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TORSTEN HARTUNG | CHRISTOF FASEL

DU MUSST DRAN

GLAUBEN

VOM MÖRDER ZUM MENSCHENRETTER

INHALT

PROLOG

1. NICHT WILLKOMMEN

2. AUF DER SCHIEFEN BAHN

3. RAUS AUS DER REPUBLIK!

4. DER PAKT MIT DEM TEUFEL

5. WECHSELN AUF DIE ÜBERHOLSPUR

6. MORD

7. EINZELHAFT

8. DIE UMKEHR

9. GEZEICHNET

10. NEUANFANG

11. EIN HAUS DER BARMHERZIGKEIT

12. DREI GLEICHNISSE

EPILOG

PROLOG

„Komm, ich mach uns einen Tee! Das wärmt uns durch!“ Es ist kalt an diesem Augusttag. Ein verregneter Spätsommer treibt die Menschen ins Haus zurück, lässt sie Wärme und Schutz an Öfen und Kaminen suchen. „Was für einen willst du?“, fragt Hausherr Torsten Hartung seinen Gast. „Schwarztee, Fenchel, Pfefferminz, Rotbusch?“

Paul zuckt mit den Schultern. Entschlossen sieht er nicht aus. Auch nicht bei der Auswahl der Teesorte. „Was trinkst du denn?“, fragt er unsicher zurück. „Ich trinke schwarzen Tee mit Milch und Zucker.“ Torsten weiß, was er will. „Okay. Dann nehme ich das auch“, sagt Paul und lächelt zum ersten Mal.

*

Es geht auf fünf Uhr nachmittags. Gerade sind sie aus dem silbernen Opel Astra von Torsten geklettert, haben eine Reisetasche und zwei Kartons mit den Habseligkeiten von Paul ausgeladen. Paul ist 18 und hat mit Torsten vor allem eines gemeinsam: Auch er kennt den Knast von innen. Fünf Monate saß er wegen wiederholter Körperverletzung im Jugendgefängnis Leipzig-Süd. Nun ist er draußen. Vorbestraft, keine Ausbildung, keine Bude, kein Geld.

Seine Mutter ist nicht sonderlich begeistert, als er heute früh bei ihr vor der Haustür steht: „Was willste denn bei mir?“, empfängt sie ihn. „Hast mir schon genug Scherereien gemacht!“ Sie dreht sich um und verschwindet in der Küche. Paul weiß längst: Hier ist er falsch.

Torsten Hartung kennt das Gefühl, er ahnt, wie jemand wie Paul sich im Augenblick fühlen muss. Deshalb hat er ihn heute Nachmittag bei seiner Mutter abgeholt. Paul soll für ein paar Monate oder auch länger bei ihm und seiner Frau Claudia einziehen, bis er weiß, wie es weitergehen soll.

*

Der Tee ist heiß, stark und dampft. Die Schwaden ziehen über den Tassenrand. Tut gut. Am blank gescheuerten Holztisch in der Wohnküche nehmen Torsten und sein Gast Platz. „Was soll ich bloß sagen?“, fragt sich Paul unsicher. Doch Torsten lässt ihm Zeit, schaut ihn aufmerksam an, sagt aber nix.

Schließlich fasst sein Gegenüber Mut. Der Satz lag ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge: „Es will nicht in meinen Kopf hinein, dass du mich wirklich bei euch wohnen lassen willst, wo ich bislang doch so viel Mist verzapft habe. Was sagt deine Frau zu dem Ganzen?“ Torsten nippt an seiner Tasse und schweigt. Seinem intensiven Blick kann man kaum ausweichen. Paul richtet sich aus seiner gebückten Haltung ein Stück weit auf, dann fasst er noch einmal nach: „Meinst du, ich krieg das alles auf die Reihe – und wenn nicht?“

„Du kannst neu anfangen, wenn du es willst. Eine zweite Chance bekommt jeder, man muss sie aber auch ergreifen.“ Torsten ist einer, dem man nicht ausweichen kann, das hat Paul gleich gespürt, als sie sich das erste Mal begegnet sind. Und wenn Torsten das ihm jetzt so sagt, kann er nicht anders als zu glauben, dass es wahr wird. Er schaut sein Gegenüber von der Seite an. Was treibt den Mann, der ihm gegenübersitzt, wirklich an?

*

Sein Gastgeber bleibt gelassen. Er kennt dieses Erstaunen. Den Unglauben. Das Misstrauen. Denn fast alle der jungen Menschen, die an seinem Küchentisch Platz nehmen, eint eine Erfahrung. Sie lautet: Mir hat nie im Leben jemand etwas geschenkt. Nie Aufmerksamkeit, nie Zuneigung, nie Wärme, nie Anerkennung, nie Ermutigung, nie Liebe. Den meisten fehlte ein echtes Vorbild. Ein Vater, der für sie da war.

Torsten nimmt seine Tasse und steht auf. Dann sagt er zu Paul: „Komm mit nach oben. Ich will dir etwas zeigen!“

Die beiden Männer gehen ins Arbeitszimmer. Dort steht in einer Ecke ein wuchtiger Bauernschrank mit geschwungenen Türen. Torsten reckt sich nach oben. „Pack mal mit an, Paul!“ An einem dunklen Griff zieht er eine sperrige Kiste nach vorn an die Kante. Richtig schwer das Ding. So an die vierzig Kilo wird es schon haben. Gemeinsam wuchten die beiden Männer das Teil vom Schrank herunter, tragen es ins Wohnzimmer, wo sie es auf dem blank gescheuerten und gewachsten Dielenboden vor dem Kaminofen absetzen. Vor ihnen liegt ein schwarzer Schrankkoffer mit Besatz aus hellbraunem Leder. Er ist sichtlich alt und abgeschabt.

„Wenn du wirklich wissen willst, warum ich das hier mache“, sagt Torsten, „dann musst du den Koffer aufmachen.“

*

Die Messingschlösser klacken, als Paul sie aufschiebt. Dann klappt er den Deckel zurück. Im Koffer liegen sorgsam aufeinandergestapelt drei dicke Kladden, daneben Zeitungsausschnitte, Kopien von Prozessakten, eine Unmenge Fotos, Postkarten, handgeschriebene Briefe. Pauls Blick fällt auf den Deckel eines dicken Buches. Es ist mit Fotos von jungen Frauen beklebt. Blond, brünett, eine schwarz, so zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Alle durch die Bank hübsch, einige haben ganz schön wenig an, lachen in die Kamera, lachen den Menschen an, der diese Fotos offensichtlich geschossen hat: Torsten Hartung.

„Da war ich noch ein anderer“, sagt Torsten und nimmt das Buch in die Hand. „Mein erstes Tagebuch hast du da gegriffen.“ Nachdenklich blickt er auf die Bilder, plötzlich hat er Falten auf seiner Stirn.

„Warst du mal mit denen zusammen?“, fragt Paul vorsichtig. Vor allem die eine da links unten, die Brünette, die gefällt ihm kolossal. Die hätte er auch mal gern näher kennengelernt.

„Das ist lange her, sehr lange“, sagt Torsten. „Das waren alles mal meine Freundinnen.“ Pause. Er wendet sich Paul zu, schaut ihm eindringlich in die Augen.

„Weißt du, warum ich sie verloren habe?“ Paul schüttelt den Kopf. „Ich habe sie, wenn ich ehrlich bin, alle nur benutzt. Ich habe sie nicht geliebt, sondern sie gebraucht. Ich habe sie nicht geschätzt, sondern sie gedemütigt!“

Torsten lässt das Buch sinken, gibt es Paul zurück. Paul schaut noch einmal auf die Fotos der Mädels. In seinem Kopf formt sich die Frage: „Aber warum hast du sie so mies behandelt?“

*

„Ich habe damals nicht gewusst, was Liebe ist“, sagt Torsten. „Denn ich habe nie welche erfahren. Von meiner Mutter nicht, erst recht nicht von meinem Vater!“

Die Falten auf seiner Stirn werden noch tiefer. Nein, wenn er ehrlich ist, ganz ehrlich, muss er sich eingestehen: Ich hatte keine Vorbilder, die ich als Kind gebraucht hätte, um das Leben zu meistern, im Gegenteil: Meine Eltern waren auch untereinander lieblos, unfähig, sich anderen Menschen zuzuwenden, sprachlose Eisklötze, ja, manchmal auch brutale Prügler!

Torsten schaudert einen Augenblick bei der Erinnerung. Dann wendet er sich Paul zu: „Der Grund dafür ist ganz einfach: Mein Vater hat mir ein völlig falsches Bild vermittelt – vom Leben, von der Liebe, von den Frauen!“, fügt er an.

Die Falten auf Torstens Stirn haben sich wieder geglättet. „Komm, pack mal mit an, Holz für den Kamin holen“, sagt er zu Paul. Dieser springt auf, geht mit in den Hof, gemeinsam schleppen sie einen großen Korb voller Holzscheite ins Wohnzimmer. Torsten mag es gern muckelig warm zu Hause. Ein Mensch, der sein Leben lang die Wärme von Vater und Mutter vermisst hat, sehnt sich umso mehr nach ihr. Papier, Pappe, drei Holzscheite, die Streichhölzer. In wenigen Minuten flackert ein warmes Licht durch die Glasscheibe des Kaminofens.

Torsten kniet wieder vor dem Koffer, tastet sich durch Tagebücher und Zeitungsausschnitte. Auch Pauls Neugierde ist noch nicht gestillt.

„Da, das ist meine Prozessakte!“ Torsten drückt Paul eine Mappe in die Hand. „Ich war mal ganz oben, habe alles gehabt, was man sich nur wünschen kann – und ich bin ganz tief gefallen. Vor dir sitzt ein verurteilter Mörder!“

Torsten blättert eines der dicken Tagebücher auf, lässt die Seiten durch die Finger laufen, klappt es dann wieder zu und fährt fort: „Und glaube mir eines, Paul: Ich habe in meinem ganzen Leben keinen bösartigeren Menschen kennengelernt, als mich selbst!“

Paul kann in diesem Augenblick nur ahnen, was dieser Satz wirklich bedeutet. Eine ganze Welt von Leid und Gewalt, Verachtung und Hass, Niedertracht und Todesmut verbirgt sich hinter dieser Feststellung, die der nette, schlaksige Mann, der da neben ihm kniet, so gelassen ausspricht.

Für einen Moment blitzt in Paul eine Ahnung davon auf, welche explosive Gewalt dieser Typ mit dem markanten Gesicht einst in sich getragen hat.

*

Es ist der 20. Juni 1992. Zwei dunkle Luxuslimousinen der Marken BMW und Mercedes Benz rollen durch ein Waldstück, nicht weit von der lettischen Hauptstadt Riga. Eine Lichtung. Hier halten sie an. Zwei Männer, tadellos gekleidet in Armani- und Brioni-Anzügen, steigen aus, schauen sich um. Sie plaudern angeregt, rauchen dabei eine Zigarette. Ein Dritter, der hinter dem Steuer des einen Wagens sitzen geblieben ist, ruft: „Dieter, komm, hilf mir mal.“ Scheinbar braucht er Unterstützung, weil irgendetwas am Fahrersitz klemmt. Als sich der Gerufene nach unten bückt, um nachzuschauen, was los ist, fällt ein Schuss. Ein dumpfer Knall hallt durch den Wald. Das Opfer, am Kopf getroffen, sinkt vornüber auf den Boden.

Dieter ist sofort tot.

Torsten Hartung steckt die Waffe wieder ein. Zusammen mit seinem Gefährten Martin entkleidet er sein Opfer, auch die Papiere nehmen sie ihm ab, dann verscharren sie die Leiche im Wald. Auf dem Rückweg in die Stadt werfen sie die Kleider und die Papiere des Toten weg.

Dieter war bis zu diesem Tag ein Komplize und krimineller Weggefährte Hartungs. Gemeinsam arbeiten sie zwei Jahre lang zusammen mit der Russenmafia in der größten Autoschieberbande Europas, klauen, hehlen, bestechen. Sie haben Erfolg. 90000 Dollar pro Woche, so wird Hartung später vor dem Gericht aussagen, hat er in jenen Jahren verdient. 90000 Dollar pro Woche! Nein, das darf nicht kaputt gemacht werden. Das darf man sich nicht streitig machen lassen. Doch genau das, so erinnert sich Hartung, versucht Dieter damals. Er will sein eigenes Ding drehen, er will mehr als seinen Anteil. Außerdem hat er sich an die Exfreundin seines Bandenbosses herangemacht. Im Nachhinein ein großer Fehler. Gier frisst Hirn. Hartung kriegt Wind davon: Da will ihm einer seine Führungsposition innerhalb des Autoschieberimperiums streitig machen, da will einer auf eigene Rechnung seine Geschäfte hinter Hartungs Rücken abwickeln. Dafür gibt es nur eine Antwort: Dieter muss liquidiert werden.

*

Paul hört zu. Torsten erzählt diese Geschichte mit so ruhiger Stimme, als würde sie ein Nachrichtensprecher verlesen. Paul dagegen fühlt seinen Puls steigen: Hey, ist das nicht eine Wahnsinnsgeschichte? Könnte aus einem James Bond stammen, oder einem Grisham-Krimi! Wahnsinn!

Doch ist das wirklich derselbe Mensch? Der Mann, der vor 22 Jahren in einem Wald bei Riga kaltblütig einen anderen hingerichtet hat – und derjenige, der nun neben ihm vor einem alten Schrankkoffer kniet, für ihn Tee kocht und zusammen mit ihm den Kaminofen anzündet, damit es gemütlich warm ist? Paul merkt: Es fällt ihm schwer zu verstehen, was mit diesem Mann geschehen ist. Warum sein Leben so verlaufen ist, wie es verlaufen ist.

*

Es ist still, als Torsten seinen Bericht beendet hat. Paul räuspert sich. Dann deutet er auf das Tagebuch, das Torsten noch immer in der Hand hält. „Da steht das alles drin?“

„Ja“, antwortet Torsten, „und noch eine Menge mehr.“ Und wieder steigt die Erinnerung in ihm hoch: Vier Jahre, neun Monate und zwei Tage verbringt er in Einzelhaft. Das sind 1736 Tage, in denen er fast keinen anderen Menschen sieht als den Wärter, der ihm das Essen in die Zelle schiebt. In dieser Zeit entdeckt er für sich die Kostbarkeit des Schreibens, den Wert des Tagebuches. Es wird Hartungs Gesprächspartner, seine Klagemauer, sein Freund, sein Geheimnisträger, sein Psychologe, sein Widerpart und, wie er erst später erkennen wird, so etwas wie sein Beichtvater. Alles vertraut der isolierte Gefangene dem leicht vergilbten Papier von mehreren Schreibkladden an. Warum sitzt er so lange allein? „Sie wollten nicht, dass ich mich mit meinen Komplizen austausche, dass wir uns absprechen können“, erklärt Torsten. „Ich war schließlich der Kopf der Bande!“ Und für sich setzt er im Stillen hinzu: Vielleicht wussten sie ja auch, dass es keinen bösartigeren Menschen gab als mich.

*

Paul greift nach einer der Kladden, blättert durch die Seiten. Torsten schürt inzwischen den Kaminofen nach, legt behutsam zwei weitere Scheite auf das Feuer, regelt sorgsam die Luftzufuhr. Aus dem Ofen dringt behagliches Knistern und ein erneuerter warmer Schein.

Die beiden Männer schweigen. Paul hat inzwischen das Tagebuch weggelegt und einen kleinen Stapel vergilbter Zeitungsseiten in die Hand genommen. Gerichtsreportagen über den „deutschen Arm der Russenmafia“, das „Monster ohne Mitgefühl“, wie manche der Boulevardschlagzeilen texten.

Die beiden Männer sitzen vor dem Koffer und lesen, jeder für sich. Leise sprechen sie miteinander. Fragen. Antworten. Schweigen.

Schließlich fasst sich Paul ein Herz: „Ich muss dich einfach mal was fragen. Kannst du mir erklären, was in deinem Leben so derartig schiefgelaufen ist? Und vor allem – wie hast du es geschafft, nicht in diesem Sumpf zu verrecken?“

Torsten schlürft an seiner Tasse. Warm. Wohlig. Gut. „Wir haben ja Zeit“, sagt er und wieder huscht ein Lächeln über sein markantes Gesicht. „Vielleicht hilft es dir ja, wenn ich dir meine ganze Geschichte erzähle.“

Torsten greift in den Koffer – dann wendet er sich Paul zu: „Ich fange mal ganz von vorne an.“

1. NICHT WILLKOMMEN

Paul entspannt. Das Feuer im Bollerofen mit der Glastür, durch die er die Flammen züngeln sehen kann, beruhigt. Torsten nippt am Tee, wendet sich seinem Gast zu: „So richtig willkommen warst du bei deinen Eltern nicht, oder?“ Paul nickt. Seine Augen spiegeln Trauer. „Nee, das kann man so nicht sagen!“

Er hält inne. „Wenn du aus dem Knast kommst, bist du eigentlich nirgendwo willkommen, oder?“

Torsten nickt. Ein Zeichen des Einverständnisses. „Das kannst du laut sagen“, fügt er schließlich an. Wer wüsste das besser als er? Aber es gibt auch vor der Heimkehr aus dem Knast so ein Gefühl des Verlorenseins. Seine eigene Kindheit kommt ihm dabei in den Sinn. Nur wenigen Menschen hat er bislang davon erzählt. Torsten weiß: Er muss gegenüber Paul offen sein, darf kein Blatt vor den Mund nehmen. Er muss sich seiner eigenen Kindheit stellen, wenn er Paul helfen will.

„Weißt du, Paul, es gibt auch ein Unwillkommensein ohne Knast!“ Paul horcht auf. „Schon vorher?“ „Ja!“, sagt Torsten. „Schon lange vorher!“

Paul beginnt zu verstehen. „Wie war das mit dir und deinem Vater?“

„Mit meinem Vater?“ Torsten stutzt. Diese Frage von Paul nach seinem Vater hatte er so schnell nicht erwartet. Wie war das eigentlich mit seinem Vater? Woher kam er? Was hatte er als Kind erlebt? In welcher Gedankenwelt war sein Vater aufgewachsen? Komisch – so richtig, das fällt ihm jetzt auf, hat er sich erst in den Jahren im Gefängnis mit dieser Frage beschäftigt. Warum eigentlich nicht früher? Torsten versucht sich zu erinnern.

*

„Mein Vater wurde im Jahr 1938 geboren. Er war eines von zwölf Kindern, alle hatten den Krieg am eigenen Leib erlebt. Sein Vater, also mein Opa, hatte ein Müllabfuhrunternehmen. Das war der Grund dafür, dass er als Einziger im ganzen Ort während des Krieges noch einen eigenen Lkw hatte. Alle anderen Fahrzeuge hatte sich die Wehrmacht längst unter den Nagel gerissen.“

*

Torsten Hartungs Großvater lebte in Goslar, im Harz. Nach dem Tode seiner ersten Frau hatte er nochmals geheiratet. Opa, so hat Torsten es in Erinnerung, war ein bekennender Sozialdemokrat vom alten Schlag. Bei ihm gab es für so etwas wie den Glauben oder Gott höchstens ein Spottlied. „Opium für das Volk“, mehr war Glaube, war die Religion insgesamt im Elternhaus von Torstens Vater nie. Auch für die zweite Frau von Opa war eine religiöse Verankerung kein Thema. Jesus, so sagte sie es oft genug, war für sie nicht mehr als „der größte Bandit, den man sich denken konnte!“

In dieser Gedankenwelt wuchs Torsten Hartungs Vater auf.

Nach dem Krieg zog die Familie nach Salzwedel – mitsamt allen Geschwistern. Als Torstens Vater im Alter von siebzehn Jahren seinem Elternhaus Adieu sagt, zieht er weiter nach Schwerin. Hier wird er seine Frau kennenlernen. Und hier wird Jahre später sein zweiter Sohn aufwachsen – Torsten Hartung.

*

Keine Frage: Torstens Vater ist ein fleißiger Mann. Er hat für sich ganz persönlich ein Ziel aus den schütteren Jahren des Krieges mitgenommen: Er will raus aus dem Dreck. Nie wieder hungern und frieren!

Deshalb rackert er wie ein Berserker. Erst lernt er den Beruf des Fleischers, dann macht er noch neben der alltäglichen Arbeit den Abschluss als Kfz-Meister und fährt fortan einen Milchlaster. Von früh bis spät ist er jeden Tag unterwegs. Torsten erinnert sich: Sein Vater hat zu all dem auch noch viel Feierabendarbeit gemacht. Zum Beispiel schweißt er bei den Milchkästen, die damals noch aus Metall sind, nach Dienstschluss noch die Streben an, die bei den Auslieferungsfahrten zerbrochen sind.

Schon in jungen Jahren muss sein Vater ein bärbeißiger Typ gewesen sein.

„Wenn du etwas haben willst, Torsten, dann musst du es dir nehmen.“ Das ist auch so ein Satz von ihm, das hat er ihm immer wieder einmal gesagt.

Aus der Volksarmee ist er als junger Mann rausgeflogen, weil er zusammen mit ein paar hungrigen Kumpels im Wald Wildschweine mit der Kalaschnikow erlegt hat. Sie haben ihre Beute ausgeweidet und als schmackhafte Zusatzportionen zum lausigen Kasernenfutter verarbeitet. Die gefährliche Jagd mit einer Maschinenpistole im mecklenburgischen Wald ist selbst für die Forstbehörden in der damaligen DDR eine Nummer zu viel. Deshalb schmeißt der Kommandeur die selbst ernannten Jägermeister kurzerhand aus der Truppe – obwohl die jungen Männer eigentlich doch bloß knurrende Mägen hatten.

*

In Schwerin lernt Torstens Vater kurz darauf die Frau seines Lebens kennen. Sie ist nur ein Jahr jünger als ihr zukünftiger Mann. Ihre Erfahrungen ähneln sich: dürre Jahre als Kinder im Krieg und in der Zeit danach, oft Hunger, kein Genuss: Schokolade – was ist das? Im immer noch kriegszerstörten Deutschland gibt es kaum ein anständiges Dach über dem Kopf. Schwerin ist damals mit rund 100000 Einwohnern nicht eben klein – aber hat doch wenig zu bieten.

*

Das erste Zuhause, an das sich Torsten erinnern kann, ist ein Mietshaus im Schweriner Stadtteil Schelfwerder. Zu viert leben sie in zwei kleinen Räumen. Es herrscht Wohnungsnot in der DDR. Die Wohnungen in den alten Mietskasernen, die den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden haben, sind zimmerweise an komplette Familien vermietet. In kurzer Folge wird seine Mutter schwanger und ist ziemlich schnell überfordert mit der Situation, denn der Vater ist den gesamten Tag unterwegs und sie muss sich allein um den Kleinen kümmern. Aber die Hartungs haben zumindest mit der Wohnung Glück. Nach und nach ziehen die anderen Mieter aus und irgendwann genießen Torstens Eltern den relativen Luxus einer Vierraumwohnung. Auch sonst geht es bergauf. Keiner muss mehr hungern und frieren. Der Verdienst des Vaters reicht zum Leben. Eine glückliche Familie also?

„Nein, ich hatte keine glückliche Familie in meiner Kindheit!“, sagt Torsten. Paul horcht auf: „Aber eigentlich wart ihr doch aus dem Dreck raus, oder?“, fragt er.

„Ja!“, sagt Torsten. „Was das Materielle anging, ja. An Geld hat es uns eigentlich nie gefehlt!“

Paul schaut ihn an: „An was dann?“

„An Liebe.“

*

„Meine Mutter war Hausfrau und ist trotzdem noch arbeiten gegangen“, erzählt Torsten. „Eigentlich hatte sie sich ein schöneres Leben erträumt, aber es kam ganz anders.“ Torsten kramt in seiner Erinnerung. Was kann er über die Beziehung zwischen sich und seiner Mutter sagen? „Mein Vater hatte ihr damals, als er sie heiratete, versprochen: Ein Kind und dann ist Schluss mit dem Nachwuchs. Wir machen uns zu dritt ein gutes Leben.“ Torsten unterbricht sich: „Doch dann kam unplanmäßig das zweite Kind. Ich. Und ich war es, der die Erfüllung der Träume meiner Mutter durchkreuzt hat – einfach indem ich da war, auf die Welt kam. Das habe ich erst später erkannt. Aber die Folge war für mich mein Leben lang deutlich: Für meine Mutter war ich stets derjenige, der ihren Lebenstraum zerstört hat. Und sie sah in mir auch immer meinen Vater, mit dem es zunehmend kompliziert wurde. Ich sehe ihm sehr ähnlich. Ihre ganze Enttäuschung und Wut hat sie dann auf mich projiziert. Und über all das ist sie bitter am Leben geworden.“

*

Torstens Mutter wird danach noch zweimal schwanger. Zwei Schwestern bringt sie auf die Welt. Das macht sie allerdings auch nicht glücklicher. Ihr Wunsch? Sie will offensichtlich einfach mal raus, mal was anderes sehen als Windeln und Rotznasen, was anderes hören als Kindergekreisch und das Klappern der Kochtopfdeckel. Sobald sie die jüngsten ihrer Kinder betreuen lassen kann, kehrt sie zurück in ihren Beruf als Verkäuferin. Sie arbeitet in einem HO-Laden. Das ist nichts Ungewöhnliches in der DDR – Vollzeit zu arbeiten und ganz nebenbei auch noch vier Kinder aufzuziehen. Aber Torsten spürt, dass seine Mutter über ihre Grenzen geht.

Sie scheint dem Jungen einfach irgendwann überfordert. Denn ein so dicht gepackter Tagesablauf lässt wenig Zeit für die Bedürfnisse der Kinder – sie geht morgens um halb acht aus dem Haus und kommt dann am Abend erst gegen drei viertel sieben wieder nach Hause. Vom Tag erschöpft, wartet noch der gesamte Haushalt auf sie.

*

Torstens Vater hat die Botschaft seines eigenen Vaters, des alten Sozialdemokraten aus Goslar, verinnerlicht: Der pflegte zu sagen: „Ein Vater hat dafür zu sorgen, dass die Kinder ein Dach über dem Kopf, was zu essen und was anzuziehen haben. Basta!“ Es ist die Erfahrung von Not und Leid während und nach dem Krieg, die Torstens Vater antreibt, wenn er diesen Gedanken übernimmt. Ich muss für alles sorgen! Es muss immer genug da sein! Wir müssen deshalb ranklotzen – nicht dass es unserer Familie irgendwann einmal schlecht geht!

Die Kinder sehen ihn tagelang kaum – frühmorgens, bevor sie aufstehen und sich für die Schule fertig machen, geht er aus dem Haus. Am Abend kehrt er erst spät von seinem Zweit- oder Drittjob zurück. Da liegen die Kleinen längst im Bett und schlafen.

Torsten begehrt auf. Als er an Weihnachten, er ist gerade acht Jahre alt, von seinen Eltern ein nagelneues Fahrrad präsentiert bekommt, dreht sich der Junge enttäuscht weg. Er will kein Fahrrad. Er will lieber Zeit mit seinem Vater.

Und er versucht verzweifelt, diese gemeinsame Zeit mit seinem Vater zu erhaschen. Der Zehnjährige wälzt sich morgens um zwei aus dem Bett, um den Vater bei seiner Milchfahrertour zu den Bauernhöfen rings um Schwerin zu begleiten. Sie reden nicht miteinander. Torsten ist dennoch in diesen frühen Stunden zwischen Nacht und Sonnenaufgang glücklich. Wenigstens darf er einmal ungestört neben seinem Papa sitzen!

Der Hunger nach dem Vater sitzt tief. Deshalb reicht es Torsten eigentlich nicht, nur einfach mit ihm unterwegs zu sein. Er will am liebsten noch etwas anderes von seinem Vater. Er will mehr. Er will eine Umarmung, ein Streicheln über den Kopf, ein liebes Wort, einen herzlichen Blick, so wie andere, liebevollere Väter es machen. So wie es Torsten bei seinen Schulkameraden erlebt hat. Torsten will das Natürlichste und Einfachste, was ein Kind will: Dass sein Vater ihn anerkennt, dass er ihn liebt. Also rennt der Junge der Liebe seines Vaters nach. Vergeblich.

Doch ein einziges Mal, soweit er sich entsinnen kann, lässt der abgewandte Vater seinen Sohn so etwas wie Stolz spüren. Nur ein einziges Mal zeigt er dem Jungen, dass er ihn schätzt. Zu diesem Zeitpunkt ist Torsten dreizehn Jahre alt. Er sitzt mit seinem Vater auch an diesem Morgen wieder im Milchwagen. Sie halten auf einem Bauernhof neben den Milchkannen. Der Junge steigt schweigend aus, installiert wie ein Profi die Schläuche, die die Kannen leer saugen, und bedient dabei tadellos die Pumpen. Der Bauer steht neben ihm, schaut interessiert dem Arbeitenden über die Schulter und sagt schließlich: „Der Junge kann das ja schon richtig gut! Da habt ihr einen wirklich schlauen Sohn, Kompliment!“ Torsten kann das mithören. Und hört auch die Antwort des Vaters, der ihm gegenüber noch nie ein Wort des Lobes über die Lippen gebracht hat: „Ja, ich bin auch richtig stolz auf ihn!“

Diesen Satz hat Torsten sein Leben lang in seinem Herzen getragen. Wie einen Schatz.

*

Paul schweigt. Die Szene hat ihn gepackt. Hinter seiner Stirn arbeitet es. Dann sagt er: „Torsten, ich kenne das. Mir ist das so ähnlich gegangen“, räuspert sich, als wäre es ihm unangenehm, und fügt an: „Mein Vater ist abgehauen, als ich drei war. Meine Mutter hat mir immer gesagt, er wäre gegangen wegen meiner Schreierei. Aber ich war doch noch so klein!“ Unglücklich schaut Paul Torsten an.

„Vergiss diesen Unsinn!“, sagt Torsten. „Niemals ist ein Kind schuld daran, wenn ein Erwachsener abhaut. Ein Kind hat niemals Verantwortung für das, was die Erwachsenen tun.“ Pause. Dann fügt Torsten an: „Aber jeder Erwachsene ist verantwortlich dafür, was aus seinen Kindern wird.“

*

Sind Torstens Eltern auch verantwortlich dafür, dass ihr Sohn ihnen Stück für Stück entgleitet? Es muss so gewesen sein. Denn früh wird der schmächtige Junge auffällig. Ist dies verwunderlich, wenn man die Familienkonstellation analysiert? Nein. Sein älterer Bruder erhält als Liebling der Mutter all deren Aufmerksamkeit und die Zuwendung, nach der Torsten sich so sehr sehnt. Das führt den kleinen Jungen zu einer tiefen Traurigkeit, die er bis heute als verletztes Kind mit sich herumträgt. Er rennt jeden Tag von Neuem gegen Mauern an, gegen dieses Gefühl, nicht verstanden zu werden, dass keiner zu wissen scheint, was er braucht, was er sich ersehnt in seinen Bedürfnissen. Sie werden nicht gestillt. Das kleine Kind Torsten bleibt tief im Inneren hungrig, auch wenn es scheinbar alles hat. Und wird es bis zur größten Katastrophe seines Lebens bleiben.

Wenn es ein Gefühl gibt, das Eltern ihren Kindern niemals vermitteln dürfen, dann ist es das Gefühl des Nicht-geliebt-Seins. Torsten Hartung ist eines jener Kinder, über deren Leben ein Menetekel eingeritzt zu sein scheint. Über seinem Dasein strahlt nicht das bedingungslose „Du bist willkommen auf dieser Welt!“

Torstens Mutter macht ihr zweites Kind für ihr Lebensunglück haftbar. Unterdrückte Wut, Leid, nicht verarbeitete Gewalt mengen sich zu einem Erziehungscocktail, der einen Menschen wahrlich erschüttern kann.

Die Eltern, so wird Torsten erst viel später klar, benutzen die Kinder auch, um sie in den Grabenkämpfen gegeneinander als Hilfstruppen aufzustellen. Die vier Geschwister werden instrumentalisiert. Die Rollenverteilung ist klar: Torstens ältester Bruder und seine jüngste Schwester sind die Mama-Kinder. Die erhalten Zuwendung, Wärme, Liebe, Streicheleinheiten. Die beiden mittleren Kinder rechnet die Mutter offensichtlich der Fraktion ihres Mannes zu – also sind das die Papa-Kinder. Und da der Papa noch viel weniger zu Hause ist als die Mama, haben diese beiden Pech: Denn die Mutter kann so ihre Gefühle ungestört ausleben.

*

„Und wie hast du das im Alltag erlebt?“, will Paul wissen. „Ziemlich einfach!“, sagt Torsten. Er sucht nach einer Erinnerung – ja, die Geschichte mit seiner Schwester und der Bürste, daran kann er Paul das Unberechenbare seines damaligen Lebens vielleicht am besten deutlich machen. „Meine eine Schwester hatte wunderbare lange, seidige Haare. Die mussten ja nun mal gebürstet werden. Natürlich gab das immer auch Geschrei und Diskussionen. Eines Tages ist meine Mutter dabei derartig wütend geworden, dass sie meiner Schwester mit der Bürste auf den Kopf geschlagen hat, so lange und so heftig, bis meine Schwester aufspringen und sich ihr entwinden konnte.“ Torsten atmet tief, wenn er sich an diese Szene erinnert. Dann fährt er fort: „Das war nicht nur wegen des mühseligen Bürstens. Ich hatte das Gefühl: Ihre plötzlich losgebrochene Wut galt auch ihrer ganzen Situation und meinem Vater. Weil sie ihre Situation hasste, hasste sie auch die Haare meiner Schwester!“ Warum gab es da diese große Wut? Auf Pauls Nachfrage kann Torsten nur mit der Schulter zucken. „Warum das so war? Das weiß ich auch nicht.“

*

Was zeichnet eine Mutter aus? Viele würden Wörter wie Fürsorge, Liebe, Zuneigung, Sanftmut, Schutz, Zuwendung wählen. Torsten Hartung fällt es schwer, solche Wörter zu benutzen, wenn er an seine Kindheit und sein Verhältnis zu seiner Mutter denkt. Er ist sieben Jahre alt, als er versucht, ihr eine Frage zu stellen, die ihn schon länger beschäftigt. Er fragt also die Mutter: „Wie war das bei meiner Geburt?“ Dabei versucht er ihr auf den Schoß zu klettern. Und diese antwortet: „Wir wollten dich nicht haben. Du warst ein Unfall und sahst hässlich aus. Wir dachten zunächst, die Schwestern auf der Station hätten das Kind vertauscht.“ Dann schiebt sie ihn beiseite, schüttelt ihn ab, steht auf und geht.

*

Paul ist verstummt. Mannomann – da ist aber was los gewesen in Torstens Kindheit. „Und siehst du deine Eltern heute noch?“, will Paul wissen. Torsten schüttelt den Kopf. „Nein. Ich habe es versucht. Es geht einfach nicht!“ Was geht nicht? Pauls Blick ist eine unausgesprochene Frage.

„Na, das Verhältnis vor allem zwischen meinem Vater und mir“, sagt Torsten. „Mein Vater wird es nicht so sehen. Er sagt heute noch: Ich habe doch alles für dich getan! Habe ich dich nicht sogar in den Kindergarten gefahren? Ich habe für euch alle malocht Tag und Nacht. Ihr habt doch alles gehabt!“

*

Für Torstens Vater bedeutet „Versorgung“, ein Dach über dem Kopf zu haben, etwas Anständiges anzuziehen und etwas zu essen zu haben. Das reicht ihm. Wenn er darüber hinaus auf andere Bedürfnisse stößt – etwas anderes als Essen, Trinken und Unterkunft –, dann erscheinen ihm solche Anfragen als undankbar. Richtige Gespräche mit seinem Sohn finden kaum statt. Diskussionen erst recht nicht. Ein Grund dafür ist wohl: Der Vater beherrscht die Diskussion nicht, sie interessiert ihn auch nicht. Widerworte werden in der stets gleichen Währung von Schlägen beantwortet. Kleine Anlässe reichen – und der Vater explodiert. Ein Lebensmuster, das wahrlich nicht die Liebesfähigkeit und das Mitgefühl bei seinen Kindern schult. Als Torsten zehn Jahre alt ist, verprügelt ihn sein Vater so heftig, dass seine Mutter, die danebensteht, aber nicht eingreift, aufschreit: „Hör auf, hör auf, du bringst den Jungen ja um!“

*

Paul schweigt immer noch. Ihm wird da so manches klar. Und vieles ist ihm auch aus seiner eigenen Geschichte vertraut: die Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Vater. Die Hilflosigkeit seiner Mutter. Die Schläge und Misshandlungen von Leib und Seele.

„Weißt du, ich habe erst Jahrzehnte später herausgekriegt, was alles bei mir schiefgelaufen sein muss!“, sagt Torsten Hartung. „Ich war viel zu verbittert und verbohrt, als dass ich noch hätte wahrnehmen können, wie verkorkst ich eigentlich schon mit fünfzehn war.“ Torsten legt sein Gesicht für einen Moment in seine Hände. „Ich musste erst ausgebremst werden, musste ganz tief durch das Elend, meine eigene Schuld, die ich aufgehäuft hatte, waten, bis mir die Konsequenzen meines Lebens so klar wurden, dass ich darüber nachdenken konnte! Ich habe erst spät erkannt, dass mein Leben nicht so funktionieren konnte, wie ich es angepackt hatte. Als ich ganz unten angekommen war, habe ich erkannt, was ich schon alles angerichtet hatte. Bis zu dieser Erkenntnis hat es Jahre gedauert.“

Paul schaut ihn an: „Was musste erst passieren, bevor du dies denken konntest?“, will er wissen. Torsten lächelt. Er versteht Pauls Frage – die Frage eines jungen Mannes, der selbst schon einmal kurz vor dem Abgrund stand. Und der nun mit ihm gemeinsam in einen wirklichen Abgrund hineinblickt. Dann sagt er: „Eigentlich ist es ganz einfach: Du musst endlich einmal den Mut aufbringen, dir selbst ein paar knallharte Fragen zu stellen: Moment mal, wo ist der Haken in meinem Leben? Woran liegt das, dass ich nicht wirklich empfinden kann, was gerade dran wäre? Dass ich Leuten aufs Maul haue, statt mit ihnen zu sprechen? Dass ich die Liebe meiner Freundinnen zu mir ausgenutzt habe, dass ich sie belogen und betrogen habe – anstatt deren Zuneigung endlich einmal liebevoll zu erwidern? Wenn du bereit bist, dir solche Fragen zu stellen – und nicht davor wegzulaufen – dann bist du auf dem richtigen Weg.“