuter (1917, 1918) und von Kleist (1934), und erste Kompendien neuropsychologischer Diagnostik- und Therapieverfahren (Moede 1917).

In Deutschland wurden mehrere auf die Behandlung von Kriegshirnverletzten spezialisierte Lazarette eingerichtet, so in Köln-Lindenthal (Poppelreuter) und Frankfurt/Main (Goldstein). Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten in diesen Sonderlazaretten Neurologen, Psychologen und Pädagogen eng zusammen. Hirnverletzten-Lazarette wie das in Köln-Lindenthal bestanden aus

•  einer klinischen, neurologisch-chirurgisch geleiteten Station

•  einem psychologischen Labor

•  einer Schule für Hirnverletzte

•  Übungswerkstätten

•  einem gewerblichen Betrieb, z. B. Landwirtschaft oder Manufaktur

•  einer Beratungsstelle für Entlassene (Poppelreuter 1916, nach Frommelt 2010).

Als wissenschaftliche Kooperation zwischen Psychologen und Neurologen zur Erforschung der Hirnverletzungsfolgen ist vor allem die Zusammenarbeit von Kurt Goldstein mit Adhemar Gelb zu nennen (Gelb und Goldstein 1920; Preilowski 2000).

Die deutsche Psychologie hat enorm unter der Judenverfolgung im »Dritten Reich« gelitten. Ein Drittel der Psychologie-Professoren verlor ihre Stellung, viele mussten emigrieren. Die Erforschung der Folgen von Hirnverletzungen und die Versorgung der Betroffenen wurden in Deutschland wieder zur Domäne von Neurologen und Psychiatern und blieben es bis in die späten 1970er Jahre. In Großbritannien, den USA und in der Sowjetunion dagegen nahm die Neuropsychologie als eigenständiges Fach während und nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Aufschwung. Dieser lässt sich an drei Namen festmachen: Oliver Zangwill (1913–1987), Hans-Lukas Teuber (1916–1977) und Alexander Luria (1902–1977).

Zangwill war experimenteller Psychologe und arbeitete ab 1940 an der Brain Injuries Unit in Edinburgh. Während seiner Tätigkeit dort und später als Professor für Experimentelle Psychologie in Oxford hat er eine ganze Generation Neuropsychologen ausgebildet oder bleibend beeinflusst, deren Namen auch heute noch Gewicht haben: George Ettlinger, Elisabeth Warrington, Maria Wyke, Malcolm Piercy und Larry Weiskrantz, um nur einige zu nennen.

Hans-Lukas Teuber wurde in Berlin als Sohn eines Psychologen geboren. Er studierte Biologie und Philosophie in Basel, dann Psychologie in Harvard. Eines seiner ersten Forschungsgebiete war die Analyse von kognitiven und Wahrnehmungsstörungen bei Kriegshirnverletzten, die er zusammen mit dem Neurologen Morris Bender durchführte und aus der über 20 gemeinsame Publikationen hervorgingen. Später gründete er das Psychophysiologische Labor am Bellevue Medical Center der Universität New York und das Department of Psychology am Massachusetts Institute of Technology. Bei ihm arbeiteten unter anderem Brenda Milner, Suzanne Corkin und Charles Gross.

Alexander Romanovich Luria studierte Pädagogik und Medizin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er am Burdenko Institut für Neurochirurgie, später am Institut für Psychologie der Universität Moskau. Eines seiner beeindruckendsten Werke ist »The Man with a shattered World« (1987) basierend auf den Berichten eines schwer hirnverletzten Soldaten. Luria ist neben Goldstein wohl der bedeutendste Theorienbilder der klinischen Neuropsychologie des 20. Jahrhunderts (Luria 1962, 1973).

Während in anderen Ländern (Großbritannien, USA, Sowjetunion, Niederlande, Skandinavien) neuropsychologische Forschung in universitärer Anbindung und Hirnverletztenversorgung nach dem Zweiten Weltkrieg Hand in Hand gingen, war die Neuropsychologie in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre wissenschaftliches Brachland. Auch nach dem Aufschwung der Neuropsychologie zunächst in Konstanz und Aachen stand die Erforschung der Folgen von Hirnverletzungen lange nicht im Vordergrund. Für die Versorgung von (Kriegs-)Hirnverletzten wurden hingegen in der Bundesrepublik klinische Rehabilitationszentren aufgebaut (BDH-Kliniken, Kliniken Schmieder u. a.). Wissenschaftliche Begleitung erfolgte durch die »Arbeitsgemeinschaft für Hirntraumafragen«, dann »Gesellschaft für Hirntraumatologie und klinische Hirnpathologie«, sowie die »Deutsche Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neuropsychologie«, heute »Deutsche Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neurorehabilitation«. Dabei handelte es sich lange um rein medizinische Fachgesellschaften, (Neuro-)Psychologen und Therapeuten waren bis in die 1980er Jahre nur als außerordentliche Mitglieder zugelassen.

 

2          Epidemiologie

 

 

 

In Deutschland wurden 2011 135.138 Männer und 114.742 Frauen mit der Diagnose eines Schädel-Hirn-Traumas (SHT) stationär aufgenommen (Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.destatis.de). Davon wurden 83,7 % als Gehirnerschütterung (S06.0), 1,5 % als diffuse Hirnverletzung (S06.2), 2,2 % als umschriebene Hirnverletzung (S06.3), 0,9 % als epidurale Blutung (S06.4), 6,4 % als subdurale Blutung (S06.5) und 3,8 % als traumatische subarachnoidale Blutung (S06.6) diagnostiziert. Bei Mehrfachverletzungen wurde nur eine Diagnose berücksichtigt, die Qualität der Diagnosen muss bezweifelt werden. Es ist von einer erheblichen Dunkelziffer bei leichten Gehirnerschütterungen auszugehen, nicht alle Betroffenen suchen ein Krankenhaus auf und von diesen werden nicht alle stationär aufgenommen. Knapp 30 % der SHT betreffen Patienten unter 16 Jahren (Rickels et al. 2010). Bei Kindern unter 15 Jahren sind SHT die häufigste Todesursache (Starmark et al. 1988).

Die Diagnose nach ICD-10 S06 (image Tab. 2.1) setzt Symptome einer Hirnbeteiligung voraus. Dies können der Nachweis in der Bildgebung, beobachtete Bewusstlosigkeit oder Bewusstseinsstörung, neurologische Herdsymptome, Krampfanfälle oder auch nur anamnestische Angaben einer amnestischen Lücke sein. Die meisten SHT sind leicht und ziehen keine oder nur geringe Folgeschäden nach sich.

Jedes Jahr sterben in Deutschland mehrere 1.000 Personen an einem Schädel-Hirn-Trauma (ohne Patienten mit Hirnbeteiligung bei Polytrauma). Von den Patienten, die bei Krankenhausaufnahme noch bewusstlos sind, sterben etwa 25 % (Firsching und Haupt 2005). Prädiktoren für einen tödlichen Verlauf oder anhaltendes Koma bzw. die Entwicklung eines apallischen Syndroms sind dabei Hirnstammverletzungen (Firsching et al. 1998, 2001).

Besonders betroffen sind Kinder unter 2 Jahren, männliche Jugendliche und Senioren. Die Ursachen von Unfällen, die zu SHT führen, sind altersabhängig. Verkehrsunfälle machen etwa ein Drittel mit rückläufiger Tendenz, häusliche und Freizeitunfälle über 50 %, Arbeitsunfälle gut 10 % aus (Möllmann et al. 2006). Typische Begleitverletzungen betreffen den Gesichtsschädel (60 %), die Halswirbelsäule (10 %), den Thorax (7 %) und die Extremitäten (20 %) (Rickels 2006).

Tab. 2.1: Die ICD-10-GM Klasse S06.- Intrakranielle Verletzung (gekürzt nach DIMDI 2014). Bei den Subkategorien S06.0 bis S06.9 ist ein Bewusstseinsverlust mit einer zusätzlichen Schlüsselnummer aus S06.7 zu verschlüsseln.

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* Das Ausrufezeichen markiert eine obligatorische Sekundärdiagnose

 

3          Pathologie und Pathophysiologie

 

 

 

Eine plötzliche Gewalteinwirkung auf den Schädel kann für das Gehirn unterschiedliche Folgen haben. Frakturen des Gehirnschädels absorbieren Energie und mindern dadurch die Gewalteinwirkung auf das Gehirn. Bei Impressionsfrakturen kann eindringender Knochen schwere lokale Zerstörungen bewirken. Außerdem können Frakturen in Verbindung mit Zerreißungen der Hirnhäute Verbindungen zwischen Liquorraum und Außenwelt und damit eine Eintrittspforte für Bakterien herstellen (»offene Hirnverletzung« im Gegensatz zur »gedeckten Hirnverletzung«). Beim gedeckten SHT können mehrere Verletzungsmechanismen unterschieden werden:

1.  Die fokale Schädigung unterhalb des Ortes der Gewalteinwirkung. Diese Kontusion (Prellung) wird in der traumatologischen Literatur als »Coup« bezeichnet.

2.  Die fokale Gewalteinwirkung löst im Gehirn, das eine gallertartige Konsistenz besitzt, eine Stoßwelle aus, die ungefähr gegenüberliegend durch Anprall des Gehirns am Schädel eine weitere Kontusion bewirkt (»Contrecoup«). Dieser kann deutlich größer als der Coup sein. Bei Coup und Contrecoup kommt es nicht nur zu traumatischen Nekrosen des Gehirngewebes, sondern auch zu lokalen Gefäßzerreißungen, deren Schädigungsfolgen nicht nur vom Ausmaß der Gewalteinwirkung, sondern auch durch die Menge des austretenden Blutes bestimmt wird. Coup- und Contrecoup-Läsionen finden sich vor allem im orbitofrontalen, frontopolaren und temporalen Cortex, außerdem unter Impressionsfrakturen.

3.  Die durch das Gehirn laufende Stoßwelle entspricht einer Abfolge von Regionen mit Unter- und Überdruck, die zu Zerreißungen von Axonen und Gefäßen führt. Hierbei führt eine rotationale Komponente der Gewalteinwirkung (»effait«) zu zusätzlichen Scherkräften an Grenzflächen unterschiedlicher physikalischer Dichte, wie in den Übergängen zwischen grauer und weißer Substanz, außerdem im Balken (corpus callosum) und im rostralen Hirnstamm. Die hierdurch hervorgerufene Pathologie wird als »traumatische axonale Schädigung« bezeichnet (häufig fälschlich »diffuse axonal injury«, die Schädigung ist nicht diffus, sondern multifokal). Prädilektionsorte im Großhirn sind Frontal- und Temporallappen (Fork et al. 2005). Radiologisch finden sich im CT kleine Hyperdensitäten in Rindennähe, die Blutungen aus eingerissenen Kapillaren entsprechen (image Abb. 3.1), das MRT weist an diesen Orten hyper- und hypodense Läsionen auf (Blutungen und regionale Ödeme).

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Abb. 3.1: Kleine Hyperdensitäten in der Nähe der Mark-Rinden-Grenze im CT > 8 h nach Trauma als Ausdruck der traumatischen axonalen Schädigung (mit Dank an Prof. Dr. W. Döhring, ehem. Direktor der Klinik für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Magdeburg, für die Überlassung des Bildmaterials)

4.  Beim intakten Schädel kann ein Druckausgleich nur über das Hinterhauptsloch erfolgen. Dies führt zu einer besonderen mechanischen Belastung (vereinfacht als Auf- und Abbewegung vorstellbar) von Mittelhirn und Hirnstamm. Die »traumatische Mittelhirnblutung« galt schon lange als Zeichen für eine ungünstige Prognose nach SHT und war ein häufiger Sektionsbefund bei Menschen, die einem SHT erlagen. Die prognostische Bedeutung von Mittelhirn- und Hirnstammläsionen wurde durch MR-tomografische Untersuchungen belegt (Firsching et al. 1998).

5.  Sekundärschäden entstehen durch traumatische Hirnschwellung, Hirnödem, raumfordernde Blutungen (epidural, subdural, subarachnoidal, intrazerebral), im Weiteren dann durch Hypoxie, Hypotension und Infektionen.

Die traumatische Schädigung von Axonen (3.) wird für die Kardinalsymptome des gedeckten SHT verantwortlich gemacht (Ommaya und Gennarelli 1974), die Epiphänomene von Diskonnektionen darstellen sollen (image Tab. 3.1).

Tab. 3.1: Schweregrade, Bewusstseinsstörungen und angenommene Pathomechanismen gedeckter Schädel-Hirn-Traumata (verkürzt nach Ommaya und Gennarelli 1974). Die angenommenen Diskonnektionen können funktionell (bei leichteren Graden) oder strukturell bedingt sein.

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SchweregradBewusstseinsstörungSymptomeangenommener Pathomechanismus

Mittlerweile geht man davon aus, dass die axonale Schädigung in einer biochemischen Kaskade verläuft, deren Endpunkt ein Axonuntergang ist, die jedoch bei leichterer Schädigung nur zu einem vorübergehenden und umkehrbaren Funktionsverlust führt (Giza und Hovda 2004). Die Kaskade ist in Anlehnung an McCrea (2008) nachfolgend dargestellt.

Neurometabolische Kaskade der axonalen Schädigung nach SHT (nach Giza und Hovda 2004 und McCrea 2008). Bis zu Stufe 7 ist der Schaden prinzipiell reversibel und führt nur zu vorübergehenden Funktionsstörungen.

1.  unspezifische Depolarisation und Auslösung von Aktionspotenzialen

2.  Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter

3.  massiver Kaliumausstrom aus der betroffenen Axonregion

4.  verstärkte Aktivität der Membran-Ionenpumpen, um die Homöostase wiederherzustellen

5.  vermehrte Glukoseutilisation zur ATP-Generierung, um den Energiebedarf der Ionenpumpen zu decken; Voraussetzung ist ein ausreichendes Glukoseangebot

6.  Laktat-Akkumulation

7.  Kalzium-Einstrom in die Zelle mit der Folge einer mitochondrialen Funktionsstörung und dadurch Beeinträchtigung des oxidativen Metabolismus

8.  verminderte ATP-Produktion

9.  Aktivierung von Calpain und Initiierung der Apoptose; irreversible Schädigung

Vor dem Hintergrund dieser Kaskade ist der therapeutische Ansatz der Kühlung des Gehirns nach SHT verständlich, die den Energiebedarf des Organs herabsetzt. Ihre Wirksamkeit ist derzeit noch umstritten (Georgiou und Manara 2013). Die Hemikraniektomie wirkt einer schwellungsbedingten Minderdurchblutung des Gehirns entgegen und steigert so das Glukose- und Sauerstoffangebot. Ihre Wirksamkeit ist ebenfalls umstritten (Bohman und Schuster 2013).

Sekundäre Schädigungen nach SHT entstehen durch die sich unmittelbar posttraumatisch ausbildende Hirnschwellung, das nach einigen Stunden folgende Hirnödem sowie durch raumfordernde Blutungen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass der entstehende Volumenzuwachs den Hirndruck erhöht und dadurch den zerebralen Perfusionsdruck (die Differenz zum mittleren Blutdruck) senkt und die Hirndurchblutung vermindert.

Bei den traumatischen Hirnblutungen lassen sich die folgenden Typen unterscheiden:

1.  Epidurale Hämatome bilden sich im Raum zwischen der harten Hirnhaut (Dura mater) und dem Schädelknochen. Es handelt sich meist um Blutungen aus einer Hirnhautarterie, meist der A. meningea media. Sie entstehen häufig bei einem Schädelbruch und sind zunächst nicht mit einer Hirnschädigung assoziiert. Da die Dura an den Schädelnähten fixiert ist, haben epidurale Hämatome in der Bildgebung typischerweise eine konvexe Form (image Abb. 3.2). Durch die hohe Druckdifferenz zwischen arteriellem Blutdruck und intrakraniellem Druck nehmen die Hämatome rasch an Volumen zu und führen zu einem dramatischen Hirndruckanstieg. Bei neurochirurgischer Evakuation innerhalb von maximal zwei Stunden ist die Prognose günstig und das Hirn kann ungeschädigt bleiben.

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Abb. 3.2: Ausgeprägte konvexe hyperdense Raumforderung bei Epiduralhämatom (Abb. 5.4.a aus Firsching et al. 2005)

2.  Subdurale Hämatome entstehen im Spaltraum zwischen Dura und Arachnoidea (»Spinngewebshaut«, die den Hirngyri aufliegt). Blutungsquelle ist typischerweise ein Einriss einer Brückenvene, die zwischen Dura und Arachnoidea verläuft. Menschen mit Hirnatrophie sind vermehrt gefährdet, weil bei ihnen die Brückenvenen ausgespannt sind. Da es sich um eine venöse Blutung handelt, ist der Differenzdruck zum intrakraniellen Druck geringer. Ihre Größe ist variabel, große Subduralhämatome führen rasch zu einer klinischen Symptomatik (akutes Subduralhämatom), sind mit großer Gewalteinwirkung verbunden und haben wegen der begleitenden Hirnschädigung auch bei rascher Evakuierung eine ungünstige Prognose. Bei kleineren Hämatomen kann es zu Nachblutungen kommen. Der Zerfall der großen Hämoglobinmoleküle zu kleineren Molekülen führt im Verlauf zu einem osmotischen Sog und damit zu weiterer Volumenzunahme (subakutes und chronisches posttraumatisches Subduralhämatom) mit konsekutiver neurologischer Symptomatik infolge der Raumforderung (image Abb. 3.3). Der kapilläre Spalt zwischen Arachnoidea und Dura fördert das Anhaften des Gehirns an der Schädelkalotte, ist er erst einmal eröffnet, wie beim subduralen Hämatom, kann es zu langanhaltenden Liquoransammlungen zwischen Dura und Arachnoidea (subduralen Hygromen) kommen.

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Abb. 3.3: Chronisches Subduralhämatom, das Hämoglobin ist abgebaut und das Hämatom daher fast isodens (Abb. 5.5.a aus Firsching et al. 2005)

3.  Subarachnoidalblutungen sind im Raum zwischen Arachnoidea und der dem Hirn aufliegenden weichen Hirnhaut (Pia mater) lokalisiert. Sie entstehen nahezu immer aus Zerreißungen von Hirnoberflächengefäßen und weisen daher (wenn auch nicht im Vollbeweis zwingend, Wallesch et al. 2013) auf eine strukturelle Hirnverletzung hin (image Abb. 3.4). Ebenso wie bei spontanen Subarachnoidalblutungen können Vasospasmen zu Infarzierungen als Sekundärschaden führen.

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Abb. 3.4: Traumatische Subarachnoidalblutung (mit Dank an Prof. Dr. W. Döhring, ehem. Direktor der Klinik für Diagnostische Radiologie des Universitätsklinikums Magdeburg, für die Überlassung des Bildmaterials)

4.  Intrazerebrale Hämatome entstehen durch Zerreißungen von Gefäßen des Hirnparenchyms. Bei Verletzung von Arterien, bei Vorliegen von Gerinnungsstörungen, auch bei solchen von kleineren Gefäßen und Venen, kann es zu raumfordernden Blutungen und dadurch Sekundärschäden kommen. Intrazerebrale Hämatome entwickeln sich häufig verzögert aus Sickerblutungen im Bereich von Kontusionen (image Abb. 3.5).

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Abb. 3.5: Verlaufs-CTs nach Schädel-Hirn-Trauma. Das erste CT zeigt nur geringe Auffälligkeiten, 6 Stunden später dann rechts frontal blutige Imbibierungen, zwei Tage später ein subdurales Hämatom rechts und bifrontale Einblutungen (Abb. 5.6 aus Firsching et al. 2005)

 

4          Klinik

 

 

 

4.1       Klinik der Akutphase

4.1.1     Initialsymptomatik

Kardinalsymptome einer Hirnbeteiligung beim gedeckten Schädel-Hirn-Trauma sind Bewusstseinsstörung und amnestische Lücke. Bei offenen Schädel-Hirn-Traumen, insbesondere bei Schussverletzungen, können diese wegen des Druckausgleichs über die Verbindung zum Außenraum, die diesen Verletzungstyp charakterisiert, fehlen. Die hirnlokale Schädigung führt zu fokalen Symptomen, die ebenfalls für das Vorliegen einer substanziellen Hirnverletzung beweisend sind. Eine lokale Reizung kann allerdings unmittelbar nach dem Trauma ein epileptisches Geschehen auslösen, das nicht zwingend mit einer bleibenden strukturellen Schädigung verbunden sein muss.

Bewusstseinsstörungen nach SHT können quantitativer und qualitativer Natur sein: Quantitative Bewusstseinsstörungen reichen von leichter Benommenheit über Somnolenz bis zum Koma. Dauer und Schwere der Bewusstseinsstörung korrelieren beim gedeckten SHT mit der Prognose. Eine kurzdauernde Bewusstlosigkeit schließt erhebliche Hirnverletzungen jedoch nicht aus (Wallesch et al. 2013). Qualitative Bewusstseinsstörungen äußern sich als Delir/Verwirrtheitszustand, Halluzinationen, illusionäre Verkennungen und daraus resultierende psychomotorische Unruhe. Sie sind häufig mit Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus assoziiert. Orientierungsstörungen können Ausdruck eines Verwirrtheitszustandes oder einer transienten oder anhaltenden Amnesie sein (Wallesch 2013).

SHT führen mit wenigen Ausnahmen zu anterograden und retrograden Amnesien, die im Verlauf eine Tendenz zur zeitlichen Schrumpfung zeigen. Die verbleibende posttraumatische Amnesie korreliert mit der Schwere der Hirnverletzung. Retrograde und anterograde Amnesie betreffen unterschiedliche neuropsychologische Funktionen, die retrograde den Abruf bereits gespeicherter Inhalte, die anterograde die Enkodierung und/oder Speicherung und/oder den Abruf neu aufgenommener Informationen. Es wird angenommen, dass Enkodierung und Transfer in den Langzeitspeicher über limbische Strukturen, vor allem den Hippocampus, und die Speicherung neocortikal erfolgt, der Abruf hingegen von präfrontalen und anterior temporalen Arealen abhängig ist (Calabrese und Markowitsch 2003). Die genannten Strukturen liegen in Prädilektionsorten sowohl fokaler Kontusionen als auch der traumatischen axonalen Schädigung. Da anterograde und retrograde Amnesie auf der Schädigung unterschiedlicher Strukturen beruhen, können sie unabhängig voneinander variieren. Innerhalb der Phase der anterograden Amnesie kann in unterschiedlichem Umfang auf retrograde, vor allem ältere autobiografische Gedächtnisinhalte zurückgegriffen werden, sodass Patienten innerhalb der später amnesierten Phase bei nur oberflächlicher Prüfung kognitiv intakt erscheinen können. Innerhalb der akuten posttraumatischen Phase kann auch nach leichteren SHT eine transiente globale Amnesie auftreten (Haas und Ross 1986).

Die Dauer der posttraumatischen Amnesie sollte im Akutkrankenhaus engmaschig erhoben und im Verlauf dokumentiert werden (Thöne-Otto et al. 2012). Dies wird erschwert durch Erfordernisse der Versorgung (Operationen, Hirndruckmanagement). Das Wiedereinsetzen der örtlichen und zeitlichen Orientierung ist, wie Verlaufsuntersuchungen ergeben und sich in der Gutachtensituation immer wieder zeigt, nicht gleichbedeutend mit dem Ende der posttraumatischen Amnesie, deren Abklingen meist graduell verläuft (Wallesch 2013).

Eine fachneurologische Untersuchung einschließlich orientierend neuropsychologischer/verhaltensneurologischer Diagnostik innerhalb der ersten Woche nach Trauma verbessert die Identifikation von Patienten mit struktureller Hirnschädigung bei als unauffällig befundeter Bildgebung (häufig nur ein CT bei Aufnahme). Es wird geschätzt, dass bis zu der Hälfte der Patienten mit bleibender Hirnschädigung bei rein unfallchirurgischer Versorgung unerkannt bleiben (Wallesch et al. 2001b). Dabei kann auch die Ableitung eines EEG und der Nachweis einer Dynamik von Allgemeinveränderung oder Herdbefunden im Verlauf ein sensibler Indikator für eine Hirnschädigung sein, sofern medikamentöse Einflüsse und Vigilanzstörungen ausgeschlossen wurden (Wallesch et al. 2013). Bei schweren SHT helfen somatisch evozierte Potenziale bei der Prognosestellung (Zentner und Ebner 1988). Bei Kleinkindern können auffällige Verhaltensänderungen mit Schläfrigkeit, verminderter Spontanmotorik, verlangsamten Reaktionen, Spielunlust und Inappetenz auf ein stattgehabtes SHT hinweisen (Jorch et al. 2011).

Hinweise auf ein schweres SHT sind in der Akutphase anhaltendes Koma, eine neurologische Halbseitensymptomatik, pathologische Reflexe der Babinski-Gruppe und vor allem Hirnstammsymptome wie der Ausfall von Hirnstammreflexen (Pupillenweite, Pupillenreaktion), Beuge- und Streck-Synergismen sowie Veränderungen des Atmungstyps (Maschinenatmung, ataktische Atmung, Schnappatmung).

Die Leitlinie »Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirn-Trauma« (Wallesch et al. 2013) nennt folgende »Anknüpfungstatsachen, auf die sich der Nachweis einer substanziellen Hirnverletzung stützen kann«:

•  Bewusstlosigkeit > 1 h (falls keine iatrogene Ursache und kein Schock)

•  retrograde Amnesie > 8 h und/oder anterograde Amnesie > 24 h (falls keine iatrogene Ursache)

•  Desorientierung und/oder Verwirrtheit> 24 h (falls keine iatrogene Ursache oder Suchtmittelentzug)

•  fokale zentral-neurologische Ausfälle (dokumentiert und dem Trauma zuzuordnen)

•  Bildgebungsdarstellungen von Hirnsubstanzschäden, die dem Trauma zuzuordnen sind (hier ist neuroradiologische Expertise erforderlich)

•  EEG-Veränderungen (Allgemeinveränderung, Herdbefund) > 24 h nach Trauma mit anschließender Dynamik (falls keine medikamentöse Ursache und falls das initiale EEG adäquat abgeleitet und dokumentiert wurde, z. B. Vigilanzprüfung bei Grundrhythmusverlangsamung).

Die Einteilung der SHT im ICD-10 (image Tab 2.1) in solche ohne (»Commotio cerebri«) und mit bleibender struktureller Schädigung (»Contusio cerebri«) ist zwar juristisch im Entschädigungsfall gut handhabbar, medizinisch aber zunehmend unscharf.

»Die Fiktion, eine Commotio cerebri ohne Substanzbeteiligung und mit definitionsgemäß voller Wiederherstellung klinisch sicher diagnostizieren zu können, muss fallen gelassen werden. Möglich – und für die praktischen Bedürfnisse der Begutachtung in bescheidener Weise immer noch nützlich – ist allein eine grobe Unterscheidung in ›leichte Hirntraumen‹, bei denen mehrheitlich eine volle Reversibilität zu erwarten, im Einzelfall aber auch eine substanzielle Hirnschädigung möglich ist, und ›schwere Hirntraumen‹, bei denen öfter Dauerschäden der Hirnfunktion möglich, wenn auch nicht unausweichlich sind« (Plänitz und Jochheim 2000, S. 207).

Vor Einführung der modernen bildgebenden Diagnostik (CT in den 1970er Jahren, MRT Ende der 1980er) wurden die Schädel-Hirn-Traumen nach klinischen Gesichtspunkten eingeteilt. Tönnis und Loew (1955) unterschieden nach der Rückbildungstendenz der Hirnfunktionsstörung drei Schweregrade:

•  Grad I: Rückbildung innerhalb von 4 Tagen

•  Grad II: Rückbildung innerhalb von 3 Wochen

•  Grad III: Persistieren von Störungen über mehr als 3 Wochen.

Eine vor allem von Unfallchirurgen verwendete Einteilung richtet sich nach der Glasgow Coma Scale (Teasdale und Jennett 1974; image Tab 4.1):

Tab. 4.1: Glasgow Coma Scale (Teasdale und Jennett 1974)

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Geprüfte ReaktionenPunkte

•  GCS 3–8: schweres Hirntrauma

•  GCS 9–12: mittelschweres Hirntrauma

•  GCS 13–15: leichtes Hirntrauma

Vor allem in der Neurochirurgie wird eine Einteilung der Schwere eines Komas unter Berücksichtigung der neurologischen Begleitsymptomatik verwendet (Brihaye et al. 1978):

•  Grad I: Koma ohne neurologische Begleitsymptomatik

•  Grad II: Koma mit Halbseitenzeichen und/oder Pupillenstörungen

•  Grad III: Koma mit Strecksynergismen

•  Grad IV: Koma mit Bulbärhirnsyndom (schlaffer Tonus, weite Pupillen, insuffiziente Spontanatmung)

Schließlich lassen sich Art und Ausmaß einer traumatischen Hirnschädigung anhand der Bildgebung beschreiben.

Für schwere SHT schlugen Firsching et al. (2003) eine Einteilung nach der MRT-Morphologie der Schädigung vor:

•  Grad I: Verletzung ausschließlich supratentoriell (Groß- und Zwischenhirn betreffend)

•  Grad II: einseitige Verletzung des Hirnstamms mit oder ohne zusätzliche Grad-I-Verletzung

•  Grad III: beidseitige Verletzung des Mittelhirns (Mesencephalon) mit oder ohne zusätzliche Grad-I- oder Grad-II-Verletzung

•  Grad IV: beidseitige Verletzung der Brücke (Pons) mit oder ohne zusätzliche niedergradige Verletzung

Patienten mit Grad-IV-Verletzung weisen eine Mortalität nahe 100 % auf, von denen mit Grad-III-Verletzung versterben etwa ein Viertel, ein weiteres Viertel bleibt apallisch, von den übrigen bleiben die meisten schwerbehindert. Grad II ist mit weitgehend behinderungsfreiem Überleben vereinbar, bei Grad I betrifft dies die Mehrzahl.

Bildgebungsbefunde, die die Annahme einer substanziellen Hirnschädigung stützen (Wallesch et al. 2013 nach Widder 2005)

•  Substanzdefekt nach Kontusion, Rinden- oder Marklagerblutung

•  im CT kleine Hyper- oder Hypodensitäten im Bereich der Mark-Rinden-Grenze als Ausdruck einer traumatischen axonalen Schädigung (meist erst nach > 8 Stunden erkennbar, image Abb. 3.1), im MRT als Anisodensitäten je nach Sequenz (image Abb. 7.1)

•  in der Initialphase isolierte Signalanhebungen in diffusionsgewichteten Sequenzen

•  Verminderung eins Hirnödems im Verlauf

•  in der Spätphase fokale cortikale Atrophie als Zeichen einer fokalen Rindenkontusion

•  in der Spätphase sekundäre Wallersche Degenerationen von Bahnsystemen

•  in der Spätphase multifokale Hämosiderinablagerungen als Zeichen einer abgelaufenen traumatischen axonalen Schädigung mit Einblutungen

4.1.2         Komplikationen in der Akutphase

Hirnschwellung, Hirnödem, Hirndruck

In der ersten Stunde nach SHT kann bei schwereren Traumen eine Hirnschwellung durch Volumenzunahme der Nerven- und Gliazellen entstehen. Das posttraumatische Ödem entwickelt sich in den ersten Stunden nach SHT und erreicht seinen Höhepunkt nach 12 Stunden, woran sich allerdings eine tagelange Plateauphase anschließen kann. Beide Arten der Hirnvolumenzunahme führen, da das intrakranielle Volumen durch den Schädel begrenzt ist, zu einem intrakraniellen Druckanstieg (»Hirndruck«). Dieser beeinträchtigt die Hirnperfusion und kann so zu Sekundärschäden führen. Ein intrakranieller Druck über 20 mmHg gilt als erhöht. Die Messung erfolgt bei Traumapatienten durch intrakranielle (epidurale oder intraventrikuläre) Sonden. Der normale zerebrale Perfusionsdruck (Mitteldruck über Systole und Diastole) liegt zwischen 60 und 70 mmHg, er kann vor allem bei Polytraumapatienten mit großem Blutverlust deutlich darunter liegen. Klinisch zeigt sich beim nicht sedierten und relaxierten Patienten der Hirndruck an Hirnstammsymptomen wie Beuge-Streck- und Streck-Streck-Synergismen, Veränderungen der Pupillenweite und des Atemtyps (image Abb. 4.1). Diese entwickeln sich bei Hirndruck typischerweise von rostral (mundwärts) nach caudal (schwanzwärts), also im Hirnstamm von oben nach unten. Wenn das Hirnödem und damit die Volumenzunahme nur das Großhirn

Images

Abb. 4.1: Symptome einer von rostral nach caudal sich entwickelnden Hirnstammschädigung bei Hirndruck (nach Lücking und Wallesch 1996)