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Die furchtlose Nelli, die tollkühne Trude und der geheimnisvolle Nachtflieger

Verena Reinhardt, geboren 1983 in Wiesbaden, fand als Zehnjährige eine alte Schreibmaschine auf dem Sperrmüll und tippte fortan mit allen zehn Fingern in rasender Geschwindigkeit zahlreiche Romane und Kurzgeschichten, die aber niemals veröffentlicht wurden. Sie studierte Biologie und Anglistik in Mainz sowie in Birmingham/England und promovierte von 2011–2014 über das Bestäubungsverhalten der Honigbiene. Während dieser Zeit schrieb sie ihr erstes Buch Der Hummelreiter Friedrich Löwenmaul. Ihre dritte Leidenschaft neben der Biologie und dem Schreiben gilt der Musik, sie spielt Lead-Gitarre in einer Punkband. Verena Reinhardt wohnt in Wiesbaden. Die furchtlose Nelli, die tollkühne Trude und der geheimnisvolle Nachtflieger ist ihr zweiter Roman.

www.verenareinhardt.de

Inhalt

1. Kapitel
Ein Dutzend Messer

2. Kapitel
Böses Erwachen

3. Kapitel
Ohne Netz und doppelten Boden

4. Kapitel
Eine Kette, ein Verbrechen und der Abendstern

5. Kapitel
Ein tollkühner Wurf

6. Kapitel
Das Geheimnis des zweiten Bauchredners

7. Kapitel
Bombenstimmung

8. Kapitel
Trude geht ein Licht auf

9. Kapitel
Die beste Nummer aller Zeiten

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Dramatis Personae

Die furchtlose Nelli (eine Haselmaus)

Die tollkühne Trude, Messerwerferin

Die drei vom Trapez, die Cousinen Kläri, Mariechen und Lotte (drei Zwergsiebenschläfer)

Jungfrauenzersäger Sägebrecht (ein Ohrschlitzer)

Hilde, seine Zersäge-Jungfrau

Zirkusdirektor Woimick (eine Fruchtfliege)

Bertwin, das große Schweigen, ein Pantomime

Bröllhuber und das wilde Tier (Herr und Frau, zwei Unken)

Lukas, der Gewichtheber (der stärkste Hirschkäfer der Welt)

Frangipani, der Schwertschlucker (eine Blindschleiche)

Beppo, der Clown

Rembert, der Illusionist

Irmfriede, die eleganteste Seiltänzerin der Welt (eine Spinne)

Madam Mystia, die Wahrsagerin

Der große Coccinellus, ein Bauchredner, und Pepi, seine Puppe (beide Marienkäfer)

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1. Kapitel

Ein Dutzend Messer

Weißt du«, sagte Trude, »das Beste an dir ist, wie gut du stillhalten kannst. Niemand kann so gut stillhalten wie du, wenn dir ein Dutzend Messer um die Ohren fliegt!«

»Das kommt daher«, sagte ihre beste Freundin Nelli, »dass du die Messer wirfst. Wenn jemand anders mit Messern auf mich werfen würde, dann würde ich nicht ruhig stehen bleiben, da kannst du dich drauf verlassen! – Hast du die Puderdose? Meine Nase glänzt.«

»Nelli«, wandte Trude ein, »deine Nase ist pelzig. Ich glaube, die kann gar nicht glänzen. Und außerdem muss ich mich jetzt erst mal abpudern!«

»Pah«, machte Nelli, spuckte sich in die Pfoten und strich ihre Ohren glatt. »Das nützt auch nichts mehr.«

Nelli und Trude drängelten sich vor dem Spiegel in ihrem Zirkuswagen und machten sich hübsch für die nächste Vorstellung. Da klopfte es an der Tür. Sägebrecht, der Jungfrauenzersäger, steckte seinen Kopf herein. Seine Antennen wackelten aufgeregt. »Drei Minuten«, rief er. »Auf, ihr beiden, kommt in die Puschen!«

»Keine Sorge, wir sind schon rechtzeitig da«, gab Nelli zurück und grapschte die Puderdose aus Trudes Hand.

Trude protestierte. »Gib mir das wieder! Guck mal, Sägebrecht, so kann ich doch nicht rausgehen!«

Sägebrecht seufzte. »Ihr beiden! Kümmert euch lieber um eure Klamotten! Woimick wird euch den Kopf abreißen, wenn er merkt, dass Nelli diesen riesigen Riss in ihrem Trikot immer noch nicht geflickt hat!«

»Sieht er doch gar nicht«, sagte Nelli leichthin. »Ich dreh ihm einfach die andere Seite zu. Na schön, los geht’s!«

»Hals- und Beinbruch«, sagte Sägebrecht.

»Danke«, kicherte Trude, huschte an ihm vorbei und schnappte ihren Zylinder vom Regal. »Wird schon schiefgehen!«

Die Trommeln wirbelten. Die blendend hellen Lichter brannten in die Manege und auf die große rot-weiße Zielscheibe. Darauf festgeschnallt war die furchtlose Nelli in einem roten Glitzeranzug und Federn auf dem Kopf. Sie hielt den Atem an und das Publikum tat dasselbe.

Zack! schlug ein Messer neben dem Ohr der Haselmaus ein. Zack! kam ein zweites Messer geflogen und blieb neben dem anderen Ohr stecken.

»Ooh«, raunte das Publikum.

Die tollkühne Trude lächelte strahlend, als würde sie nur Drops werfen. Zack! Zack! Direkt hintereinander schlugen noch zwei Messer zwischen Nellis zitternden Schnurrhaaren ein. Zwei Unken kamen angehüpft und stießen die Zielscheibe an, sodass sie sich drehte.

Und wieder flogen die Messer. Zwei neben Nellis Füße. Zwei neben ihre Taille. Eins über den Kopf!

Bei jedem Wurf ertönten spitze Schreie von den Rängen. Zartbesaitete Damen fächelten sich Luft zu und ihre Herren hielten schon das Riechsalz bereit.

Nun schubsten die Unken abermals die Scheibe an, damit sie sich schneller drehte.

Es flogen noch zwei Messer, eins traf die Scheibe links und eins die Scheibe rechts von Nellis Brust. Nur noch ein Messer war übrig, und die Messerwerferin strahlte das Publikum an und überlegte, wohin sie es werfen sollte. Und das Publikum starrte zurück und war ganz in ihrer Hand.

Jetzt hob die tollkühne Trude den Arm und das letzte Messer schlug neben Nellis Schwanz ein. Als die Unken die Scheibe anhielten, zitterte die Klinge im Holz noch immer. Da brach der Applaus los wie ein Sturm und das Publikum pfiff und johlte und trampelte und schnappte endlich wieder nach Luft.

»Hochverehrte Damen und Herren, die tollkühne Trude und die furchtlose Nelli! Nur eine von zahllosen Sensationen im Zirkus Woimick!«, rief der Zirkusdirektor und knallte mit der Peitsche, und dann machte er einen Luftsprung.

Trude war eine großartige Messerwerferin und Nelli war eine großartige Assistentin. Das merkte jeder. Das sagte sich Nelli auch immer wieder selbst, jeden Abend. Und das musste man auch, wenn einem ein Dutzend Messer um die Ohren flog. Sonst wurde man wahnsinnig. Dann dachte man sich: »Was tu ich hier, in einem Glitzerkostüm mit Federn auf dem Kopf, und lasse mich mit Messern bewerfen? Von Trude, die glaubt, die Mehrzahl von Einweckglas wäre Zweiweckglas

Und wenn einen die Scheinwerfer blendeten, dann musste man wirklich sehr fest daran glauben, dass Trude die beste Messerwerferin aller Zeiten war. Denn sonst fing man an zu zittern und zu zucken und dann konnte etwas Schlimmes passieren. Bisher war nie etwas Schlimmes passiert. Aber heute war Nelli mit Trude sehr unzufrieden.

»Du hast mir fast die Schnurrhaare abrasiert«, sagte sie und warf ärgerlich einen Wattebausch auf den Tisch, während sie sich vor dem Spiegel in ihrem gemeinsamen Wagen abschminkte.

»Entschuldige, Nelli«, sagte Trude.

»Ich glaub, du wirst langsam schludrig. Du hast zu viel Routine«, setzte Nelli hinzu und wischte den Glitzer aus ihrem Fell. »Da wird man schludrig.«

»Tut mir leid, Nelli«, sagte Trude.

»Mir tät es leid, wenn du mich eines Tages treffen würdest!«

»Nicht so leid wie mir, Nelli.«

Nelli wollte noch etwas Wütendes sagen, aber ihr fiel nichts mehr ein. Wie sollte man jemanden ausschimpfen, der so verdammt lieb war wie Trude? Und sie meinte es ja ernst! Trude hätte nie wieder eine frohe Minute, wenn sie Nelli eines Tages wirklich treffen sollte.

»Mpf«, machte Nelli also. »Wir brauchen eine neue Nummer. Irgendwas ganz Neues, worin du keine Routine hast.«

»Das stimmt.« Trude setzte sich in ihre Hängematte. »Ich werde mal darüber nachdenken. Mir fällt bestimmt was ein!«

Nellis Zorn war sinnlos verpufft. Sie zog den glitzernden roten Badeanzug aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel. »Wann sollen wir fertig sein?«

»Um sieben Uhr wird der Zirkus in den Zeppelin verladen«, sagte Trude. »Um acht heben wir ab. Im Moment zerlegen sie noch das Zelt.«

»Dann kochen wir besser schnell Abendessen, was?« Nelli lehnte sich hinüber zu dem Schrank über ihrem Öfchen. »Kartoffelbrei mit Pilzen könnte ich uns machen.«

»Au ja!«, rief Trude.

»Aber du schälst die Kartoffeln.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Nelli.« Trude wiegte den Kopf hin und her. »Wo ich doch heute so schludrig bin mit Messern. Ich könnte jemanden skalpieren! Ganz aus Versehen!«

»Glaubst du wirklich?« Nelli zuckte beunruhigt mit den Ohren.

»Nelli, ich mach doch nur Spaß!«, gluckste Trude.

Und da warf Nelli ihren Federschmuck nach ihr. Trude quiekte und fiel lachend auf die Küchenbank.

In dem Moment klopfte jemand gegen die Wagentür, als gelte es sein Leben.

»Was ist denn?«, rief Trude.

Es war Lotte, eine von Nellis drei Cousinen, die im Zirkus Woimick die Trapezartistinnen waren. »Woimick will was ankündigen!«, quiekte sie. »Alle sollen kommen. Er ist ganz aufgeregt, der kleine Brummer!«

»Wir wollten gerade Essen machen«, sagte Nelli, die Hunger hatte.

»Könnt ihr später! Hopp, hopp, kommt mit!« Lotte schnappte Nelli an der Pfote und zerrte an ihr. Nelli stöhnte, aber sie ließ sich mitziehen.

Trude seufzte und zog ihre Jacke an und dann folgte sie den beiden in das Zirkuszelt. Inzwischen waren die Besucher verschwunden, auf den Rängen lagen Krümel und leere Flaschen und vergessene Schals. In der Manege standen die Mitglieder des Zirkus Woimick. Das waren nicht viele, denn der Zirkus Woimick war ein sehr kleiner Zirkus. Aber alle waren sie gespannt. Und über ihnen in der Luft surrte aufgeregt Woimick herum, der Zirkusdirektor. Er war ein sehr kleiner Direktor, selbst für einen so kleinen Zirkus: eine winzige Fruchtfliege mit roten Augen. Doch heute wirkte er mindestens doppelt so groß wie sonst. Mit dem metallenen Knauf seines Spazierstocks schlug er gegen eine der Eisenstangen, die das Zelt hielten.

»Sind jetzt alle da? Gut! Hört her!«, rief er übermütig und schwenkte den Spazierstock.

Alle wurden still und schauten erwartungsfroh auf ihren winzigen Direktor.

Woimick strich sich den Glitzerfrack glatt. »Meine lieben Freunde, heute habe ich eine große Ankündigung zu machen. Wie ihr alle wisst, spiele ich jede Woche Lotto.«

Ein Raunen ging durch die Menge seiner Zuhörer. Der Gewichtheber wechselte Blicke mit dem Clown, Sägebrecht mit seiner Zersäge-Jungfrau. Und selbst die Wahrsagerin hatte nicht die leiseste Ahnung, was jetzt kommen würde.

Nur Nelli hatte eine Idee. »Jetzt isses passiert. Er hat den Zirkus verspielt.«

»Ruhe!«, wies sie der Gewichtheber (und Hirschkäfer) Lukas zurecht und klapperte drohend mit dem Geweih.

»Einige von euch«, sagte Woimick mit zusammengekniffenen Augen, »einige von euch haben übers Lottospielen ja schon immer freche Bemerkungen gemacht.«

»Was heißt hier freche Bemerkungen«, erwiderte Nelli, »die Chance auf einen Hauptgewinn ist bei dieser Methode eins zu anderthalb Millionen. Du könntest dir genauso gut die Abgabegebühr für den Lotterieschein in Pfennigen auszahlen lassen und damit Leute bewerfen. Die Chance, dass du die Fruchtfliege deiner Träume auf den linken Flügel triffst, ist größer als die Chance, dass du was Großes gewinnst.«

»Sogar eins zu 1,7 Millionen«, entgegnete Woimick gelassen. »Na und?«

»Na und?«, dozierte Nelli. »Lass es uns mal logisch angehen. Wie viel Geld investierst du jede Woche ins Lottospielen?«

»Was ist denn nun?«, rief Hilde, die Zersäge-Jungfrau, dazwischen. »Warum das ganze Tamtam?«

»Eben«, ertönte es von Rembert, dem Illusionisten.

»Nelli soll die Klappe halten«, rief Sägebrecht. »Woimick, erzähl!«

Nelli hob die Pfote und wollte noch etwas sagen, aber Trude pikte ihr den Ellbogen in die Rippen. Das fand Nelli ziemlich frech. Wie konnten diese Banausen sie nur alle unterbrechen, wenn sie Woimick etwas vorrechnen musste?

Woimick, dem kleinen Mistkerl, schwoll vor Stolz der Thorax. »Ich hab gewonnen«, verkündete er. »Letzte Woche. Den Hauptpreis. Zweitausendvierhundertdreiundfünfzig Goldstücke und fünfzig Pfennig!«

Eine Sekunde lang war es sehr still. Dann quiekte Hilde: »Zweitausendvierhundertdreiundfünfzig Goldstücke?«

»Und fünfzig Pfennig?!«, keuchte Beppo der Clown.

Ein Tumult brach los. Alle schrien durcheinander und keiner konnte mehr sein eigenes Wort verstehen. Lukas fing an, schwer zu atmen. Nellis Cousinen, die Zwergsiebenschläfer Lotte, Kläri und Mariechen, sprangen vor Aufregung quiekend im Gestänge des Zeltes herum und kamen eine ganze halbe Stunde nicht mehr herunter. Und der Schwertschlucker Frangipani (der eine kleine Blindschleiche war) verknotete sich vor Aufregung und bekam Schluckauf.

Schließlich klopfte Woimick wieder gegen die Stange und alle Augen schauten zurück zu ihm. »Tja, so ist das. Eins zu anderthalb Millionen, aber einer muss ja gewinnen!« Woimick warf einen triumphierenden Blick in die Runde. Nelli war angewidert, das konnte man sehen.

»Und was machst du mit dem vielen Geld? Setzt du dich zur Ruhe?«, fragte Trude beunruhigt.

»Nee. Ich doch nicht!« Woimick strich sich wieder den Glitzerfrack glatt. »Jetzt kommt ihr ins Spiel. Ich werd es nämlich investieren. In den Zirkus. In euch alle! Zirkus Woimick, bald noch größer und besser und aufregender! Mehr Artisten, mehr brennende Reifen, mehr Limonade!«

Trude schlug begeistert die Hände zusammen.

»Ein Hurra auf Woimick, den besten Lottoscheinausfüller der Welt!«, rief Lukas, und alle stimmten mit ein. Nur Nelli war noch nicht so weit, Woimick zu verzeihen, weil er ihre schöne Gardinenpredigt ruiniert hatte.

»So, und jetzt macht euch bereit für die Verladung in den Zeppelin. Um sieben geht es los, und ich hoffe, wir haben einen geruhsamen Nachtflug und süße Träume«, rief Woimick leutselig. »Und ich – ich geh gleich einen neuen Lottoschein ausfüllen!«

»So eine Überraschung«, quiekte Trude und packte begeistert Nellis Pfoten. »Nelli, das wird so wundervoll!«

Nelli prustete verächtlich. »Pah. Jetzt wird er sich noch mehr überschätzen als vorher! Und dafür haben wir das Abendessen aufgeschoben? Lass uns schnell kochen gehen, ich falle gleich um vor Hunger.«

Nach dem Essen saßen die tollkühne Trude und die furchtlose Nelli auf ihrer Küchenbank und starrten satt vor sich hin. Trude hockte in Pullunder und Hosenrock in der Bankecke. Ihre Füße mit den dicken grauen Socken daran hatte sie auf dem Tisch ausgestreckt. Das Licht, das durch das Fenster hereinfiel, wurde langsam trübe.

Dieser Abend war nicht nur wegen Woimicks Lottogewinn bedeutsam. Nein, heute würde der Zirkus auch eine Premiere in der Geschichte der Luftfahrt durchführen. Noch nie war ein ganzer Wanderzirkus mit allen Wagen und dem Zelt in einem Zeppelin verstaut worden. Mit dem bevorstehenden Flug würden sie in einer Nacht eine Strecke zurücklegen, für die sie sonst zwei Wochen über bergiges Terrain hätten ziehen müssen. Das war alles sehr aufregend. Draußen liefen die anderen Zirkusmitglieder herum, schwatzten und verstauten ihre Sachen und das Zelt.

»Sollen wir früh ins Bett gehen?« Nelli konnte ihre Augen nicht vom leeren Teller abwenden. Sie war so schön müde und satt und dann wurde sie immer philosophisch. Es war jedes Mal wieder ein Wunder, dachte sie, wie ein Zirkus einen Ort veränderte. Wenn der Zirkus Woimick irgendwo ankam, war da zuerst nichts als ein fremder Acker. Dann wurde das Zelt aufgestellt und plötzlich war dort ein Zuhause. Aber wenn sie sich gerade daran gewöhnt hatten, so nach sieben, acht oder zehn Tagen, wurde das Zelt in einer Dreiviertelstunde niedergerissen, und dann war es wieder ein fremder Ort. Wie komisch das war!

Trude schwang die Füße vom Tisch. Dabei fiel ihr Blick über Nellis Schulter zum Fenster hinaus, und sie schnappte nach Luft und rief: »Oh, Nelli, der Zeppelin ist da!«

Nelli lehnte sich gegen die Fensterscheibe. Langsam senkte sich draußen ein Schatten über das feuchte Gras. Ein riesiger Schatten! Er war so groß, dass er fast den Himmel ausfüllte.

»So groß ist ein Zeppelin? So sehen die Dinger gar nicht aus, wenn sie am Himmel hängen«, staunte sie.

Trude presste sich neben ihr an die Scheibe und murmelte: »Damit fliegen wir! Wie romantisch!«

Ihr Atem machte Nebelflecken auf dem Glas. Nelli fühlte an ihren Pfoten die Kälte, die durch das Glas hereinkroch. Der November hatte gerade begonnen und es war in den letzten Tagen sehr kühl geworden.

»Na«, schniefte Nelli, »wart erst mal ab, bis wir in der Luft sind. Da oben ist es bestimmt eisig!«

»Wenn mir kalt ist, frag ich einfach jemanden, ob er mir seinen Mantel leiht«, sagte Trude fröhlich.

Ja, das tat sie immer. Und es funktionierte immer. Kein Mann – egal von welcher Spezies – sagte Nein, wenn Trude sich seinen Mantel leihen wollte. Im Gegenteil! Trudes Anblick in einem viel zu großen Mantel fanden sie alle so reizend, dass sie gern froren. Und Trude wusste auch genau, wie sie gucken musste, wenn sie danach fragte. Trude war – das war sogar Nelli klar – ein ganz exquisites Exemplar ihrer Art, sowohl von Haus aus als auch durch einige geschickte Kunstgriffe. Das war oft nützlich, auch für Nelli. Und so ignorierte Nelli die gelegentliche falsche Wimper, die sich in die Suppe verirrte, und die Brandflecken auf dem Esstisch, die von der Brennschere herrührten, mit der Trude ihre Locken legte.

Nelli seufzte und riss sich vom Fenster los. »Komm, an die Arbeit. Gleich geht es los.«

Zuerst wurden die großen Wagen in den Zeppelin verladen: der Requisitenwagen, die Zeltteile, die Stangenpakete. Die wurden alle über eine Rampe am hinteren Ende der Gondel hineingeschoben und verschwanden im Luftschiff. Nelli und Trude saßen wartend auf den Stufen ihres Wagens und schauten zu.

Danach durften die Artisten ihre Wagen hineinbringen. Zuerst kam Woimicks riesiger Wohnwagen, von einem Dutzend Helfer geschoben, und der kleine Woimick selbst surrte aufgeregt um ihn herum und mahnte alle zur Vorsicht. Als Nächstes rollte der geräumige Wagen der Eheleute Bröllhuber heran. Fast die Hälfte des Wagens bestand aus einem großen Wassertank, denn die Bröllhubers waren Unken, und sie hatten ein ganzes Aquarium voller Kaulquappen, das regelmäßig mit Frischwasser befüllt werden musste. Die beiden führten eine waghalsige Dressurnummer vor: »Bröllhuber und das Wilde Tier«. Einer von ihnen war Bröllhuber (Herr oder Frau). Der andere, der das wilde Tier spielte, trug dann eine Furcht einflößende Perücke und musste mit Peitsche und Stuhl im Zaum gehalten werden.

Die Bröllhubers zankten sich gerade.

»Morgen bist du wieder das Tier.«

»Was, für beide Vorstellungen?«

»Ich war heute dran.«

»Aber das war nur eine Vorstellung!«

»Denkst du, mir macht’s Spaß, Dompteur zu spielen? Ich hab die Nase voll davon, ständig meinen Kopf in deinen Mund zu halten. Ich hab dir so ein schönes Mundwasser zum Geburtstag geschenkt, wieso benutzt du’s nicht?«

»Es schmeckt eklig. Und außerdem kratzt die blöde Perücke. Na schön. Dann bin ich morgen zweimal das Tier. Aber dann machst du den Abwasch!«

Hinter den Bröllhubers kam der Wagen von Lukas, dem Gewichtheber. Lukas war ein sehr stattlicher Hirschkäfer, und mit der gleichen Leichtigkeit, mit der er bei der Vorstellung Gewichte mit seinem Geweih hob und Ketten zerriss, konnte er sich selbst vor seinen Wagen spannen und ihn herumziehen.

Dann folgte der Wagen von Irmfriede, der Seiltänzerin (sie war eine große Spinne), und danach der von Beppo, dem Clown (ein dicker älterer Mann mit wenig Haar auf dem Kopf).

Schließlich folgte der Wagen von Sägebrecht und von Hilde, seiner Zersäge-Jungfrau. Natürlich war sie noch an einem Stück, denn einen guten Jungfrauenzersäger erkennt man daran, dass er sein Opfer nicht wirklich zersägt. Und Sägebrecht war sehr gut! Es war zwar ein Skandal, dass sie in wilder Ehe zusammenlebten – Sägebrecht war immerhin ein Ohrschlitzer und Hilde ein Mensch –, aber Zirkusleute nahmen es damit nicht so genau.

Als Nächstes kam der winzige Wagen des großen Coccinellus (eines Marienkäfers) und seiner Bauchrednerpuppe Pepi. Dann folgte der violette Wagen von Madam Mystia, einer jungen Frau, die vor der Vorstellung immer ihr kleines Zelt vor dem großen Zelt aufbaute und den Leuten aus der Hand oder Pfote oder Kralle las. Das tat sie so überzeugend, dass sie einmal sogar einem Regenwurm aus der Hand gelesen hatte. Der Regenwurm hatte erst später während der Vorstellung gemerkt, dass er gar keine Hände hatte (als ihm auffiel, dass er nicht klatschen konnte), und hinterher war er wütend zu Madam Mystia gekrochen und hatte sein Geld zurückverlangt.

Dann kam Bertwin, der Pantomime – ein junger Mann, der zwischen den Vorstellungen immer weiße Farbe hinter den Ohren hatte, egal, wie gründlich er sich wusch. Die meisten Wagen im Zirkus Woimick hatten vorn einen Sattel und Pedalen, damit man sie selbst fahren konnte. So auch Bertwins Wagen. Die Rampe, die er nun meistern musste, war allerdings zu schwer für ihn. Bertwin strampelte tapfer, aber auf der Hälfte des Weges begann er rückwärts zu rollen.

»Warte, Bertwin, wir helfen dir!«

Nelli hielt die Griffe an der Seite des Wagens fest. Trude, nicht faul, warf sich dahinter und stemmte sich gegen die Rückwand. Langsam bewegte sich der Wagen vorwärts und gleich darauf war das letzte Stück rampenaufwärts geschafft. Nelli und Trude schoben Bertwin noch ein Stück weit in die Gondel hinein.

»Danke euch, jetzt krieg ich es alleine hin«, rief Bertwin und sprang vom Sattel.

»Puh, es ist eine ganz schön kalte Nacht«, seufzte Trude. Auf ihren Unterarmen kräuselte sich eine Gänsehaut.

Jetzt kommt wieder der Blick, dachte Nelli, und tatsächlich: Trude machte den Mantelausleih-Blick und schauderte dazu ein bisschen.

»Geh doch einfach wieder rein«, sagte Bertwin fröhlich und gab ihr einen Klaps auf den Rücken.

»Ja, das ist wohl besser«, murmelte Trude enttäuscht und trollte sich. Nelli folgte ihr und lachte sich ins Fäustchen.

»So, ihr beiden, jetzt seid ihr dran!«, rief Woimick von der Rampe, und Nelli und Trude kletterten in die Sättel. »Und ihr drei, ihr kommt direkt hinterher!«

Der letzte Aufruf galt Nellis Cousinen Lotte, Kläri und Mariechen. Zusammen waren sie bekannt als »Die drei vom Trapez«. Zänkische Halbstarke waren sie, alle drei. Niemand konnte sie lange ertragen. Nicht einmal gegenseitig konnten sie sich lange ertragen. Aber müde wurden sie nie. Und während Nelli und Trude mühevoll die Rampe hinaufstrampelten, fing hinter ihnen ein Gezeter an:

»Hast du mich geschubst?!« Das war Mariechen.

»Ich? Ich hab dich nicht geschubst!« Das war Kläri.

»Doch hast du mich geschubst!« Wieder Mariechen.

»He, drängel mich nicht so rüber, du Stinktier, ich fall ja aus’m Sattel!« Das war Lotte.

»Wen nennst du Stinktier?!«

»Dich nenn ich Stinktier! Drängeliges Stinktier!!«

Und dann ging Mariechen wohl auf Lotte los (so genau konnten Nelli und Trude das nicht sehen), denn es gab ein Poltern und Klirren und Kratzen, und Lotte quietschte und schrie, und Mariechen quietschte und schrie auch, und ihr Wagen rollte rückwärts wieder die Rampe hinunter, weil nur noch Kläri in die Pedale trat.

»Schluss jetzt!«, brüllte Woimick. »Auf eure Posten!«

Die beiden zischten sich noch einmal an, aber sie gehorchten. Der Wagen der drei Trapezkünstlerinnen folgte dem von Nelli und Trude in die Gondel. Direkt nebeneinander blieben die beiden Wagen stehen, und während die Messerwerferin und ihre furchtlose Assistentin Keile unter die Räder klemmten, hörten sie, wie die drei nebenan schon wieder miteinander zankten.

»Oje, hoffentlich schlafen sie bald«, murmelte Trude. »Wenn sie wieder aufbleiben und Karten spielen, können wir uns Wachs in die Ohren stopfen!«

»Immerhin«, raunte Nelli, »unsere andere Nachbarin ist Irmfriede. Und die ist schön ruhig.« Es war in der Tat schwer, eine ruhigere Spinne als Irmfriede zu finden. Ihre Persönlichkeit war ein Ozean der Gelassenheit, und den brauchte sie wohl auch, wenn sie sich in schwindelnden Höhen bewegte. In ihrer Freizeit klöppelte sie mit allen acht Beinen unzerreißbare Kaffeetischdeckchen und niemals fand man einen Fehler im Muster.

Jetzt folgten nur noch die Wagen von Rembert, dem Illusionisten – einem Mann mit Ziegenbart –, und der winzige Wagen von Frangipani, dem Schwertschlucker. Er war eine Blindschleiche und deshalb konnte er natürlich Schwerter viel tiefer verschlucken als seine Konkurrenz. Woimick war sehr stolz auf ihn.

Und damit war der ganze Zirkus verladen. Die Rampe wurde hochgezogen, die Heckklappe schloss sich. Im Zeppelin wurde es dunkel und die Gondel begann sanft zu schaukeln.

»Ich glaube, es geht los«, sagte Trude ehrfürchtig.

Nelli zog an ihrem Ärmel. »Komm, wir gehen raus, den Abflug sehen!«

An der Seite der Gondel gab es eine lange Balustrade mit einem Geländer und dort draußen drängten sich schon die anderen Mitglieder des Zirkus. Trude und Nelli schubsten sich nach vorn, von wo sie gut hinunterschauen konnten.

»Ist das aufregend!«, quietschte Trude. »Gleich heben wir ab!«