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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2017

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe: 2017 by Joe Navarro

Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Scribner, einem Imprint von Simon&­ Schuster Inc., unter dem Titel Three Minutes to Doomsday.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Birgit Walter

Redaktion: Annett Stütze

Umschlaggestaltung: Laura Osswald

Umschlagabbildung: isarvut/shutterstock; R-studio/shutterstock; Christian Delbert/shutter­stock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, München

ISBN Print 978-3-86882-788-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-041-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-042-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.



Für meine Tochter Stephanie – damit du verstehst,

warum ich so oft nicht zu Hause war



Es kommt nicht darauf an, was passiert,

sondern wie man darauf reagiert.

Joe Navarro

Inhalt

Impressum

Widmung

Zitat

Vorwort

1 »Zielperson Ramsay war nackt …«

2 Schwieriges Lebensumfeld

3 Müde und doch munter

4 Erklärungen und Ausflüchte

5 Triumph und Verzweiflung

6 Umwege

7 Bestandsaufnahme

8 Mein Jahr in der Wüste

9 Partnersuche

10 Eine Lehrstunde für Agent Navarro

11 Der Klügste von uns

12 Das ändert alles?

13 Kognitive Dissonanz

14 »Something’s got to give«

15 Das erste Date

16 Josef-Schneider-Platz 4

17 Unglaublich!

18 Manschetten und Hosenträger

19 In der Satellitenstation

20 Multiple Choice

21 Aus nächster Nähe

22 Alle an ihren Platz!

23 »Weiß Joe Navarro davon?«

24 Überleben

Danksagung

Vorwort

17. April 1961

Die Stadt Cienfuegos liegt in der Mitte einer langen, geschützten Bucht an der Südküste Kubas. Es ist früh am Morgen. Ich bin sieben Jahre alt und auf dem Weg zur Bäckerei an der Ecke, um für die Familie zum Frühstück frisches Brot zu holen, als der Himmel plötzlich vom Dröhnen niedrig fliegender Flugzeuge erfüllt ist, die aus allen Rohren feuern. Ich höre meine Mutter nach mir rufen, doch ich bleibe wie angewurzelt stehen, fasziniert von dem, was über mir geschieht. Plötzlich finde ich mich auf dem Boden wieder. Mein Vater liegt auf mir, drückt seine Knie an mich und deckt meinen Körper mit seinem vollständig ab. Wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt steht ein Strommast. Ich kann den Teer am Fuß des Mastes riechen und die Einkerbungen sehen, die die Steigeisen unzähliger Mitarbeiter der Versorgungsbetriebe hinterlassen haben.

Mein Vater ermahnt mich flüsternd, ruhig liegen zu bleiben, und doch strecke ich meinen Kopf an ihm vorbei, um in den Himmel zu sehen. Ich kann nicht anders. Wie ich später begreife, handelt es sich bei den metallisch glänzenden Objekten, die von den Flugzeugen während der Feuersalven hinabfallen, nicht um Projektile, sondern um Patronenhülsen. Wenn wieder Ruhe eingekehrt ist, werde ich mit den Kindern aus der Nachbarschaft stundenlang die Hülsen zusammensuchen. Aber nicht jetzt. Ohne dass wir es vorhersehen konnten, hat in der kaum eine Autostunde entfernten Schweinebucht die Invasion der Amerikaner begonnen.

Am nächsten Tag wird mein Vater von Castros Schergen abgeholt.

Nachdem er 19 Tage in Haft verbracht hat, verprügelt und bedroht wurde und kaum etwas zu essen bekam – er ist einer von Tausenden, die ohne Anklage in einer Turnhalle festgehalten werden –, schenkt ihm ein Mitgefangener einen Ausweis. Der Mann weiß, dass mein Vater Fidel Castro hasst und letztendlich als Konterrevolutionär verurteilt werden wird. Der Trick mit dem Ausweis ist durchschaubar, doch in dem herrschenden Chaos kommt mein Vater dadurch frei. Er kommt zu uns – meiner Mutter, meiner älteren und meiner jüngeren Schwester und mir – nach Hause, jedoch nur für zwei, drei Stunden. Er packt ein paar Sachen, die er am Körper tragen kann – kein Gepäck –, zusammen und erklärt meiner Mutter, dass er verschwinden müsse, bevor die Wachen ihren Irrtum bemerken und er wie so viele andere Konterrevolutionäre endet – al paredón, vor eine Mauer gestellt, um erschossen zu werden.

Mein Vater verrät uns nicht, wohin er geht. Er möchte uns für den Fall, dass die Soldaten zurückkehren, nicht mit diesem Wissen belasten. Er umarmt uns und gibt zuletzt mir einen Kuss. Kuba ist eine patriarchalische Gesellschaft. Entsprechend sind die letzten Worte, die ich von meinem Vater höre: »Nun bist du das Oberhaupt der Familie. Sei ein Mann.« Tränen laufen meine Wangen hinunter, meine dürren Beine zittern. In diesem Moment endet meine Kindheit.

Eine Woche nach dem Verschwinden meines Vaters dringen kubanische Soldaten, die uns heimlich beobachtet haben, nachts in unser Haus ein. Um sich schießend, durchsuchen sie jeden Raum. Bevor sie den Rückzug antreten, pferchen sie uns im Wohnzimmer zusammen und richten ihre Gewehre auf uns. Die Botschaft ist klar: Wir müssen Kuba verlassen, und die USA sind unsere einzige Hoffnung.

WIR SCHREIBEN DAS JAHR 1971. Die Invasion in der Schweinebucht ist auf den Tag genau zehn Jahre her. Ich bin 17 Jahre alt und absolviere mein letztes Schuljahr an der Hialeah High School. Meine Leistungen als Abwehrspieler in der Footballmannschaft haben mir 30 Angebote für Stipendien eingebracht. Abends arbeite ich im Richards Department Store in der 103rd Street in Hialeah in der Sportabteilung. Eines Abends, ich stehe wie immer an der Kasse, erhalte ich einen Anruf vom Manager des Kaufhauses. »Halte die beiden Männer auf, die gerade nebeneinander durch den Laden laufen«, sagt er mit Nachdruck. »Sie haben uns beklaut.«

Als ich auf sie zulaufe, verstecken sich die beiden Männer hinter einem Kleiderständer. Ich renne zur Tür, um den Ausgang zu versperren. Einer der Männer springt hinter dem Kleiderständer hervor und läuft direkt auf mich zu. Als er mich angreift, bemerke ich im letzten Moment, dass er ein Messer in der Hand hält. Ich drehe mich zur Seite und versuche, meinen linken Arm von der Messerklinge wegzubewegen. Zu spät.

Die Ärzte müssen meinen Arm innen und außen an 18 Stellen nähen. Sie flicken meinen Bizeps, meinen Trizeps und die aufgeschlitzten Arterien zusammen. Die Ärzte führen die durchschnittenen Muskelfasern, die in meinen Brustkorb geschnellt waren, in meinen Arm zurück. Ich liege 21 Tage lang im Krankenhaus. Ich habe extrem viel Blut verloren. Aufgrund der schweren Entzündung in meinem Arm spüre ich meine Finger kaum und kann sie nicht bewegen.

Meine Verletzung verheilt, doch meine sportliche Karriere ist vorbei. Zwei Jahre lang kann ich meinen Arm nicht über Schulterhöhe anheben. Als ich alle medikamentösen Behandlungen, Elektrostimulationen, Eingriffe der plastischen Chirurgie und Rehabilitationsmaßnahmen schließlich überstanden habe, erhalte ich ein Schreiben von Richard Nixon, in dem sich der Präsident für meinen »heldenhaften Einsatz« bedankt. Nixon steht sein persönlicher Albtraum – die Watergate-Affäre – noch bevor. Ich fühle mich geehrt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten sich die Zeit nimmt, einem Immigranten zu danken, der nichts weiter getan hatte, als seine Bürgerpflicht zu erfüllen.

VON KINDHEIT AN haben drei Faktoren meinen Weg bestimmt: meine Liebe zu den Vereinigten Staaten von Amerika, die meiner Familie eine Heimat gegeben haben, das beständige Gefühl (es begleitet mich bis heute), dass ich mich diesem Land gegenüber niemals für all die Chancen, die es uns gegeben hat, in ausreichender Form erkenntlich zeigen kann, und der tiefe Glaube an die Worte von Ralph Waldo Emerson: »Wenn die Pflicht sachte flüstert: ›Du musst‹, dann flüstert die Jugend: ›Ich kann.‹«

Rod Ramsay hat mein Pflichtbewusstsein in ungeahnter Weise auf die Probe gestellt. Eine Zeit lang befürchtete ich, er würde gewinnen. Sein Intellekt und seine Interessengebiete sind beeindruckend. Dennoch liegen ihm wenige Dinge am Herzen – vor allem nicht jene, die mir am wichtigsten sind: Heimat, Ehre und Vaterlandsliebe. Das macht ihn so gefährlich – nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt.

1
»Zielperson Ramsay war nackt …«

23. August 1988

Ich bin 35 Jahre alt und habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens, seit meinem 23. Lebensjahr, für das FBI gearbeitet. Bei meiner Rekrutierung erzählte mir der zuständige Agent, dass ich der zweitjüngste Anwärter war, der je vom FBI angeworben wurde. Ich kenne mich mit dieser Historie nicht aus, doch in meiner Lebensgeschichte war es bemerkenswerterweise der Football, den ich nie wieder als Leistungssport ausüben kann, der mich – zumindest auf Umwegen – auf den Radarschirm des FBI rücken ließ.

Während ich in Miami im Krankenhaus lag und mir mein letztes Jahr an der Highschool durch die Finger glitt, lösten sich auch 31 der mir angebotenen 32 Sportstipendien in Luft auf. Lediglich die Offerte von der Brigham Young University (BYU) verblieb. Eines Nachmittags rief mich LaVell Edwards, der Cheftrainer der Footballmannschaft der BYU, an und teilte mir mit, dass er immer noch an mir interessiert sei, da ich groß und schnell war. Warum also nicht einen Versuch starten? Ich trat zu diesem Test an, bis mein Arm, den ich einige Monate zuvor fast verloren hätte, nach drei Tagen auf das Dreifache des normalen Umfangs angeschwollen war und die Ärzte von Blutgerinnseln und einer möglichen Schädigung der Nerven sprachen.

Nach diesem offiziellen Ende meiner Träume von einer ruhmreichen Karriere im American Football blieb ich an der BYU und hielt mich mit Stipendien, Darlehen und Gelegenheitsjobs über Wasser. Auf Anregung meines Professors für Kriminalwissenschaften arbeitete ich für die Campus Police, jenen Schutztrupp, der das Universitätsgelände bewacht. Als die NSA, die CIA und das FBI, wie diese Behörden es an überwiegend von Mormonen besuchten Schulen tun, auch an der Brigham Young University Studenten zu rekrutieren begannen, erschien dem FBI mein persönlicher Hintergrund besonders geeignet: Ich war Mitarbeiter der Campus Police, Absolvent der Utah Police Academy, überzeugter Antikommunist im Allgemeinen und ein Fidel Castro ablehnend gegenüberstehender Auswanderer aus Kuba im Besonderen, und ich liebte Amerika heiß und innig. Vielleicht war ich tatsächlich der zweitjüngste Anwärter beim FBI. Eine bessere Kombination an Charakterzügen hätte die Behörde kaum finden können.

Ich für meinen Teil benötigte so dringend einen gut bezahlten Job, dass ich auf der Stelle zusagte, ohne groß einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.

ICH LERNTE SCHNELL, dass es beim FBI keine normalen Arbeitszeiten gibt. In meinem Arbeitsvertrag sind zehneinhalb Stunden pro Tag vereinbart, aber ich werde permanent gebeten, mit immer weniger Spielraum immer mehr zu tun. Es gibt immer einen neuen Engpass, immer wieder werden »die Erfordernisse der Behörde« angeführt – eine Floskel, die mich stets aufs Neue ärgert, wenn ich ein freies Wochenende geplant habe und die Zeit dann doch nicht mit meiner Familie verbringen kann.

Als ich in Puerto Rico stationiert bin, werden Einsatzkräfte für eine Spezialeinheit (SWAT) zur Terrorismusbekämpfung benötigt. Mein Vorgesetzter meldet meine freiwillige Teilnahme an – was bedeutet, dass ich eines Tages aus heiterem Himmel meinen Namen auf einer Liste von Teilnehmern an einer SWAT-Grundausbildung entdecke. Grundsätzlich macht mir das nichts aus. Die Ausbildung macht Spaß, und ganz im Ernst: Wer hätte nicht gern eine schallgedämpfte Maschinenpistole des Typs MP5 von Heckler & Koch im Kofferraum seines Wagens? Doch plötzlich kommen alle paar Wochen zu meiner regulären Arbeit SWAT-Einsätze hinzu, viele davon kurzfristig. Die Anlässe für diese Einsätze reichen von Flugzeugentführungen bis zur Zerschlagung der terroristischen Vereinigung Los Macheteros (Macheteros bedeutet »Machetenkämpfer«, doch diese Jungs kennen sich auch mit Pistolen, Gewehren und Bomben gut aus).

Am meisten Freizeit büße ich aber für das Fliegen ein. Bei der Überprüfung meines Werdegangs findet das FBI heraus, dass ich an der Highschool meinen Pilotenschein gemacht habe. Nach meiner Aufnahme werde ich bald aufgefordert, bei der Luftraumaufklärung mitzuhelfen. Beschwere ich mich? Nicht wirklich. Der Wechsel von der minimalistisch ausgestatteten Cessna 150, in der ich meine Flugstunden absolviert habe, zu einer Cessna 182 mit Einziehfahrwerk und Klimaanlage ist ein gewaltiger Fortschritt. Außerdem werde ich diesmal fürs Fliegen bezahlt, statt dafür Geld ausgeben zu müssen. Oft habe ich regulären Schichtdienst und sitze von 18 Uhr bis Mitternacht im Cockpit – eine wunderbare Zeit zum Fliegen, da der Luftraum nachts im Allgemeinen ruhig ist –, doch wenn man alles zusammennimmt, arbeite ich viel zu oft 16 Stunden am Tag. Wenn mich meine Familie tatsächlich einmal zu Gesicht bekommt, bin ich meist so müde, dass ich in der Warteschlange an der Supermarktkasse im Stehen einschlafe.

Letztendlich stehen für mich persönlich jedoch das Fliegen und die SWAT-Einsätze hinter dem Arbeitsbereich zurück, der mir wirklich Spaß macht: der Spionageabwehr. Diese Arbeit ist spannend, weil man durch sie mit der Welt in Kontakt kommt. Man wird aufmerksam auf das, was in fernen Ländern passiert. Jedes Land kann Bankraube, Autodiebstähle, Vergewaltigungen und sogar Aufstände verkraften – Spionage ist das einzige Verbrechen, das einen Staat zu Fall bringen kann. Mit der richtigen Form von geheimdienstlicher Tätigkeit kann man fremde Staaten zum Stillstand bringen oder den Lauf der Geschichte verändern. Deshalb begeistert mich die Spionageabwehr – weil sie wirklich wichtig ist.

An fast jedem Arbeitstag beschäftige ich mich morgens zuerst mit dem Überblick, den der Geheimdienst täglich kurz nach Sonnenaufgang über unseren Fernschreiber rattern lässt. Der heutige Tag bildet keine Ausnahme. Gestern habe ich noch bei einer Einheit, der es an Überwachungskräften fehlte, ausgeholfen und bis Mitternacht über der Tampa Bay meine Kreise gedreht. Heute Morgen reise ich zu den Krisenherden der Welt und durchforste die über Nacht erstellte Übersicht nach allem, was den Weg nach Zentralflorida finden könnte.

Ein Beispiel: Gestern durchsuchte die Polizei in Lima, Peru, die Fabrik, in der die Zeitung El Diario gedruckt wird. Es wird angenommen, dass die Zeitung das Sprachrohr der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso (»Leuchtender Pfad«) ist. Das mag zugegebenermaßen nicht allzu bedeutend wirken, doch wenn maoistische Guerillas in Südamerika verärgert werden, horche ich auf, da das kubanische American Department extremistische Aktivitäten in dieser Region finanziert und der marxistische Exguerillero in Havanna selbst manchmal unwirsch wird.

Einige Meldungen kann ich mehr oder minder abhaken. Es tut mir leid, dass es bei einem Erbeben in Nordindien und Nepal Hunderte Tote und Tausende Verletzte gab, doch gegen die durch die Plattentektonik in solch fernen Ländern verursachten Phänomene kann man viel unternehmen. Der soeben in Pakistan ausgerufene Ausnahmezustand ist ein anderes Thema. Vor einigen Tagen kamen der pakistanische Präsident Mohammed Zia-ul-Haq und zehn seiner wichtigsten Generäle bei einer Flugzeugexplosion ums Leben. Nun lässt Zias Nachfolger Ishaq Khan die Presse wissen, dass »der Feind die innere Sicherheit des Staates unterwandert« habe. Ist mit dem »Feind« Indien gemeint? Vermutlich. Allerdings können Unruhen auf oder nahe dem indischen Subkontinent schnell über die Grenzen schwappen. Außerdem befindet sich seit 1983 der Hauptsitz des United States Central Command, des Zentralkommandos der Vereinigten Staaten, das unter anderem für Zentralasien zuständig ist, in Tampa. Zu meinen Aufgaben gehört es, für das United ­States Central Command potenzielle Gefahren auszumachen. Der Konflikt zwischen Pakistan und Indien ist auch ein Stellvertreterkrieg zwischen China und der UdSSR, und dieser könnte sehr schnell hässlich werden.

Der Nahe Osten strotzt wie immer vor Gewalt und Intrigen. In Haifa wurden durch eine Handgranate, die in ein Straßencafé geworfen wurde, 25 Menschen verletzt, darunter sieben Mitglieder einer Familie, die das Schaufenster des benachbarten Spielwarenladens bewunderten.

Eine weitere fast schon alltägliche Meldung besagt, dass die IRA in Irland erneut zugeschlagen hat. Diesmal wurden acht Menschen getötet und 28 verwundet, als in einem mit britischen Soldaten besetzten Bus, einem Zivilfahrzeug, eine Bombe explodierte. Die Bombe enthielt nach Angaben der IRA über 90 Kilogramm des Plastiksprengstoffs Semtex, der in der Tschechoslowakei hergestellt worden war. Sie hinterließ einen zwei Meter tiefen Krater. Unsere Distanz zu diesem Geschehen ist geringer, als man meint: In Tampa gibt es einige, die die IRA finanziell unterstützen und heute vermutlich sehr frohgemut in den Tag gestartet sind.

Die Spionageabwehr steht dem größten Platzhirsch, das heißt der Sowjetunion, zwangsläufig voreingenommen gegenüber. Die UdSSR hat die meisten Spione und das meiste Geld, und ich schenke ihr die meiste Aufmerksamkeit. Doch auch die anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes sind nicht zu unterschätzen. Die DDR ist zwar viel kleiner als die Sowjetunion, doch ihr von Markus Wolf geleiteter Geheimdienst ist noch schwerer zu knacken als der KGB. Er ist robuster und – auf erschreckende Weise – besser.

Der Kurzübersicht entnehme ich außerdem, dass sich in Polen 75 000 Bergarbeiter im Streik befinden, um die staatliche Anerkennung der verbotenen Gewerkschaft Solidarność einzufordern. Das wird Moskau nicht freuen. Dem KGB wäre nichts lieber, als Papst Johannes Paul II. und dessen Einfluss auf seine polnischen Landsleute loszuwerden. Tatsächlich haben die Sowjets mithilfe der Bulgaren bereits einen Attentatsversuch unternommen. Nun erlebt der KGB das, was er auslöschen wollte: Einflussnahme auf die Macht. Der Papst lässt den KGB erzittern. Es gibt noch einen weiteren Unruheherd: In der Tschechoslowakei, dem Herkunftsland des Semtex, mit dem in Nordirland britische Polizisten in die Luft gejagt wurden, versammelte sich vor zwei Tagen – am 20. Jahrestag des Einmarsches von 200 000 Soldaten und 5000 Panzern des Warschauer Paktes, die den »Prager Frühling« niederschlagen sollten – auf dem Prager Wenzelsplatz eine kleine Gruppe von Menschen, die die Nationalhymne des Landes sangen.

Für sich allein genommen, ist keines der sich in den mit der Sowjetunion befreundeten Länder abspielenden Ereignisse besonders besorgniserregend. Selbst 75 000 wütende Bergarbeiter stellen für die zweite Supermacht der Welt keine ernsthafte Bedrohung dar – die UdSSR hat in der Vergangenheit das Streben der Menschen nach Freiheit stets zunichte­gemacht, und sie wird es auch wieder tun. Das Gesamtbild zeigt aber, dass sich etwas verändert: Hinter dem Eisernen Vorhang wächst der Mut. Vielleicht lässt sich aber auch das auf allen Ebenen – wirtschaftlich, politisch und moralisch – stattfindende Versagen des Sowjetregimes einfach nicht mehr leugnen und kaschieren.

Wie dem auch sei – wahrscheinlich ist es ein wenig verfrüht, den Untergang der Sowjetunion zu feiern. Der KGB besitzt die Macht und die Motivation zur Knechtung und Unterdrückung. Ein KGB-Überläufer sagte einmal zu mir: »Wir können es uns nicht leisten aufzugeben. Wir haben alle gesehen, wie Mussolinis Leichnam öffentlich aufgehängt wurde, nachdem seine Regierung gescheitert war. Das wird auch uns passieren, vor allem in Osteuropa – man hasst uns dort.«

Während mir der Gedanke durch den Kopf geht, dass nichts gefährlicher ist als ein verwundeter Russischer Bär, tritt Jay Koerner, mein Vorgesetzter, an meinen Schreibtisch. Es ist 7:57 Uhr. Das Datum ist Dienstag, der 23. August 1988. Ohne dass es mir bewusst wäre, ist ab dem jetzigen Zeitpunkt das nächste Jahrzehnt meines Lebens vorherbestimmt.

»Deine Aufgabe«, sagt Jay und drückt mir ein Fernschreiben vom Hauptquartier des FBI in die Hand. »Jetzt.«

»Meine?« Ich habe einen prall gefüllten Arbeitstag vor mir und bin heute Nacht als Aushilfe bei der Luftraumüberwachung eingeteilt.

»Lynn ist nicht in der Stadt. Der Mann vom Nachrichtendienst der Army wird in einer halben Stunde hier sein.«

Als ich das Fernschreiben zu lesen beginne, ist Jay fast schon wieder in seinem Büro. Ich mag Jay. Er kommt einem selten in die Quere, ist allerdings auch nicht sonderlich gesprächig. Die Nachricht stammt von der National Security Division, der Abteilung für innere Sicherheit des amerikanischen Justizministeriums, und ist in dem für die Behörde typischen Stil verfasst:

Sie sind angewiesen, jederzeit ab 4:00 Zulu 8/23/88 Roderick James RAMSAY, zuletzt bekannter Aufenthaltsort Tampa, ausfindig zu machen und hinsichtlich seiner Kenntnisse von oder seiner Verbindung zu ­Clyde Lee CONRAD während seiner Stationierung bei der 8. US-Infanteriedivision in Bad Kreuznach, Bundesrepublik Deutschland, zu befragen: Dienstjahre 1983 – 1985. INSCOM [Nachrichtendienst der Armee] wird Kontakt aufnehmen und unterstützen: aufspüren, befragen, berichten.

Bei strafrechtlichen Untersuchungen ist Wissen Macht. Deshalb besitzt das Dokument, das ich in meinen Händen halte, den Wert einer Fünf-Watt-Lampe, mit der man gerade mal ein Handschuhfach ausleuchten kann. Trotzdem bin ich neugierig. Die Tatsache, dass INSCOM, das ­United States Army Intelligence and Security Command, involviert ist, bedeutet, dass es vermutlich um mehr geht als um ein paar auf dem Schwarzmarkt gehandelte Wertgutscheine, die man an Militärstützpunkten für verbilligte Zigaretten einlösen kann. Als der mir zugewiesene Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Army zur Tür hereinkommt, brenne ich darauf, mit ihm zu sprechen.

MEIN INSCOM-KONTAKT, Al Eways, ist sehr nett, doch die Zeit drängt, und die Befragung von Roderick James Ramsay ist nur eine von vielen Aufgaben, die auf seinem Arbeitsplan stehen.

»Legen wir los«, sagt er kurz nach Beginn unseres Gesprächs und händigt mir einen Zettel mit einer Adresse aus. »Wir glauben, dass er sich dort aufhält.« Eine Minute später sitze ich am Steuer meines ›BU-Steed‹. So werden in der Agentensprache die von der Regierung gestellten graubraunen Limousinen genannt. Neben mir auf dem Beifahrersitz ist Al in die Lektüre von Unterlagen vertieft. Vermutlich handelt es sich um Hintergrundinformationen zu Ramsay, aber ich mutmaße nur. Ich fahre, er liest. Es steht mir nicht zu, durch einen Blick in seine Unterlagen Informationen zu erhaschen.

Die Spionageabwehr arbeitet streng nach dem Need-to-know-Prinzip. Al darf mich einweihen, aber die Vorgehensweise ist streng geregelt: Sofern er mich nicht ins Bild setzt, habe ich keinerlei Informationen, bis er mit der Befragung der Zielperson beginnt. Das mag unlogisch klingen, doch manchmal ist es die beste Herangehensweise, genau zu beobachten und aus der Situation heraus Erkenntnisse zu gewinnen.

Die erste Herausforderung ist, die Adresse zu finden, die Al mir gegeben hat. Ich kenne die Gegend – eine ausgedehnte Wohnwagensiedlung im Westen des Tampa International Airport. Das Gebiet war früher für den Anbau von Orangen bekannt. Vor ein oder zwei Monaten habe ich auf der Suche nach einem kleinen Drogendealer einen Überwachungsflug über dem Gebiet unternommen. Da ich mir sicher bin, dass wir die Adresse finden werden, stelle ich Überlegungen zu unserer Sicherheit an.

Wo befinde ich mich? Wo ist das nächstgelegene Krankenhaus? Wer ist in dieser Gegend anzutreffen? Junge oder alte Männer? Mütter mit Kinderwagen oder arbeitslose Männer, die an den Straßenecken herumlungern? Ziehen Teenager durch die Straßen?

Während ich die Adresse suche, denke ich auch darüber nach, wo ich das Auto parken werde. Ich möchte, dass die Fahrerseite vom Wohnhaus abgewandt steht, damit ich im Notfall den Motorblock als Deckung nutzen kann und mich so in der vorteilhafteren, weiter entfernten Position befinde. Wir nähern uns bereits dem Wohnwagen, aber ich drehe noch ein paar Runden, um mir für den Fall, dass ich schnell verschwinden oder Hilfe suchen muss, einen Überblick von der Umgebung zu verschaffen.

Außerdem beschäftigt mich der eigentliche Zweck dieser Fahrt: die Befragung selbst. Worüber werden wir sprechen? Wie werden wir diesen Ramsay dazu bringen, entspannt zu bleiben? Menschen erzählen viel mehr, wenn sie das Gefühl haben, sich in ihrer Komfortzone zu befinden, als wenn sie auf der Folterbank ins Schwitzen geraten. Und noch etwas kommt hinzu: Letztlich bin ich für mehr als nur unsere Sicherheit verantwortlich. Ich werde auch für die Befragung zur Rechenschaft gezogen. Ramsay ist eine Zivilperson, und INSCOM besitzt im Grunde genommen keine Rechtsbefugnis gegenüber Zivilisten. Dennoch muss ich Al Spielraum lassen, denn er hält die Karten in der Hand. Er weiß mehr als ich. Wenn etwas schiefgeht, muss ich den Kopf hinhalten.

Al und ich fahren schweigend an einem gepflegten Wohnwagen mit einem dunkelgrünen Unterbau vorbei. »Hier ist es«, sagt Al ein wenig verwundert, als ich noch eine weitere Runde durch die Nachbarschaft drehe.

»Ich weiß«, entgegne ich. »Ich will nur sichergehen, dass ich das Gelände kenne.«

Al sieht sich nun ebenfalls aufmerksam um, und ich weiß das zu schätzen. Die Arbeit für die Spionageabwehr führt oft genug in eine Sackgasse, doch es gibt eine Grundregel beim FBI: Befragungen und Arreste sind niemals Routine. Geht man zu lässig an sie heran, ist es vielleicht das Letzte, was man in seinem Leben tut.

Als ich vor einigen Jahren die örtliche Polizei in Yuma, Arizona, bei einer Verhaftung unterstützte, streckte der von uns gesuchte Mann ein Gewehr aus seiner Haustür und schoss. Eine Kugel streifte den Kopf des Polizisten, der direkt neben mir stand. Ein Jahr später telefonierte ich während meiner Stationierung in Yuma mit ein paar FBI-Agenten im rund 100 Kilometer entfernten El Centro, Kalifornien. Die Kollegen warteten gerade auf einen Mann, der zugesagt hatte, die Dienststelle für eine Befragung aufzusuchen. Der Mann erschien und schoss mit einem Gewehr um sich, noch während ich in der Leitung war. Als ich in der Dienststelle eintraf, wand sich ein Agent in seinem Blut, er starb wenige Minuten später. Auch der Angreifer lag tot am Boden, er hatte sich selbst erschossen. Solche Erlebnisse bleiben ein Leben lang im Gedächtnis. Den Geruch einer Leiche vergisst man nicht.

HEUTE JEDOCH hält sich das Drama in Grenzen. Als wir an die Tür des Wohnwagens klopfen, stellt sich heraus, dass niemand zu Hause ist. Das Herumfahren mit dem Auto hat die Bewohner der Anlage darauf aufmerksam gemacht, dass sich Fremde auf ihrem Terrain befinden. Ein Anwohner tritt an uns heran und fragt, ob wir Hilfe benötigen. Wir sagen ihm, dass wir Rod Ramsay suchen.

»Hier wohnt seine Mutter«, teilt er uns mit. »Rods Haus liegt ein Stückchen weiter.«

Al und ich vermitteln so deutlich den Eindruck, Polizeibeamte zu sein, dass der Mann gar nicht erst fragt, warum wir hier sind. Hilfsbereit nennt er uns eine Adresse und weist mit seinem Kinn in die Richtung, in die wir fahren sollen. Das Viertel, eine Anfang der 1960er-Jahre erbaute Reihenhaussiedlung, liegt nur zwei Minuten entfernt. Heute, 25 Jahre später, haben die kleinen Häuser ihre beste Zeit hinter sich. Nachdem ich die richtige Adresse gefunden, den Wagen geparkt und die Tür des Bu-Steed verschlossen habe, sehe ich hinter dem Panoramafenster an der Front des Hauses einen Schatten vorbeihuschen – wenn ich mich nicht täusche, den Schatten eines Mannes, der gänzlich unbekleidet ist.

»Ist der Mann nackt?«, frage ich, doch Al steht schon vor der Tür – direkt vor der Tür, um genau zu sein, und damit genau dort, wo man sich nicht aufhalten sollte. Beim FBI werden Türen als ›tödliche Trichter‹ bezeichnet. Wenn man mittig davorsteht, wird man vom Türstock so gut eingerahmt, dass selbst ein hundsmiserabler, schielender und kurzsichtiger Schütze kaum danebenschießen könnte.

Durch die offenen Fenster hören wir Geräusche im Haus – jemand stapft durchs Haus und scheint Schranktüren zu öffnen und zu schließen –, doch niemand kommt an die Tür. Ich hasse es, so lange herumzustehen.

»Ich frage mich, was dort drinnen vor sich geht«, sagt Al.

Für mich ist diese Frage inzwischen so präsent, dass ich mein Jackett auf der rechten Seite gerade so weit nach hinten schiebe, dass ich leicht an die SIG Sauer P226 herankomme, die ich in einem Holster an meinem Rücken trage. Angriffe mit Schusswaffen erfolgen zu 90 Prozent aus einer Entfernung von weniger als sechs Metern – der Abstand, in dem die Beteiligten einander gegenüberstehen, entspricht also oft nicht einmal der Breite eines Wohnzimmers. Je schneller man die eigene Waffe ins Spiel bringen kann, desto eher ist der Spuk vorbei. Deshalb bringe ich meine Hand auf dem Rücken in Position.

Auch Al wirkt ein wenig nervös, als die Sicherheitskette an der Tür gelöst wird, sich die Türe öffnet und Rod Ramsay vor uns steht. Er ist schlaksig – 1,85 Meter groß bei vielleicht 70 Kilogramm. Gott sei Dank ist er angezogen, er trägt Jeans und ein ärmelloses, kariertes Shirt.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigt er sich mit einem leichten Bostoner Akzent.

Statt zu antworten, zeigen wir ihm unsere Ausweise: INSCOM und FBI. Falls Rod der Anblick beunruhigt, gelingt es ihm gut, dies zu verstecken. Rod sieht sich beide Ausweise genau an, doch an meinem bleibt sein Blick einen Moment länger haften. Vermutlich würde ich dieselbe Reaktion zeigen. Ich nehme sein Verharren zum Anlass, das Eis zu brechen.

»Sind Sie Rod Ramsay?« Die Frage mag überflüssig erscheinen, doch ich kenne Agenten, die bei einer Anhörung erst nach einer halben Stunde feststellten, dass sie mit der falschen Person sprachen.

Rod nickt.

»Dürfen wir hereinkommen und mit Ihnen reden?«

Rod zeigt die ersten Anzeichen von Besorgnis. Er hebt den Arm und kratzt sich am Nacken. Dieses Verhalten ist ein Relikt aus über sechs Millionen Jahren der Evolution des Menschen. In der Zeit, in der Raubkatzen die größte Bedrohung darstellten, lernten unsere Vorfahren, bei einem Angriff als Erstes ihren Hals zu schützen.

»Worum geht es?«, fragt Rod. Ein weiteres Zeichen von Nervosität: Ich kann seinen Adamsapfel hüpfen sehen.

»Entspannen Sie sich«, antworte ich mit einem Lächeln. »Wir wollen nicht über Sie sprechen, sondern uns von Ihnen Informationen über die 8. Infanteriedivision holen.« Dieser Moment ist entscheidend, denn wenn Rod sagt: »Verschwindet!«, haben wir verloren. Man kann nach tagelanger Vorbereitung ein Vorhaben innerhalb von Minuten ruinieren, wenn man die Zielperson in die Defensive bringt.

Glücklicherweise schlägt meine Strategie an. »Klar, kommen Sie herein«, entgegnet Rod. Im Haus gewöhnen sich meine Augen nur langsam an die Dunkelheit.

Um Rod zu signalisieren, dass ich nicht zu den steifen Anzugträgern gehöre, die man aus Fernsehserien rund um das FBI kennt, starre ich ihn grinsend an, während Al seine Unterlagen hervorholt. »Waren Sie das, der bei unserer Ankunft durch dieses Zimmer gelaufen ist?«

»Ja«, antwortet Rod mit einem kurzen Kichern. »Ich war gerade aufgestanden und noch nackt.«

»Ich wollte nur sichergehen, dass ich nicht an Halluzinationen leide oder eine andere Person gesehen habe«, behaupte ich, um herauszufinden, ob sich noch jemand im Haus befindet, der uns vielleicht Probleme bereiten könnte.

»Nein, das war ich. Tut mir leid, ich hatte vergessen, dass die Jalousien hochgezogen waren.«

Die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Army werden alle an demselben Institut für Befragungen geschult und gehen alle nach derselben Anleitung vor. Sie arbeiten mit vorgegebenen Techniken – vorschriftsmäßig, detailliert und exakt. Mir liegt das nicht. Die Kollegen sind zweifelsohne Profis, doch die von ihnen durchgeführten Befragungen gleichen Gewaltmärschen durch die einzelnen Punkte des Leitfadens. Sie sehen nur selten von ihren Notizblöcken und Notebooks hoch, um die nonverbalen Reaktionen der Menschen, mit – oder eher zu – denen sie sprechen, zu beobachten.

Al bildet diesbezüglich keine Ausnahme, doch ich lasse ihn gerne seinen Fragenkatalog abarbeiten, da es mir Zeit verschafft, Rod Ramsay einzuschätzen – nicht bezüglich der Frage nach Schuld oder Unschuld, denn meines Wissens nach hat er kein Verbrechen begangen. Ich möchte heute und, falls nötig, auch in Zukunft lediglich Eindrücke aus dem persönlichen Gespräch sammeln. Wenn ich mit Menschen spreche, interessiert mich ihre Art zu kommunizieren. Dieses Verhalten ist stets individuell. Ich möchte ein Gespür dafür bekommen, wie mein Gesprächspartner mit den Fragen umgeht, wie schnell er antwortet, in welchem Tonfall er sich äußert, welche Wörter er verwendet und wie er seine kleinen oder großen Sünden kaschiert. Befragungen drehen sich immer um Menschen, und je mehr man über ihre Eigenheiten weiß, umso besser kann man beurteilen, was wirklich hinter ihren Äußerungen steckt.

Ein Beispiel: Al stellt Ramsay eine Reihe von Routinefragen zu dessen Militärzeit – »Haben Sie jemals Ausgangssperre erhalten oder wurden degradiert?«, »Haben Sie jemals eine Abmahnung erhalten?« etc. Plötzlich klinkt sich Ramsay schroff und fast schon kaltschnäuzig ein.

»Sind Sie an Kavaliersdelikten interessiert, Mr Eways? Geht es darum? Möchten Sie ein bisschen schmutzige Wäsche waschen?«, erkundigt er sich.

»Nein, gar nicht«, antwortet Al freundlich. Er hält kurz mit seinen Mitschriften inne, sieht mit einem Lächeln auf und hebt seinen Kugelschreiber wie zur Kapitulation empor. »Ich fülle nur die Formularfelder aus. Wie das bei der Army eben so ist.«

Rod ist jedoch nicht willens, das Thema fallen zu lassen.

»Das kann auch ein Affe machen. Vielleicht sogar eine Ratte, wenn man ihr eine Skinnerbox baut, die ihr für jeden Versuch ausreichend Belohnung zuwirft.«

Seine Stimme klingt nun ärgerlich, die Stichelei ist Absicht.

»Ich würde vorschlagen, Al, dass Sie ein paar höherrangige Fragen in Angriff nehmen – Sie wissen schon, greifen Sie nach den Sternen. Dann können wir ein wesentlich erhellenderes Gespräch führen.«

Ramsay lässt uns beiden ein wissendes Lächeln zuteilwerden und signalisiert Al durch Kopfnicken, mit seiner monotonen Abfrage fortzufahren. Während die Befragung weiterläuft, überlege ich, was einen Mann, der mit seiner Mutter in einem Wohnwagen lebt, dazu bringt, einen anständigen, soliden Kerl wie Al plötzlich so herablassend zu behandeln.

Ist Ramsay ein Narzisst? Gut möglich. Auf jeden Fall hält er größere Stücke auf sich selbst, als seine Lebensumstände zu rechtfertigen scheinen. Außerdem scheint er angriffslustig zu sein: Ohne dass Al ihm wirklich Anlass dazu geben hätte, springt er ihn wie ein Raubtier an. Und noch etwas: Trotz seiner schnodderigen Art ist Ramsay sehr klug. Uns ist bekannt, dass seine Ausbildung an der Highschool endete, doch Schulabbrecher werfen üblicherweise nicht mit Begriffen wie ›Kavaliersdelikt‹ und ›Skinnerbox‹ um sich. Vielleicht liest er viel, vielleicht ist er Autodidakt. Ich weiß nur, dass er bei der Beantwortung des Fragenkatalogs mit Al Eways Psychospielchen spielt.

IN DER HALBEN STUNDE, die die Befragung nun schon dauert, erweist sich eines als konstant: Ramsay ist immer noch so zappelig wie in dem Moment, in dem wir das Haus betreten haben. Ist das typisch für ihn? Ist er mit Speed vollgepumpt? Hat ihn die Tatsache, dass plötzlich zwei Bundesagenten vor seiner Tür standen, aus der Fassung gebracht – und wenn ja, warum? Vielleicht leidet er an einer Hyperaktivitätsstörung. Auf jeden Fall kann ich die Tatsache, dass er sein nervöses Verhalten nicht ablegt, nicht ignorieren.

Auch sein Zigarettenkonsum ist für mich relevant. Er raucht bereits die dritte Zigarette. Flatternde Nerven? Nikotinabhängigkeit? Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht mehr tun, als sein Rauchverhalten zur Kenntnis zu nehmen.

Da Rod uns in die Küche geführt hat, bleibt uns nichts anderes übrig, als inmitten der Nikotinschwaden herumzustehen – die Raumhöhe von nur 2,40 Metern und die mangelnde Belüftung verschlimmern die Situation. Vielleicht hat uns Ramsay nicht gebeten, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, weil es ihm schlichtweg an Sozialkompetenz fehlt. Vielleicht wollte er aber auch dafür sorgen, dass die Befragung nicht allzu lange dauert, indem er uns Stehplätze in der Küche zuwies.

Ich nutze eine Pause in Als Erkundigungsstrecke, um selbst eine Frage zu stellen: »Haben Sie das gehört? Ist da jemand …?«

»Nein, nein«, antwortet Rod. »Ich bin allein im Haus. Der Eigentümer kehrt erst morgen zurück.«

Die Frage, ob noch eine weitere Person anwesend ist, beschäftigte mich die ganze Zeit. Zur Durchsuchung hätten wir keine rechtliche Handhabe. Tatsächlich aber stellt mich Rods Antwort zufrieden: Diesmal führt er seine Hand nicht zum Nacken oder zum Mund, während er spricht. Während sich Al und Rod über den Alltag eines durchschnittlichen Soldaten in Deutschland unterhalten, lausche ich noch ein paar Minuten lang nach Geräuschen in den anderen Räumen und funke dann mit einer weiteren Frage dazwischen: »Befinden sich Schusswaffen im Haus?«

»Ja.« Rod spricht langsam und mit gesenktem Kinn. »Hier in der Küche liegt eine Waffe.«

›Verdammt, Navarro‹, sage ich zu mir selbst. ›So handelst du dir doch noch ein Loch in der Brust ein.‹ Al fordert mich mit seinen Blicken auf, die Situation zu klären.

Ich halte meine Augen fest auf Rods Hände gerichtet, denn nur von seinen Händen droht uns Gefahr. Glücklicherweise ist zumindest eine Hand mit der Zigarette beschäftigt. »Tun Sie mir einen Gefallen«, fordere ich Rod deshalb auf. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, und sagen Sie mir, wem die Waffe gehört und wo sie sich befindet.«

»Kein Problem«, erwidert Rod. »Sie gehört dem Hausbesitzer. Er bewahrt sie im Schrank auf.«

»In welchem Schrank?«

Rod weist mit dem Kinn auf den Hängeschrank über dem Kühlschrank. Von seinem Standort aus kann Rod ihn in einer halben Sekunde erreichen. Diese Entfernung ist beunruhigend. Nun fühle ich mich wirklich unwohl. Wir müssen noch viele Fragen stellen. Es gibt keine Klimaanlage, meine Pistole klebt an meinem durchnässten Hemd, und wir befinden uns in der Nähe einer möglicherweise geladenen Waffe – kein besonders einladendes Szenario für eine Befragung.

»Hören Sie, Rod«, meine ich deshalb, »ich weiß, Sie haben damit nichts zu tun, aber diese Waffe macht mich nervös. Außerdem ist es glühend heiß hier – das macht meinen Spermien zu schaffen. Wie wäre es, wenn wir drei vor die Tür gehen und die Befragung im Freien fortsetzen würden? Was meinen Sie?«

»Klar«, sagt Rod. »Warum nicht?« Sobald wir nach draußen übergesiedelt sind, scheint sich Rod zu entspannen. Wer weiß – vielleicht geht er davon aus, dass es nun mehr Zeugen gibt, falls wir handgreiflich werden.

Al verschenkt keine Sekunde. Er markiert die Stelle des Fragebogens, an der wir aufgehört haben, mit dem Daumen und setzt die Befragung in dem Moment fort, in dem wir uns in dem kleinen, schäbigen Palmenhain hinter dem Haus niedergelassen haben. Um Rods Aufrichtigkeit zu überprüfen, bitte ich darum, das Badezimmer benutzen zu dürfen. Zurück im Haus, öffne ich sofort den Hängeschrank über dem Kühlschrank. Da liegt er: ein .38-Revolver eines mir unbekannten Herstellers. Die Herkunft spielt jedoch keine Rolle – eine tödliche Schussverletzung kann man mit dieser Waffe auf jeden Fall verursachen.

Als ich wieder ins Freie trete, nähert sich Al dem eigentlichen Thema der Befragung. Ich bin mit Strafverfolgung und Spionageabwehr vertraut, habe jedoch niemals im Militär gedient. Dienstgrade, Abkürzungen, Armeesprache – all das geht weit über meinen Horizont. Also beteilige ich mich nur dann, wenn es mir möglich ist.

Al: »Sie waren also in welchem Bereich eingesetzt?«

Rod: »In der G-3-Planung.« (Was immer das sein mag.)

Al: »Und Sie wurden 1985 aus dem Dienst entlassen?«

Rod: »Ja, ich habe den Pinkeltest nicht bestanden.«

Ich: »Was zum Teufel ist ein Pinkeltest?«

Rod mit einem breiten Grinsen: »Nun ja, bei einer spontanen Überprüfung konnte in meinem Urin wohl Cannabis nachgewiesen werden.«

Ich: »Na, so was, wie ist das bloß dort hingekommen?«

Rod lacht.

Ich glaube das Puzzle nun ein wenig besser zu verstehen. Rod konsumiert offensichtlich Drogen. Da ihm bekannt gewesen sein muss, dass stichprobenartig Urintests durchgeführt wurden, handelt es sich bei ihm um einen Menschen, der entweder das Risiko sucht oder selten über die Konsequenzen seines Handelns nachdenkt. Die besserwisserische Art, die ihn das Wort »Cannabis« wählen lässt, gestattet mir Rückschlüsse auf seinen Intellekt. Der Art und Weise, wie er sich äußert, entnehme ich außerdem, dass er nicht erwartet hatte, erwischt zu werden, und über seine Entlassung aus der Armee nicht glücklich war.

Während ich mir diese Gedanken mache, kommt Al zum Kern der Sache: »Hat damals nicht auch Clyde Conrad bei der 8. Infanteriedivision in der G-3-Planung gearbeitet?« Nun kommen all die Grundlagen, die ich seit unserer Ankunft am Haus zusammengetragen habe, ins Spiel. Anstatt wie bisher schnell zu antworten, zögert Rod mit seiner Antwort. Es scheint, als müsse er ganz tief in seiner Erinnerung graben. Außerdem bringt er seine Antwort diesmal nicht präzise hervor. Nach etwas Gestottere sagt er schließlich: »Oh, ja sicher, Clyde Conrad, natürlich.« Er spricht mit leichter Betonung, doch meine Aufmerksamkeit erregt vor allem seine Hand.