Erster Theil

Inhaltsverzeichnis


Vorwort.

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Wenn irgend ein Buch eines Vorwortes bedarf, so ist es diese Sammlung sicilianischer Märchen. Denn der Herausgeber derselben muß doch nicht nur darüber Rechenschaft geben, wie er in den Besitz dieser Märchen gekommen ist, sondern auch die Grundsätze darlegen, welche die Sammlerin derselben bei ihrer mühsamen Arbeit geleitet haben, und die Quellen verzeichnen, aus denen dieselbe geschöpft hat.

Als ich an meinem Buche: Aus Sicilien. Cultur- und Geschichtsbilder, Bd. 1 und 2, Cassel, 1867 und 1869 arbeitete, mußten sich mir wiederholt die Fragen aufdrängen, nach der Entstehung der gegenwärtigen, auf der Insel herrschenden Nationalität, nach der Fortexistenz von Ueberresten des geistigen Lebens einst hier gebietender Völker, nach den Wandlungen, die das gesammte religiöse und sittliche Empfinden der Bewohner dieser Insel dem äußeren Scheine nach viel stärker, als es in der That der Fall sein möchte, erfahren hat. Da aber alle diese Fragen nur zum geringen Theile aus dem literarischen Niederschlage des Geisteslebens eines Volkes beantwortet werden können, so beschloß ich mich genauer mit der Volkspoesie des heutigen Siciliens bekannt zu machen und auch die Volkserzählungen, Märchen, Sagen und Legenden in den Kreis meiner Studien zu ziehen. Während meines fünfjährigen Aufenthaltes in Sicilien hatte ich aber die Zeit, die mir mein Amt als Geistlicher und Lehrer zu Privatstudien übrig ließ, wesentlich benutzt, mich in anderen Richtungen mit Sicilien bekannt zu machen. Auf mehrfachen Reisen hatte ich mir eine umfassendere Kenntniß der Topographie der Insel, der äußeren, socialen und politischen Lebensbedingungen ihrer Bewohner verschafft, und dann mir eine genauere Einsicht in die umfangreiche, namentlich die Geschichte der Insel betreffende sicilische Literatur erworben. Diese Arbeiten kamen mir bei dem Studium der sicilischen Volkspoesie aber nur höchst mittelbar zu Statten, da ja außer einigen höchst unbedeutenden Aufzeichnungen von den in Sicilien im Volksmunde fortlebenden Märchen und Sagen noch gar Nichts gedruckt ist1. Da ich aber wohl wußte, daß in Sicilien noch eine Menge von Märchen im Volksmunde leben – hatte mir mein Freund Dr. Saverio Cavallari doch gelegentlich das eine oder andere erzählt2 –, so wendete ich mich an meine verehrte Freundin Fräulein Laura Gonzenbach in Messina – seitdem mit dem italienischen Oberst Herrn La Racine vermählt – und bat dieselbe, mir einige Märchen aufzuschreiben, ich beabsichtige dieselben als Anhang zum zweiten Bande meines Buches drucken zu lassen, wenn sie mir als von specifisch sicilianischer Färbung erschienen. Fräulein Laura Gonzenbach, in Sicilien geboren und des Dialektes von Messina vollkommen mächtig, kannte ich als eine treffliche Märchenerzählerin. Mit der größten Liebenswürdigkeit und Bereitwilligkeit wurde meine Bitte erhört, und ich erhielt nach nicht allzu langer Zeit das Manuscript von zehn Märchen zugesendet. Gleichzeitig schrieb die Sammlerin derselben, sie sei jetzt, nachdem die ersten Schwierigkeiten des Auffindens von guten sicilianischen Märchenerzählerinnen überwunden seien, mit einer solchen Menge von Märchen bekannt geworden, daß sie mir eine ganze Anzahl derselben zur Verfügung stellen könne. Da dieselbe den größten Theil des Vorsommers 1868 in einer Campagnawohnung am Aetna verbrachte und auch hier unter den einfachen, braven Landleuten, die die Südostabhänge des Vulkans über Catania und Aci Reale bewohnen, zahlreiche Märchen und Legenden verbreitet fand, so benutzte sie diesen Landaufenthalt, um die schon gesammelten Märchen endgültig niederzuschreiben und andere neue sich hier erzählen zu lassen. Nicht wenige Märchen flossen dann in Catania selbst dem schon gesammelten Schatze zu.

Als ihre besten Erzählerinnen glaubte Fräulein L. Gonzenbach eine Gua3 Bastiana aus Viagrande bei Aci Reale, Gua Nunzia Giuffridi, Gua Lucia, Gua Cicca Crialesi vom Borgo bei Catania, eine Donna Antonia Centorrino, Elisabetta und Concetta Martinotti, Francesca Rusullo aus Messina, Peppina Guglielmo aus der Nähe von Messina, Caterina Certo aus San Pietro di Monforte u.s.w. bezeichnen zu sollen. Auch ein Bauer Alessandro Grasso von Blandano (al Plantano?) am Aetna erzählte einige Märchen, die er von seiner Mutter gelernt hatte. Einzelne dieser Frauen führten ihre Geschichten wieder auf bestimmte andere Erzählerinnen zurück, unter denen namentlich eine Bäurin aus Randazzo4 hinter dem Aetna genannt wurde.

Nachdem die Sammlung auf diese Weise bis auf 92 Märchen und Legenden angewachsen war, beschloß Fräulein L. Gonzenbach dieselbe vorläufig zu schließen. Doch meinte sie leicht noch ein anderes Hundert zusammenstellen zu können; so verbreitet seien diese Märchen noch jetzt im Volke und es komme nur darauf an, für dieses überall ausgestreute Gold ächter alter Volkspoesie nur einiges Verständniß und die rechte Liebe zu zeigen, um es von dem Volke in das Haus getragen zu erhalten.

Wie Jedermann, der diese Märchen durchblättert, rasch erkennen wird, sind dieselben getreu so niedergeschrieben, wie sie die Erzählerinnen vorgetragen haben. Die originellen Wendungen, die theilweise etwas schwerfälligen Uebergänge (»Lassen wir nun Diesen, und sehen was aus dem Andern geworden ist«), das sittliche Urtheil über die erzählten Vorgänge, der neidische Rückblick auf das Glück des Helden derselben im Gegensatz zu den ärmlichen Verhältnissen der Erzählerin und der Hörer u.s.w., alles das ist vollkommen den Wendungen der Sicilianerinnen nachgebildet. Daß keine willkührlichen Zusätze zu den Erzählungen gemacht, keine verschönernden oder abschwächenden Einschiebsel hinzugethan sind, ist kaum nöthig hervorzuheben. Auch die Aufeinanderfolge der einzelnen Thaten und Leiden des Helden einer Geschichte, die theilweise recht kaleidoskopisch aus allen möglichen Erzählungen zusammengerüttelt sind, sind hier genau in der Aufeinanderfolge mitgetheilt worden, wie sie in Sicilien erzählt werden. Die Sammlerin schrieb mir im Betreff aller dieser Dinge einmal unter Anderm folgendes: »Nun möchte ich Ihnen auch noch sagen, daß ich mein Möglichstes gethan habe, um die Märchen recht getreu so wieder zu geben, wie sie mir erzählt wurden.« Den ganz eigenthümlichen Reiz aber, der in der Art und Weise des Erzählens der Sicilianerinnen selbst liegt, habe ich nicht wiedergeben können. Die Meisten erzählen mit unendlicher Lebhaftigkeit, indem sie dabei die ganze Handlung mitagiren, mit den Händen sehr ausdrucksvolle Geberden machen, mitunter sogar aufstehen, und wenn es gerade paßt, in der Stube herumgehen. Auch wenden sie niemals ein: »Er sagt« an, da sie den Wechsel der Personen stets durch die Intonation angeben. Das schließt aber nicht aus, daß sie dafür das Wort: dici (sagt) bis zum Uebermaß brauchen z.B. »O figghiu, dici, come va, dici, pi stiparti, dici, sulu, sulu dici, u.s.w.«

Ueber den Ton der deutschen Uebersetzung dieser Märchen darf ich selbst, glaube ich, mich auch hier lobend aussprechen, da nur ganz leise Aenderungen von mir im Ausdruck vorgenommen worden sind und ich nur einige Verschen neu gereimt habe. Wenn man erwägt, daß unsere Erzählerin nur ganz vorübergehend in Deutschland gelebt und nie früher Etwas zum Druck geschrieben hat, so wird man es um so mehr anerkennen müssen, daß sie unsere Sprache in der Weise beherrscht, wie diese Nachbildungen italienischer Volksdichtungen es beweisen.

Aus allen diesen Gründen glaube ich auf den Dank aller Märchenfreunde rechnen zu dürfen, daß ich Fräulein L. Gonzenbach bewogen habe, mir ihr Manuscript zur Veröffentlichung zu überlassen. Ich glaube um so mehr hierauf rechnen zu dürfen, als in mein Urtheil über den Werth unserer Sammlung, – das als ein von keinem Fachmann ausgehendes von geringerem Gewicht sein möchte, und Manchem auch durch meine Vorliebe für Sicilien und Alles was von dort kommt, oder durch meine freundschaftlichen Beziehungen zur Sammlerin der Märchen bestimmt erscheinen könnte –, einer der ersten jetzt lebenden Märchenkenner, Herr Bibliothekar Reinhold Köhler in Weimar, einstimmt. Derselbe nannte mir unsere Sammlung eine »wahrhafte Bereicherung unserer Märchenliteratur«, als ich ihm das Manuscript vor seiner Drucklegung zur Einsicht zugeschickt hatte, und zeigte sich auf meine Bitten bereit, gelehrte Anmerkungen zu den einzelnen Märchen zu schreiben. Denn wenn auch mir eine ganze Anzahl paralleler Märchen zu vielen Nummern unserer Sammlung bekannt waren, so wäre es mir doch ohne ein längeres eindringendes Studium gar nicht möglich gewesen, auch nur ganz annähernd das für unsere Märchen zu leisten, was dieser gelehrte Märchenkenner in seinen literarischen Nachweisungen für sie gethan hat. Auch die für eine derartige Arbeit nothwendigen Bücher würde ich mir nicht so vollständig haben verschaffen können, als sie die in diesem Fache vortrefflich ausgestattete Bibliothek von Weimar darbot. Alle Leser dieses Buches wie alle Märchenkenner werden daher mit mir Herrn R. Köhler für seine freundlichen und uneigennützigen Bemühungen um unsere Sammlung sich zu Dank verpflichtet fühlen.

Von Herrn R. Köhler rührt auch im Wesentlichen die Anordnung der Märchen her, wie sie hier vorliegt. Wenn auch dadurch, daß die verwandten Erzählungen zusammengestellt sind, eine gewisse Monotonie in manche Partieen unseres Buchs gekommen sein sollte, ein Uebelstand, den der Theil der Leser desselben freilich am Unangenehmsten empfinden wird, welchen wir ihm am Zahlreichsten wünschen möchten, die jugendlichen Freunde und Freundinnen der Märchen nämlich, so überwog doch hierbei die Erwägung, daß für das wissenschaftliche Studium der Märchen eine solche Zusammenstellung des mit einander Verwandten fast unbedingt erforderlich ist, während die Nachtheile, die dieselbe für eine mehr cursorische Lektüre hervorbringt, leicht umgangen werden kann. Nur Ein Märchen eines zusammenhängenden Kreises aber in die Sammlung aufzunehmen und die übrigen als Varianten in die Anmerkungen zu verweisen, schien schon darum unräthlich, weil vielfach dann auch in die Varianten die ältesten Bestandtheile des betreffenden Märchens hätten verwiesen werden müssen und dadurch ihrer rechten Stelle wären entzogen worden. Die Legenden, welche den Schluß unserer Erzählung bilden, wird man gern, so hoffe ich wenigstens, als Erzeugnisse sowohl wie auch als Zeugnisse des katholischen Volksgeistes in Sicilien mit in den Kauf nehmen. Wie biblische Erzählungen gleich allen übrigen ohne Bewußtsein von ihrem Ursprung frei behandelt und localisirt worden sind, zeigen am besten die beiden Erzählungen, die dem A.T. entlehnt sind. Mir war es auch interessant zu beobachten, wie gerade die Erzählung, die dem apokryphen Buche Tobit entnommen ist, und die nachweislich in ihrer ältesten Fassung schon indischen Novellenstoff in sich aufgenommen hat und wohl das früheste Zeugniß für die Verschleppung desselben nach dem Westen enthält5, gerade von dem Volke wieder in ein Märchen aufgelöst ist.

Im Betreff der Orthographie, der im sicilianischen Dialekte mitgetheilten Verschen und eigenthümlichen Redewendungen muß ich bekennen, daß dieselbe nicht überall gleichmäßig ist. Es ist mir in diesem Punkte eben so gegangen als dem Sicilianer L. Vigo, der erst während des Druckes seiner Canti popolari zur Aufstellung einer consequenten Schreibweise kam. (S. 1. 1. pag. 220 u. f.) Sollten sich auch einige wenige Unrichtigkeiten hier eingeschlichen haben, so liegt die Schuld hiervon an dem mir vorliegenden Manuscripte, über dessen Lesung ich in allerdings nur wenigen Fällen zweifelhaft sein mußte. Um den Kennern der italienischen Sprache, die keine Proben des sicilianischen Dialekts besitzen, eine Vorstellung von den Eigenthümlichkeiten desselben zu geben, habe ich zwei kurze Märchen im Messineser Dialekte abdrucken lassen, die Herr Salvatore Morganti in Messina niederzuschreiben die Güte hatte.

Als eine Zugabe zu dem Ganzen habe ich eine Abhandlung von mir hinzufügen zu dürfen geglaubt, in der ich mich eingehender über die Entstehung der ita lienischen Nationalität und Sprache in Sicilien verbreitet habe. Die von mir vertretene Ansicht wird gewiß hier und da auf lebhaften Widerstand stoßen. Hoffentlich dient sie aber wenigstens dazu, die Sicilianer selbst auf die Nothwendigkeit aufmerksam zu machen, die Urkunden der Normannenzeit und ihre ältesten Sprachdenkmale sorgfältiger zu verzeichnen und herauszugeben als bisher geschehen ist. Namentlich möchten wir Herrn Vincenzo di Giovanni, den Herausgeber der ältesten im sicilischen Dialekt geschriebenen Chroniken, auf diese Aufgabe hinweisen und dabei noch bemerklich machen, wie die Untersuchung der einzelnen sicilischen Dialektnüancen und der Nachweis des Zusammenhangs und der Verwandtschaft des sicilischen Dialekts mit den calabrisch-apulischen Dialekten auch geschichtlich sehr interessante Resultate liefern könnte. Möchte doch auch Herr Giuseppe Morosi bald mit seinen Studi sui dialetti sulla Terra d' Otranto hervortreten, nachdem er den Anfang dazu, die Canti, Legende e proverbi (Lecce, 1868. 4.) schon veröffentlicht hat. Die Verwandtschaft der Liebes-Lieder dieser Gegend mit den sicilischen Volksliedern ist so groß, daß ein trefflicher Kenner dieser letztern G. Pitrè sagt: »Svolgendo i canti erotici di Terra d'Otranto tu credi di leggere qualche canto di Sicilia, tanta è la rassomiglianza che vi trovi« Nuove Effemeridi Siciliane, 1869, S. 1776.

Und dürfte ich hier noch eine allgemeine Bitte an die Freunde der Volkspoesie in Italien richten, so wäre es die, daß sie sich mehr als bisher in der neueren Zeit hier geschehen ist, ihrer Volksmärchen annehmen möchten. Seitdem Straparola da Caravaggio seine piacevoli notti geschrieben und Basile im Pentamerone neapolitanische Volksmärchen verarbeitet hat, ist von Italienern selbst fast Nichts in diesem Zweige der Literatur geleistet worden, wenn man von einigen trefflichen gelehrten Bearbeitungen alter Volksbücher absieht. Möchten die Worte eines großen deutschen Forschers, der wie kein Anderer um die Geschichte Italiens verdient ist, hierbei meine schwache Stimme unterstützen. Niebuhr schreibt einmal: »Wie viel noch jetzt im Gebiete der Märchenwelt aus der alten Mythologie fortleben mag, könnte nur ein Einheimischer bei Landleuten in den Thälern der Apenninen erforschen; und von Einheimischen ist es grade nicht zu hoffen. Zum Glück hat der geistreiche Basile vor zweihundert Jahren absichtslos einiges aufbewahrt. ... Jetzt verschwindet alles Ueberlieferte in Italien gänzlich«.7 Sollte in dieser Richtung unsere Sammlung einen neuen Anstoß geben, so würde ich unsere Mühe um dieselbe mehr als hinlänglich belohnt glauben.

Marburg, am 16. November 1869.
O. Hartwig.

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1 Das Märchen vom Schlauraffenlande behandelte in einem Gedichte: La cucagna conquistata unter dem Namen Giamb. Basile der Palermitaner Giuseppe della Montagna im palermitanischen Dialekte. Palermo 1640 und 1674. Offenbar schrieb der Verfasser des mir nur dem Namen nach bekannten Gedichtes dasselbe nur in Nachahmung des wirklichen Giamb. Basile, des Verfassers des Pentamerone († 1637)

2 Ueber Cavallari als Märchenerzähler vergl. Springer, die mittelalterliche Kunst in Palermo. Bonn, 1869, 4. Anm. 23. Durch die Freundlichkeit des Herrn Hofraths H. Lotze zu Göttingen stand mir auch ein Manuscript zur Verfügung, in dem Cavallari die Uebersetzung einiger sicilianischer Märchen gegeben hat. Da dieselben aber überarbeitet und hier und da novellistisch ausgeschmückt waren, so habe ich für diese Sammlung keinen Gebrauch von ihnen gemacht.

3 Gua bezeichnet den Stand als Bäuerin.

4 Ueber Randazzo siehe: Aus Sicilien I. 48 u. f.

5 Orient und Occident I. 745. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß noch ein Märchen in Sicilien verbreitet ist, das dieselbe That, die im Buch Tobit der Râxasa Asmodaios vollbringt, einem weiblichen Dämon, der Donna Villa, zuschreibt. Die »Grotte der Donna Villa,« welche sich in einem aus dem Meere senkrecht aufsteigenden Felsen findet, dessen Gipfel die Ueberreste der namentlich in der Römerzeit blühenden Stadt Tyndaris trägt, ist auch in anderer Beziehung höchst interessant. Da ich das Märchen leider nicht in seiner originalen Fassung erhalten konnte, so fehlt es in dieser Sammlung. Nach den Erzählungen, die ich übrigens von ihm gehört habe, ist die Donna Villa nichts anders als eine serbische Wile, »die die höchsten Gebirge und Felsen bewohnt, die Nähe von Gewässern liebt und als ewig jung, schön von Antlitz, in weißes luftiges Gewand gekleidet und mit langem um Brust und Schultern flatterndem Haare geschildert wird.« Wuk Stephanowitsch Karadschitsch, Volksmärchen der Serben. S. 128.

6 Ich bedaure, daß mir die Schrift von Di Giovanni: Della prosa volgare scritta in Sicilia ne' secoli XIII, XIV e XV, Firenze 1861 nicht erreichbar war, um sie zu meiner Abhandlung benutzen zu können.

7 Rheinisches Museum für Philologie IV. S. 6. (Jahrgang 1829).

Einleitung.

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Mag man im Betreff der Entstehung der Volksmärchen der Ansicht J. Grimms huldigen, nach der in denselben die Ueberreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens aufbewahrt sind, die Märchen in letzter Instanz also mythologischen Ursprungs sind, oder die Theorie Th. Benfeys theilen, welche unsere gesammten europäischen Märchen als Ausflüsse indischer, durch zahlreiche Uebersetzungen nach dem Westen gedrungener Erzählungen darstellt, beide einander so widersprechende Aufstellungen werden auf den Gang einer Untersuchung über Entstehung, Verbreitung und nationalen Gehalt der in Sicilien verbreiteteten Märchen deßhalb nicht verschieden einwirken können, weil sie in diesem speciellen Falle doch ganz gleiche Fragen anregen müssen. Denn der Anhänger der Grimm'schen Theorie muß sich hier nicht minder Rechenschaft darüber geben, welchen Volksglauben, die mythologischen Vorstellungen welcher Nation er in den gegenwärtig noch in Sicilien fortlebenden Märchen aufsuchen und wieder erkennen will, als ein Schüler Benfeys sich fragen muß, welches von den in Sicilien nacheinander herrschenden Völkern als der Vermittler oder erste Empfänger jener ursprünglich indischen Poesieen anzusehen ist. Denn die Behauptung, die Benfey zuerst ausgesprochen hat und die einer derartigen Untersuchung von vorneherein eine bestimmte zeitliche Begrenzung geben würde, die nämlich, daß von den Märchen, welche aus Indien nach Europa gekommen seien, »vor dem 10. Jahrhundert nach Christus wohl nur wenige nach dem Westen gewandert und zwar – außer den durch die Uebersetzung des Grundwerks des Pantschatantra oder Kalîlah und Dimnah bekannt gewordenen – wol nur durch mündliche Ueberlieferung, die im Zusammentreffen von Reisenden, Kaufleuten und ähnlichen ihre Veranlassung finden mochte«1, diese Behauptung hat Benfey später selbst wieder zurückgenommen und eine in frühere Jahrhunderte hinaufgehende literarische Verbindung Indiens mit dem Westen zugegeben.2

In beiden Fällen ist demnach zu untersuchen, welche der Nationen, die in Sicilien geherrscht haben und aus denen mehr oder weniger sich die gegenwärtige Bevölkerung Siciliens entwickelt hat, ganz besonders als die Trägerin und Inhaberin der jetzt noch dort im Volksmund fortlebenden Märchen anzusehen ist. Mithin ist eine Darstellung der Entstehung und Zusammensetzung der jetzt in Sicilien herrschenden Nationalität in keiner Weise zu umgehen. Denn wenn auch nicht zu verkennen ist, daß Sicilien in Folge seiner insularen Lage in Mitten des Mittelmeerbeckens der Einwirkung sämmtlicher seefahrender Nationen aus gesetzt, sich zu allen Zeiten die Märchen und Schiffersagen aller namentlich in den Mittelmeerländern ansäßigen Nationen wird angeeignet haben, so unterliegt es doch auch keinem Zweifel, daß umgekehrt ihre insulare Lage die Sicilianer vor allzu raschem Wechsel in ihren Gebräuchen, Ueberlieferungen, Sagen und Märchen geschützt hat. Kaum irgend wo anders tritt auch der Gegensatz der Küstenlandschaft mit dem bis auf dieses Jahrhundert fast unwegsamen Inneren der Insel, der Contrast des Lebens einer Handel und Schifffahrt treibenden Küstenbevölkerung mit dem sich, man möchte sagen, seit Jahrtausenden fast gleich gebliebenen Dasein eines ausschließlich Ackerbau treibenden Binnenlandvolkes so schroff hervor wie hier. Und dazu kommt noch, daß seit Jahrhunderten der große internationale Handelsverkehr der Insel doch nur von wenigen Hafen aus besorgt wird, während allerdings die Verbindung mit den vielen Küstenpunkten benachbarter Inseln und Länder von weit zahlreicheren Häfen aus unterhalten wird. Daher ist der durch diese verschiedenen Lebensbedingungen herbeigeführte Unterschied selbst zwischen fast gleich volkreichen Städten sehr bedeutend. So werden z.B. in Catania alte Gebräuche und Sitten viel zäher festgehalten und ist vielmehr alter Volksaberglauben im Schwange als in Messina, das von den ältesten Zeiten an eine sehr gemischte Bevölkerung gehabt hat, und nichts als ein großes Handelsemporium war und ist, während Catania, obwohl auch am Meere gelegen, vieleher eine große, reiche Landstadt als ein Seeplatz genannt zu werden verdient.

Aber wir bedürfen dieser Wahrscheinlichkeitsgründe gar nicht, die aus der Bodenconfiguration der Insel und der durch sie bedingten Verschiedenheit des Lebens und der Cultur der Sicilianer abgeleitet sind, und die es an sich glaubhaft erscheinen lassen sollen, daß hier in Sicilien sich Ueberlieferungen, volksthümliche Dichtungen und Gebräuche lange Zeit gleichmäßig und unverändert behauptet haben werden. Ganz bestimmte Thatsachen liegen vor, die keinen Zweifel hierüber aufkommen lassen. Wir sehen hierbei ganz ab von einzelnen Gebräuchen, die noch jetzt hier und da in Sicilien vorkommen und mit Sicherheit auf altgriechische Sitten zurückgeführt werden können.3 Auch darauf wollen wir kein Gewicht legen, daß die Thaten und Werke des Herakles und Daidalos noch jetzt an einzelnen, an geschichtlichen Erinnerungen reichen oder durch lokale Eigenthümlichkeiten ausgezeichneten Orten fortleben, nur daß an die Stelle dieser Heroennamen so luftige und durchsichtige christliche Personificationen wie der St. Calogero und der h. Peregrino u.s.w. getreten sind. Nein, aus ganz historischer, im Verhältnisse zu diesen Mythen allerdings neuer Zeit, sind uns in sicilianischen Volksliedern Erinnerungen geschichtlicher Art aufbewahrt, die uns zeigen, daß hier das Volk im Liede wie kaum irgend sonst wo das Andenken an wichtige Ereignisse und hervorragende Persönlichkeiten aus seiner Vergangenheit von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hat, bis ihm selbst die wahre Bedeutung des gesungenen Gegenstandes verloren gegangen ist, und es nur noch Namen und unverstandene Verse mechanisch weiter giebt. Wie ein einst grünender und blühender Baum noch lange Jahre als allmälig verwitternder lebloser Holzstumpf stehen bleiben kann, ehe er ganz verschwindet und von seiner Struktur nicht mehr das Geringste zu erkennen ist, so leben auch diese Reste inhaltsvoller Lieder, in welche einst ein Volk seine Seele ausgegossen hat, noch jetzt fort. Nicht mehr duftet in ihnen der lebendige Hauch gegenwärtigen Lebens. Kaum daß die zarten Gefäße übrig geblieben sind, in denen es sich einst emporhob.

Hätte sich die sicilianische Märchenpoesie bisher einer gleichen Aufmerksamkeit von Seiten der literarisch gebildeten Sicilianer zu erfreuen gehabt als das Volkslied, so würde diese Sammlung von Märchen nicht von Deutschen veranstaltet sein. Denn von Liedern, wie sie hier auf geräuschvollen Straßen und stillen Fluren, im Kahne des Fischers und vor der Wiege des Säuglings ertönten, haben patriotische Sicilianer umfangreiche Sammlungen drucken lassen.4 Andere haben auf Grundlage derselben das Volkslied ihrer Heimat in seinen verschiedenen Beziehungen ästhetischen und kritischen Erörterungen unterzogen.5 Unter diesen bisher gesammelten Liedern, deren Zahl auf zweitausend fünfhundert gestiegen ist,6 finden sich nun einige aufbewahrt, die an Verhältnisse und Vorgänge aus den Zeiten der Araber, ja der byzantinischen Herrschaft anknüpfen, und Erinnerungen an die für Sicilien besonders glücklichen Tage der Regierung des Königs Wilhelms des Guten aufbewahren.7 Daß von der sicilischen Vesper noch Nachklänge im Volkslied Volke, seitdem es eine Sprache und eine einheitliche Regierung erhalten hat, kurz seitdem es das Gepräge einer Nation trägt, wie kaum irgendwo an unser Ohr schlagen, kann uns weniger befremden. Daß dann die berühmten »Casi di Sciacca« aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts noch im Volkslied fortleben, wird gar Niemand auffallend finden, der da weiß, daß jetzt noch das Wort: Farò un Casu di Sciacca als hartes Drohwort im Volksmund lebt.

Ist durch diese Daten zweifelslos erhärtet, daß sich im sicilischen Volke feste von Geschlecht zu Geschlecht überkommene Traditionen und Poesieen erhalten haben, so ist doch damit zunächst für die uns hier beschäftigende Untersuchung gar Nichts anderes gewonnen, als daß wir sicher sein dürfen, daß auch unsere Märchen aus den ältesten Zeiten treu und sorgfältig überliefert sein können. In keiner Weise aber ist damit Etwas über die Frage entschieden, welchem der Völker, aus denen schließlich sich in Sicilien im Anschluß an das übrige Italien eine Nationalität zur herrschenden und das ganze Volksleben durchdringenden gemacht hat, unsere Märchen als Erbtheil angehört haben oder zuerst zugekommen sind. Ja bedarf doch, um nur diese Frage einigermaßen sicher lösen zu können, die Entstehungsgeschichte der italienischen Nationalität in Sicilien erst einer neuen weitausholenden Untersuchung, die fast nur an der Hand der Sprachgeschichte der Insel geführt werden kann.

Betrachten wir die gegenwärtige Bevölkerung Siciliens nach ihren verschiedenen Ursprüngen, so treten uns zunächst aus der Hauptmasse derselben sofort zwei, durch ihre Sprache leicht von ihr abzulösende kleinere Bestandtheile entgegen. Denn wenn auch in Palermo, als in der Hauptstadt der Insel, in welcher Jahrhunderte lang die Spanier am zahlreichsten gesessen haben, sich der Einfluß der spanischen Nationalität auf die Bevölkerung am deutlichsten nachweisen lassen sollte, so kann doch im Allgemeinen von einem bestimmenden Einflusse der spanischen Nation auf die Bildung der sicilischen nicht die Rede sein. Als die Spanier sich Sicilien sbemächtigten, und die Insel einen Theil ihres Weltreichs bildete, war der Bildungsproceß der Nationalität in Sicilien schon längst abgeschlossen. Der Einfluß der Spanier erstreckte sich vorzugsweise auf Aeußerlichkeiten, auf Trachten und Sitten, Titulaturen u.s.w. der höheren Gesellschaften, und verhältnißmäßig sind nur wenige spanische Worte in Sicilien in den Volksgebrauch übergegangen. Die Spanier, die nach Sicilien kamen, gehörten ja auch vorzugsweise nur dem Adel und höheren Beamtenstande an; der Soldaten, die von dort kamen, waren es zu wenige, als daß die von ihnen dort bleibenden nicht sofort von der Bevölkerung ihrer Nationalität nach wären absorbirt worden. Und wenn nun doch Erzählungen nachweisbar sind, die in ganz gleicher Fassung bisher nur in Spanien und Sicilien aufgefunden worden sind, so möchte ich eher annehmen, daß sie aus Sicilien nach Spanien zurückgebracht, als von Spanien nach Sicilien eingeschleppt worden sind.8

Ganz anders könnte es sich möglicher Weise mit dem ersten jener beiden kleinen Bruchtheile der sicilischen Bevölkerung halten, der von der griechischen Halbinsel ausgewandert ist. Denn auch in Sicilien befinden sich wie an mehreren Punkten des gegenüberliegenden italienischen Festlandes albanesische Kolonien.

Die ersten Albanesen kamen als Hilfstruppen der aragonesischen Könige nach Neapel und Sicilien. Namentlich war unter König Alfons ein Capitain Georg Reres seit 1448 an der Westküste der Insel thätig. Derselbe gründete sich 1450 mit seinen Schaaren auf einem Lehngute der Gräfin Caterina di Cadorna unter den Trümmern des Araberschlosses von Kalatamauro (Kalat-Mawrû) eine Niederlassung, die Contessa genannt wurde. Auf die Nachricht von der Bedrängniß ihres Volkes in Albanien zogen aber diese Schaaren wieder über das Meer nach ihrer Heimat, bis nach dem Falle von Georg Castriotis Skenderbeg die Ueberbleibsel derselben wieder nach Sicilien zurückkehrten. Mit ihnen kamen neue Schaaren von Albanesen, unter denen sich nahe Verwandte des nationalen Helden befanden, nach der Insel, auf der ihnen von Königen, Bischöfen und Baronen seit 1467 neue Ländereien zur Begründung dauernder Wohnsitze angewiesen wurden.9 Noch bis auf diese Stunde haben sich diese Colonien in Piana dei Greci, Palazzo Adriano, Mezzojuso, Contessa und St. Christina im Innern der Insel an Orten erhalten, welche fast sämmtlich seit der Vertreibung der Araber von Sicilien wüst gelegen hatten.10 Andere Niederlassungen haben ihren nationalen Charakter abgestreift und sind sicilianisirt worden, da die katholische Geistlichkeit sie zwang, ihre Religionsgebräuche und damit das sie zusammenhaltende Band aufzugeben. So in St. Angelo, Biancavilla, St. Michele und Bronte. Die älteste der noch heute bestehenden Colonien nach Contessa ist Palazzo Adriano, die Albanesen seit 1482 auf dem Feudum des Admiral Villaraut gegründet haben. Sie zählt jetzt an 6000 Seelen. Die dritte Piana dei Greci, zu der der Erzbischof von Mon Reale, Giovanni Borgia, die Herrschaften Merco und Aindigli mit den dort befindlichen Ruinen den neuen Ansiedlern in Emphyteuse gab. Piana dei Greci zählt jetzt an 8000 Einwohner, die jedoch nicht sämmtlich albanesischer Abstammung sind. Mezzojuso, das Menzîl Jussuf der Araber, ist die jüngste Kolonie. Sie wurde 1490 begründet und 1550 durch neue Zuzügler aus den übrigen sicilischen Niederlassungen der Albanesen verstärkt. Gegenwärtig hat sie ungefähr 6000 Einwohner. St. Christina ist eine Zweigniederlassung von Piana dei Greci und erst im 17. Jahrhundert angelegt.

Trotzdem, daß diese nicht allzu zahlreichen Colonisten in der Nähe und in unmittelbarer Berührung mit einer ganz anders gearteten Bevölkerung gelebt haben, haben sie doch lange Zeit einen guten Theil ihrer alten Sitten und Gebräuche sich erhalten, bis dieselben erst in unseren Tagen gänzlich unterzugehen beginnen. In einem mir vorliegenden Büchlein hat der erste, jetzt verstorbene. Geistliche dieser der griechisch-katholischen Kirche angehörigen Albanesen, der Bischof Giuseppe Crispi, die Ueberreste der albanesisch-sicilischen Volkslieder zusammengestellt und übersetzt, welche von seinen Landsleuten bei feierlichen Gelegenheiten gesungen wurden.11 Aus den Erläuterungen, die Crispi zu ihnen giebt, ersieht man aber, wie viele Gebräuche, die nach Hahn in Albanien jetzt noch fortleben, hier schon in Vergessenheit gerathen sind. Die verhältnißmäßig geringe Anzahl der Einwanderer läßt es leicht begreiflich erscheinen, daß sie der immerhin höheren Cultur der Sicilianer nicht stärkern Widerstand geleistet haben. Eben dieser Umstand aber läßt es auch als ganz unwahrscheinlich erscheinen, daß die Albanesen auf die Bildung sicilianischer Volksdichtungen und Märchen irgend welchen Einfluß ausgeübt haben sollen. Die Albanesen, die bis auf diesen Tag sich in Sicilien wegen ihrer Wildheit und Raubbegierde nicht des besten Rufes erfreuen, kamen lange Zeit nur in äußere Berührungen mit der sicilischen Bevölkerung.

Einem von diesem in Sicilien eingesprengten Volksstamme ganz verschiedenen zweiten kleinen Bruchtheil der Bevölkerung bilden die s.g. Lombardencolonien, die, wie schon ihr Namen verräth, italischen Ursprungs sind und auch eine von dem sicilischen Idiom nur dialektisch verschiedene Sprache reden. Es ist hierbei nicht die Rede von den kleineren Zuzügen von Lombarden, die Kaiser Friedrich II. i.J. 1237 aus der Umgegend von Piacenza hierher verpflanzte und denen er einen Theil des Grund und Bodens anwies, der durch die Uebersiedlung der letzten Reste der Araber nach Luceria menschenleer geworden war.12 Vielmehr meinen wir die zahlreichen Schaaren von Oberitalienern, die der s.g. Aleramischen Mark entstammend im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts nach Unteritalien und Sicilien gekommen waren und besonders durch Adelaide, die Tochter des Markgrafen Manfred von Montferrat und letzte Gemahlin des Grafen Roger von Sicilien, hier festen Boden gefaßt hatten.13 Im Laufe des 12. Jahrhunderts waren diese Oberitaliener dann so zahlreich geworden, daß sie wenige Jahre nach einem unglücklichen Aufstandsversuche gegen Wilhelm I. doch noch ein Heer von 20,000 Kriegern ins Feld zu stellen versprachen.14 Die Bewohner der Stadt Randozzo, Vicari, Capizzi, Nicosia, Maniaci, Aidone, San Fratello, die theilweise noch jetzt ein von dem sicilischen Dialekte ganz abweichendes mit dem montferratinischen Patois übereinstimmendes Italienisch reden, sind die Nachkommen dieser Schaaren.15 Der Name Lombarden kann nur Dem auffallen, der nicht weiß, in wie weitem Sinne im Mittelalter der Name Lombardia gebraucht wurde und daß z.B. bei der Eroberung von Constantinopel 1204 der große Markgraf Bonifacio II. von Montferrat mit seinen Kriegern ganz besonders »die Lombarden« genannt werden.16 Aber auch diese oberitalienischen Colonien in Sicilien können nur einen ganz unbedeutenden Einfluß auf die Ausbildung des nationalen Typus der Sicilianer ausgeübt haben. Wenn, wie gar nicht zu leugnen ist, gerade in den Städten, in denen jetzt noch jener Dialekt gesprochen wird, sich mittelalterliches Wesen am ungebrochensten erhalten hat, so rührt das von der Lage dieser Städte im Innern der Insel her. Und doch giebt uns die einfache Thatsache, daß diese lombardischen Colonien sich seit dem Ausgange des 11. Jahrhunderts in Sicilien behauptet haben, einen deutlichen Fingerzeig für das Alter des sicilischen Dialektes und damit für die Herrschaft des vorzugsweise unteritalisch bestimmten, nationalen Typus der Sicilianer. Denn wäre nicht schon in jener Zeit der unteritalische Dialekt, von dem der sicilische ein Zweig ist, auf der Insel herrschend gewesen, so würde er gewiß mit dem lombardischen zusammengeflossen sein, dieser sich wenigstens nicht so scharf abgegrenzt behauptet haben. Die Urkunde, die z.B. 1133 für die lateinischen (latini) d.h. italienischen Bewohner von Patti aus dem Latein in die Vulgärsprache übersetzt werden mußten um ihnen verständlich zu sein – vulgariter exposita – wurden sicher schon in den sicilischen Dialekt übertragen.17

So wichtig für uns diese Angabe ist, daß schon im Anfang des 12. Jahrhunderts für die Bewohner einer sicilischen Stadt ein so bedeutender Unterschied zwischen dem Latein einer Urkunde und ihrem Dialekte bestand, daß ihnen diese Urkunde übersetzt werden mußte, ehe sie dieselbe verstanden, so wenig können wir doch aus dieser Thatsache Schlüsse auf den Ursprung und die Herkunft jener Bewohner Pattis machen. Für eine in Sicilien sehr verbreitete Theorie über die Bildung des sicilischen Dialekts sind freilich diese Schlüsse ganz selbstverständlich. Nach ihr ist der sicilianische Dialekt nichts Anderes als der letzte Ausläufer der Sprache der Sikeler, der Urbewohner Siciliens, und alle Gegenfragen, woher man das wisse, vom Uebel. Dieser Theorie huldigen u. A. Innocenzio Fulci,18 weiland Professor der italienischen Sprache in Catania, L. Vigo,19 der Sammler der sicilischen Volkslieder, Isidoro la Lumia,20 und F. Perez, noch jetzt lebende Palermitaner Gelehrte. Aber so einfach, als diese Männer annehmen, liegt doch diese Untersuchung nicht und die Frage des bekannten Historikers Emiliani Giudici nach dem sicilischen Dialekte während der Epoche der Normannen21 läßt sich nicht mit den Sprachproben und Etymologien lösen, die z.B. Vigo beibringt und die in einzelnen Fällen gerade das Gegentheil von dem beweisen, was Vigo aus ihnen folgert. Denn wenn er z.B. S. 17 aus dem Worte girio, das in einer Urkunde aus dem Jahre 1148 vorkommt, schließt, die Sicilianer hätten um diese Zeit schon gerade so gesprochen wie jetzt, da das Wort noch jetzt dieselbe Bedeutung, große Wachskerze, habe wie damals, so wäre die Conclusion viel begründeter, daß die Sicilianer noch jetzt wie damals einen griechischen Dialekt sprechen. Denn offenbar ist girio ein griechisches Wort gleich ὁ κηρίων, das Wachslicht und Wachsfackel bedeutet, dem Namen nach allerdings mit cera u.s.w. verwandt. Nein, ohne Frage müssen wir uns, um zu einer von allem Lokalpatriotismus freien, wissenschaftlichen Betrachtung der Entstehung und Bildung des sicilischen Dialektes und damit der wahren Nationalität der Sicilianer zu gelangen, in ganz anderer Weise mit den Thatsachen der Sprachgeschichte in Sicilien abfinden und darum etwas weiter ausholen.

Wie bekannt waren die Ureinwohner Siciliens, die Sikeler, italischer Abstammung und ihre Sprache war gewiß der lateinischen verwandt. Mögen nun auch die Sikaner, die angeblich noch ältere Bewohner Siciliens sind als die Sikeler, italienischen Ursprungs gewesen sein, wie Mommsen und Andere annehmen, oder durch Einwanderung aus Afrika oder Gallien hierhergekommen sein, bei ihrer geringen Zahl und den Geschicken der in historischer Zeit von ihnen bewohnten wenigen Städte haben sie ohne Zweifel nur sehr geringen Einfluß auf die Cultur Siciliens ausüben können. Auch die Sikeler, die in historischer Zeit das Innere und ein Stück der Nordküste der Insel bewohnten, nachdem sie durch die griechischen Colonisten von der hafenreichen Ostküste abgedrängt waren, haben für die gesammte Entwicklung der Insel nur geringe Bedeutung. Sicher vor Allem ist, daß sie gerade auf die Sprachverhältnisse der Insel nur einen ganz geringen Einfluß ausgeübt haben, in keinem Falle wenigstens in der Ausdehnung, wie jene oben erwähnten sicilischen Gelehrten uns glauben machen wollen; hat doch ihr Dialekt sich nicht einmal zum Rang einer Schriftsprache erhoben und bezeugt uns Diodor von Sicilien ganz ausdrücklich, daß die Sikeler die Sprache der Griechen angenommen hätten und nun Sikelioten genannt worden seien.22 Die kurze Bezeichnung der Sicilianer als trilingues, die sich bei L. Apulejus Madaurensis23 findet, ist insofern unklar, als man aus ihr nicht ersehen kann, welches die dritte Sprache sein soll, die in Sicilien gesprochen worden ist. Da das Zeugniß des Diodor über die Sikeler so bestimmt lautet, muß man annehmen, der Afrikaner habe die Reste der karthagischen Colonien mit ihrer phönicischen Sprache bei seinem Ausdrucke: »Siculi trilingues« berücksichtigt. Die griechische Sprache war nach Vertreibung der Punier von der Insel die fast allein herrschende auf ihr; die lateinische kam erst mit den römischen Eroberern hierher. Aber Jahrhunderte lang ist sie dann neben der griechischen in Uebung gewesen, wenngleich diese sich natürlich in den Städten mit griechischer Bevölkerung als die eigentliche Volkssprache behauptet hat. Ganz besonders kam dagegen die lateinische Sprache in den acht Städten zur Herrschaft, welche in der Kaiserzeit römische Colonien erhalten hatten und aus denen, wie z.B. in Tauromenium, die Reste der griechischen Bevölkerung anders wohin verpflanzt wurden. In dem Inneren der Insel blieb aber die griechische Sprache doch wohl die überwiegende. Diodor aus Argyrium sagt uns von sich, er habe durch den Handelsverkehr der Römer auf der Insel sich seine große Bekanntschaft mit der lateinischen Sprache erworben.24 Auch die uns erhaltenen Inschriften beweisen es, daß Griechen und Römer die ersten sechs Jahrhunderte unserer Aera hindurch wohl ziemlich gleichmäßig die Insel bewohnten. Beide Völker sprachen aber ihre Sprachen in Sicilien nicht gut, wie Pseudoasconius mit nackten Worten sagt und auch schon aus älterer Zeit von Plautus mit seinem sicilicissat angedeutet wird.25 Wenn Di Giovanni für die ersten vier Jahrhunderte ein Vorherrschen der lateinischen Sprache statuiren möchte, und sich u.A. darauf beruft, daß eine ganze Anzahl lateinischer Schriftsteller in jenen Jahrhunderten von der Insel stammte, Calpurnius, Frontinus, Vopiscus, Firmicus Maternus u.A., so tritt dem wieder die Thatsache entgegen, daß der Neuplatoniker Porphyrius um 300 n. Ch. sich in Sicilien aufgehalten und dort Vorlesungen gegen das sich damals hier stark ausbreitende Christenthum in griechischer Sprache gehalten hat. Das Citat aus Firmicus Maternus, das ferner Di Giovanni anführt um seine Behauptung zu begründen, beweist gar Nichts. Denn der Gegensatz von Graeci und nostri bezieht sich doch ganz sicher nicht auf Griechen und Sicilianer sondern ganz im Allgemeinen auf Griechen und Lateiner.26 Da aller Wahrscheinlichkeit nach das Christenthum von Rom aus nach Sicilien gekommen ist, so kann man aber dem genannten Historiker leicht zugeben27, daß die älteste christliche Kirchensprache in Sicilien die lateinische gewesen ist. Wie eifersüchtig man später hier über den Gebrauch des rechten römischen Ritus wachte, geht aus einem Briefe Gregors des Großen aus den letzten Jahren des 6. Jahrhunderts hervor, nach dem man sich in Sicilien u.A. darüber beschwert hatte, daß Gregor gewisse gottesdienstliche Handlungen nach den Gebräuchen der constantinopolitanischen Kirche angeordnet habe. Auf eine Gereiztheit im Betreff des Gebrauches der rechten Sprache, einen Sprachenstreit in Sicilien, läßt die Thatsache schließen, daß Gregor sich weigert den Brief einer Sicilianerin zu beantworten, weil sie, obwohl Lateinerin, sich in einem griechisch geschriebenen Briefe an ihn gewendet habe, und dieser seinen Entschluß seiner Correspondentin durch den Patricius Narses mittheilen läßt.28 Lassen diese Thatsachen auf ein ziemlich gespanntes Verhältniß der beiden Nationalitäten auf der Insel gegen Ende des 7. Jahrhunderts schließen, so wird leicht zu ermessen sein, daß nachdem die sicilische Kirche im Anfang des 8. Jahrhunderts durch Leo Isauricus von der römischen losgerissen und dem Patriarchen von Constantinopel unterstellt worden war, die lateinische Sprache in Sicilien in Rückgang kam. Seit dem Bischof Stephanus von Syrakus wurde in der Metropolitankirche Siciliens der Gottesdienst nicht mehr in lateinischer, sondern in griechischer Sprache gefeiert. Geistliche Reden, die in Syrakus, Catania und Taormina gehalten worden und auf uns gekommen sind, sind in griechischer Sprache abgefaßt. Ebenso sind die Homilien des Theophanes Kerameus, die Geschichte der Manichäer von Petrus Siculus und die Werke anderer Sicilianer des 9. Jahrhunderts ausschließlich in griechischer Sprache geschrieben. Auch die Araber setzten gelegentlich die griechische Sprache als die den Sicilianern bekannte voraus.

Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, daß die lateinische Sprache sich während der byzantinischen Herrschaft auf der Insel nicht gehoben hat. Die Beamten, die von Constantinopel hierher geschickt wurden, waren Griechen, die Befehlshaber der Truppen Griechen oder griechisch redende Barbaren. Die Gerichtssprache war die griechische, wie ja Sicilien an der nachjustinianeischen Rechtsentwicklung im byzantinischen Reiche Theil genommen hat. Kurz: die Sprache der Kirche, des Heeres, der Verwaltung und Justiz war Jahrhunderte lang die griechische. Es unterliegt wohl auch keinem Zweifel, daß so weit die Insel noch damals Ausfuhrartikel producirte und Waaren einführte, dieser Handel nicht mehr wie zu den Zeiten Diodors von römischen, sondern von griechischen Kaufleuten besorgt wurde. Die lateinische Sprache ist gewiß während dieser Periode als Schriftsprache allmählig auf der Insel ausgestorben.

Es würde gegen alle Analogieen verstoßen, wenn wir annehmen wollten, daß sich die lateinische Sprache während der Araberherrschaft in Sicilien wieder neu belebt habe. Denn gesetzt auch der Gegensatz der lateinischen und griechischen Nationalität und die Abneigung der Lateiner gegen die byzantinische Herrschaft sei so groß gewesen, als Amari anzunehmen geneigt ist, wird nicht dennoch der viel größere gemeinsame Gegensatz beider Kirchen gegen die Ungläubigen, die nicht geringere Tribute auferlegten als die Byzantiner und die ihnen Widerstand Leistenden. Alles weg nahmen, nicht doch trotz alles Mönchsgezänkes die viel geringere Differenzen beider Glaubensgemeinschaften bei gar Manchen wenigstens überbrückt und die beiden Nationalitäten nicht doch in den Gluthofen der Verfolgung und Bedrängniß zu Einem Volke zusammengeschmolzen haben? Möglich wäre es ja allerdings, daß der Haß gegen die byzantinische Herrschaft viele Lateiner vermocht hätte, sich an die Muselmanen anzuschließen.29 Aber das Eine wie das Andere hatte ja nur dasselbe Resultat hervorgebracht: das allmälige Absterben der lateinischen Sprache und Nationalität auf der Insel. Daß dieselbe vollständig auf ihr erloschen sei, soll freilich nicht damit gesagt werden. Nur das kann als historisch gesicherte Thatsache angenommen werden, daß sich die lateinische Sprache im 10. und 11. Jahrhundert hier nur in den untersten Volksclassen behauptet hat. Besitzen wir doch kein einziges, und sei es ein auch noch so unbedeutendes Denkmal in lateinischer Sprache aus dieser Zeit.30 Und wenn man daraus, daß einzelne Christen von der Insel sich während derselben nach Rom zogen und dort Aufnahme fanden, einen Schluß auf die Fortdauer einer Verbindung Roms und der abendländischen Kirche mit der lateinischen Bevölkerung der Insel hat bilden wollen, so dürfte allein die Thatsache, daß der h. Simeon von Syrakus, ein Vorläufer Peter des Einsiedlers, welcher 1034 in Trier starb, nachweislich griechischer Abstammung war, diesen an sich prekären Schluß in seiner ganzen Unsicherheit darthun. Bekannt genug ist ja auch, wie Papst Urban II. 1093 den Zustand der christlichen Kirche auf der Insel während der Herrschaft der Araber geschildert hat. »Fast drei Jahrhunderte«, sagt er, hat der christliche Glaube in Sicilien zu existiren »aufgehört«.31 Wenn das nun auch eine Uebertreibung ist, wie sich deren die Päpste in ihren Schreiben häufig zu Schulden kommen lassen, so ist doch wenigstens aus dieser Angabe zu schließen, daß fast drei Jahrhunderte lang keine näheren Beziehungen zwischen Rom und Sicilien bestanden haben. Die Thatsache aber, daß das Christenthum niemals auf der Insel ganz erloschen ist, ergiebt sich aus den Zeugnissen anderer Zeitgenossen, die über die sicilischen Dinge mindestens eben so gut unterrichtet waren als Urban II. Nur über die Zahl der Christen, ihre Verbreitung auf der Insel und ihre Nationalität kann gestritten werden. Mit Recht ist schon von anderer Seite darauf hingewiesen worden, wie allein der Umstand, daß den Normannen zwei Jahre genügt hätten, den nordöstlichen Theil der Insel zu erobern, während sie dreißig Jahre gebraucht hätten, die beiden anderen Bezirke (Welâia) sich zu unterwerfen, einen Rückschluß auf die verschiedene Dichtigkeit der muselmanischen und christlichen Bevölkerung in Sicilien gestatte. Die Nordostspitze der Insel, namentlich die nach dem jonischen Meere zugekehrte Küste von Lentini etwa bis Messina, ist in der That auch nie andauernd im Besitze der Araber geblieben und hier hat sich, wenn auch nur sich einer unsicheren Existenz erfreuend, eine freie christliche Bevölkerung in den engen verborgenen Thälern und auf den fast unersteiglichen Bergspitzen behauptet,32 während die übrigen in Sicilien vorhandenen Christen Freigelassene, Vasallen (Dsimmi) oder Knechte der Eroberer waren.

Unter den Christen, die die Normannen bei der Eroberung der Insel auf ihr vorfanden, wollen nun di Gregorio und Amari33 auf Grund gewisser verschiedener Ausdrücke, die die normannischen Chronisten von ihnen gebrauchen, genauer zwischen Christen griechischer und lateinischer Nationalität unterscheiden. Namentlich Gaufridus Malaterra, der bald von Christiani bald von Graeci bald von Graeci Christiani spreche, soll damit zwischen Lateinern (Christiani) und Griechen unterscheiden wollen. Ich muß gestehen, daß ich diesen Unterschied nicht in den angeführten Stellen des Chronisten gemacht finde. Die Ausdrücke wechseln bei ihm, so scheint es mir, aus einem anderen Grunde. Wenn die christlichen Bewohner der Insel dem Grafen freundlich entgegen kommen, so nennt er sie Christen, fallen dieselben aber vom Grafen ab, so nennt er sie Graeci, Christiani Graeci, da die Graja perfidia bei allen abendländischen und auch bei den normannischen Chronisten, wie bei Hugo Falcando und Gaufridus Malaterra selbst34, ganz sprichwörtlich ist. Ebenso wenig kann ich in einer Stelle der in lateinischer Uebersetzung erhaltenen Rede des Mönchs Nilus über das Leben des h. Philaretus eine Anspielung auf die lateinische Nationalität finden.35 Auch in einem Sprachgebrauche des Amatus von Montecasino vermag ich kein unsere Frage sachlich förderndes Moment zu erkennen, wie gleichfalls Amari meint. An einer Stelle läßt freilich Amatus seinen Helden sagen: »Je voudroie délivrer li chrestien, et li catholici« und ich bezweifele durchaus nicht, daß Amatus Roger hier hat sagen lassen wollen, er habe sowohl römische. (Lateiner) als griechisch-katholische Christen befreien wollen.36catholicichristiani,3738